Armin Steigenberger RAW CUT fleck

erster teil

 

dein herz treibt dich aus dir hinaus, dein herz ist hinter dir her, und du stehst fast schon außer dir und kannst nicht mehr zurück.

<r.m. rilke, die aufzeichnungen des malte laurids brigge>

1 melodien des ahorns

 

dabei war sein erfühltes weder schwarz noch weiß.

fleck nannte es sein erfühltes. das wort <gefühl> war ihm zu stumpf, da alle welt dem gefühl frönte. es zelebrierte. es jubilierte.

dabei war das wort <gefühl> ein wort. sein erfühltes aber war erfühltes. das er litt. das ihn schweben machte. das in ihm oft nur leise rauschte.

da war schon das still-aus-dem-fenster-schauen erfühltes. schon die rötlichen pflastersteine mit ihren mustern weckten melodien. melodien der erinnerung.

so zog es ihn. so zitterte es ihn. so, könnten wir denken, habe fleck sein herz noch am rechten fleck.

fleck dachte eher, sein herz sei ein vehikel. ein flugschiff der ewigkeit. ein singendes himmelsboot. das durch die roten winde fuhr.

die winde: sie waren so stark. sie waren so traurig oft. sie trugen das rot des mädchennamens seiner mutter. dabei mochte er gar nichts anderes um sich haben als böen und leise windstöße.

das erfühlte trug kleider in pastellnen farben. es glitt durch ihn. es hüllte ihn ein. oft trug es auch ein wort mit sich: buchstaben. sterne. punkte.

jeder wind war ein wenig anders, jeder hauch brachte eine andere melodie.

als kind, dachte fleck, ist das alles da gewesen. aber es war wie ein brausen. er musste genau auf das feine zittern lauschen. dies leise beben der lüfte. als sei das erfühlte ein wind unter dem emporkosen eines flügels – welle und schlag.

fleck blickte aus dem fenster nach süden. es gab in seinem dachzimmer zwei fenster. aus dem einen blickte er. da sah er eine straße, meist menschenleer, oft voller autos. da sah er die alten ahornbäume mit ihren gezackten blättern, die im herbst lange umherlagen. gelb. manchmal rot. schließlich braun. wie verwelkte hände bedeckten sie den boden. bis ein orangenes gefährt kam, mit einer runden bürste unten, dem ein mann hinterherlief mit großem ausschweifenden besen. sie einkehrte. alles einkehrte.

jedes dieser blätter war fünfstrahlig.

als kind war er hinauf geklettert auf einen dieser bäume, der hatte zwei stämme, die unten an einer gabelung auseinander wuchsen.

da hatte er früher zwei beine zwischen die stämme gestemmt und ist dann an einem stamm hinauf gestiegen.

und oben, als die äste immer dünner wurden, machte er halt. dort ist er lange gesessen.

auch hier: das beben.

damals habe er etwas gesucht. etwas verlorenes. es zurückbekommen, in kleinen stücken und teilen, die er wieder zusammenfügen konnte wie die scherben eines tongefäßes. das womöglich <glück> hieß. es gab verschiedenes glück. es war nicht nur ein glück.

manchmal war er stunden im baum gesessen, bis es plötzlich da war, kastanienfarben. da konnte fleck es spüren und pfiff und kiekste es flugs in melodien, die er über die zunge dicht am gaumen vorbei blies. da dachte er an seine vielen brieffreunde in der schweiz und was sie wohl alle gerade taten: in basel, in bern, in winterthur.

ein anderes glück war schwerer, war ein geschmack wie malventee, es war dunkelrot und süß. dazu gefaltete papiergesichter: dünne, rote, durchscheinende.

ein wieder anderes glück war leicht und flog mit gelben flügeln, schnell, hob ihn und zeigte ihm die dächer der kleinen stadt, wie sie in der sonne flirrten.

es gab ganz unterschiedliches glück, das überall wartete. auch unter den steinen saß es oft, wie ein versteckter schöner käfer mit grün glänzendem rücken.

da war die richtung seines herzens. kristallin und weit der himmel in flüchtigem blau: die tage konnten dunkel sein, auch wenn die sonne strahlte. am nachmittag, als die sonne in sein zimmer hineinschaute, gönnte er sich eine kleine ausschweifung.

2 das riesenherz

 

bis aufs hemd nackt auf dem bett, ein piekser in den arm und schon durchrann ihn warmes strömen. es ging alles so schnell. zuerst fühlte er sich versetzt in den faschingsball damals in der großen aula. als irgendjemand seinen lustigen schwarzen hut genommen hatte, worauf fleck doch nun jede frau mit hut ansprechen hätte können, die ihm gefiel: ob sie denn nicht das verwechselspiel mit dem hut mitspielen wolle. und küsse. dann gedankenlücken. risse

fleck versteckte seine gedanken hinter einem kerzenstummel. es war ein ruhiger, gelbwarmer abend. warm wie der weiche sand am strand von villajoyosa. der blick ins braun ihrer augen. keine rede noch davon, dass morgen sein tag kommen werde. sie machte alles so schön für ihn; so schön doch. doch da fühlte er schon die kühle hand des anästhesisten

ein blick in die helle sonne genügte. ein paar blutegel zuckten frech und spitzig auf seinem handrücken, als das grüne segel sich über ihn deckte. es war die gelegenheit. im kopf: entre dos tierras. der wind, der um gitarrentöne heult. fleck stand vor dem spiegel. in ein sonnengeflecht blickte er, das sich würfelte

zunächst wollte er sich eine schöne sonne machen. rot sollte sie sein, seine sonne. er schnitt sich einen kreisförmigen lappen aus der stirnenhaut. es tat gar nicht weh. dass er so genau zirkeln könne, wunderte es ihn. und eigenartig, dass die haut doch so dick war. das stück haut klebte er auf den spiegel. es blieb dort von selbst haften

er freute sich, dass er keine schmerzen hatte. spreißel, blitzweiß glühend, sprangen umher. und wo gehobelt wird, da fallen sterne. doch dann die hände, die seinen innersten muskel umfassten. ihn bergen wollten. er freute sich so sehr über das weihnachtliche funkeln der skalpelle. wie sternleinsspeier! man muss aufpassen, dass man nicht ans heiße metall greift, auch wenn die glut schon gedunkelt ist. (traum)

es zuckten weiße späne mit knistern auf seine haut und es war ihm, als wäre weihnachten und geburtstag. die augen seiner mutter inmitten der weißen hitze

da hoben sie es heraus. er blickte fasziniert: so groß war es! es musste schwer sein und einige mussten mit anfassen. sie konnten es nicht halten. als sie es aus ihm heraushoben, verkanteten sie und glitten ab. das also ist es, dachte fleck. so also sieht es aus. der wind blähte das segel. leise und schemenhaft das gesicht seiner mutter

ein riesiges rotes schwabbliges ding war es. er hörte wieder das geräusch einer dumpfen aber festen trommel. der takt. endlich durfte er die vielen kerzen ausblasen

 

te puedes vender,

cualquier oferta es buena

si quieres poder.

 

beinahe eklig, und so groß, so rosa wie aus plastik. es ist bestimmt aus gummi, dachte fleck. wie seine rote wärmflasche

 

si yo no tengo la culpa de verte caer.

 

es hing noch an einem glibberigen stück latexschleim fest. wie rote fäden klammerten sich ein paar fasern an seinen muskel. ein arzt durchtrennte die störrischen sehnen mit einem feinen messer. es blutete so gut wie nicht

die ärzte hoben das riesenherz in einen blauen plastikkanister. es kam eis mit hinein. sie verschlossen ihn schnell. fleck sah es nur aus dem augenwinkel, wie ein assistenzarzt damit hinausging

hier musste niemand mehr mit ihm sprechen. hier verhallte sein atem wie ein echo aus wind und blasen. stieg gespenstisch langsam. da plötzlich rutschte er ab, in ein aquarium tief hinab, an der trittleiter aus metall, aus metall, aus metall ...

entre dos tierras! der rhythmus wurde langsamer und dort im blauschwarz sprach es düster und kalt. das lied war zuende

<ihnen wurde das herz amputiert.>

<freut mich!> sagte fleck erstaunlich routiniert. <was bin ich ihnen schuldig?>

<natürlich nichts, herr fleck, es ist doch gerne geschehen! in ihren jungen jahren das herz zu verlieren, noch dazu an eine solch hübsche junge dame, ist ein hohes glück.>

das weiche mullgitter, das sie ihm jetzt auflegten, wurde seitlich mit kleinen pflastern befestigt

das braun ihrer augen brannte nach wie bernsteinfeuer. es wurde ihm warm zumute. er dachte, was sie bloß damit anstellen würden, mit seinem herzen. die kerze rußte etwas und flackerte. schwarzer rauch quoll.

flecks fingerkuppen tänzelten um den rand der narbe auf seiner stirn. wie rund sie doch war. sie fühlte sich schön an

das braun verglühte, doch auch das würde vergehen, dachte fleck. jetzt, wo er ohne herz war, würde ihm vieles leichter werden

3 ich bin ich

 

er rieb sein gesicht an der birke, deren raue schale ihm hart in die gesichtshaut schnitt. diese birke wird mich überdauern, dachte fleck. da sah er, wie die häutchen, die sich ablösten, vom wind davon getragen wurden. dieses muntere davonsegeln machte ihn froh. sie schwebten dahin, trudelten im wind fröhlich auf und ab, kreiselten zu boden oder wurden plötzlich von einer neuen bö erfasst, die sie wieder weiter hinauf trug – so weit, dass fleck schon die augen zusammenkneifen musste, um ihrem flug nachzusehen. so stand er und schaute seinen fliegenden melodien zu. er hielt sich die hand wie einen schirm über die augen und blickte in gleißendes licht.

war es mit seinem erfühlten nicht ebenso? dass es sich einfach aufmachte und auf nimmerwiedersehen davonschwebte? er konnte sich oft noch jahre später an ein bestimmtes erfühltes erinnern. und manchmal war es ihm, als hätte er es früher nie erfühlt. als wäre es in ihm stecken geblieben. als wäre das, was ihm jetzt wie eine erinnerung an etwas damals erfühltes erschien, nie wirklich gewesen.

dabei war es so schön, bei sich zu sein. in diesen melodien des früheren zu verweilen. melodien, die ihn mitrissen. ihn hinwegzogen. ihn davonfliegen machten. da schienen ihm die munter taumelnden birkenhäutchen plötzlich partikel seiner kindlichen sehnsucht zu sein: all diese winzigen fröhlich dahin segelnden stäubchen würden sehr bald verschwunden sein. auch wenn sie ihn jetzt noch erfreuten.

fleck wollte sich so gerne losreißen und zurückschlüpfen in frühere augenblicke. vor seinem inneren auge waren sie noch so lebendig.

ich bin ich. und ich leide daran, ich zu sein, dachte fleck. für immer in mich eingesperrt: das ist wie festgepflockt an einer erdscholle, die allezeit denselben geruch hat und allezeit gleich aussieht. immer birke sein ist ein schrecken. dabei konnte er doch über die felder schweben. wenigstens in seinen gedanken. da war er er.

fleck wollte sich aufmachen, wollte fort, hinaus, hinweg. nur dumpf, nur unbestimmt. sich wegreißen von der scholle, um näher zu sich zu kommen, näher bei seinem schweben zu sein. als er hinausging zu den birken, betastete er lange ihre rinde. die haut ließ sich abziehen wie ein dünner film. genauso wollte er bald davongehen und sein ich, den stamm, hinter sich lassen.

er hatte sein erfühltes heraufgewühlt; es stob, taumelte und flog um ihn her wie die birkenhäutchen. er umarmte den stamm und schabte sich die wangen wund. er war die birke und musste die birke bleiben. mit ihr alt werden. die rinde erneuerte sich, bis der baum irgendwann blätter verlieren, verdorren und eingehen würde. doch sein stamm war robust und fest, dachte fleck.

4 erdgewächs

 

dabei stand er mit beiden beinen auf der erde, ein stamm links, ein anderer rechts; schwer lastete sein gewicht auf dem boden; unten liefen die stämme in ihre wurzel zusammen. fleck wuchs mit zwei beinen aus seiner wurzel empor bis hinauf in den kopf und in die geistesspitzen; doch dass er nicht einfach losmarschieren konnte auf seinen beiden beinen, da er doch festgewachsen war – darin lag sein schmerz. hinauf in den himmel wollte er gehen und doch stand er da und lebte; davon fliegen wollte er: ein ausgerissener baum im sturm! doch auch der ahornbaum stand sein leben lang auf einer stelle und wand sich, belastete den fels und zerdrückte mit seinem gewicht den unterirdischen kiesel; auch seine wurzel wand sich und suchte neue wege, ebenso wie sein stamm immer weiter in den himmel kroch und seine blätter in die atmosfären hinauf auffaltete. fleck gefiel am ahornbaum, dass er nicht herumlief, ja nicht einmal das bedürfnis hatte, herumzulaufen.

einfach dastehen und leben. seine wurzeln fassten um erde, um felsbrocken, um stein. fassten sogar um das gefrierende eis der erde.

seine wurzeln umarmten die erde, das futter, den grund; sie zerdrückten den losen aschenrest, den löss, die tonerde. die erde war schrundig und verletzt. aus ihrem braun wanden sich die farben des himmels.

es ist die weisheit des baumes, sich nicht zu bewegen, es sei denn im wind; dachte fleck. doch das leben riss ihn fort.

5 spiel vorbei

 

sein vater war stark gewesen. er hatte dunkle behaarte unterarme und sogar auf den fingern oben dunkle haare. wo er jetzt wohl sein mochte, sein vater? dachte fleck.

vaters hände waren warm und schwer und konnten fleck tragen, damals. als sie ihn vor einem großen knurrenden hund bewahren wollten, der zähnefletschend über ihn herfiel, schwarz, dunkel und groß; der aus dem mund nach tier roch, nasses fell an seiner unterseite hatte; der auf ihn losging, ihn umstürzte und mit seinen stachligen zähnen an seiner kleidung riss; der ihn einspeichelte und mit nasser schnauze vollrotzte.

vater nahm süß duftenden schinken in einwickelpapier mit.

<gib acht vor ihren scharfen schnäbeln!> sagte vater, beinahe vorwurfsvoll. er hatte das immer gesagt, und fleck hatte dazu genickt.

gut ausgerüstet und mit ledernen kappen gegen den regen tasteten sie die waldsträucher nach beeren ab. fleck trug ein kleines ledertäschchen mit einem umhängeband bei sich, auf das er sehr stolz war. darin war auch sein taschenmesser.

fleck freute sich auf die mittagsstunde, denn da gab es das saftige stück schinken aus seinem täschchen. es war ein festes gepfeffertes stück, sehr scharf, an dem man lange kauen konnte. er hatte auch ein wenig pökelfleisch dabei, mit orangengelee und curry. dazu ein stück brot: das war sein proviant.

die blütenblätter des weißen flieders waren bereits gefallen. im spätsommer gingen sie zusammen in den wald, dorthin, wo auf trockenem waldboden grüne kleine sträucher wuchsen. daran hingen dunkle beeren mit bläulichem film, der, wenn man ihn mit dem finger betupfte, schwarz wurde. beim pflücken sprühten winzige tröpfchen ab, die nach und nach die hand dunkelrot einfärbten. der saft wurde blau, wenn er in die haut eintrocknete.

oft naschte fleck dazwischen die dicksten beeren selber, nach herzenslust, da genug da waren. dazwischen fand er auch preiselbeeren, oft zur hälfte noch grün; und ganz selten auch köstlich süße walderdbeeren. die aß er meist sofort. fleck liebte das beerensammeln.

der tag begann mühsam. vater und sohn gingen durch die tannennadeln. hinter den wolken glänzte ein stück regenbogen. es tröpfelte. der tag war grau und matt. die beiden kamen auf eine lichtung heraus, von irrem licht geblendet.

jäh stachen gleich dutzende aus den lüften herab, fielen heraus aus gelben sonnen, gewaltigen drohnen gleich und stürzten sich mit geheul auf fleck. je tiefer sie herabfielen, desto größer und goldener wurden ihre schnäbel und krallen und blendeten flecks augen wie blitzende scharfe schwerter, desto durchdringender bohrten ihre starren augen, desto lauter und schriller stieg ihr entsetzliches heulen an.

dutzende fielen über ihn her: ein ganzer schwarm braunes raubvieh. die greife hackten ihm ins fleisch, bohrten ihre dornenspitzen krallen durch seine kleidung, in seine wangen, in seine nase, bis er schrie, die augen mit einem arm überdeckte und mit dem anderen wild um sich schlug. fleck schmiss sich zu boden und verbarg sein gesicht in der grasnarbe. sie zerrten ganze stücke fleisch aus ihm, hackten mit den schnäbeln immer wieder in sein blut und kreischten dabei entsetzlich. es wurde dunkel.

6 das glück ist grün

 

da war der geruch, als er den kleinen fels emporhob: das glück. erdig roch es. herb und gut. darunter war es kühl. da lebte noch mehr. es war geborgenheit wie in der kuhle eines herzens.

und hörte er nicht so etwas wie gesang? unter dem felsen lebte das glück. dort sang es seine lieder. es hatte seine eigenen lieder, seine eigenen farben.

als fleck ein kind war, leuchteten ihm die blüten farbig. später las er bücher über die farben der blüten, schwamm im wasser, um nach meeresflora zu tauchen, studierte verschiedene farblehren. nie mehr jedoch sah er die blütenfarben so wie als kind. er hatte vergessen, welche farben sie trugen.

dabei hatte sich fleck als kind immer gewundert, was denn erwachsene nur alles redeten, wo doch alles so klar und einfach war. er verstand ihr reden, ihre gesten oft nicht; ihre ängste erschienen ihm unbegründet, ihr humor unverständlich. sie lachten über dinge, die er gar nicht kannte. dagegen war das, was für ihn naheliegend und selbstverständlich war, das, woran er sich freute oder worüber er lachen konnte, für erwachsene unwirklich oder unverständlich.

so war zum beispiel der buchstabe M rot. fleck dachte, jeder müsse doch wissen, dass ein M rot sei. seine mutter lächelte undurchsichtig, als er ihr seinen katalog über die farben der buchstaben vorlegte. so war zum beispiel der buchstabe B orange, der buchstabe I gelb. seine mutter schien hilflos.

einmal schrieb er sich das alles auf. es gehe doch schon aus dem klang dieser buchstaben hervor, was sie für eine farbe hatten. so war es mit allem.

jedes ding besaß seine farbe. so kannte fleck als kind das wort glück nicht. und wenn, dann nur als nichtssagendes wort. aber wenn er froh war, war es ein irisierendes grünes licht, das zu einer in windeseile davon schießenden plattform einlud, dort, wo man sich traf und außer sich war und herumtollen konnte: auf einer großen wiese, die einen mit rasender geschwindigkeit erfasste und mitnahm. auf ihr war ruhe. aber man musste aufspringen, und oft aus dem stand.

manchmal war ihm das nicht gelungen. da schlug er sich die knie auf. der schmerz allerdings, wo er stattdessen doch eigentlich glücklich sein wollte, war furchtbar. als fleck endlich nach hause kam, gestürzt, ihm dunkle getrocknete tropfen an den schürfwunden klebten, wurden diese von seiner mutter vorsichtig abgetupft. jod kam darauf, das grausam brannte. desinfektion hatte das geheißen. für ihn war es nie einzusehen, warum man sich noch mehr quälen musste, wenn es sowieso schon wie verrückt weh tat. ihn graute schon tagelang vor dem abreißen des pflasters, das – egal wie man es machte – immer eine qual war. mit einem ratsch abgerissen brannte es minutenlang schrecklich; zupfte man es millimeter für millimeter ab, war es eine entsetzliche tortur.

doch es blieb in seinem innersten, dass das glück eine wiese war, die durch den himmel flog. und grün.

7 wie ihm die welt weit wurde

 

das läuten der kirchenglocken; der goldblitzende schimmer auf dem roten ziffernblatt der kirchturmuhr; die ruhige einöde der straße. eine ältere frau in grau melliertem mantel. ein dunkler hut. das rauschen von wasser. die sonne stand schütter in den abendstunden. kein besonderer tag. kein besonderes leben.

die 7 war flecks lieblingszahl. oder seine glückszahl. es gab einmal einen tag, der ganz und gar aus siebenern bestand. der siebte juli eines lang vergangenen jahres.

fleck blickte über den küchentisch nach vorne gebeugt durchs fenster hinaus. lange verharrte er so, nachdenklich darüber, was dort unten wohl passierte. es passierte nichts. dabei hätte sich doch an diesem tag eine weltsensation ereignen müssen! er ging ins badezimmer, öffnete dort das fenster und blickte in den lauen sommerabend hinaus, der für ihn nicht sonderlich großartig war. er sah dort unten die menschen, vereinzelte autos, keine stimmen. es war ein sehr ruhiger tag.

fleck dachte: all das, was es gibt, kann ich sehen. es ist im moment lebendig. aber wie lange noch? es wird bald vergehen. wenn es nicht mehr ist, gibt es nur noch erinnerungen an das gewesene.

auch meine ganz persönliche einzigartige zahl, die voller glück ist – sie wird vergehen. sie wird nicht wieder kommen. dieser moment ist ganz und gar einzigartig. er könne diesen kurzen moment nur ein einziges mal erleben, aber nicht festhalten.

wann ist jetzt?

fleck sah dem langsamen aber steten vorrücken der zeiger auf der küchenuhr zu. zeit war etwas sehr konsequentes. zeit zögerte nie. draußen begann es etwas zu nieseln, menschen gingen vorbei, die sich eine haube aufgezogen oder einen schirm aufgespannt hatten. ganz alltäglich. nichts daran war besonders. es war eine faszinierende zahlenkonstellation, die alle elf jahre stattfand. und kein mensch feierte mit ihm.

draußen war der tag bereits dunkler und reifer geworden, ein schwerer apfel, der bald vom baum fallen würde. der zeiger rückte vor auf punkt sieben. nichts tat sich. kein feuerwerk. nur stille ... dabei hätte doch die luft singen müssen! aufgerührt in den vielen tautropfen des erfühlten!

fleck kauerte hinter dem store und lugte nach draußen. das uhrwerk der plastikküchenuhr klickte mit metallenem schlag vorwärts. da blieb für einen winzigen augenblick die zeit stehen.

die welt lag in schläfriger gleichgültigkeit. wie so oft, dachte fleck. ist diese gleichgültigkeit eine vorbotin des unheils? oder ist sie nur solange eine vorbotin des unheils, bis auch sie einem gleichgültig wird? – dachte fleck. würde denn gar erst um sieben uhr sieben minuten und sieben sekunden der moment erreicht sein, wo die luft voller glut war und mit stürmischem brausen aus allen himmeln fiel?

fleck lächelte. wie kurz war die zeit?

eine ältere frau ging unten vorbei. ihr mantel war grau melliert. sie hüstelte ein wenig.

8 schätze nebst trümmern

 

so vieles war ihm bereits kaputt gegangen. dinge, die ihm lieb waren, teils aus unachtsamkeit, teils durch ungeschicklichkeit, teils bei unfällen. sachen nutzten sich ab, wurden weggeworfen. manchmal half er sogar ein wenig mit. wenn etwas schon angeknackst war, es gänzlich zu zertrümmern. was zu bruch gegangen war, das wurde weggeworfen. wo kommt das weggeworfene hin? fragte fleck. auf den müll, sagten sie ihm. da stellte er sich ein ebenes land vor, auf dem alles weggeworfene sich stapelte.

auch später: es unterschied sich nicht sonderlich. manche dinge nützten sich ab. es blieb vieles in seinen erinnerungen zurück. gedanken an so vieles, was einmal gewesen ist. da gab es seine erinnerungsstücke, die ihm blieben. er konnte sich in seinen erinnerungen, die er wie schätze aufbewahrte, über schöne augenblicke freuen. es waren nicht sehr viele. aber es gab sie.

fleck bedauerte seine erinnerungslücken, wenn er nicht mehr genau wusste, was denn so schön gewesen war, im vergangenen. denn jenes schöne war endgültig vorüber und ließ sich nicht mehr erfühlen. alles, was vorüber war, kam nie wieder zurück. das wusste er schon als kleines kind. einmal war sein vater lange da gewesen. und als er ihn fragte, ob er noch ein weilchen bliebe, sagte er (zumindest war eine solche erinnerung in fleck):

<nein, meine zeit ist vorbei. ich muss gehen!>

als er viel später einmal wieder kam, war er ein ganz anderer geworden.

9 sprungbrett

 

sein herz war eine rampe gewesen. eine triebfeder. ein treibling. sein herz war ein trampolin, auf dem er luftsprünge vollführen konnte. eine sprungfeder in die luft. dorthin, wo das beben war.

auch damals war niemand um ihn gewesen. obwohl sie alle da waren – seine eltern, seine schwestern. er sprach mit ihnen. sie teilten mit ihm seinen alltag.

fleck saß stumm in seinem zimmer auf dem boden. er bastelte, spielte mit Lego, erfand monströse kolosse aus zahnrädern, die sich drehten, irre motoren von gigantischer größe. an der einen seite drehte er, an der anderen stelle bewegte sich ein baustein. dann wieder baute er einen mechanismus ein, dass tönerne und gläserne murmeln durch fantastische gebilde aus schienenelementen und maschinerien und hindurch rollern konnten. auch die murmeln bewegten eine reaktion: sie prallten gegen eine wand und stießen einen schalter an, der wiederum ein sprungbrett schnalzen ließ, eine weiche umstellte oder einen neuen prozess auslöste. so lag fleck stunden vertieft auf dem teppichboden seines zimmers. oder er spielte schach gegen sich selbst. nebenbei hörte er radio und schnitt die lieder der hitparaden mit einem cassettenrecorder mit. fleck stellte die großen schachpartien nach, versuchte, einen zug selbst zu tun, bevor er nachschlug, was der schachmeister an der selben stelle gezogen hatte.

kinder (freunde in seinem leben) kamen und spielten mit ihm an seinen riesenmotoren. er bekam auch briefe von kindern aus der schweiz, die ihm von zeit zu zeit briefe mit lustigen fragen schrieben. sie interessierten sich für das, was er tat und was er dachte. was ja eine seltenheit ist, dachte fleck. er nahm sich viel zeit, um ihre briefe sorgfältig zu beantworten und malte mit seinem füller tiefblaue sätze auf vorliniertes papier.

sein bester freund war der ahornbaum vor dem haus.

10 zentnerschwer

 

fleck hatte es gespürt; es hatte ihn hin und hergerissen wie eine puppe: ein zuckendes, ein in sich beharrendes wildes aufbäumen der erde, ein schreckliches rütteln;

sekundenlang? minutenlang?

er begriff nicht, was da an ihm riss, was da passierte ... ein wackeln, bröckeln, schieben, danach ein bersten der mauern, ein zusammenbrechen, zusammenstürzen, begraben allerorts. riesige wände, die niemand mehr halten konnte, die herunterkippten, mit der wucht ihres ganzen gewichtes erdrückend. die schreie, die niemand mehr hörte.

vor seinen augen: ein bild des grauens. die erde, die alles nach ihrem eigenen plan umgeworfen hatte. umgepflügt. die kleinen schicksale der menschen: so unbedeutend, so nichtig. alles ist vergangen. von entsetzlicher kraft zerbrochen.

unmittelbar darauf, ein zweites mal, spürte er das rütteln und wackeln der welt, das alles hin und her taumeln ließ, alles mit gewaltiger geste umstürzte. da war nur angst. schreckliche angst: sie saß ihm wie eine zentnerschwere last im genick.

fleck war hochgeschreckt, erwacht vom eigenen schrei, stand schon im wohnzimmer, noch bevor er richtig bei sinnen war. immer noch steckte ein zipfel seines traumes in ihm. bebte die erde? oder war alles nur ein traum? wo war jemand? nichts rührte sich.

er war aufgescheucht vom anblick eines gigantischen brockens, der neben weiteren zyklopischen schwefelfarbenen felsbrocken dalag, im park. dort lagen riesige erdschollen, aufgerissene erde, starrten furchen.

fleck zuckte zusammen. die häuser: eingestürzt. zerstört die wände, zerbrochen seine heimatstadt, zusammengestürzt. in ruinen verfallen. seine eltern: tot. begraben. mitten im leben. die erde vollkommen eingeebnet, ein raues trümmerfeld. wo war nun alles? er konnte nun nicht einfach heimgehen und sich ausheulen. dort war nichts mehr.

es gab nichts mehr! alles ist vergangen. seine heimat. so viele schöne plätze gab es nicht mehr. am himmel: die sonne. wie eh und je. ein schrei, ein weiterer schrei der verzweiflung – blieb fleck im halse stecken.

da war niemand. nichts rührte sich. alles lag in stiller einfalt. die welt draußen. er blickte aus dem fenster: schnee. stille, ruhe. alles behaglich und wohlgeordnet. es war wie es war.

ich bin ich, dachte fleck.

11 alles verlassen

 

blinkte da nicht das licht der jugend auf dem treppenabsatz? rauschte da nicht schon ein heimkehren mit kaum hörbaren klängen?

ein kleiner kinderstrauß aus bunten wiesenblumen lag neben dem bordstein. immerzu musik, ein einziges lied in seinem kopf ... so rannen ihm die tage davon. die nächte schmiegten sich bequem an seine seite; heimkehren – wovon? und vor allem: wohin?

fleck hatte kein richtiges zuhause mehr. eine wohnung freilich, ein leeres gehäuse, in dem er sich verlief;

ein plakat blätterte von der wand. schälte sich von unten her ab. darunter hingen in fetzen die abgerissenen alten plakate. ein cremefarbener schriftzug schwang fetzig kantige buchstaben in einen halbkreis, verjüngte sich und überlagerte das lächeln einer showdiva: ein junges gesicht mit blonder frisur, das an die makellose schönheit marilyn monroes erinnerte.

das papier hatte blasen geworfen. wie eine fettige schwarte hob es sich von der wand, schuppte verblichen.

flecks atem verrauchte in nebulösen schwaden. als er weiterging, war es ihm, als hörte er boogieklänge. ein beschwingtes leichtes lag in der luft. violinklänge verzauberten. es war ihm, als hörte er das rauschen eines kettenkarussels, das lachen der passagiere, ein durch-die-luft-schwirren. als sähe er bunte lichter, röche süßes eis und marzipan. im hintergrund leise das transistorradio eines mannes, der zigarren verkaufte. jahrmarkt.

sportives lächeln auf einem werbeposter. ein clown jongliert. amor, amor amor! ... wann war nur sein letztes fest gewesen? kaufhausatem schlug ihm ins gesicht. warm, fast schwül kam es ihn an. ganz leise musik: dancing in the dark. to brighten up the night. we can face the music. together ...

fleck war nachdenklich geworden. die musik verklang. ein automat. sonderpreiswelt.

12 vorgipfel

 

zunächst war da ein feiner riss, der sich aufzackte und, als sie schon fast auf der spitze des taumels angelangt waren, mit einem riesigen ruck durch die decke schnitt, weißes gebrösel und kleine putzbrocken auf sie herunter warf, bald mit getöse auseinanderklaffte. sie schrieen beide. und wussten vielleicht nicht einmal so recht, warum sie schrieen; ohne recht zu denken, sprangen sie davon wie sie waren; als das halbe haus in aufruhr war, wussten sie beide nicht, wie ihnen geschah, als die wand herab taumelte und es nicht nur das bett war, das in wilden bewegungen vor und zurück stieß, dabei quietschte, das gestell des messingbettes –

sie stürzten hinaus, hörten die panischen schreie der nachbarn, heiseres gebrülle, bloß hinaus, bloß hinunter, durch ein schwankendes holztreppenhaus, dessen geländer wegbrach wie eine pappstange, stolperten, sprengten und fielen bar, wie sie waren, drunten in der hast auf die knie. haut klaffte blutig. hinaus, nur hinaus, dort standen schon viele, deuteten und schrieen. als oben die fenstergläser zerschepperten, weil alles bebte. alles bebte. scherben flogen durch die luft. eine ältere frau klagte laut. endlich kamen sie zum stehen, ganz nackig, die erregung war vergangen, sein glied noch glänzend.

sie hätten zuerst nichts davon bemerkt, sagten sie kopfschüttelnd. denn das bett, nun ja, das habe ja sowieso geschaukelt. obwohl alles noch immer rumpelte und bebte, trafen ihre nacktheit versteckte blicke.

ein mann wurde aus dem eingang getragen, er blutete am rücken. für minuten war jetzt stille. eine frau reichte ein zerknittertes tuch, in das sich die beiden einhüllen konnten. es war weit. sie konnten sich darin aneinander hindrücken, weil sie froren. siamesische zwillinge der liebe; der katastrofe.

irgendwann geht alles kaputt. dieser satz beschäftigte fleck. seine mutter hatte stets kalte hände gehabt. sie waren oft eiskalt, diese hände. im winter sogar bitterkalt.

<der felsbrocken!> schrie fleck und riss die familie mit seinem geschrei aus den tiefen ihrer träume. in seinem kopf: bilder der verwüstung. seine heimatstadt war zur trümmerwüste geworden. in einem traum hatte er einen brief getragen, der hell wie ein spiegel war. diesen spiegelbrief drückte er emmy in die hand. sein licht war so hell, dass er alles überstrahlte.

in ihm spiegelte sich die weltkugel. in diesem brief stand der abschied.

als er papa fragte, ob denn die mama seine beste freundin sei, schwieg er.

fleck wollte nie zu jenen alt gewordenen gehören, die ganz in gedanken versunken ein geschmerztes <ach gott!> hervorseufzen. fragte er sie, was denn so jammerhaft sei, schwiegen sie. ihr blick mitunter sagte ihm: was belauschst du mich in meinem leid?

oft waren sie auch verschwitzt, klebrig und nass. und trotzdem waren es, so ängstlich sie waren, mamas hände.

13 ein halber engel

 

fleck lag danieder. bei emmy. er konnte nicht sagen, dass es eine schöne beziehung war. sie hatte ihm nie gesagt, dass es da so etwas gäbe. wie liebe. es war anziehung. die not hatte sie für kurze zeit zusammengeschweißt.

emmy hatte ihm ganz allmählich, im laufe ihres zusammenseins, einen flügel gebrochen. das kam nach und nach. zuerst hatte sie ihn in bestimmten posen, wenn er hilflos war, ein wenig geneckt, bald ausgelacht. da gab es manchmal den tonfall ihres giftigen spottes, den er zuerst nicht auf sich bezog.

und ob er sich gewehrt hatte! immer wieder war er wild aufgeflattert, hatte mit lauten schwingen einen riesenlärm veranstaltet und ihr seine meinung geschimpft, bis sie ganz still und voller reue war. damals hatte er noch ein herz gehabt, das laut schlagen konnte – vor allem dann, wenn er zornig war. er müsse sich diesem kampf doch stellen. schließlich sei er kein feigling. und sein vater hatte zu ihm gesagt, dass feige männer im leben keinen erfolg hätten.

fleck lag bei ihr, hungrig wie alle lustknaben. doch sie hatte es ihm ja gesagt und er hatte es vernommen. warum er sich denn überhaupt ankuschle, wo sie doch jetzt müde sei.

emmy hatte ihm den gebrochenen flügel noch aus dem gelenk gedreht. er braucht ja nur einen flügel, habe sie bei sich leise geflüstert, schließlich ist er meiner: mit zwei flügeln macht er nur andere frauen nervös, erinnerte sich fleck.

die lust erklomm einen vorgipfel. es sei doch schön, einfach nur so dazuliegen. doch das wilde begehren tobte ihm hinauf bis in die gedankenspitzen. er bekam keine ruhe. sein kopf war eine pulsende maschine. es gab keinen frieden. das blut prallte gegen eine unerschütterlich harte mauer, von glänzender klinge gezogen.

fleck sah die rote klinge durch und durch schneiden. bis auf den grund seines fleisches. der schmerz der ungestillten lust. den sie nicht spürte. da war seine ungebändigte freude, die zerrann. sein zorn, seine trauer. so lag er neben ihr.

emmy streichelte ihn sanft, während die kraft in ihm fraß. die fantasie züngelte. zärtlich wollte fleck sich hingeben, am felsen lecken. am kühlen fels den durst stillen. stattdessen verbrannte sein kopf in der hellsten sonne. süß wollte er sich hingeben, obwohl er halb flügellahm war.

mit einem hässlichen knacken hielt sie den flügel in der hand, an dem ein paar gerissene sehnen hingen. helles arterielles blut rann. die klinge vibrierte scharf, mit verzerrtem klang, röhrte durch mark und bein, ohrenbetäubend, während emmy ihn sanft drücken wollte. kosen! der spott, der darin lag.

fleck drehte sich rasch weg. sie hielt ihn fest. mit der bitte zu bleiben, zog sie ihn an sich. er solle es nachsehen.

da wurde er traurig. doch da er kein herz mehr hatte, fühlte er die trauer nicht. eine hand sah er, die einen kalten stein streicheln mochte. da war nur dunkelheit. ungerührt, beinahe kaltblütig, stieg er aus dem bett; ein stück gleichgültiger noch als zuvor.

nach melodien war ihm, nach wilden. die seinen kopf explodieren ließen. warum solle er sich noch neben sie legen? der schmerz verbrannte seinen kopf. warum nicht endlich hinaus und weiter? zurück zu sich, hieß ihm das. er würde sich durchschlagen, irgendwo.

da draußen: die roten winde. fleck, ein halber engel, zog davon.

das straßenpflaster war eingedunkelt. warum er ging, wusste er nicht wirklich. vielleicht wäre er sowieso gegangen, weil er ein verlasser war, – ein alles-verlasser, der im grunde nur seine einsamkeit zelebrieren wollte; und jede frau hätte ihm einen flügel ausgebrochen, ihn als trofäe irgendwo in ein album tief in ihrem herzen eingeklebt. sofern sie wenigstens eines hatte.

rot-grün sprangen bunte lichtblitze, eine kulisse von neonwerbeschriften illuminiert. applaus drang durch schwarze türen. die kälte zog fleck in den beinen. er schlug seinen mantelkragen hoch. aus einer tür (einem foyer) traten die gäste eines faschingsballes heraus, für einen moment toste ihm der blasmusikschwall einer big band entgegen; schwüle luft; jazzige klänge. ganz rot. ganz gelb. schrilles gelächter.

in seinen augen erste sonnenstrahlen, die über den schaufenstern aufgingen. ein tiefes rot spiegelte sich an diesem morgen in den gläsern. warum hat man immer nur die wahl zwischen zwei übeln? las er irgendwo auf einer wand. die braune mauer verfiel. er wechselte die straßenseite. alles aus dem hirn hinausblasen.

liebe!

was für eine kindische einfalt ihn doch da umherscheuchte. der wind eisig und feucht. der geruch des schnees. es erinnerte ihn an seine kindheit. das taumeln der vereinzelten flocken um die gleißenden straßenfluter. der mantel wärmte fleck. er genoss das einsame. den triefend nassen asfalt.

weiches schwimmen des regens. grelles licht kreiselte in tiefem weiß auf mattem schwarzem spiegel. vor ihm (sie schritt von der seite in seinen weg) eine lange häuserzeile, daneben parkende autos. eine junge frau mit dunklen haaren schnitt ihm den weg ab. lau die morgenluft; von oben blitzendes schneegrieseln; der kopf pochte; schmerzte; der duft, den sie hinter sich her zog. er musste hinter ihr her, weil die gasse so schmal war, zwischen den kühlern der autos und der dunklen verfallenen wand; kein gedanke daran, dass er absichtlich hinter ihr ging, um sie zu betrachten; sie: duftete nach blumigen spitzen, die seine nase streiften, ein blumenbukett, weiches rauchiges parfum, eine rauschbraut, dachte er; junge träume zuckten auf, von vergangenen wilden schönheiten; das weiche gummiklappern ihrer hohen plateauabsätze: ruhig, fast bedächtig, ganz entgegengesetzt zu flecks gehetztheit. sie zündete sich eine zeitlupenzigarette an; er musste hinterher; er genoss die schwaden ihres rauches in der feuchten morgenluft; flocken senkten sich auf ihren kopf; ihre glänzend dunkelschwarzen haare schwappten feucht über die blaue nylonjacke. helle schlaghosen flatterten um schwarze stiefeletten.

die weißen kegel der flockenumschwärmten laternen.

die augen sanken ihm nieder. an einem hauseingang hörte er leise ein altes lied von bing crosby. er war müde.

14 getunnelt

 

wohin, wenn man weder warm noch kalt fühlt. und das auge zurück blickt? die haare flatterten fleck um die nase, der blick ruhte auf mildweißen scheinwerferkegeln, die sachte vorbeihuschten; es war kühl. seine hände zitterten. da waren emmys braune augen im kerzenschein. wohin solle er gehen, wo solle er künftig wohnen?

sich einigeln, in eine seifenblase seiner selbst, nach außen glatt und rund: so wollte er nun durch die welt kugeln. sich auf eine wiese legen, auch wenn diese feucht war. träge schlich die nacht dahin; sie kam nicht vom fleck.

mit einem nachtbus, dem letzten, fuhr er hinaus in einen vorort. sich irgendwo hinlegen war sein übernächtigter wunsch. sich auf ein feld zusammenkauern. ein paar stunden schlafen. morgen, morgen! sei noch ein neuer tag.

fleck hockte sich auf einen stein, als es zu regnen begann. es war bereits stockdunkel, als er durch klitschnasse gebüsche kroch, auf der suche nach einem unterschlupf. er sah kaum etwas, kletterte vorbei an einem wäldchen mit morschen stämmen, einem verfallenen bahngleis, einem alten holzschober, dessen dach eingestürzt war. da sah er ein rohr, ähnlich einer unterführung. ein dusterer wind kroch daraus hervor, hässlich kühl. einen moment hielt er inne, als ihn etwas überkam, was ihm früher <angst> geheißen hatte. dann ging er hinein, denn jede <angst> war ihm fern. sie kroch kaum durch die dünnen ritzen seiner jacke.

fleck tastete sich an der tunnelwand entlang, bis seine augen, zunehmend an die dunkelheit gewohnt, etwas zu sehen bekamen. am boden lag sand. darauf legte er sich nieder, zog seine jacke zu, so weit es ging, und schmiegte sich in den harten sand, den er sich zu einer kuhle zurechtgeformt hatte. doch er schlief nicht. sein körper hatte die nasse kleidung bald erwärmt, dennoch fror er und schlotterte, dass ihm die zähne im mund klapperten. er konnte nicht beide öffnungen gleichzeitig im auge behalten. etwas fraß noch immer an ihm. und wenn es gar die kälte war.

müdigkeit senkte ihm nach und nach die lider.

plötzlich schrak er hoch, hörte etwas am eingang, riss den kopf hoch. eine silhouette hob sich schlank gegen den hintergrund ab: ein schwarzer umriss in gespannter, angriffslustiger haltung, ausgestattet mit der athletik des bösen. ein tier lauschte am eingang. es war kein kleines tier. fleck hörte seinen schnellen atem; das tier – hund? wolf? raubkatze? – stand ungerührt. witterte es ihn? vielleicht doch ein hund, verwildert, hungrig, gewalttätig? hier gab es niemanden, dem ein hund gehören könnte. und wenn doch? da war niemand, der ihn hören würde, wenn er jetzt nach hilfe riefe.

der wind würde ihn auslachen.

fleck überlegte blitzartig, was zu tun sei, bis er sich entschied, dem tier mit größtmöglicher ruhe zuzusprechen, und so sagte er ganz laut ein paar worte – mit jener selbstverständlichkeit, mit der man zu alten freunden spricht ... das tier zuckte erst, quiekte zu tode erschrocken und sprang im nächsten moment mit einem satz davon. fleck lachte ihm höhnisch hinterher, als die spannung von ihm wich.

15 harmonie

 

eines morgens war fleck in der kühle der morgenluft erwacht.

sonnenstrahlen kitzelten seinen rücken. riesengroß und unscharf sah fleck vor sich die großen blüten. das harte gras stach ihm die wangen. eine butterblume schaukelte ihm vor dem gesicht. ein paar flugsamen hatten sich in seinem haar verfangen. er war am ganzen körper steif.

in seinem kopf rumorte es: zu heftig habe es in ihm gezerrt, sagte er zu sich. nach rechts, nach links, zu den roten winden. er habe es nicht aushalten können. es sei nie da gewesen, wo er war. immerzu zog es ihn woanders hin; es sei wie eine ziehharmonika gewesen und habe dabei einen schummerigen, blechernen klang gemacht, als wenn es immerzu beleidigt sei.

von sich weggehen.

 

que fácil es,

abrir tanto la boca para opinar

y si te piensas echar atrás

tienes muchas huellas que borrar

 

es war ihm, als liefe ein schwarm kleiner weißer maden über seinen körper hin, so klein, dass sie in alle poren hineinkrochen und seine haut unterwanderten, mit abscheulichem hunger in ihn schlüpften und alles wegfraßen. sie drangen in ihn, um alles aufzuzehren. all die schätze seiner erinnerung. erst seine haut, sein blut, seine adern. dann seine gedanken und zuletzt das, was er fühlte: sein ein und alles.

seine augen ruhten auf der aufgewühlten see. blickten hinüber zum festland. der tag änderte seine farbe. war er vorher gelb gewesen, tauschte er sich nun in sattes orange.

mit flecks herz war es eben wie mit einem neuen namen gelaufen. er wusste, dass diejenigen, die sich entschlossen hatten, einen neuen namen auszusuchen (weil der alte nicht angenehm geklungen oder zu allerlei hänseleien anlass gegeben hatte), bald schon dem alten nachtrauerten, weil sie mit dem neuen nicht zurechtgekommen sind. da sei ihnen der neue name doch erst so neu, so anders und wunderbar erschienen, habe dem ohr geschmeichelt und die illusion versprochen, sie in andere gesellschaft zu heben; aber er gehörte ihnen nicht. so konnten sie den neuen namen niemals so selbstverständlich tragen wie den alten. der neue wurde ihnen bald fremd, bald äffte er sie auf schritt und tritt als schnörkel der eigenen eitelkeit; und diejenigen, die noch den alten namen kannten, betonten den neuen oft mit einer idee spott, so dass die träger des neuen namens bald jenes beiläufige spotten aus fast jedem mund hörten. der alte war ihnen doch von geburt an gegeben und daher in ganz anderer weise mit ihnen verwurzelt, auch wenn es in den ohren der namensträger eine unschöne wurzel war. so war der eigene name doch der ihrige: er gehörte ihnen.

auch sein herz war das seine gewesen; es hatte ihm gehört, auch wenn es ihn immer wieder auseinander zog und fleck sehr am auseinandergezogensein litt. zurück blieb ihm nur der herzverlust. der war womöglich schlimmer als ein tagtägliches sich-winden in kraftlinien (kraftrichtungen), die an ihm rissen. er besaß gar nichts mehr; ein weniges an <gefühl> blieb ihm übrig:

erfühltes ...

sein herz wiederzufinden wurde flecks größter traum.

16 brachland

 

sein vater hatte beim ersten anblick ein glühen gespürt.

<hinreißend!>, rief er aus, und später immer wieder.

das schüttere licht, das am frühen abend durch die blätter der birken fiel! –

wenn die nacht herankam, blütenschwer, mit feuchtem saugen, und sich über die landzunge legte, glänzten vaters augen. weit dehnte sich dann das meer, das glitzernd dalag, eine leicht geschuppte fläche in völliger ruhe. darüber der himmel in luftigem blau.

<hier ist so ein schöner friede in der luft!>, hatte vater damals zu ihm gesagt. <siehst du, hier lässt es sich aushalten. hier können wir beide ruhe finden.> fleck glaubte ihm und war richtig froh. damals war fleck schon beinahe erwachsen gewesen.

<auf der 676 ist es nur eine knappe stunde hinüber aufs festland!>

papas gesicht war ein wenig rot geworden vom vielen sonnenlicht. er sei jetzt schon bald in pension, da brauche er doch einen altersruhesitz. und für mama sei es auch das beste, sie könne hier von ihrer nervosität loskommen, die nur von der enge und dem platzmangel in der kleinen stadtwohnung herrührte. alles war viel geräumiger. sein vater wollte hier, wie er es nannte, der kleinbürgerlichen enge der provinz entkommen. jeder mensch bis hinunter zum kondensstreifen besaß ein boot.

<ein ort für künstler!> kam flecks mutter ins schwärmen.

spätabends funkelte das meer. der mond stand klar: das war nicht der bräunliche himmel über seiner heimatstadt, die aus der ferne gesehen unter den tausenden von autobahnflutern an ihrer westseite wie eine schmutzige glut vor sich hin schwelte, in einem kokon von dreckigem rauch, der sie in nebel verwob. einen stern sah man dort nie.

nach flecks schulabschluss hatte die familie zwei wochen urlaub in dieser bucht gemacht und vater hatte den platz seines lebens gefunden. dann waren sie alle zusammen in das kleine küstendorf s... gezogen.

an der lagune standen große vereinzelte blockhäuser. dazwischen war weites land. an der küste lag hügeliger fels neben dunklem kies, karger boden, der sich landeinwärts schnell in weiche grüne kuppen verwandelte. dort grasten schafe und rinder. die luft war erfrischend und klar. stets wehte eine leichte brise. möwen flogen umher. landluft und seeluft – es gab beides; und das liebten sie alle so sehr. fleck war das äußerst gleichgültig gewesen, damals schon.

die familie hatte sich ein abgeschiedenes gehöft gekauft, direkt am wasser. es war ein großer hof, der kurz vor dem ableben des besitzers ganz modern renoviert worden war. ein teil des schuppens kragte auf stelzen über das wasser, ein boot war darunter festgebunden. daneben eine veranda, fast bis ans wasser herangebaut, mit einer von randsteinen eingesäumten – etwas verwilderten – wiese.

doch wer wollte hier schon her ziehen? in die wildnis? in die nähe des gerölls, wo die möwen auf den steinen hockten und kreischten, die schafe bis fast an die see herankamen? hier war doch nichts, außer einöde. auch fleck dachte so, damals.

die rinder waren fast alle schwarzbunt oder ganz schwarz, auch die schafe waren sehr dunkel. diese exotik gefiel vor allem seinen eltern.

von drüben, vom festland, sah man nachts einen sanften schimmer, der stets glomm wie ein schimmernder goldbarren. das war die Große Stadt.

im gleichen jahr, als flecks mutter an ihrem nervenleiden starb, wurde sein vater in die psychiatrie eingeliefert. mutter hatte eine lange, schwere krankheit hinter sich. seine schwestern mochten nicht bleiben.

er genoss die ruhe, als sie alle weg waren. im grunde waren sie schon vorher weg, waren sie schon lange weg, erinnerte sich fleck. eigentlich waren sie schon damals in der stadtwohnung nicht mehr wirklich bei ihm gewesen. später waren nur noch ihre hüllen da, einfach nur das äußerliche ihrer erscheinungen. und ein paar sprechblasen, die inhaltslos herumflogen und den raum mit geräuschen füllten, die er gar nicht hören mochte.

und dieses nichtvorhandensein seiner familie, die stets um ihn war, wurde auf der landzunge noch schlimmer: sie löste sich buchstäblich auf, wurde immer blasser, schmolz dahin. fleck glaubte fest daran, dass sie alle noch irgendwo lebten und er sie reanimieren könnte, wenn er sie nur finden würde. nicht ihre körper musste er finden: die waren bereits verblichen. ihre körper waren nur die hüllen. ihre gedanken, ihr erfühltes suchte er.

seine beiden älteren schwestern lebten beide schon lange drüben in der Großen Stadt, wo sie studierten und freunde hatten. womöglich war eine von ihnen schon verheiratet, dachte fleck manchmal, oder hatte ein kind geboren.

aber es bedeutete ihm nichts. er würde sie womöglich gar nicht bemerken, wenn sie ihn einmal besuchten – so dünn waren ihre hüllen geworden. so unsichtbar und blass.

fleck war nie in der Großen Stadt gewesen. er sah sie aber jeden tag, sah ihre glühende hülle, ihre rauchschwaden, sah die flugzeuge: kleine blitzende silbermoskitos, die auf ihren leib aufsetzten (um ihnen den lebenssaft abzuluchsen) und wieder abhoben. und eine eigentümliche beklemmung erfüllte ihn, wenn er sich vorstellte, dorthin zu gehen. er wäre dort so schutzlos. und so weit fort! und wenn er die menschen doch nicht sehen konnte?

sein vater hatte seine letzten berufsjahre dort gearbeitet, in einem mächtigen industriekomplex am anderen ende der metropole. nun war er in einem sanatorium, dessen namen fleck nicht kannte. wo man ihn angeblich pflegte. manchmal bekam fleck einen brief vom vater, den er ungeöffnet ließ. der ist ihm doch sowieso nur von irgendwelchen psychiatern diktiert worden, dachte fleck. er würde ja die schrift nicht einmal lesen können: es wären ihm blinde buchstaben. ohne eine spur dessen, was sein vater selbst erfühlt hatte: dieses war längst verloschen und anderswo.

nun lebte fleck alleine auf dem großen gutshof, wo er tagaus tagein zu tun hatte. schließlich musste jemand ja diese arbeit machen, sagte sich fleck. er liebte den ort nicht besonders.

aber was liebte er schon?

nach der einlieferung ins sanatorium hatten die ärzte flecks vater bewegt, ihm ausreichend geld zu vermachen, sodass fleck von etwas leben könne. fleck ging immer wieder die verwinkelte straße hinauf zu dem laden, wo er das nötigste zum leben erstand. fleck brauchte im grunde nichts. es sei alles tand, dachte er, und damit vollkommen unnütz.

die ältere dame im laden war ihm manchmal ein wenig sichtbar, wenn auch nur ganz verschwommen. dennoch war fleck immer froh, wieder aus ihrem laden draußen zu sein. er ging nicht oft hin und kaufte dann gleich ganze säcke voll konserven: proviant, der für monate zu reichen hatte. die heimeligkeit in diesem geschäft; das vereinnahmende lachen der alten dame und ihre mitteilsame zutraulichkeit; die gute warme stube, in der die wände wie in einem kolonialwarenladen mit allem und jedem vollgehängt waren, beklommen ihn. die luft hatte meist backofenwärme – wärme, die vor allem die hellbraune tünche des mauerwerks zurückstrahlte. es war zum anfassen nett. es hing fleck zum hals heraus.

17 die große stadt

 

am liebsten stand fleck stundenlang bis zu den knöcheln in der see und starrte aufs festland hinüber. dort glänzte es geheimnisvoll. es war das große unbekannte für ihn. manchmal legte er sich für stunden in das wasser und ließ sich von den wellen sanft umherschaukeln. das war angenehm. das wasser war so schön warm, wo es seicht war. der blick vor sonnenaufgang hinüber zur stadt hatte für ihn etwas verheißungsvolles, das ihn zugleich mit angst erfüllte. er konnte sich überhaupt nicht vorstellen, was dort drüben war.

seit jahren war er nicht mehr unter menschen gewesen. und hatte sich dabei daher an das alleinsein gewöhnt.

schaumkronen spielten um seine knöchel. das mochte er. überhaupt mochte er die kleine sandbank, die vor seiner wiese ins meer hinausragte.

das meer, wie es roch, nachts. fleck glaubte, seine dunkelgrüne farbe einatmen zu können. das gleichförmige rauschen bekam in der nacht einen ganz eigenen klang. im großen wuchernden gras nahe dem wasser wuchsen ganz eigentümlich schöne blumen. fleck hatte hochentzückt diese seltenen schönheiten bewundert. immer wieder wurde die wiese vom meer überspült, wovon das gras teils welk wurde und die blumen abstarben: vom wasser erstickt. aber das gras erholte sich schnell.

es wurde alles mögliche an seinen strandstreifen angespült. unter diesem gestrandeten gut waren fischernetze mit spitzen haken daran, vermoderte holzbalken, äste, zweige, plastikflaschen, rostige büchsen, plastikschnüre von angeln und netzen, fischig riechender seetang. algengeflechte (braun, in sich verschlungen, faulig riechend). etwas hatte sich immer in ihnen verfangen. ganze haarballen der schafe. glibberiger gelber schaum. federn, gekröse, vogelkot.

einmal hatte die see einen ganzen plastikstuhl herangepült, dem ein bein fehlte. fleck las vieles davon auf und schuf sich so eine schillernde und kuriose sammlung, die er in seinem schuppen aufbewahrte.

er fand immer etwas neues darunter, an dem er seine freude hatte: einen puppenkopf, eine kinderschaufel, einen mit sand gefüllten ball. einmal hatte er eine platine gefunden. zwischen ihren bausteinen hing braunes algengeflecht. manches dagegen war unbrauchbar: hölzerne gebrochene verpackungen. die rückwand eines transistorradios. schaumgummifetzen. styropor. aufgeweichte schachteln. manchmal wurden entstellte dinge angespült, wo fleck gar nichts mehr über ursprung, alter und verwendung enträtseln konnte.

fleck sammelte muscheln, die zwar selten waren, aber wenn er eine fand, war er ganz stolz. es gab ganz flache, von denen manche schon uralt sein mussten, so glatt geschliffen waren sie, – fossile irgend einer vorzeit, dachte fleck, die seit urgedenken umhertrieben. andere hatten eine herzform mit gleichmäßigen riefen, die von weiß zum braun langsam ins schwarz übergingen. wieder andere waren spitz, spiralförmig eingedreht, oft mit einer art henkel daran: diese liebte er besonders. fleck fand weiße, rosane, hellbraune und bunt gemusterte. andere waren klein, rund, flach oder spitz, jede in ihrer art einzigartig. manchmal entdeckte er gar handtellergroße und freute sich riesig. wenn er die muscheln aus dem feuchten sand las, überraschte ihn dann und wann ein kleiner krebs, der unter ihnen saß und rasch davonsauste.

einmal überlegte er sich, was er täte, wenn er eines tages sich selbst dort fände: ein totes stück mensch, mit salzigen haaren, sand in augenhöhlen und ohren, salzverkrustetes haar, zerrissene hosenbeine. den haarschopf wirr im wind flatternd. dreck zwischen den zähnen. die lippen bestimmt dunkelblau.

fleck verbrachte viel zeit damit, seine sammlungen zu vervollkommnen. immer wieder baute er aus dem strandgut fantasieobjekte, kleine motoren und maschinchen verzierte sandbauten, schrieb worte. er konstruierte aus muscheln sich drehende radare und sender: ohren, fühler, tentakel. die nach draußen horchten.

was er mit seinem leichnam anfinge, fragte er sich, wenn er ihn denn fände.

an anderen tagen saß fleck nur im sand und blickte hinaus aufs wasser, wo manchmal ein schiff fuhr. er erkannte alle möglichen schiffe: tanker, passagierschiffe, fähren, kreuzer, schnellboote, ganz selten auch einmal einen segler. er betrachtete stundenlang, wie die see in immer neuen überlappungen an land leckte. er bemerkte, dass jede feinheit zählte. schon seit jahrmillionen hatte jede feinheit gezählt. er beobachtete, wie der weiße schaum blasen warf, sich langsam auf dem sand auflöste und einsickerte. die nasse spur, dort, wo das wasser den glatten sand berührt hatte, trocknete sekundenschnell.

 

pierdes la fé,

cualquier esperanza es vana

y no sé qué creer;

pero olvídame que nadie te ha llamado

y ya estás otra vez

 

wäre auch nur ein schäumchen oder tröpfchen anders an land geflossen, sähe das meer heute anders aus, sann fleck. gibt es vielleicht gar nur eine einzige möglichkeit, wie alles sich bewegt? nur eine einzige möglichkeit, nach der das universum sich selbst abspulte wie einen endlosen film? immer wieder und wieder von vorne?

dunkel und geheimnisvoll zungte das meer heraus, stieß in immer neuen sich überlappenden wellen auf den sand.

18 schemen

 

fleck war eines nachmittages nahe am wasser, weil er seit einiger zeit versuchte, sich fische zu fangen. dazu hatte er sich von der frau im laden eine kleine angel erstanden und konnte sich nun selbst versorgen. dass er dann immer nur fisch essen würde, störte ihn kaum. manchmal gab es auch süßen schinken, den er sich als großes stück kaufte, herzhaft geräuchert; und monate daran herumsäbelte, ihn von zeit zu zeit am offenen feuer briet. er liebte es, wenn es abends kühler wurde, dazusitzen, mit salzverkrusteter haut, die immer ein wenig spannte. dann rieb er den schinken, der über der flamme hart geworden war, mit öl ein und würzte ihn mit pfeffer und salz. fleck ließ ihn oft wieder erkalten, wenn er richtig schön knusprig und hart geworden war. auch brot konnte er inzwischen selber backen. die dame im laden hatte einen kleinen wagen und konnte ihm auch liefern, was er benötigte: getreide, mehl, kanister voller wasser. manchmal sah er sie nicht, wenn sie zu ihm kam, aber fand dafür ihre ware an seinem haus.

sie kamen die anhöhe herab, zwei engel mit wehenden haaren. so deutlich hatte fleck seit jahren niemanden mehr gesehen. botinnen des jüngsten gerichtes, durchfuhr es ihn. das orange licht spielte grell an wolkenzipfeln, stach ihm wie ein bizarrer splitter in die augen, die er mit der flachen hand beschirmte. ob er sich verstecken solle, dachte er, klammheimlich in den geräteschuppen verkriechen.

seine finger zitterten nervös, tanzten fuchtelig durch die luft. er hatte ein dumpfes gefühl, als wisse er, worum es ginge.

 

entre dos tierras estás

y no dejas aire que respirar

 

fleck pfiff durch die zähne: eine schnelle melodie, die einzige, die er noch besaß, hier in der öden küstenwelt. die beiden gestalten kamen näher und näher. erinnerungen drängten sich auf.

damals, in der kleinen stadt. seine schwestern hatten mit ihm gespielt. dabei sprangen sie einmal so wild im bassin umher, dass es umkippte und das wasser im gesamten waschhaus umherlief. schnell aus der gekippten wanne heraußen krochen sie vor angst und schrecken nackt und schlotternd in einer ecke des raumes zusammen, doch die großmutter hatte das kippen des schweren eisenbottichs gehört. es setzte eine gehörige schelte.

fleck stand und angelte. sein blick schweifte ab, ungläubig. seine lippen schlossen fest. seine schwestern gab es nicht mehr. es sind gespenster, vermutete fleck einen moment lang: schimären. deutlicher noch sah er das rötliche haar der älteren in der brise wehen. das der jüngeren war flachsblond.

groß und mächtig traten sie in seine küche ein, begannen tee zu kochen. fleck hatte mühe, genau hinzusehen. noch verstand er ihre gesten nicht. es war ihm überhaupt nicht klar, was die beiden wollten. sie redeten schnell und durcheinander. fleck war fieberhaft bemüht, ihre worte, die in kleine kugeln und hüllen eingekapselt waren, herauszulösen. krankheit, verstand er. und enteignung.

fleck rieb sich die augen. ganz verstört saß er da. seine schwestern redeten auf ihn ein: er solle endlich einmal zuhören und aus seiner traumwelt erwachen. ihre sprechblasen zerplatzten geräuschvoll an der decke. fleck hörte nur geräusche der aufregung, aber begriff nichts.

<hör mir endlich zu!> schrie die ältere abgehackt, jede silbe betonend, <dein vater ist krank. er wird nicht mehr gesund werden.>

das verstand er jetzt deutlich. doch das wusste er ja bereits.

<es gibt einen richterbescheid, dass er das anwesen übertragen muss, an uns drei. wir zwei haben uns entschlossen, das gut zu verkaufen.>

fleck schwieg. es war fürchterlich anstrengend, diesem silbensalat zuzuhören. er hörte wieder nur geräusche, verließ das zimmer, ohne dass er sie zuende reden ließ. fleck wollte angeln und seine ruhe haben. ein lichtspiegel querte sein augenlicht. eine träne verzerrte das gleißen, er wischte sie schnell ab. seine schwestern folgten ihm den kleinen weg hinunter an die bucht.

<du kannst hier nicht länger bleiben>, begann seine andere schwester lautstark. <sieh dich an, in welchen lumpen du herumläufst. wovon lebst du? was hast du in all den jahren gemacht? wovon gelebt? du gehst hier vor die hunde. deine haare sind schulterlang, du bist bärtig, eingewuchert und vollends verwahrlost – ein bild des grauens! bist du überhaupt noch ein mensch? du bist in den vier jahren, in denen du nun hier lebst, vollkommen dumpf und seltsam geworden. jemand, der die welt nicht mehr begreift. es scheint, als würdest du uns gar nicht wahrnehmen! bist du eigentlich da?!>

sie lachen mich aus, dachte fleck.

<du bist nicht fähig, auch nur einen vernünftigen satz zu reden. du lebst doch nur in deinem kopf. die leute halten dich für einen, nun ja, spinner, dabei bist du erst am anfang ... dabei bist du noch so jung.>

fleck grinste seine schwester an, mit dem lächeln eines irren. die schwester verstummte abrupt.

seine zunge lag ihm wie ein schleifbrett im mund. es fiel ihm schwer zu sprechen. plötzlich blitzten seine augen.

<haben gnä’ frau nun geendigt?!> kicherte er spöttisch hervor.

<wir haben das anwesen bereits aufgekündigt. es ist zum verkauf freigegeben.>

das sind nicht meine schwestern, dachte fleck, so gut sie sich auch verkleidet haben. es sind hyänen. bestien. trügerisches geschmeiß aus der Großen Stadt! fleck kniff die augen zusammen. nie würde er auch nur einen fuß dorthin setzen.

es plagte ihn der hunger. sie standen immer noch da wie angewurzelt, argumentierten, gestikulierten, krakeelten durcheinander. sie verblassten, als fleck beschloss, die angel auszuwerfen und endlich für sein mittagessen zu sorgen.

seine schwestern waren es nicht, da war er sich nun ganz sicher. diese gestalten waren bestimmt eine einbildung gewesen, dachte fleck. auch wenn er die schemen nach einer weile wieder über die anhöhe davonschwinden sah. sie würden mit sicherheit nicht wiederkommen. diese trugbilder! ausgeburten des molochs.

schließlich konnte er doch diesen ort, mit dem er so viel verband, nicht einfach preisgeben. er mochte ihn nicht preisgeben. das grenzte an verrat. die zwei hatten ihn verraten: ihn und seine heimat, die ihm nach und nach lieb geworden war, auch wenn er den ort lange nicht verstanden hatte.

wo sollte er sonst hingehen? was besaß er noch? sein blick wurde dunkel.

all seine sammlungen! all das, was er sich über die jahre aufgebaut hatte! wie unverschämt es doch war, sich die gestalt seiner schwestern zuzulegen, um so eine spottvorstellung zu geben, dachte er.

fleck las keine briefe. was er an post bekam, warf er seit ehedem ins meer und sah lange zu, wie es davon schwamm, langsam aufweichte. er bekam in letzter zeit sehr viel post. die absender darauf mochte er nicht entziffern, es war ihm zu mühsam, erst recht, wenn sie maschinengeschrieben waren. er mochte die ungeöffneten kuverts langsam davon treiben sehen.

kurze zeit darauf standen drei männer in schwarzen anzügen vor seiner haustür und läuteten sturm. fleck war gerade im geräteschuppen zugange und blickte hinüber, was es für männer seien, die aus einer großen dunklen limousine gestiegen waren. er konnte sie ganz deutlich erkennen. feine herren im frack. er hatte so jemanden noch nie in dieser gegend gesehen. dass er sie so deutlich wahrnahm, verstörte ihn noch mehr, als wenn er sie nur schemenhaft gesehen hätte. oder gar nicht. fleck stieg schnell auf den speicher und blickte von oben durch die dachluke herab. sie pinnten einen bogen mit roter schrift an seine haustür. als sie verschwunden waren, löste er das papier ab. es stand mit harten lettern ein wort darauf, unter diesem ein datum mit mehreren stempeln.

fleck warf das papier ins meer.

19 das zerbrechen des lichtes

 

eine wasserfontäne spritzte in hohem bogen aus der wand. ein spülbecken aus blech purzelte polternd auf die straße. zwischen dem geröll: möbel, zerbrochenes geschirr, kinderpielzeug, haushaltsgeräte. die innerlichkeiten der häuser schamlos nach außen gestülpt; fleck wandte seine augen ab. überall wehklagen, zerdrückte autos; die straße hatte risse bekommen, die mit brettern überbrückt wurden. ruinen, so weit das auge reichte. aus den häusern waren heisere schreie zu hören.

ein paar reporter posierten vor dem trümmerfeld, sich auf eine kameraeinstellung vorbereitend. die frisur einer jungen blonden frau wurde für die liveübertragung gerichtet. fernsehwagen aus dem ausland fuhren herum, schöne, geputzte, blinkende karossen. die trinkwasserversorgung machte probleme, da das leitungsnetz nicht mehr intakt war. elektrizität gab es nirgends mehr.

es waren bereits baufahrzeuge im einsatz, die den schutt forträumten. ein kran hob große trümmer behutsam an; männer mit bauhelmen brüllten richtungsanweisungen hinauf zur kanzel. krankenwagen waren angekommen, die verletzte abtransportierten. sanitäter liefen umher. hilftrupps brachten sie zu bussen, wohl in eine art sammellager, – wer wusste das schon. hier konnten sie jedenfalls nicht bleiben.

fleck schreckte hoch. etwas bohrte in seinem hirn.

als er nachts auf der veranda stand und auf die ruhige see blickte, kam ihm der gedanke, dass es ein faszinierender anblick sein müsse, wie das gehöft in sich verfiele und durch seine dächer die sonne schiene. irgendwann würde das anwesen nur noch eine ruine sein, vom meer überspült: seine küche, seine kleine nische, in der er schlief, seine kammer, das ehemalige wohnzimmer seiner eltern. seine sammlungen. durch das dach würde er den himmel sehen und es dann, nachdem es verfallen war, mit großer genugtuung verlassen können.

um sein herz zu suchen ...

zum ersten mal nahm er sich das fernglas seines vaters und blickte hinüber zur Großen Stadt. dort sah er nun eine riesige ansammlung von hochhäusern, brücken und fabrikschloten. diese metropole musste riesig sein.

ob er dort sein glück wieder finden könne? ob dort erfühlbares sei?

manchmal hörte er die stadt: es war, je nach wind, ein weiches rauschen. ein bild erwachte in ihm: es gab gärten, riesige anlagen mit tulpen, rosen, narzissen, orchideen, jasmin, oleander, begonyen, fresien und veilchen. und blumen, die keine namen hatten. er sah einen ausgedehnten basar, auf dem hübsche, gutgekleidete menschen dahinschritten. man konnte wunderschöne ware kaufen: bunte, glänzende kleider, schmuck, gewürze. weiche düfte durchströmten die atemluft. sie waren herb, süß und mild. angenehme musik (gitarren) klang aus den kleinen bars heraus. wohin man sah, waren kleinere gasthöfe und einkehren, in denen es angenehm warm war und deren erleuchtete fenster zum eintreten einluden. kerzen brannten: hohe schlanke, dicke bauchige, gerade zylinderförmige, mit schönem gelbwarmem licht. er mochte das. junge frauen, anmutig gekleidet, bedienten.

es gab ein getränk, das kühl auf der straße verkauft wurde und nach gesüßter malve schmeckte. es trug den namen einer karibischen insel.

in den bars saßen mädchen mit hübschen braunen augen. sangen dunkle lieder. trugen weite, glänzende seidengewänder. hatten gut frisiertes, langes haar. in diesen gemütlichen einkehren standen einladende sitzbänke, wo man sich nach dem flanieren niederlassen konnte und feines essen serviert bekam. dazu guten wein. oder ein kühles bier – jeder wie er wollte. aus dem hintergrund spielte musik. zum beispiel ein kleines streichquartett. oder es musizierten männer in gepflegten schwarzen anzügen, die mit feierlichen trompeten zum hochzeitsfest einen warmen tusch bliesen. und jeden tag war eine hochzeit!

auf dem geräumigen platz mitten in der stadt befand sich ein großer markt, auf dem menschen lebensfroh sangen und lachten, umgeben von parks, in denen die leute saßen. hier traf man sich, hier lernte man sich kennen.

hatte ein mann hier auf einer bank eine schöne frau gefunden, ging er zusammen mit ihr, wenn sie wollte, die esplanade hinunter, flanierte zwischen anderen glücklichen paaren mit weiten schritten eng neben ihr. kam man sich nahe, legte man die arme umeinander. und küsste sich. vielleicht. die sonne spielte mit schütteren farben in einer wolkenbank und ging dann im schönsten postkartenrot am firmament hinunter. er liebte es, der sonne zuzusehen, wenn sie langsam ins meer einsank. fleck liebte den süden.

 

déjalo ya,

no seas membrillo y

permite pasar

y si no pienses echar atrás

tienes mucho barro que tragar

 

liebe!

was für eine verlogenheit das war. eine sentimentalität, eine krücke. und sich einer nackten frau ganz hinzugeben: nicht aus freiheit und glück oder um sich im sengendem licht zu baden, nicht der grünen wiesen wegen, sondern aus not, aus kleinheit und einsamkeit: das war schwäche. einen warmen körper neben sich zu spüren, in hitze mit ihm zu verschmelzen, sich überglücklich ineinander zu kehren und die oberflächen zu vertauschen, auf den höchsten gipfeln zu stehen und aus freude am echo hinunter zu rufen, zu jauchzen vor gipfelglück: das hätte ihm liebe sein können; nicht dieses verschämte zueinander-finden, weil beide jemanden suchten, weil beide einsam waren, enttäuscht waren, weil beide ein armseliges leben führten und sich aneinander ergehen wollten, weil die kraft, der druck, der trieb bohrte: das war unfreiheit und raserei.

einen schimmer trug er im auge: das licht der sonne, das auf dem asfalt flirrte wie in einem spiegel. an einem solchen platz nahe dem markt, wo man abends flanierte, wo frauen einsam auf bänken saßen, war auch fleck einmal gesessen. alle düfte stiegen wieder in ihm auf. er erinnerte sich an den weiten platz mit dem schachbrettmuster. in einem rund, das aus bänken gebildet war, saßen mütter mit ihren gutgekleideten töchtern. fleck hatte sich dort unwissend hingesetzt. sogleich kam eine frau mama mit ihrer tochter an und fragte ihn, wo er denn herkomme. damals konnte fleck nicht besonders gut spanisch sprechen. aber er erklärte, aus welchem land er stamme und erzählte in kurzen zügen seine familiengeschichte. das wort esposa fiel. ob er denn schon verheiratet sei. fleck schüttelte energisch den kopf. das mädchen, kaum 18 jahre alt, strahlte jetzt über beide bäckchen. er war nicht viel älter als sie gewesen, damals. jetzt begann die tochter selbst zu reden. sie fragte ihn, ob er kinder habe, ob er sich vorstellen könne, hier zu bleiben. beides musste fleck nach kurzer überlegung verneinen. seine familie, sagte er. und schwieg. das leuchtete mutter und tochter ein. es mache ihm freude, mit ihr zu sprechen, sagte fleck.

<como te llamas?>

<gabriella.>

die mutter protestierte mit einem herzlichen lachen, als die tochter den kugelschreiber ansetzte, um ihm dann mit niedlicher kinderkrakelschrift ihren namen auf die hand zu schreiben. das fand gabriella neckisch. ihre braunen augen leuchteten. sie ließ ihren kaugummi knacken. weiß blitzten ihre schön geformten zähne.

<y tu?>

dieses <tu> tat ihm gut. er war hingerissen von gabriellas <tu>, gesprochen mit einem ganz weichen T (schokoladenfarben), insbesondere, als man überall auf ein feines aber ebenso förmliches usted wert legte. umso mehr schmeichelte ihm ein solches <tu>.

er sei ein sehr gutaussehender junger mann, verstand fleck, nachdem die frau mama beim zweiten mal deutlicher artikuliert hatte. er wurde etwas verlegen und fragte noch einmal nach.

<si, muy bueno!> kam von der mutter, die daumen und zeigefinger zusammenbrachte, die restlichen finger galant abspreizte.

ob er denn einen beruf habe. fleck hatte den kopf geschüttelt, damals auf der esplanade. ein schüler sei er noch. ach so ja, ein schüler. den namen der stadt hatte fleck vergessen.

er träumte von der Großen Stadt. von den vielen schönen, hochgewachsenen, lachenden menschen, die dort durch die straßen schritten. so, wie er es in seinen träumen sah, würde es sein. das wusste er ganz bestimmt.

20 das dunkel

 

es war frühmorgens, es war kalt, es begann zu regnen. sein blick tauchte davon. es erfasste ihn eine schlimme beklemmung. eine erinnerung flackerte auf. wasser platschte herab auf fleck, der auf einem fels niederhockte. er starrte weit. alle himmel waren mit düsteren zerbrechlichen glocken verhangen, tönern, dunkelrot. der regen, der durch die halbgeöffneten luken des himmelszeltes herabrann. draußen: die musik der nacht. der regen spülte alles fort. das fünfstrahlige ahornblatt schmierte am boden dahin. im dreck das eichenblatt. den ahornsamen. als kind hatte er sich diesen samen auf die nase geklebt. (wann mag das gewesen sein?)

all diese menschen, die ihr herz an etwas hinhängen, das womöglich längst gestorben war, bebte es in fleck.

er hob einen dunklen stein vom boden auf, den ein weißer faden fast geradlinig durchzog. er war angenehm kalt, dieser stein, er duftete. fleck labte sich an dieser schönen kälte. sie brachte ihn ein wenig zur besinnung. er hatte ein verlangen nach dem schatten einer tanne als stillem ort, darüber der katafalk der nacht gedeckt.

vor sich sah er die silhouette der stadt, erleuchtete zacken in weiter ferne. stumpf saß er im regen, als die neonbeleuchtung ansprang und wie eine aufquellende narbe flammend weiß den weg über den kleinen hügel zur stadt wies.

fleck war zuhause auf dem bett gelegen, hatte roten wein getrunken, schwer und fruchtig, als er etwas leuchten sah. er hatte von seiner liebe geträumt, hatte einen bedeutungsreichen brief geschrieben, den er hinterher in hunderte fetzen riss. ein wunderwerk hätte er schreiben wollen; ihr, die er anbetete, wollte er diesen brief zukommen lassen: ein papiernes gebet in dunkelblau, in das er mit weißer tusche einen hübschen vogel hineinmalte. ein feuriges federwerk auf rotorangenem busch, darüber mit gelb die federn; das leuchtende auge ein tupfen silber, den schnabel geschwungen, darüber verschwenderisch die buchstaben seiner liebe hingemalt: gedrechselte worte unverwüstlicher sehnsucht. fleck trieb die buchstaben ins schwere papier. deklamierte seine zuneigung in steinerne lettern. meißelte seine wilde leidenschaft. gravierte die tiefen des geduldigen papiers.

das zitternd perlende mondpapier schwoll, ein schwachroter schein hinter den wäldern und dunkel hinsterbenden silhouetten der nacht verblühte, den schemen des gedunkelten dorfes, die fleck nur undeutlich sehen konnte. in kühlem blau blieb ihm die nacht, endlich nur die nacht.

als lichtzüngelnder brand fraß sich das helle seidenweiß des mondes durch alles hindurch, sengte mit eisengreller klinge, schnitt kalt alles auseinander, was welt war, was blass und vage am rand blieb, zerschnitt den warmen sonnenrest am unteren ende des waldsaums – dunkelrotes barrett einer stolz hinsterbenden sonne, zog die stählerne kante des mondes, kitzelte die pupille mit der schneide eines zerfetzenden rasiermesserblattes. blut rann schnell, kathodenkalt.

wie alles dahinfloss. nirgendwo gab es noch wärme.

<glaubt gott an gott?> höhnte fleck mit bitterem schrei hinaus in den regen.

<glaubt morgenrot an morgenrot?> gab er heiser hinterher. in schwaden wucherte ihm der atem aus dem mund. die luft blieb kalt.

<glaubt echo an echo?>

<atem an atem?>

fleck trat mit den füßen gegen die nassen sträucher.

hat gott berücksichtigt, wie wertlos doch alles war? nagte es an ihm.

<wie herzlos leuchten doch die sterne!> sprach er tonlos hinauf. seine atemluft rauchte.

<und die sonne ist auch nur>, er hielt inne, <– ein toter anorganischer stein.>

eine zeitlang war es sehr dunkel geworden: da war das loch in seiner brust. ein unleugbares loch. zuerst dachte er, es sei eine kleine lücke, ein winziger spalt, ein schlüsselloch; dachte, er könne sich einen finger an die brust halten, um es unsichtbar zu machen. jemand, der von dem loch wusste, konnte mühelos einen schlüssel hineinstecken und ihn umdrehen.

das loch, durch das ein hauch davon hereinkam, was draußen war: die nächtliche kühle. ob er vielleicht nicht ein wenig von seinem licht nach draußen bringen könne.

aber das dunkel fiel in ihn

erst war es nur ein kleiner fleck, etwas dunkler als fleischfarben: ein muttermal, eine wölbung nach innen. doch es wurde größer und größer und mit ihm kam schwärze herein. womit er es hätte füllen können, dieses loch? –

es war eine monströse leere, eine dunkle wüste

seit mit emmy schluss war, wuchs das loch; erst hat es kaum weh getan, aber nach und nach fingen die ränder zu brennen an, zuletzt wie feuer. er wollte es nicht spüren, ging darüber hinweg. einige leute auf den plätzen fragten ihn, was mit ihm sei.

die flammen hatten ihn überwuchert

es holte ihn ein. er war von ihr gegangen, unweigerlich, hatte sie stehen lassen, obwohl er sie geliebt hatte, war übernächtigt im frühen morgenwind durch den regen gegangen. und hatte sie verlassen. damals sein brennender stolz, ein biss auf die unterlippe, ein gran schadenfreude sogar: triumf in der morgenglut; schwarzer marmor – splitternden briketts vergleichbar; mit schwarzem gestein hätte er es auspanzern mögen, sein herz, sein wegwerfherz, dachte er, so sinnlos war ihm dieses ding geworden.

manchmal hatte fleck sie Aurora genannt: sein sanftes ein und alles. seine reife welt-erklärerin. ein kurzes knirschen von glasscherben unter der zunge. war es dieses geräusch, das er hörte – ein banges klirren und beben inmitten rauschenden lebens?

mit solchen gedanken kroch er hinein in dieses dustere loch.

21 chemisch

 

egel umwimmelten ihn, papierdünne larven, blattmenschen, raupen und insekten, geschöpfe aus der unterwelt, riesengroß, umherspukend, er darunter, ein fleck mit hut inmitten der schweißbrandenden parfumierten luft. es war zu heiß. aber wie schön es war, in dieser zu heißen luft! das harte pochen einer bassgitarre dröhnte durch seine eingeweide. an einer bar legte er beide arme in die nässe der theke. sein t-shirt klebte an ihm wie eine feuchte haut.

sie stand neben ihm am tresen: eine frau mit einem hut. nicht gerade außergewöhnlich auf einem faschingsball. jedoch hatte irgendwer seinen eigenen hut genommen, als er ihn beim tanzen abgelegt hatte. hüte sahen oft gleich aus; aber dies konnte nur sein hut sein. auf alle fälle war es eine gelegenheit ...

emmys kullernder tropfenblick rollte in zeitlupe auf ihn zu, als er auf sein getränk wartete. der blick hinein ins raffinierteste labyrinth aller erdenaugen. die verschachtelte treppe in diesen pupillen, ein warmes dunkles gewölbe, das ihn fort saugte auf den zweiten dritten vierten blick. ein mund. der sich aufzog wie eine ziehharmonika. darin strahlte frech eine reihe kleiner weißer zähne.

<hut ab!> fuhr es lustig aus fleck, und noch ehe er einen klaren gedanken gefasst hatte, gab er schon ihrer kopfbedeckung einen schubs.

<he!> fuhr es lustig aus emmy, lächelnd stand sie da, entrüstet. da kamen die getränke. als sie bezahlte, nahm ihr fleck den hut vom kopf. sie, hin- und hergerissen zwischen der bedienung und ihm, gestikulierte, zahlte, protestierte. fleck lachte und setzte ihr den hut wieder auf.

<hut auf!> sagte er.

und schuss! ein polaroid fürs leben ins album seiner erinnerung eingeklebt. sofortbild.

mit rascher hand nahm ihr fleck den hut vom kopf und setzte ihr nun den seinen auf. ihr blick wurde wütend. er setzte sich selbst mit gespielter lässigkeit ihren hut auf. lächelte gewinnerisch.

<was soll denn das, du ... !>

siegessicher nahm ihr fleck erneut den hut vom kopf.

<gib meinen hut her!> sie war so perplex, dass sie sich nur die hände in die hüften stemmte und ihn energisch anstierte.

da zog er ihr einen von beiden hüten auf und schmiss zwei silbermünzen vor sich auf die theke.

<stimmt so>, sagte er zu ihr gewandt.

lächelte charmeurhaft.

<hut ab ... !> sagte sie, jetzt frech und dunkel. fleck reagierte nicht.

<mensch, gib sofort meinen hut her, du spinner!> röhrte sie durch die laute musik hindurch. und griff nach ihrer kopfbedeckung auf seinem kopf.

<dein glück, dass heute fasching ist!> sagte sie und grapschte ihm mit einem ruck den hut vom kopf.

<das ist meiner!> protestierte fleck, und rupfte ihr den hut wieder aus der hand.

schnell warf er sie beide in die luft. als sie im fallen heruntertaumelten, fing fleck den einen, sie den anderen.

<na, welcher ist jetzt deiner?>

emmys schallendes gelächter. jetzt, wo sie es begriffen hatte. beide schwarz, beide breitkrempig. bis auf das hutband gleich.

sie langte nach dem einen.

<moment>, sagte fleck mit tiefstem bass in seiner stimme.

<das hier>, zu ihr gewandt, <ist ein damenhut>. er strahlte sie an.

<und das hier – ist ein herrenhut.> er kniff ein auge zusammen.

<das ist in wirklichkeit: deiner. wir haben sie wohl vertauscht.>

sie lachte voller ironie auf.

<vertauscht!?> kam es heiser aus ihr.

<in meinem hut ist ein violettes schild. da steht darauf: la grange. er ist aus spanien. sieh doch nach, señorita!>

sie blickte ihn nachdenklich an. nahm den hut vom kopf, blickte hinein.

<la grange!>

braune haare. dieses kieksende lachen. ok. woher wusstest du. hier sind doch so viele menschen. was? du kennst deinen hut. kann ja gar nicht. es ist zufall. ich habe es nicht. und du?

sie lehnten an der bar und redeten. sie hat so etwas weiches, wenn sie ihren gespielten zorn abgelegt hat, spürte fleck. fleck sprudelte über, erzählte in wilden gedankensprüngen von seiner spanienreise, damals, mit seinen eltern in barcelona. auf den ramblas. in der kirche von gaudi sei er gewesen. die tönerne glocke. hatte einen geisterhaften klang gehabt. davor war ein kleiner flohmarkt. mit straßenverkäufern. hier hatte er den hut gekauft. emmy. ein zuckersüßes. edelweiß. dachte. fleck. dieses herausperlende lachen!

emmys lachen auf den vielen polaroids. eine ganze pappschachtel besaßen sie davon.

zweimal hatten sie urlaub gemacht: einmal auf sizilien.

liparische inseln. das grelle sulfid auf vulcano. ihre vielen <weißt-du-noch’s>. auch hiervon besaßen sie ganz viel. als er sich seine hand am roten gestein verbrannt hatte. und emmys schelmisches lachen dabei. sie war eine schadenfrohe chilibohne, dachte fleck. ein clownsfratz. you are my lava girl.

und einmal im schönen bayernlande in den alpen gewandert: schnappschüsse vom spitzingsee. emmys lachen eingefroren in filigrane chemische schicht.

ein fotoalbum hätte es werden sollen. das stand neu und unbenützt neben der zigarrenschachtel: dazwischen steckten noch zwei liebesbriefe, ein aus einer illustrierten ausgeschnittener schmetterling und das bunte gekröse eines geschenkpapiers.

die chemie ihrer küsse.

fleck dachte, dass es nicht auszuschließen sei, dass die dinge nachts, im versteckten, ihre farbe änderten. wenn er nicht hinsah, wurde beispielsweise alles heimlich lila. oder blau. (oder braun?) es blieb solange andersfarbig wie es dunkel im raum war.

und wenn er schlief – wenn er von einem moment auf den nächsten in eine völlig andere welt gekippt war – sich im dunkel eines traumes verlor, wieder zurückschwappte in fetzen der hiesigen wirklichkeit, für kurze zeit hinabgetaucht in unterseeisches: dann war es ein luftschnappen, aus all diesen bilderfluten (die ihn auf abwegen hinabzogen in andere wahrheiten) wieder einen moment hinaufzustoßen, um luft zu holen – bei dem fleck mit einem mal beides vergessen hatte, was dort, was hier gewesen ist.

der harte sandboden schmerzte, als fleck sich umdrehen wollte.

in der sekunde vor dem lichtanknipsen nahm jeder gegenstand flugs wie von zauberhand wieder seine ureigene farbe an.

22 im kosmos der ruhe

 

beim ersten mal hatte ihn der große nadelwald, der fünf viertelstunden landeinwärts in einem tal dalag, mächtig beeindruckt.

fleck wusste, dass es enormen mut erfordern würde, von seinem platz wegzugehen.

seine sammlungen, seine pflanzen (die er in alfabetischer folge vor dem haus in kleinen gemüsebeeten zog und nachts mit folie abdeckte) seine käfersammlungen, seine blumen, seine blätter. über monate würde er seinen auszug aus der jetzigen heimat, die sein glück bedeutete, vorbereiten müssen.

er schob es tage und wochen beiseite, saß mit spanischem hut unten am wasser in der herrlichen sonne, spürte die salzkruste auf seiner haut und dörrte um die mittagszeit in der hitze. schloss die augen, blickte aus schmalen schlitzen ins funkelnde nass. hatte eine tüte tabak dabei. rauchte.

ein fahrendes haus müsse es sein, dachte fleck. ein gefährt, in dem er wohnen könne.

ein nest.

ein metallener kokon.

eine arche.

nachdenklich strich er durch seinen gemüsegarten. nach und nach hatte er sich eine reihe von kräutern gezogen. er kannte ihre biologischen namen nicht, nur ihre gerüche. deshalb benannte er sie nach ihren gerüchen: die heuwurz. das vliesbett. die mäanderriefe. die glockige perle. das nieselgras.

das eine war, alles zu verlieren. das andere war, nichts zu finden.

fleck pflückte die gräser, trocknete sie und rieb sie zwischen den handflächen über den speisen. außer birken gab es nicht viele bäume. hauptsächlich nadelwald. bergaufwärts standen noch einige vereinzelte laubbäume. als kind hatte er viele papierbögen mit blättern beklebt: von den bäumen in seiner heimatstadt. vom ahornbaum dort. ein paar hatte er aufgehoben.

fleck wurde weniger. fleck schrumpfte auf die größe eines fingerhutes zusammen, so machten ihn der wald, die bäume, die blätter, die käfer staunen. dazwischen er, im riesigen brausen des dunklen nadelwaldes. eine nadel war er, nicht einmal, nur eine der gedoppelten langen nadeln, die sich an ihrem bindeglied auseinanderziehen ließen.

und wie gerne er doch unter dem schattigen dach der bäume saß! im dunklen tann, weit drinnen, auf teppichen von nadeln verborgen. und wie gut es dort doch duftete! die stille, die nicht wirklich still war. da rauschte der wind durch die zweige, ein ast knarrte geheimnisvoll, ein buntspecht hämmerte in der ferne. wenn es kühl war, verbrachte er oft lange abende auf braunen teppichen. hatte seine kleine decke dabei, und schinken. saß weich und trocken. wenn die sonne längst untergegangen war, kamen glühwürmchen heran. winzige (bläuliche) leuchtpunkte schwirrten emsig umher: ganze scharen fosforeszierender irrlichter.

manchmal saß fleck stunden so da, den kopf leicht geneigt. dachte, wer denn nach seinem tod all die vielen feinen dinge, die er besaß, pflegen würde. wer all sein hab und gut angemessen würdigen könnte.

denn sein erfühltes, das er mit all den dingen verband (mit gerüchen, farben und formen) konnte niemand ahnen. geschweige denn festhalten. ein relikt aus den tiefen des meeres rührte ihn an: ein fossil, aus dem er etwas neues (vielleicht eine ahorn-suchstation) gebaut hatte. etwas einzigartiges: eine muschel, ein blatt, eine spielzeugdose, deren klingenden musik-mechanismus das beißende salzwasser zerfressen hatte.

zerrieben zu sand: die muscheln. wie alt sie waren?

wie lang war die zeit?

fleck saß viele stunden bei seinen sammlungen und schaute in einem zustand zeitlosen schwebens all die dinge an. es waren dinge mit innerlichkeiten. sie hatten ein herz.

am liebsten aber waren ihm seine blätter. fleck gab sich ihnen hin.

ahornbäume standen eine viertelstunde weges bergaufwärts, über die anhöhe, schräg hinunter zur großen straße. es waren kleinere bäume als in seiner heimatsstadt, inmitten einem hain von laubbäumen. fleck liebte die bäume. ahornbäume zogen ihn magisch an. manchmal, wenn es ihm danach war, stieg er flugs hinauf, setzte sich wie einst hinein in die breite krone und ließ seinen blick schweifen. über die gräser, in denen der wind spielte.

fleck konnte bald die jahreszeiten riechen. auch wenn noch kein schnee gefallen war, roch er ihn; roch die kälte. er konnte sogar riechen, was für ein schnee gefallen war. er roch die knospen der bäume im frühjahr, ihre sporen, roch die eberesche, die buche, den haselstrauch, roch die schlüsselblume, die anemone, den krokus. jeder tag hatte einen ganz eigenen geruch.


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