erster teil
dein herz treibt
dich aus dir hinaus, dein herz ist hinter dir her, und du stehst fast schon
außer dir und kannst nicht mehr zurück.
<r.m.
rilke, die aufzeichnungen des malte laurids brigge>
1 melodien des ahorns
dabei
war sein erfühltes weder schwarz noch weiß.
fleck nannte es sein erfühltes.
das wort <gefühl> war ihm zu stumpf, da alle welt dem gefühl
frönte. es zelebrierte. es jubilierte.
dabei war das wort <gefühl>
ein wort. sein erfühltes aber war erfühltes. das er litt. das ihn
schweben machte. das in ihm oft nur leise rauschte.
da war schon das still-aus-dem-fenster-schauen
erfühltes. schon die rötlichen pflastersteine mit ihren mustern
weckten melodien. melodien der erinnerung.
so zog es ihn. so zitterte es
ihn. so, könnten wir denken, habe fleck sein herz noch am rechten fleck.
fleck dachte eher, sein herz
sei ein vehikel. ein flugschiff der ewigkeit. ein singendes himmelsboot. das
durch die roten winde fuhr.
die winde: sie waren so stark.
sie waren so traurig oft. sie trugen das rot des mädchennamens seiner
mutter. dabei mochte er gar nichts anderes um sich haben als böen und
leise windstöße.
das erfühlte trug kleider
in pastellnen farben. es glitt durch ihn. es hüllte ihn ein. oft trug
es auch ein wort mit sich: buchstaben. sterne. punkte.
jeder wind war ein wenig anders,
jeder hauch brachte eine andere melodie.
als kind, dachte fleck, ist das
alles da gewesen. aber es war wie ein brausen. er musste genau auf das feine
zittern lauschen. dies leise beben der lüfte. als sei das erfühlte
ein wind unter dem emporkosen eines flügels welle und schlag.
fleck blickte aus dem fenster
nach süden. es gab in seinem dachzimmer zwei fenster. aus dem einen blickte
er. da sah er eine straße, meist menschenleer, oft voller autos. da
sah er die alten ahornbäume mit ihren gezackten blättern, die im
herbst lange umherlagen. gelb. manchmal rot. schließlich braun. wie
verwelkte hände bedeckten sie den boden. bis ein orangenes gefährt
kam, mit einer runden bürste unten, dem ein mann hinterherlief mit großem
ausschweifenden besen. sie einkehrte. alles einkehrte.
jedes dieser blätter war
fünfstrahlig.
als kind war er hinauf geklettert
auf einen dieser bäume, der hatte zwei stämme, die unten an einer
gabelung auseinander wuchsen.
da hatte er früher zwei
beine zwischen die stämme gestemmt und ist dann an einem stamm hinauf
gestiegen.
und oben, als die äste immer
dünner wurden, machte er halt. dort ist er lange gesessen.
auch hier: das beben.
damals habe er etwas gesucht.
etwas verlorenes. es zurückbekommen, in kleinen stücken und teilen,
die er wieder zusammenfügen konnte wie die scherben eines tongefäßes.
das womöglich <glück> hieß. es gab verschiedenes glück.
es war nicht nur ein glück.
manchmal war er stunden im baum
gesessen, bis es plötzlich da war, kastanienfarben. da konnte fleck es
spüren und pfiff und kiekste es flugs in melodien, die er über die
zunge dicht am gaumen vorbei blies. da dachte er an seine vielen brieffreunde
in der schweiz und was sie wohl alle gerade taten: in basel, in bern, in winterthur.
ein anderes glück war schwerer,
war ein geschmack wie malventee, es war dunkelrot und süß. dazu
gefaltete papiergesichter: dünne, rote, durchscheinende.
ein wieder anderes glück
war leicht und flog mit gelben flügeln, schnell, hob ihn und zeigte ihm
die dächer der kleinen stadt, wie sie in der sonne flirrten.
es gab ganz unterschiedliches
glück, das überall wartete. auch unter den steinen saß es
oft, wie ein versteckter schöner käfer mit grün glänzendem
rücken.
da war die richtung seines herzens.
kristallin und weit der himmel in flüchtigem blau: die tage konnten dunkel
sein, auch wenn die sonne strahlte. am nachmittag, als die sonne in sein zimmer
hineinschaute, gönnte er sich eine kleine ausschweifung.
2 das riesenherz
bis
aufs hemd nackt auf dem bett, ein piekser in den arm und schon durchrann ihn
warmes strömen. es ging alles so schnell. zuerst fühlte er sich
versetzt in den faschingsball damals in der großen aula. als irgendjemand
seinen lustigen schwarzen hut genommen hatte, worauf fleck doch nun jede frau
mit hut ansprechen hätte können, die ihm gefiel: ob sie denn nicht
das verwechselspiel mit dem hut mitspielen wolle. und küsse. dann gedankenlücken.
risse
fleck versteckte seine gedanken
hinter einem kerzenstummel. es war ein ruhiger, gelbwarmer abend. warm wie
der weiche sand am strand von villajoyosa. der blick ins braun ihrer augen.
keine rede noch davon, dass morgen sein tag kommen werde. sie machte alles
so schön für ihn; so schön doch. doch da fühlte er schon
die kühle hand des anästhesisten
ein blick in die helle sonne
genügte. ein paar blutegel zuckten frech und spitzig auf seinem handrücken,
als das grüne segel sich über ihn deckte. es war die gelegenheit.
im kopf: entre dos tierras. der wind, der um gitarrentöne heult.
fleck stand vor dem spiegel. in ein sonnengeflecht blickte er, das sich würfelte
zunächst wollte er sich
eine schöne sonne machen. rot sollte sie sein, seine sonne. er schnitt
sich einen kreisförmigen lappen aus der stirnenhaut. es tat gar nicht
weh. dass er so genau zirkeln könne, wunderte es ihn. und eigenartig,
dass die haut doch so dick war. das stück haut klebte er auf den spiegel.
es blieb dort von selbst haften
er freute sich, dass er keine
schmerzen hatte. spreißel, blitzweiß glühend, sprangen umher.
und wo gehobelt wird, da fallen sterne. doch dann die hände, die seinen
innersten muskel umfassten. ihn bergen wollten. er freute sich so sehr über
das weihnachtliche funkeln der skalpelle. wie sternleinsspeier! man muss aufpassen,
dass man nicht ans heiße metall greift, auch wenn die glut schon gedunkelt
ist. (traum)
es zuckten weiße späne
mit knistern auf seine haut und es war ihm, als wäre weihnachten und
geburtstag. die augen seiner mutter inmitten der weißen hitze
da hoben sie es heraus. er blickte
fasziniert: so groß war es! es musste schwer sein und einige mussten
mit anfassen. sie konnten es nicht halten. als sie es aus ihm heraushoben,
verkanteten sie und glitten ab. das also ist es, dachte fleck. so also sieht
es aus. der wind blähte das segel. leise und schemenhaft das gesicht
seiner mutter
ein riesiges rotes schwabbliges
ding war es. er hörte wieder das geräusch einer dumpfen aber festen
trommel. der takt. endlich durfte er die vielen kerzen ausblasen
te puedes vender,
cualquier oferta es buena
si quieres poder.
beinahe eklig, und so groß,
so rosa wie aus plastik. es ist bestimmt aus gummi, dachte fleck. wie seine
rote wärmflasche
si yo no tengo
la culpa de verte caer.
es hing noch an einem glibberigen
stück latexschleim fest. wie rote fäden klammerten sich ein paar
fasern an seinen muskel. ein arzt durchtrennte die störrischen sehnen
mit einem feinen messer. es blutete so gut wie nicht
die ärzte hoben das riesenherz
in einen blauen plastikkanister. es kam eis mit hinein. sie verschlossen ihn
schnell. fleck sah es nur aus dem augenwinkel, wie ein assistenzarzt damit
hinausging
hier musste niemand mehr mit
ihm sprechen. hier verhallte sein atem wie ein echo aus wind und blasen. stieg
gespenstisch langsam. da plötzlich rutschte er ab, in ein aquarium tief
hinab, an der trittleiter aus metall, aus metall, aus metall ...
entre dos tierras! der
rhythmus wurde langsamer und dort im blauschwarz sprach es düster und
kalt. das lied war zuende
<ihnen wurde das herz amputiert.>
<freut mich!> sagte fleck
erstaunlich routiniert. <was bin ich ihnen schuldig?>
<natürlich nichts, herr
fleck, es ist doch gerne geschehen! in ihren jungen jahren das herz zu verlieren,
noch dazu an eine solch hübsche junge dame, ist ein hohes glück.>
das weiche mullgitter, das sie
ihm jetzt auflegten, wurde seitlich mit kleinen pflastern befestigt
das braun ihrer augen brannte
nach wie bernsteinfeuer. es wurde ihm warm zumute. er dachte, was sie bloß
damit anstellen würden, mit seinem herzen. die kerze rußte etwas
und flackerte. schwarzer rauch quoll.
flecks fingerkuppen tänzelten
um den rand der narbe auf seiner stirn. wie rund sie doch war. sie fühlte
sich schön an
das braun verglühte, doch
auch das würde vergehen, dachte fleck. jetzt, wo er ohne herz war, würde
ihm vieles leichter werden
3 ich bin ich
er
rieb sein gesicht an der birke, deren raue schale ihm hart in die gesichtshaut
schnitt. diese birke wird mich überdauern, dachte fleck. da sah er, wie
die häutchen, die sich ablösten, vom wind davon getragen wurden.
dieses muntere davonsegeln machte ihn froh. sie schwebten dahin, trudelten
im wind fröhlich auf und ab, kreiselten zu boden oder wurden plötzlich
von einer neuen bö erfasst, die sie wieder weiter hinauf trug
so weit, dass fleck schon die augen zusammenkneifen musste, um ihrem flug
nachzusehen. so stand er und schaute seinen fliegenden melodien zu. er hielt
sich die hand wie einen schirm über die augen und blickte in gleißendes
licht.
war es mit seinem erfühlten
nicht ebenso? dass es sich einfach aufmachte und auf nimmerwiedersehen davonschwebte?
er konnte sich oft noch jahre später an ein bestimmtes erfühltes
erinnern. und manchmal war es ihm, als hätte er es früher nie erfühlt.
als wäre es in ihm stecken geblieben. als wäre das, was ihm jetzt
wie eine erinnerung an etwas damals erfühltes erschien, nie wirklich
gewesen.
dabei war es so schön, bei
sich zu sein. in diesen melodien des früheren zu verweilen. melodien,
die ihn mitrissen. ihn hinwegzogen. ihn davonfliegen machten. da schienen
ihm die munter taumelnden birkenhäutchen plötzlich partikel seiner
kindlichen sehnsucht zu sein: all diese winzigen fröhlich dahin segelnden
stäubchen würden sehr bald verschwunden sein. auch wenn sie ihn
jetzt noch erfreuten.
fleck wollte sich so gerne losreißen
und zurückschlüpfen in frühere augenblicke. vor seinem inneren
auge waren sie noch so lebendig.
ich bin ich. und ich leide daran,
ich zu sein, dachte fleck. für immer in mich eingesperrt: das ist wie
festgepflockt an einer erdscholle, die allezeit denselben geruch hat und allezeit
gleich aussieht. immer birke sein ist ein schrecken. dabei konnte er doch
über die felder schweben. wenigstens in seinen gedanken. da war er er.
fleck wollte sich aufmachen,
wollte fort, hinaus, hinweg. nur dumpf, nur unbestimmt. sich wegreißen
von der scholle, um näher zu sich zu kommen, näher bei seinem schweben
zu sein. als er hinausging zu den birken, betastete er lange ihre rinde. die
haut ließ sich abziehen wie ein dünner film. genauso wollte er
bald davongehen und sein ich, den stamm, hinter sich lassen.
er hatte sein erfühltes
heraufgewühlt; es stob, taumelte und flog um ihn her wie die birkenhäutchen.
er umarmte den stamm und schabte sich die wangen wund. er war die birke und
musste die birke bleiben. mit ihr alt werden. die rinde erneuerte sich, bis
der baum irgendwann blätter verlieren, verdorren und eingehen würde.
doch sein stamm war robust und fest, dachte fleck.
4 erdgewächs
dabei
stand er mit beiden beinen auf der erde, ein stamm links, ein anderer rechts;
schwer lastete sein gewicht auf dem boden; unten liefen die stämme in
ihre wurzel zusammen. fleck wuchs mit zwei beinen aus seiner wurzel empor
bis hinauf in den kopf und in die geistesspitzen; doch dass er nicht einfach
losmarschieren konnte auf seinen beiden beinen, da er doch festgewachsen war
darin lag sein schmerz. hinauf in den himmel wollte er gehen und doch
stand er da und lebte; davon fliegen wollte er: ein ausgerissener baum im
sturm! doch auch der ahornbaum stand sein leben lang auf einer stelle und
wand sich, belastete den fels und zerdrückte mit seinem gewicht den unterirdischen
kiesel; auch seine wurzel wand sich und suchte neue wege, ebenso wie sein
stamm immer weiter in den himmel kroch und seine blätter in die atmosfären
hinauf auffaltete. fleck gefiel am ahornbaum, dass er nicht herumlief, ja
nicht einmal das bedürfnis hatte, herumzulaufen.
einfach dastehen und leben. seine
wurzeln fassten um erde, um felsbrocken, um stein. fassten sogar um das gefrierende
eis der erde.
seine wurzeln umarmten die erde,
das futter, den grund; sie zerdrückten den losen aschenrest, den löss,
die tonerde. die erde war schrundig und verletzt. aus ihrem braun wanden sich
die farben des himmels.
es ist die weisheit des baumes,
sich nicht zu bewegen, es sei denn im wind; dachte fleck. doch das leben riss
ihn fort.
5 spiel vorbei
sein
vater war stark gewesen. er hatte dunkle behaarte unterarme und sogar auf
den fingern oben dunkle haare. wo er jetzt wohl sein mochte, sein vater? dachte
fleck.
vaters hände waren warm
und schwer und konnten fleck tragen, damals. als sie ihn vor einem großen
knurrenden hund bewahren wollten, der zähnefletschend über ihn herfiel,
schwarz, dunkel und groß; der aus dem mund nach tier roch, nasses fell
an seiner unterseite hatte; der auf ihn losging, ihn umstürzte und mit
seinen stachligen zähnen an seiner kleidung riss; der ihn einspeichelte
und mit nasser schnauze vollrotzte.
vater nahm süß duftenden
schinken in einwickelpapier mit.
<gib acht vor ihren scharfen
schnäbeln!> sagte vater, beinahe vorwurfsvoll. er hatte das immer
gesagt, und fleck hatte dazu genickt.
gut ausgerüstet und mit
ledernen kappen gegen den regen tasteten sie die waldsträucher nach beeren
ab. fleck trug ein kleines ledertäschchen mit einem umhängeband
bei sich, auf das er sehr stolz war. darin war auch sein taschenmesser.
fleck freute sich auf die mittagsstunde,
denn da gab es das saftige stück schinken aus seinem täschchen.
es war ein festes gepfeffertes stück, sehr scharf, an dem man lange kauen
konnte. er hatte auch ein wenig pökelfleisch dabei, mit orangengelee
und curry. dazu ein stück brot: das war sein proviant.
die blütenblätter des
weißen flieders waren bereits gefallen. im spätsommer gingen sie
zusammen in den wald, dorthin, wo auf trockenem waldboden grüne kleine
sträucher wuchsen. daran hingen dunkle beeren mit bläulichem film,
der, wenn man ihn mit dem finger betupfte, schwarz wurde. beim pflücken
sprühten winzige tröpfchen ab, die nach und nach die hand dunkelrot
einfärbten. der saft wurde blau, wenn er in die haut eintrocknete.
oft naschte fleck dazwischen
die dicksten beeren selber, nach herzenslust, da genug da waren. dazwischen
fand er auch preiselbeeren, oft zur hälfte noch grün; und ganz selten
auch köstlich süße walderdbeeren. die aß er meist sofort.
fleck liebte das beerensammeln.
der tag begann mühsam. vater
und sohn gingen durch die tannennadeln. hinter den wolken glänzte ein
stück regenbogen. es tröpfelte. der tag war grau und matt. die beiden
kamen auf eine lichtung heraus, von irrem licht geblendet.
jäh stachen gleich dutzende
aus den lüften herab, fielen heraus aus gelben sonnen, gewaltigen drohnen
gleich und stürzten sich mit geheul auf fleck. je tiefer sie herabfielen,
desto größer und goldener wurden ihre schnäbel und krallen
und blendeten flecks augen wie blitzende scharfe schwerter, desto durchdringender
bohrten ihre starren augen, desto lauter und schriller stieg ihr entsetzliches
heulen an.
dutzende fielen über ihn
her: ein ganzer schwarm braunes raubvieh. die greife hackten ihm ins fleisch,
bohrten ihre dornenspitzen krallen durch seine kleidung, in seine wangen,
in seine nase, bis er schrie, die augen mit einem arm überdeckte und
mit dem anderen wild um sich schlug. fleck schmiss sich zu boden und verbarg
sein gesicht in der grasnarbe. sie zerrten ganze stücke fleisch aus ihm,
hackten mit den schnäbeln immer wieder in sein blut und kreischten dabei
entsetzlich. es wurde dunkel.
6 das glück ist grün
da
war der geruch, als er den kleinen fels emporhob: das glück. erdig roch
es. herb und gut. darunter war es kühl. da lebte noch mehr. es war geborgenheit
wie in der kuhle eines herzens.
und hörte er nicht so etwas
wie gesang? unter dem felsen lebte das glück. dort sang es seine lieder.
es hatte seine eigenen lieder, seine eigenen farben.
als fleck ein kind war, leuchteten
ihm die blüten farbig. später las er bücher über die farben
der blüten, schwamm im wasser, um nach meeresflora zu tauchen, studierte
verschiedene farblehren. nie mehr jedoch sah er die blütenfarben so wie
als kind. er hatte vergessen, welche farben sie trugen.
dabei hatte sich fleck als kind
immer gewundert, was denn erwachsene nur alles redeten, wo doch alles so klar
und einfach war. er verstand ihr reden, ihre gesten oft nicht; ihre ängste
erschienen ihm unbegründet, ihr humor unverständlich. sie lachten
über dinge, die er gar nicht kannte. dagegen war das, was für ihn
naheliegend und selbstverständlich war, das, woran er sich freute oder
worüber er lachen konnte, für erwachsene unwirklich oder unverständlich.
so war zum beispiel der buchstabe M rot. fleck dachte, jeder müsse doch wissen, dass ein M rot sei. seine mutter lächelte undurchsichtig, als er ihr seinen katalog
über die farben der buchstaben vorlegte. so war zum beispiel der buchstabe B orange, der buchstabe I gelb. seine mutter schien hilflos.
einmal schrieb er sich das alles
auf. es gehe doch schon aus dem klang dieser buchstaben hervor, was sie für
eine farbe hatten. so war es mit allem.
jedes ding besaß seine
farbe. so kannte fleck als kind das wort glück nicht. und wenn,
dann nur als nichtssagendes wort. aber wenn er froh war, war es ein irisierendes
grünes licht, das zu einer in windeseile davon schießenden plattform
einlud, dort, wo man sich traf und außer sich war und herumtollen konnte:
auf einer großen wiese, die einen mit rasender geschwindigkeit erfasste
und mitnahm. auf ihr war ruhe. aber man musste aufspringen, und oft aus dem
stand.
manchmal war ihm das nicht gelungen.
da schlug er sich die knie auf. der schmerz allerdings, wo er stattdessen
doch eigentlich glücklich sein wollte, war furchtbar. als fleck endlich
nach hause kam, gestürzt, ihm dunkle getrocknete tropfen an den schürfwunden
klebten, wurden diese von seiner mutter vorsichtig abgetupft. jod kam darauf,
das grausam brannte. desinfektion hatte das geheißen. für
ihn war es nie einzusehen, warum man sich noch mehr quälen musste, wenn
es sowieso schon wie verrückt weh tat. ihn graute schon tagelang vor
dem abreißen des pflasters, das egal wie man es machte
immer eine qual war. mit einem ratsch abgerissen brannte es minutenlang schrecklich;
zupfte man es millimeter für millimeter ab, war es eine entsetzliche
tortur.
doch es blieb in seinem innersten,
dass das glück eine wiese war, die durch den himmel flog. und grün.
7 wie ihm die welt weit wurde
das
läuten der kirchenglocken; der goldblitzende schimmer auf dem roten ziffernblatt
der kirchturmuhr; die ruhige einöde der straße. eine ältere
frau in grau melliertem mantel. ein dunkler hut. das rauschen von wasser.
die sonne stand schütter in den abendstunden. kein besonderer tag. kein
besonderes leben.
die 7 war flecks lieblingszahl.
oder seine glückszahl. es gab einmal einen tag, der ganz und gar aus
siebenern bestand. der siebte juli eines lang vergangenen jahres.
fleck blickte über den küchentisch
nach vorne gebeugt durchs fenster hinaus. lange verharrte er so, nachdenklich
darüber, was dort unten wohl passierte. es passierte nichts. dabei hätte
sich doch an diesem tag eine weltsensation ereignen müssen! er ging ins
badezimmer, öffnete dort das fenster und blickte in den lauen sommerabend
hinaus, der für ihn nicht sonderlich großartig war. er sah dort
unten die menschen, vereinzelte autos, keine stimmen. es war ein sehr ruhiger
tag.
fleck dachte: all das, was es
gibt, kann ich sehen. es ist im moment lebendig. aber wie lange noch? es wird
bald vergehen. wenn es nicht mehr ist, gibt es nur noch erinnerungen an das
gewesene.
auch meine ganz persönliche
einzigartige zahl, die voller glück ist sie wird vergehen.
sie wird nicht wieder kommen. dieser moment ist ganz und gar einzigartig.
er könne diesen kurzen moment nur ein einziges mal erleben, aber nicht
festhalten.
wann ist jetzt?
fleck sah dem langsamen aber
steten vorrücken der zeiger auf der küchenuhr zu. zeit war etwas
sehr konsequentes. zeit zögerte nie. draußen begann es etwas zu
nieseln, menschen gingen vorbei, die sich eine haube aufgezogen oder einen
schirm aufgespannt hatten. ganz alltäglich. nichts daran war besonders.
es war eine faszinierende zahlenkonstellation, die alle elf jahre stattfand.
und kein mensch feierte mit ihm.
draußen war der tag bereits
dunkler und reifer geworden, ein schwerer apfel, der bald vom baum fallen
würde. der zeiger rückte vor auf punkt sieben. nichts tat sich.
kein feuerwerk. nur stille ... dabei hätte doch die luft singen müssen!
aufgerührt in den vielen tautropfen des erfühlten!
fleck kauerte hinter dem store
und lugte nach draußen. das uhrwerk der plastikküchenuhr klickte
mit metallenem schlag vorwärts. da blieb für einen winzigen augenblick
die zeit stehen.
die welt lag in schläfriger
gleichgültigkeit. wie so oft, dachte fleck. ist diese gleichgültigkeit
eine vorbotin des unheils? oder ist sie nur solange eine vorbotin des unheils,
bis auch sie einem gleichgültig wird? dachte fleck. würde
denn gar erst um sieben uhr sieben minuten und sieben sekunden der moment
erreicht sein, wo die luft voller glut war und mit stürmischem brausen
aus allen himmeln fiel?
fleck lächelte. wie kurz
war die zeit?
eine ältere frau ging unten
vorbei. ihr mantel war grau melliert. sie hüstelte ein wenig.
8 schätze nebst trümmern
so
vieles war ihm bereits kaputt gegangen. dinge, die ihm lieb waren, teils aus
unachtsamkeit, teils durch ungeschicklichkeit, teils bei unfällen. sachen
nutzten sich ab, wurden weggeworfen. manchmal half er sogar ein wenig mit.
wenn etwas schon angeknackst war, es gänzlich zu zertrümmern. was
zu bruch gegangen war, das wurde weggeworfen. wo kommt das weggeworfene hin?
fragte fleck. auf den müll, sagten sie ihm. da stellte er sich
ein ebenes land vor, auf dem alles weggeworfene sich stapelte.
auch später: es unterschied
sich nicht sonderlich. manche dinge nützten sich ab. es blieb vieles
in seinen erinnerungen zurück. gedanken an so vieles, was einmal gewesen
ist. da gab es seine erinnerungsstücke, die ihm blieben. er konnte sich
in seinen erinnerungen, die er wie schätze aufbewahrte, über schöne
augenblicke freuen. es waren nicht sehr viele. aber es gab sie.
fleck bedauerte seine erinnerungslücken,
wenn er nicht mehr genau wusste, was denn so schön gewesen war, im vergangenen.
denn jenes schöne war endgültig vorüber und ließ sich
nicht mehr erfühlen. alles, was vorüber war, kam nie wieder zurück.
das wusste er schon als kleines kind. einmal war sein vater lange da gewesen.
und als er ihn fragte, ob er noch ein weilchen bliebe, sagte er (zumindest
war eine solche erinnerung in fleck):
<nein, meine zeit ist vorbei.
ich muss gehen!>
als er viel später einmal
wieder kam, war er ein ganz anderer geworden.
9 sprungbrett
sein
herz war eine rampe gewesen. eine triebfeder. ein treibling. sein herz war
ein trampolin, auf dem er luftsprünge vollführen konnte. eine sprungfeder
in die luft. dorthin, wo das beben war.
auch damals war niemand um ihn
gewesen. obwohl sie alle da waren seine eltern, seine schwestern. er
sprach mit ihnen. sie teilten mit ihm seinen alltag.
fleck saß stumm in seinem
zimmer auf dem boden. er bastelte, spielte mit Lego, erfand monströse
kolosse aus zahnrädern, die sich drehten, irre motoren von gigantischer
größe. an der einen seite drehte er, an der anderen stelle bewegte
sich ein baustein. dann wieder baute er einen mechanismus ein, dass tönerne
und gläserne murmeln durch fantastische gebilde aus schienenelementen
und maschinerien und hindurch rollern konnten. auch die murmeln bewegten eine
reaktion: sie prallten gegen eine wand und stießen einen schalter an,
der wiederum ein sprungbrett schnalzen ließ, eine weiche umstellte oder
einen neuen prozess auslöste. so lag fleck stunden vertieft auf dem teppichboden
seines zimmers. oder er spielte schach gegen sich selbst. nebenbei hörte
er radio und schnitt die lieder der hitparaden mit einem cassettenrecorder
mit. fleck stellte die großen schachpartien nach, versuchte, einen zug
selbst zu tun, bevor er nachschlug, was der schachmeister an der selben stelle
gezogen hatte.
kinder (freunde in seinem leben)
kamen und spielten mit ihm an seinen riesenmotoren. er bekam auch briefe von
kindern aus der schweiz, die ihm von zeit zu zeit briefe mit lustigen fragen
schrieben. sie interessierten sich für das, was er tat und was er dachte.
was ja eine seltenheit ist, dachte fleck. er nahm sich viel zeit, um ihre
briefe sorgfältig zu beantworten und malte mit seinem füller tiefblaue
sätze auf vorliniertes papier.
sein bester freund war der ahornbaum
vor dem haus.
10 zentnerschwer
fleck
hatte es gespürt; es hatte ihn hin und hergerissen wie eine puppe: ein
zuckendes, ein in sich beharrendes wildes aufbäumen der erde, ein schreckliches
rütteln;
sekundenlang? minutenlang?
er begriff nicht, was da an ihm
riss, was da passierte ... ein wackeln, bröckeln, schieben, danach ein
bersten der mauern, ein zusammenbrechen, zusammenstürzen, begraben allerorts.
riesige wände, die niemand mehr halten konnte, die herunterkippten, mit
der wucht ihres ganzen gewichtes erdrückend. die schreie, die niemand
mehr hörte.
vor seinen augen: ein bild des
grauens. die erde, die alles nach ihrem eigenen plan umgeworfen hatte. umgepflügt.
die kleinen schicksale der menschen: so unbedeutend, so nichtig. alles ist
vergangen. von entsetzlicher kraft zerbrochen.
unmittelbar darauf, ein zweites
mal, spürte er das rütteln und wackeln der welt, das alles hin und
her taumeln ließ, alles mit gewaltiger geste umstürzte. da war
nur angst. schreckliche angst: sie saß ihm wie eine zentnerschwere last
im genick.
fleck war hochgeschreckt, erwacht
vom eigenen schrei, stand schon im wohnzimmer, noch bevor er richtig bei sinnen
war. immer noch steckte ein zipfel seines traumes in ihm. bebte die erde?
oder war alles nur ein traum? wo war jemand? nichts rührte sich.
er war aufgescheucht vom anblick
eines gigantischen brockens, der neben weiteren zyklopischen schwefelfarbenen
felsbrocken dalag, im park. dort lagen riesige erdschollen, aufgerissene erde,
starrten furchen.
fleck zuckte zusammen. die häuser:
eingestürzt. zerstört die wände, zerbrochen seine heimatstadt,
zusammengestürzt. in ruinen verfallen. seine eltern: tot. begraben. mitten
im leben. die erde vollkommen eingeebnet, ein raues trümmerfeld. wo war
nun alles? er konnte nun nicht einfach heimgehen und sich ausheulen. dort
war nichts mehr.
es gab nichts mehr! alles
ist vergangen. seine heimat. so viele schöne plätze gab es nicht
mehr. am himmel: die sonne. wie eh und je. ein schrei, ein weiterer schrei
der verzweiflung blieb fleck im halse stecken.
da war niemand. nichts rührte
sich. alles lag in stiller einfalt. die welt draußen. er blickte aus
dem fenster: schnee. stille, ruhe. alles behaglich und wohlgeordnet. es war
wie es war.
ich bin ich, dachte fleck.
11 alles verlassen
blinkte
da nicht das licht der jugend auf dem treppenabsatz? rauschte da nicht schon
ein heimkehren mit kaum hörbaren klängen?
ein kleiner kinderstrauß
aus bunten wiesenblumen lag neben dem bordstein. immerzu musik, ein einziges
lied in seinem kopf ... so rannen ihm die tage davon. die nächte schmiegten
sich bequem an seine seite; heimkehren wovon? und vor allem: wohin?
fleck hatte kein richtiges zuhause
mehr. eine wohnung freilich, ein leeres gehäuse, in dem er sich verlief;
ein plakat blätterte von
der wand. schälte sich von unten her ab. darunter hingen in fetzen die
abgerissenen alten plakate. ein cremefarbener schriftzug schwang fetzig kantige
buchstaben in einen halbkreis, verjüngte sich und überlagerte das
lächeln einer showdiva: ein junges gesicht mit blonder frisur, das an
die makellose schönheit marilyn monroes erinnerte.
das papier hatte blasen geworfen.
wie eine fettige schwarte hob es sich von der wand, schuppte verblichen.
flecks atem verrauchte in nebulösen
schwaden. als er weiterging, war es ihm, als hörte er boogieklänge.
ein beschwingtes leichtes lag in der luft. violinklänge verzauberten.
es war ihm, als hörte er das rauschen eines kettenkarussels, das lachen
der passagiere, ein durch-die-luft-schwirren. als sähe er bunte lichter,
röche süßes eis und marzipan. im hintergrund leise das transistorradio
eines mannes, der zigarren verkaufte. jahrmarkt.
sportives lächeln auf einem
werbeposter. ein clown jongliert. amor, amor amor! ... wann
war nur sein letztes fest gewesen? kaufhausatem schlug ihm ins gesicht. warm,
fast schwül kam es ihn an. ganz leise musik: dancing in the dark.
to brighten up the night. we can face the music. together ...
fleck war nachdenklich geworden.
die musik verklang. ein automat. sonderpreiswelt.
12 vorgipfel
zunächst
war da ein feiner riss, der sich aufzackte und, als sie schon fast auf der
spitze des taumels angelangt waren, mit einem riesigen ruck durch die decke
schnitt, weißes gebrösel und kleine putzbrocken auf sie herunter
warf, bald mit getöse auseinanderklaffte. sie schrieen beide. und wussten
vielleicht nicht einmal so recht, warum sie schrieen; ohne recht zu denken,
sprangen sie davon wie sie waren; als das halbe haus in aufruhr war, wussten
sie beide nicht, wie ihnen geschah, als die wand herab taumelte und es nicht
nur das bett war, das in wilden bewegungen vor und zurück stieß,
dabei quietschte, das gestell des messingbettes
sie stürzten hinaus, hörten
die panischen schreie der nachbarn, heiseres gebrülle, bloß hinaus,
bloß hinunter, durch ein schwankendes holztreppenhaus, dessen geländer
wegbrach wie eine pappstange, stolperten, sprengten und fielen bar, wie sie
waren, drunten in der hast auf die knie. haut klaffte blutig. hinaus, nur
hinaus, dort standen schon viele, deuteten und schrieen. als oben die fenstergläser
zerschepperten, weil alles bebte. alles bebte. scherben flogen durch die luft.
eine ältere frau klagte laut. endlich kamen sie zum stehen, ganz nackig,
die erregung war vergangen, sein glied noch glänzend.
sie hätten zuerst nichts
davon bemerkt, sagten sie kopfschüttelnd. denn das bett, nun ja, das
habe ja sowieso geschaukelt. obwohl alles noch immer rumpelte und bebte, trafen
ihre nacktheit versteckte blicke.
ein mann wurde aus dem eingang
getragen, er blutete am rücken. für minuten war jetzt stille. eine
frau reichte ein zerknittertes tuch, in das sich die beiden einhüllen
konnten. es war weit. sie konnten sich darin aneinander hindrücken, weil
sie froren. siamesische zwillinge der liebe; der katastrofe.
irgendwann geht alles kaputt.
dieser satz beschäftigte fleck. seine mutter hatte stets kalte hände
gehabt. sie waren oft eiskalt, diese hände. im winter sogar bitterkalt.
<der felsbrocken!> schrie
fleck und riss die familie mit seinem geschrei aus den tiefen ihrer träume.
in seinem kopf: bilder der verwüstung. seine heimatstadt war zur trümmerwüste
geworden. in einem traum hatte er einen brief getragen, der hell wie ein spiegel
war. diesen spiegelbrief drückte er emmy in die hand. sein licht war
so hell, dass er alles überstrahlte.
in ihm spiegelte sich die weltkugel.
in diesem brief stand der abschied.
als er papa fragte, ob denn die
mama seine beste freundin sei, schwieg er.
fleck wollte nie zu jenen alt
gewordenen gehören, die ganz in gedanken versunken ein geschmerztes <ach
gott!> hervorseufzen. fragte er sie, was denn so jammerhaft sei, schwiegen
sie. ihr blick mitunter sagte ihm: was belauschst du mich in meinem leid?
oft waren sie auch verschwitzt,
klebrig und nass. und trotzdem waren es, so ängstlich sie waren, mamas
hände.
13 ein halber engel
fleck
lag danieder. bei emmy. er konnte nicht sagen, dass es eine schöne beziehung
war. sie hatte ihm nie gesagt, dass es da so etwas gäbe. wie liebe. es
war anziehung. die not hatte sie für kurze zeit zusammengeschweißt.
emmy hatte ihm ganz allmählich,
im laufe ihres zusammenseins, einen flügel gebrochen. das kam nach und
nach. zuerst hatte sie ihn in bestimmten posen, wenn er hilflos war, ein wenig
geneckt, bald ausgelacht. da gab es manchmal den tonfall ihres giftigen spottes,
den er zuerst nicht auf sich bezog.
und ob er sich gewehrt hatte!
immer wieder war er wild aufgeflattert, hatte mit lauten schwingen einen riesenlärm
veranstaltet und ihr seine meinung geschimpft, bis sie ganz still und voller
reue war. damals hatte er noch ein herz gehabt, das laut schlagen konnte
vor allem dann, wenn er zornig war. er müsse sich diesem kampf doch stellen.
schließlich sei er kein feigling. und sein vater hatte zu ihm gesagt,
dass feige männer im leben keinen erfolg hätten.
fleck lag bei ihr, hungrig wie
alle lustknaben. doch sie hatte es ihm ja gesagt und er hatte es vernommen.
warum er sich denn überhaupt ankuschle, wo sie doch jetzt müde sei.
emmy hatte ihm den gebrochenen
flügel noch aus dem gelenk gedreht. er braucht ja nur einen flügel,
habe sie bei sich leise geflüstert, schließlich ist er meiner:
mit zwei flügeln macht er nur andere frauen nervös, erinnerte
sich fleck.
die lust erklomm einen vorgipfel.
es sei doch schön, einfach nur so dazuliegen. doch das wilde begehren
tobte ihm hinauf bis in die gedankenspitzen. er bekam keine ruhe. sein kopf
war eine pulsende maschine. es gab keinen frieden. das blut prallte gegen
eine unerschütterlich harte mauer, von glänzender klinge gezogen.
fleck sah die rote klinge durch
und durch schneiden. bis auf den grund seines fleisches. der schmerz der ungestillten
lust. den sie nicht spürte. da war seine ungebändigte freude, die
zerrann. sein zorn, seine trauer. so lag er neben ihr.
emmy streichelte ihn sanft, während
die kraft in ihm fraß. die fantasie züngelte. zärtlich wollte
fleck sich hingeben, am felsen lecken. am kühlen fels den durst stillen.
stattdessen verbrannte sein kopf in der hellsten sonne. süß wollte
er sich hingeben, obwohl er halb flügellahm war.
mit einem hässlichen knacken
hielt sie den flügel in der hand, an dem ein paar gerissene sehnen hingen.
helles arterielles blut rann. die klinge vibrierte scharf, mit verzerrtem
klang, röhrte durch mark und bein, ohrenbetäubend, während
emmy ihn sanft drücken wollte. kosen! der spott, der darin lag.
fleck drehte sich rasch weg.
sie hielt ihn fest. mit der bitte zu bleiben, zog sie ihn an sich. er solle
es nachsehen.
da wurde er traurig. doch da
er kein herz mehr hatte, fühlte er die trauer nicht. eine hand sah er,
die einen kalten stein streicheln mochte. da war nur dunkelheit. ungerührt,
beinahe kaltblütig, stieg er aus dem bett; ein stück gleichgültiger
noch als zuvor.
nach melodien war ihm, nach wilden.
die seinen kopf explodieren ließen. warum solle er sich noch neben sie
legen? der schmerz verbrannte seinen kopf. warum nicht endlich hinaus und
weiter? zurück zu sich, hieß ihm das. er würde sich durchschlagen,
irgendwo.
da draußen: die roten winde.
fleck, ein halber engel, zog davon.
das straßenpflaster war
eingedunkelt. warum er ging, wusste er nicht wirklich. vielleicht wäre
er sowieso gegangen, weil er ein verlasser war, ein alles-verlasser,
der im grunde nur seine einsamkeit zelebrieren wollte; und jede frau hätte
ihm einen flügel ausgebrochen, ihn als trofäe irgendwo in ein album
tief in ihrem herzen eingeklebt. sofern sie wenigstens eines hatte.
rot-grün sprangen bunte
lichtblitze, eine kulisse von neonwerbeschriften illuminiert. applaus drang
durch schwarze türen. die kälte zog fleck in den beinen. er schlug
seinen mantelkragen hoch. aus einer tür (einem foyer) traten die gäste
eines faschingsballes heraus, für einen moment toste ihm der blasmusikschwall
einer big band entgegen; schwüle luft; jazzige klänge. ganz rot.
ganz gelb. schrilles gelächter.
in seinen augen erste sonnenstrahlen,
die über den schaufenstern aufgingen. ein tiefes rot spiegelte sich an
diesem morgen in den gläsern. warum hat man immer nur die wahl zwischen
zwei übeln? las er irgendwo auf einer wand. die braune mauer verfiel.
er wechselte die straßenseite. alles aus dem hirn hinausblasen.
liebe!
was für eine kindische einfalt
ihn doch da umherscheuchte. der wind eisig und feucht. der geruch des schnees.
es erinnerte ihn an seine kindheit. das taumeln der vereinzelten flocken um
die gleißenden straßenfluter. der mantel wärmte fleck. er
genoss das einsame. den triefend nassen asfalt.
weiches schwimmen des regens.
grelles licht kreiselte in tiefem weiß auf mattem schwarzem spiegel.
vor ihm (sie schritt von der seite in seinen weg) eine lange häuserzeile,
daneben parkende autos. eine junge frau mit dunklen haaren schnitt ihm den
weg ab. lau die morgenluft; von oben blitzendes schneegrieseln; der kopf pochte;
schmerzte; der duft, den sie hinter sich her zog. er musste hinter ihr her,
weil die gasse so schmal war, zwischen den kühlern der autos und der
dunklen verfallenen wand; kein gedanke daran, dass er absichtlich hinter ihr
ging, um sie zu betrachten; sie: duftete nach blumigen spitzen, die seine
nase streiften, ein blumenbukett, weiches rauchiges parfum, eine rauschbraut,
dachte er; junge träume zuckten auf, von vergangenen wilden schönheiten;
das weiche gummiklappern ihrer hohen plateauabsätze: ruhig, fast bedächtig,
ganz entgegengesetzt zu flecks gehetztheit. sie zündete sich eine zeitlupenzigarette
an; er musste hinterher; er genoss die schwaden ihres rauches in der feuchten
morgenluft; flocken senkten sich auf ihren kopf; ihre glänzend dunkelschwarzen
haare schwappten feucht über die blaue nylonjacke. helle schlaghosen
flatterten um schwarze stiefeletten.
die weißen kegel der flockenumschwärmten
laternen.
die augen sanken ihm nieder.
an einem hauseingang hörte er leise ein altes lied von bing crosby. er
war müde.
14 getunnelt
wohin,
wenn man weder warm noch kalt fühlt. und das auge zurück blickt?
die haare flatterten fleck um die nase, der blick ruhte auf mildweißen
scheinwerferkegeln, die sachte vorbeihuschten; es war kühl. seine hände
zitterten. da waren emmys braune augen im kerzenschein. wohin solle er gehen,
wo solle er künftig wohnen?
sich einigeln, in eine seifenblase
seiner selbst, nach außen glatt und rund: so wollte er nun durch die
welt kugeln. sich auf eine wiese legen, auch wenn diese feucht war. träge
schlich die nacht dahin; sie kam nicht vom fleck.
mit einem nachtbus, dem letzten,
fuhr er hinaus in einen vorort. sich irgendwo hinlegen war sein übernächtigter
wunsch. sich auf ein feld zusammenkauern. ein paar stunden schlafen. morgen,
morgen! sei noch ein neuer tag.
fleck hockte sich auf einen stein,
als es zu regnen begann. es war bereits stockdunkel, als er durch klitschnasse
gebüsche kroch, auf der suche nach einem unterschlupf. er sah kaum etwas,
kletterte vorbei an einem wäldchen mit morschen stämmen, einem verfallenen
bahngleis, einem alten holzschober, dessen dach eingestürzt war. da sah
er ein rohr, ähnlich einer unterführung. ein dusterer wind kroch
daraus hervor, hässlich kühl. einen moment hielt er inne, als ihn
etwas überkam, was ihm früher <angst> geheißen hatte.
dann ging er hinein, denn jede <angst> war ihm fern. sie kroch kaum
durch die dünnen ritzen seiner jacke.
fleck tastete sich an der tunnelwand
entlang, bis seine augen, zunehmend an die dunkelheit gewohnt, etwas zu sehen
bekamen. am boden lag sand. darauf legte er sich nieder, zog seine jacke zu,
so weit es ging, und schmiegte sich in den harten sand, den er sich zu einer
kuhle zurechtgeformt hatte. doch er schlief nicht. sein körper hatte
die nasse kleidung bald erwärmt, dennoch fror er und schlotterte, dass
ihm die zähne im mund klapperten. er konnte nicht beide öffnungen
gleichzeitig im auge behalten. etwas fraß noch immer an ihm. und wenn
es gar die kälte war.
müdigkeit senkte ihm nach
und nach die lider.
plötzlich schrak er hoch,
hörte etwas am eingang, riss den kopf hoch. eine silhouette hob sich
schlank gegen den hintergrund ab: ein schwarzer umriss in gespannter, angriffslustiger
haltung, ausgestattet mit der athletik des bösen. ein tier lauschte am
eingang. es war kein kleines tier. fleck hörte seinen schnellen atem;
das tier hund? wolf? raubkatze? stand ungerührt. witterte
es ihn? vielleicht doch ein hund, verwildert, hungrig, gewalttätig? hier
gab es niemanden, dem ein hund gehören könnte. und wenn doch? da
war niemand, der ihn hören würde, wenn er jetzt nach hilfe riefe.
der wind würde ihn auslachen.
fleck überlegte blitzartig,
was zu tun sei, bis er sich entschied, dem tier mit größtmöglicher
ruhe zuzusprechen, und so sagte er ganz laut ein paar worte mit jener
selbstverständlichkeit, mit der man zu alten freunden spricht ... das
tier zuckte erst, quiekte zu tode erschrocken und sprang im nächsten
moment mit einem satz davon. fleck lachte ihm höhnisch hinterher, als
die spannung von ihm wich.
15 harmonie
eines
morgens war fleck in der kühle der morgenluft erwacht.
sonnenstrahlen kitzelten seinen
rücken. riesengroß und unscharf sah fleck vor sich die großen
blüten. das harte gras stach ihm die wangen. eine butterblume schaukelte
ihm vor dem gesicht. ein paar flugsamen hatten sich in seinem haar verfangen.
er war am ganzen körper steif.
in seinem kopf rumorte es: zu
heftig habe es in ihm gezerrt, sagte er zu sich. nach rechts, nach links,
zu den roten winden. er habe es nicht aushalten können. es sei nie da
gewesen, wo er war. immerzu zog es ihn woanders hin; es sei wie eine
ziehharmonika gewesen und habe dabei einen schummerigen, blechernen klang
gemacht, als wenn es immerzu beleidigt sei.
von sich weggehen.
que fácil
es,
abrir tanto
la boca para opinar
y si te piensas
echar atrás
tienes muchas
huellas que borrar
es war ihm, als liefe ein schwarm
kleiner weißer maden über seinen körper hin, so klein, dass
sie in alle poren hineinkrochen und seine haut unterwanderten, mit abscheulichem
hunger in ihn schlüpften und alles wegfraßen. sie drangen in ihn,
um alles aufzuzehren. all die schätze seiner erinnerung. erst seine haut,
sein blut, seine adern. dann seine gedanken und zuletzt das, was er
fühlte: sein ein und alles.
seine augen ruhten auf der aufgewühlten
see. blickten hinüber zum festland. der tag änderte seine farbe.
war er vorher gelb gewesen, tauschte er sich nun in sattes orange.
mit flecks herz war es eben wie
mit einem neuen namen gelaufen. er wusste, dass diejenigen, die sich entschlossen
hatten, einen neuen namen auszusuchen (weil der alte nicht angenehm geklungen
oder zu allerlei hänseleien anlass gegeben hatte), bald schon dem alten
nachtrauerten, weil sie mit dem neuen nicht zurechtgekommen sind. da sei ihnen
der neue name doch erst so neu, so anders und wunderbar erschienen, habe dem
ohr geschmeichelt und die illusion versprochen, sie in andere gesellschaft
zu heben; aber er gehörte ihnen nicht. so konnten sie den neuen
namen niemals so selbstverständlich tragen wie den alten. der neue wurde
ihnen bald fremd, bald äffte er sie auf schritt und tritt als schnörkel
der eigenen eitelkeit; und diejenigen, die noch den alten namen kannten, betonten
den neuen oft mit einer idee spott, so dass die träger des neuen namens
bald jenes beiläufige spotten aus fast jedem mund hörten. der alte
war ihnen doch von geburt an gegeben und daher in ganz anderer weise mit ihnen
verwurzelt, auch wenn es in den ohren der namensträger eine unschöne
wurzel war. so war der eigene name doch der ihrige: er gehörte ihnen.
auch sein herz war das seine
gewesen; es hatte ihm gehört, auch wenn es ihn immer wieder auseinander
zog und fleck sehr am auseinandergezogensein litt. zurück blieb ihm nur
der herzverlust. der war womöglich schlimmer als ein tagtägliches
sich-winden in kraftlinien (kraftrichtungen), die an ihm rissen. er besaß
gar nichts mehr; ein weniges an <gefühl> blieb ihm übrig:
erfühltes ...
sein herz wiederzufinden wurde
flecks größter traum.
16 brachland
sein
vater hatte beim ersten anblick ein glühen gespürt.
<hinreißend!>, rief
er aus, und später immer wieder.
das schüttere licht, das
am frühen abend durch die blätter der birken fiel!
wenn die nacht herankam, blütenschwer,
mit feuchtem saugen, und sich über die landzunge legte, glänzten
vaters augen. weit dehnte sich dann das meer, das glitzernd dalag, eine leicht
geschuppte fläche in völliger ruhe. darüber der himmel in luftigem
blau.
<hier ist so ein schöner
friede in der luft!>, hatte vater damals zu ihm gesagt. <siehst du,
hier lässt es sich aushalten. hier können wir beide ruhe finden.>
fleck glaubte ihm und war richtig froh. damals war fleck schon beinahe erwachsen
gewesen.
<auf der 676 ist es nur eine
knappe stunde hinüber aufs festland!>
papas gesicht war ein wenig rot
geworden vom vielen sonnenlicht. er sei jetzt schon bald in pension, da brauche
er doch einen altersruhesitz. und für mama sei es auch das beste, sie
könne hier von ihrer nervosität loskommen, die nur von der enge
und dem platzmangel in der kleinen stadtwohnung herrührte. alles war
viel geräumiger. sein vater wollte hier, wie er es nannte, der kleinbürgerlichen
enge der provinz entkommen. jeder mensch bis hinunter zum kondensstreifen
besaß ein boot.
<ein ort für künstler!>
kam flecks mutter ins schwärmen.
spätabends funkelte das
meer. der mond stand klar: das war nicht der bräunliche himmel über
seiner heimatstadt, die aus der ferne gesehen unter den tausenden von autobahnflutern
an ihrer westseite wie eine schmutzige glut vor sich hin schwelte, in einem
kokon von dreckigem rauch, der sie in nebel verwob. einen stern sah man dort
nie.
nach flecks schulabschluss hatte
die familie zwei wochen urlaub in dieser bucht gemacht und vater hatte den
platz seines lebens gefunden. dann waren sie alle zusammen in das kleine küstendorf s... gezogen.
an der lagune standen große
vereinzelte blockhäuser. dazwischen war weites land. an der küste
lag hügeliger fels neben dunklem kies, karger boden, der sich landeinwärts
schnell in weiche grüne kuppen verwandelte. dort grasten schafe und rinder.
die luft war erfrischend und klar. stets wehte eine leichte brise. möwen
flogen umher. landluft und seeluft es gab beides; und das liebten sie
alle so sehr. fleck war das äußerst gleichgültig gewesen,
damals schon.
die familie hatte sich ein abgeschiedenes
gehöft gekauft, direkt am wasser. es war ein großer hof, der kurz
vor dem ableben des besitzers ganz modern renoviert worden war. ein teil des
schuppens kragte auf stelzen über das wasser, ein boot war darunter festgebunden.
daneben eine veranda, fast bis ans wasser herangebaut, mit einer von randsteinen
eingesäumten etwas verwilderten wiese.
doch wer wollte hier schon her
ziehen? in die wildnis? in die nähe des gerölls, wo die möwen
auf den steinen hockten und kreischten, die schafe bis fast an die see herankamen?
hier war doch nichts, außer einöde. auch fleck dachte so, damals.
die rinder waren fast alle schwarzbunt
oder ganz schwarz, auch die schafe waren sehr dunkel. diese exotik gefiel
vor allem seinen eltern.
von drüben, vom festland,
sah man nachts einen sanften schimmer, der stets glomm wie ein schimmernder
goldbarren. das war die Große Stadt.
im gleichen jahr, als flecks
mutter an ihrem nervenleiden starb, wurde sein vater in die psychiatrie eingeliefert.
mutter hatte eine lange, schwere krankheit hinter sich. seine schwestern mochten
nicht bleiben.
er genoss die ruhe, als sie alle
weg waren. im grunde waren sie schon vorher weg, waren sie schon lange weg, erinnerte sich fleck. eigentlich waren sie schon damals in der stadtwohnung
nicht mehr wirklich bei ihm gewesen. später waren nur noch ihre hüllen
da, einfach nur das äußerliche ihrer erscheinungen. und ein paar
sprechblasen, die inhaltslos herumflogen und den raum mit geräuschen
füllten, die er gar nicht hören mochte.
und dieses nichtvorhandensein
seiner familie, die stets um ihn war, wurde auf der landzunge noch schlimmer:
sie löste sich buchstäblich auf, wurde immer blasser, schmolz dahin.
fleck glaubte fest daran, dass sie alle noch irgendwo lebten und er sie reanimieren
könnte, wenn er sie nur finden würde. nicht ihre körper musste
er finden: die waren bereits verblichen. ihre körper waren nur die hüllen.
ihre gedanken, ihr erfühltes suchte er.
seine beiden älteren schwestern
lebten beide schon lange drüben in der Großen Stadt, wo sie studierten
und freunde hatten. womöglich war eine von ihnen schon verheiratet, dachte
fleck manchmal, oder hatte ein kind geboren.
aber es bedeutete ihm nichts.
er würde sie womöglich gar nicht bemerken, wenn sie ihn einmal besuchten
so dünn waren ihre hüllen geworden. so unsichtbar und blass.
fleck war nie in der Großen
Stadt gewesen. er sah sie aber jeden tag, sah ihre glühende hülle,
ihre rauchschwaden, sah die flugzeuge: kleine blitzende silbermoskitos, die
auf ihren leib aufsetzten (um ihnen den lebenssaft abzuluchsen) und wieder
abhoben. und eine eigentümliche beklemmung erfüllte ihn, wenn er
sich vorstellte, dorthin zu gehen. er wäre dort so schutzlos. und so
weit fort! und wenn er die menschen doch nicht sehen konnte?
sein vater hatte seine letzten
berufsjahre dort gearbeitet, in einem mächtigen industriekomplex am anderen
ende der metropole. nun war er in einem sanatorium, dessen namen fleck nicht
kannte. wo man ihn angeblich pflegte. manchmal bekam fleck einen brief vom
vater, den er ungeöffnet ließ. der ist ihm doch sowieso nur von
irgendwelchen psychiatern diktiert worden, dachte fleck. er würde ja
die schrift nicht einmal lesen können: es wären ihm blinde buchstaben.
ohne eine spur dessen, was sein vater selbst erfühlt hatte: dieses war längst verloschen und anderswo.
nun lebte fleck alleine auf dem
großen gutshof, wo er tagaus tagein zu tun hatte. schließlich
musste jemand ja diese arbeit machen, sagte sich fleck. er liebte den ort
nicht besonders.
aber was liebte er schon?
nach der einlieferung ins sanatorium
hatten die ärzte flecks vater bewegt, ihm ausreichend geld zu vermachen,
sodass fleck von etwas leben könne. fleck ging immer wieder die verwinkelte
straße hinauf zu dem laden, wo er das nötigste zum leben erstand.
fleck brauchte im grunde nichts. es sei alles tand, dachte er, und damit vollkommen
unnütz.
die ältere dame im laden
war ihm manchmal ein wenig sichtbar, wenn auch nur ganz verschwommen. dennoch
war fleck immer froh, wieder aus ihrem laden draußen zu sein. er ging
nicht oft hin und kaufte dann gleich ganze säcke voll konserven: proviant,
der für monate zu reichen hatte. die heimeligkeit in diesem geschäft;
das vereinnahmende lachen der alten dame und ihre mitteilsame zutraulichkeit;
die gute warme stube, in der die wände wie in einem kolonialwarenladen
mit allem und jedem vollgehängt waren, beklommen ihn. die luft hatte
meist backofenwärme wärme, die vor allem die hellbraune tünche
des mauerwerks zurückstrahlte. es war zum anfassen nett. es hing fleck
zum hals heraus.
17 die große stadt
am
liebsten stand fleck stundenlang bis zu den knöcheln in der see und starrte
aufs festland hinüber. dort glänzte es geheimnisvoll. es war das große unbekannte für ihn. manchmal legte er sich für stunden
in das wasser und ließ sich von den wellen sanft umherschaukeln. das
war angenehm. das wasser war so schön warm, wo es seicht war. der blick
vor sonnenaufgang hinüber zur stadt hatte für ihn etwas verheißungsvolles,
das ihn zugleich mit angst erfüllte. er konnte sich überhaupt nicht
vorstellen, was dort drüben war.
seit jahren war er nicht mehr
unter menschen gewesen. und hatte sich dabei daher an das alleinsein gewöhnt.
schaumkronen spielten um seine
knöchel. das mochte er. überhaupt mochte er die kleine sandbank,
die vor seiner wiese ins meer hinausragte.
das meer, wie es roch, nachts.
fleck glaubte, seine dunkelgrüne farbe einatmen zu können. das gleichförmige
rauschen bekam in der nacht einen ganz eigenen klang. im großen wuchernden
gras nahe dem wasser wuchsen ganz eigentümlich schöne blumen. fleck
hatte hochentzückt diese seltenen schönheiten bewundert. immer wieder
wurde die wiese vom meer überspült, wovon das gras teils welk wurde
und die blumen abstarben: vom wasser erstickt. aber das gras erholte sich
schnell.
es wurde alles mögliche
an seinen strandstreifen angespült. unter diesem gestrandeten gut waren
fischernetze mit spitzen haken daran, vermoderte holzbalken, äste, zweige,
plastikflaschen, rostige büchsen, plastikschnüre von angeln und
netzen, fischig riechender seetang. algengeflechte (braun, in sich verschlungen,
faulig riechend). etwas hatte sich immer in ihnen verfangen. ganze haarballen
der schafe. glibberiger gelber schaum. federn, gekröse, vogelkot.
einmal hatte die see einen ganzen
plastikstuhl herangepült, dem ein bein fehlte. fleck las vieles davon
auf und schuf sich so eine schillernde und kuriose sammlung, die er in seinem
schuppen aufbewahrte.
er fand immer etwas neues darunter,
an dem er seine freude hatte: einen puppenkopf, eine kinderschaufel, einen
mit sand gefüllten ball. einmal hatte er eine platine gefunden. zwischen
ihren bausteinen hing braunes algengeflecht. manches dagegen war unbrauchbar:
hölzerne gebrochene verpackungen. die rückwand eines transistorradios.
schaumgummifetzen. styropor. aufgeweichte schachteln. manchmal wurden entstellte
dinge angespült, wo fleck gar nichts mehr über ursprung, alter und
verwendung enträtseln konnte.
fleck sammelte muscheln, die
zwar selten waren, aber wenn er eine fand, war er ganz stolz. es gab ganz
flache, von denen manche schon uralt sein mussten, so glatt geschliffen waren
sie, fossile irgend einer vorzeit, dachte fleck, die seit urgedenken
umhertrieben. andere hatten eine herzform mit gleichmäßigen riefen,
die von weiß zum braun langsam ins schwarz übergingen. wieder andere
waren spitz, spiralförmig eingedreht, oft mit einer art henkel daran:
diese liebte er besonders. fleck fand weiße, rosane, hellbraune und
bunt gemusterte. andere waren klein, rund, flach oder spitz, jede in ihrer
art einzigartig. manchmal entdeckte er gar handtellergroße und freute
sich riesig. wenn er die muscheln aus dem feuchten sand las, überraschte
ihn dann und wann ein kleiner krebs, der unter ihnen saß und rasch davonsauste.
einmal überlegte er sich,
was er täte, wenn er eines tages sich selbst dort fände:
ein totes stück mensch, mit salzigen haaren, sand in augenhöhlen
und ohren, salzverkrustetes haar, zerrissene hosenbeine. den haarschopf wirr
im wind flatternd. dreck zwischen den zähnen. die lippen bestimmt dunkelblau.
fleck verbrachte viel zeit damit,
seine sammlungen zu vervollkommnen. immer wieder baute er aus dem strandgut
fantasieobjekte, kleine motoren und maschinchen verzierte sandbauten, schrieb
worte. er konstruierte aus muscheln sich drehende radare und sender: ohren,
fühler, tentakel. die nach draußen horchten.
was er mit seinem leichnam anfinge,
fragte er sich, wenn er ihn denn fände.
an anderen tagen saß fleck
nur im sand und blickte hinaus aufs wasser, wo manchmal ein schiff fuhr. er
erkannte alle möglichen schiffe: tanker, passagierschiffe, fähren,
kreuzer, schnellboote, ganz selten auch einmal einen segler. er betrachtete
stundenlang, wie die see in immer neuen überlappungen an land leckte.
er bemerkte, dass jede feinheit zählte. schon seit jahrmillionen hatte
jede feinheit gezählt. er beobachtete, wie der weiße schaum blasen
warf, sich langsam auf dem sand auflöste und einsickerte. die nasse spur,
dort, wo das wasser den glatten sand berührt hatte, trocknete sekundenschnell.
pierdes la fé,
cualquier esperanza es vana
y no sé
qué creer;
pero olvídame
que nadie te ha llamado
y ya estás
otra vez
wäre auch nur ein schäumchen
oder tröpfchen anders an land geflossen, sähe das meer heute anders
aus, sann fleck. gibt es vielleicht gar nur eine einzige möglichkeit,
wie alles sich bewegt? nur eine einzige möglichkeit, nach der das universum
sich selbst abspulte wie einen endlosen film? immer wieder und wieder von
vorne?
dunkel und geheimnisvoll zungte
das meer heraus, stieß in immer neuen sich überlappenden wellen
auf den sand.
18 schemen
fleck
war eines nachmittages nahe am wasser, weil er seit einiger zeit versuchte,
sich fische zu fangen. dazu hatte er sich von der frau im laden eine kleine
angel erstanden und konnte sich nun selbst versorgen. dass er dann immer nur
fisch essen würde, störte ihn kaum. manchmal gab es auch süßen
schinken, den er sich als großes stück kaufte, herzhaft geräuchert;
und monate daran herumsäbelte, ihn von zeit zu zeit am offenen feuer
briet. er liebte es, wenn es abends kühler wurde, dazusitzen, mit salzverkrusteter
haut, die immer ein wenig spannte. dann rieb er den schinken, der über
der flamme hart geworden war, mit öl ein und würzte ihn mit pfeffer
und salz. fleck ließ ihn oft wieder erkalten, wenn er richtig schön
knusprig und hart geworden war. auch brot konnte er inzwischen selber backen.
die dame im laden hatte einen kleinen wagen und konnte ihm auch liefern, was
er benötigte: getreide, mehl, kanister voller wasser. manchmal sah er
sie nicht, wenn sie zu ihm kam, aber fand dafür ihre ware an seinem haus.
sie kamen die anhöhe herab,
zwei engel mit wehenden haaren. so deutlich hatte fleck seit jahren niemanden
mehr gesehen. botinnen des jüngsten gerichtes, durchfuhr es ihn. das
orange licht spielte grell an wolkenzipfeln, stach ihm wie ein bizarrer splitter
in die augen, die er mit der flachen hand beschirmte. ob er sich verstecken
solle, dachte er, klammheimlich in den geräteschuppen verkriechen.
seine finger zitterten nervös,
tanzten fuchtelig durch die luft. er hatte ein dumpfes gefühl, als wisse
er, worum es ginge.
entre dos tierras
estás
y no dejas aire
que respirar
fleck pfiff durch die zähne:
eine schnelle melodie, die einzige, die er noch besaß, hier in der öden
küstenwelt. die beiden gestalten kamen näher und näher. erinnerungen
drängten sich auf.
damals, in der kleinen stadt.
seine schwestern hatten mit ihm gespielt. dabei sprangen sie einmal so wild
im bassin umher, dass es umkippte und das wasser im gesamten waschhaus umherlief.
schnell aus der gekippten wanne heraußen krochen sie vor angst und schrecken
nackt und schlotternd in einer ecke des raumes zusammen, doch die großmutter
hatte das kippen des schweren eisenbottichs gehört. es setzte eine gehörige
schelte.
fleck stand und angelte. sein
blick schweifte ab, ungläubig. seine lippen schlossen fest. seine schwestern
gab es nicht mehr. es sind gespenster, vermutete fleck einen moment lang:
schimären. deutlicher noch sah er das rötliche haar der älteren
in der brise wehen. das der jüngeren war flachsblond.
groß und mächtig traten
sie in seine küche ein, begannen tee zu kochen. fleck hatte mühe,
genau hinzusehen. noch verstand er ihre gesten nicht. es war ihm überhaupt
nicht klar, was die beiden wollten. sie redeten schnell und durcheinander.
fleck war fieberhaft bemüht, ihre worte, die in kleine kugeln und hüllen
eingekapselt waren, herauszulösen. krankheit, verstand er. und enteignung.
fleck rieb sich die augen. ganz
verstört saß er da. seine schwestern redeten auf ihn ein: er solle
endlich einmal zuhören und aus seiner traumwelt erwachen. ihre sprechblasen
zerplatzten geräuschvoll an der decke. fleck hörte nur geräusche
der aufregung, aber begriff nichts.
<hör mir endlich zu!>
schrie die ältere abgehackt, jede silbe betonend, <dein vater ist
krank. er wird nicht mehr gesund werden.>
das verstand er jetzt deutlich.
doch das wusste er ja bereits.
<es gibt einen richterbescheid,
dass er das anwesen übertragen muss, an uns drei. wir zwei haben uns
entschlossen, das gut zu verkaufen.>
fleck schwieg. es war fürchterlich
anstrengend, diesem silbensalat zuzuhören. er hörte wieder nur geräusche,
verließ das zimmer, ohne dass er sie zuende reden ließ. fleck
wollte angeln und seine ruhe haben. ein lichtspiegel querte sein augenlicht.
eine träne verzerrte das gleißen, er wischte sie schnell ab. seine
schwestern folgten ihm den kleinen weg hinunter an die bucht.
<du kannst hier nicht länger
bleiben>, begann seine andere schwester lautstark. <sieh dich an, in
welchen lumpen du herumläufst. wovon lebst du? was hast du in all den
jahren gemacht? wovon gelebt? du gehst hier vor die hunde. deine haare sind
schulterlang, du bist bärtig, eingewuchert und vollends verwahrlost
ein bild des grauens! bist du überhaupt noch ein mensch? du bist in den
vier jahren, in denen du nun hier lebst, vollkommen dumpf und seltsam geworden.
jemand, der die welt nicht mehr begreift. es scheint, als würdest du
uns gar nicht wahrnehmen! bist du eigentlich da?!>
sie lachen mich aus, dachte fleck.
<du bist nicht fähig,
auch nur einen vernünftigen satz zu reden. du lebst doch nur in deinem
kopf. die leute halten dich für einen, nun ja, spinner, dabei bist du
erst am anfang ... dabei bist du noch so jung.>
fleck grinste seine schwester
an, mit dem lächeln eines irren. die schwester verstummte abrupt.
seine zunge lag ihm wie ein
schleifbrett im mund. es fiel ihm schwer zu sprechen. plötzlich blitzten
seine augen.
<haben gnä frau
nun geendigt?!> kicherte er spöttisch hervor.
<wir haben das anwesen bereits
aufgekündigt. es ist zum verkauf freigegeben.>
das sind nicht meine schwestern,
dachte fleck, so gut sie sich auch verkleidet haben. es sind hyänen.
bestien. trügerisches geschmeiß aus der Großen Stadt! fleck
kniff die augen zusammen. nie würde er auch nur einen fuß dorthin
setzen.
es plagte ihn der hunger. sie
standen immer noch da wie angewurzelt, argumentierten, gestikulierten, krakeelten
durcheinander. sie verblassten, als fleck beschloss, die angel auszuwerfen
und endlich für sein mittagessen zu sorgen.
seine schwestern waren es nicht,
da war er sich nun ganz sicher. diese gestalten waren bestimmt eine einbildung
gewesen, dachte fleck. auch wenn er die schemen nach einer weile wieder über
die anhöhe davonschwinden sah. sie würden mit sicherheit nicht wiederkommen.
diese trugbilder! ausgeburten des molochs.
schließlich konnte er doch
diesen ort, mit dem er so viel verband, nicht einfach preisgeben. er mochte ihn nicht preisgeben. das grenzte an verrat. die zwei hatten ihn verraten:
ihn und seine heimat, die ihm nach und nach lieb geworden war, auch wenn er
den ort lange nicht verstanden hatte.
wo sollte er sonst hingehen?
was besaß er noch? sein blick wurde dunkel.
all seine sammlungen! all das,
was er sich über die jahre aufgebaut hatte! wie unverschämt es doch
war, sich die gestalt seiner schwestern zuzulegen, um so eine spottvorstellung
zu geben, dachte er.
fleck las keine briefe. was er
an post bekam, warf er seit ehedem ins meer und sah lange zu, wie es davon
schwamm, langsam aufweichte. er bekam in letzter zeit sehr viel post. die
absender darauf mochte er nicht entziffern, es war ihm zu mühsam, erst
recht, wenn sie maschinengeschrieben waren. er mochte die ungeöffneten
kuverts langsam davon treiben sehen.
kurze zeit darauf standen drei
männer in schwarzen anzügen vor seiner haustür und läuteten
sturm. fleck war gerade im geräteschuppen zugange und blickte hinüber,
was es für männer seien, die aus einer großen dunklen limousine
gestiegen waren. er konnte sie ganz deutlich erkennen. feine herren im frack.
er hatte so jemanden noch nie in dieser gegend gesehen. dass er sie so deutlich
wahrnahm, verstörte ihn noch mehr, als wenn er sie nur schemenhaft gesehen
hätte. oder gar nicht. fleck stieg schnell auf den speicher und blickte
von oben durch die dachluke herab. sie pinnten einen bogen mit roter schrift
an seine haustür. als sie verschwunden waren, löste er das papier
ab. es stand mit harten lettern ein wort darauf, unter diesem ein datum mit
mehreren stempeln.
fleck warf das papier ins meer.
19 das zerbrechen des lichtes
eine
wasserfontäne spritzte in hohem bogen aus der wand. ein spülbecken
aus blech purzelte polternd auf die straße. zwischen dem geröll:
möbel, zerbrochenes geschirr, kinderpielzeug, haushaltsgeräte. die
innerlichkeiten der häuser schamlos nach außen gestülpt; fleck
wandte seine augen ab. überall wehklagen, zerdrückte autos; die
straße hatte risse bekommen, die mit brettern überbrückt wurden.
ruinen, so weit das auge reichte. aus den häusern waren heisere schreie
zu hören.
ein paar reporter posierten vor
dem trümmerfeld, sich auf eine kameraeinstellung vorbereitend. die frisur
einer jungen blonden frau wurde für die liveübertragung gerichtet.
fernsehwagen aus dem ausland fuhren herum, schöne, geputzte, blinkende
karossen. die trinkwasserversorgung machte probleme, da das leitungsnetz nicht
mehr intakt war. elektrizität gab es nirgends mehr.
es waren bereits baufahrzeuge
im einsatz, die den schutt forträumten. ein kran hob große trümmer
behutsam an; männer mit bauhelmen brüllten richtungsanweisungen
hinauf zur kanzel. krankenwagen waren angekommen, die verletzte abtransportierten.
sanitäter liefen umher. hilftrupps brachten sie zu bussen, wohl in eine
art sammellager, wer wusste das schon. hier konnten sie jedenfalls
nicht bleiben.
fleck schreckte hoch. etwas bohrte
in seinem hirn.
als er nachts auf der veranda
stand und auf die ruhige see blickte, kam ihm der gedanke, dass es ein faszinierender
anblick sein müsse, wie das gehöft in sich verfiele und durch seine
dächer die sonne schiene. irgendwann würde das anwesen nur noch
eine ruine sein, vom meer überspült: seine küche, seine kleine
nische, in der er schlief, seine kammer, das ehemalige wohnzimmer seiner eltern.
seine sammlungen. durch das dach würde er den himmel sehen und es dann,
nachdem es verfallen war, mit großer genugtuung verlassen können.
um sein herz zu suchen ...
zum ersten mal nahm er sich das
fernglas seines vaters und blickte hinüber zur Großen Stadt. dort
sah er nun eine riesige ansammlung von hochhäusern, brücken und
fabrikschloten. diese metropole musste riesig sein.
ob er dort sein glück wieder
finden könne? ob dort erfühlbares sei?
manchmal hörte er die stadt:
es war, je nach wind, ein weiches rauschen. ein bild erwachte in ihm: es gab
gärten, riesige anlagen mit tulpen, rosen, narzissen, orchideen, jasmin,
oleander, begonyen, fresien und veilchen. und blumen, die keine namen hatten.
er sah einen ausgedehnten basar, auf dem hübsche, gutgekleidete menschen
dahinschritten. man konnte wunderschöne ware kaufen: bunte, glänzende
kleider, schmuck, gewürze. weiche düfte durchströmten die atemluft.
sie waren herb, süß und mild. angenehme musik (gitarren) klang
aus den kleinen bars heraus. wohin man sah, waren kleinere gasthöfe und
einkehren, in denen es angenehm warm war und deren erleuchtete fenster zum
eintreten einluden. kerzen brannten: hohe schlanke, dicke bauchige, gerade
zylinderförmige, mit schönem gelbwarmem licht. er mochte das. junge
frauen, anmutig gekleidet, bedienten.
es gab ein getränk, das
kühl auf der straße verkauft wurde und nach gesüßter
malve schmeckte. es trug den namen einer karibischen insel.
in den bars saßen mädchen
mit hübschen braunen augen. sangen dunkle lieder. trugen weite, glänzende
seidengewänder. hatten gut frisiertes, langes haar. in diesen gemütlichen
einkehren standen einladende sitzbänke, wo man sich nach dem flanieren
niederlassen konnte und feines essen serviert bekam. dazu guten wein. oder
ein kühles bier jeder wie er wollte. aus dem hintergrund spielte
musik. zum beispiel ein kleines streichquartett. oder es musizierten männer
in gepflegten schwarzen anzügen, die mit feierlichen trompeten zum hochzeitsfest
einen warmen tusch bliesen. und jeden tag war eine hochzeit!
auf dem geräumigen platz
mitten in der stadt befand sich ein großer markt, auf dem menschen lebensfroh
sangen und lachten, umgeben von parks, in denen die leute saßen. hier
traf man sich, hier lernte man sich kennen.
hatte ein mann hier auf einer
bank eine schöne frau gefunden, ging er zusammen mit ihr, wenn sie wollte,
die esplanade hinunter, flanierte zwischen anderen glücklichen paaren
mit weiten schritten eng neben ihr. kam man sich nahe, legte man die arme
umeinander. und küsste sich. vielleicht. die sonne spielte mit schütteren
farben in einer wolkenbank und ging dann im schönsten postkartenrot am
firmament hinunter. er liebte es, der sonne zuzusehen, wenn sie langsam ins
meer einsank. fleck liebte den süden.
déjalo
ya,
no seas membrillo
y
permite pasar
y si no pienses
echar atrás
tienes mucho
barro que tragar
liebe!
was für eine verlogenheit
das war. eine sentimentalität, eine krücke. und sich einer nackten
frau ganz hinzugeben: nicht aus freiheit und glück oder um sich im sengendem
licht zu baden, nicht der grünen wiesen wegen, sondern aus not, aus kleinheit
und einsamkeit: das war schwäche. einen warmen körper neben sich
zu spüren, in hitze mit ihm zu verschmelzen, sich überglücklich
ineinander zu kehren und die oberflächen zu vertauschen, auf den höchsten
gipfeln zu stehen und aus freude am echo hinunter zu rufen, zu jauchzen vor
gipfelglück: das hätte ihm liebe sein können; nicht
dieses verschämte zueinander-finden, weil beide jemanden suchten, weil
beide einsam waren, enttäuscht waren, weil beide ein armseliges leben
führten und sich aneinander ergehen wollten, weil die kraft, der druck,
der trieb bohrte: das war unfreiheit und raserei.
einen schimmer trug er im auge:
das licht der sonne, das auf dem asfalt flirrte wie in einem spiegel. an einem
solchen platz nahe dem markt, wo man abends flanierte, wo frauen einsam auf
bänken saßen, war auch fleck einmal gesessen. alle düfte stiegen
wieder in ihm auf. er erinnerte sich an den weiten platz mit dem schachbrettmuster.
in einem rund, das aus bänken gebildet war, saßen mütter mit
ihren gutgekleideten töchtern. fleck hatte sich dort unwissend hingesetzt.
sogleich kam eine frau mama mit ihrer tochter an und fragte ihn, wo er denn
herkomme. damals konnte fleck nicht besonders gut spanisch sprechen. aber
er erklärte, aus welchem land er stamme und erzählte in kurzen zügen
seine familiengeschichte. das wort esposa fiel. ob er denn schon verheiratet
sei. fleck schüttelte energisch den kopf. das mädchen, kaum 18 jahre
alt, strahlte jetzt über beide bäckchen. er war nicht viel älter
als sie gewesen, damals. jetzt begann die tochter selbst zu reden. sie fragte
ihn, ob er kinder habe, ob er sich vorstellen könne, hier zu bleiben.
beides musste fleck nach kurzer überlegung verneinen. seine familie,
sagte er. und schwieg. das leuchtete mutter und tochter ein. es mache ihm
freude, mit ihr zu sprechen, sagte fleck.
<como te llamas?>
<gabriella.>
die mutter protestierte mit einem
herzlichen lachen, als die tochter den kugelschreiber ansetzte, um ihm dann
mit niedlicher kinderkrakelschrift ihren namen auf die hand zu schreiben.
das fand gabriella neckisch. ihre braunen augen leuchteten. sie ließ
ihren kaugummi knacken. weiß blitzten ihre schön geformten zähne.
<y tu?>
dieses <tu> tat ihm gut.
er war hingerissen von gabriellas <tu>, gesprochen mit einem ganz weichen T (schokoladenfarben), insbesondere, als man überall auf ein feines
aber ebenso förmliches usted wert legte. umso mehr schmeichelte
ihm ein solches <tu>.
er sei ein sehr gutaussehender
junger mann, verstand fleck, nachdem die frau mama beim zweiten mal deutlicher
artikuliert hatte. er wurde etwas verlegen und fragte noch einmal nach.
<si, muy bueno!> kam von
der mutter, die daumen und zeigefinger zusammenbrachte, die restlichen finger
galant abspreizte.
ob er denn einen beruf habe.
fleck hatte den kopf geschüttelt, damals auf der esplanade. ein schüler
sei er noch. ach so ja, ein schüler. den namen der stadt hatte fleck
vergessen.
er träumte von der Großen
Stadt. von den vielen schönen, hochgewachsenen, lachenden menschen, die
dort durch die straßen schritten. so, wie er es in seinen träumen
sah, würde es sein. das wusste er ganz bestimmt.
20 das dunkel
es
war frühmorgens, es war kalt, es begann zu regnen. sein blick tauchte
davon. es erfasste ihn eine schlimme beklemmung. eine erinnerung flackerte
auf. wasser platschte herab auf fleck, der auf einem fels niederhockte. er
starrte weit. alle himmel waren mit düsteren zerbrechlichen glocken verhangen,
tönern, dunkelrot. der regen, der durch die halbgeöffneten luken
des himmelszeltes herabrann. draußen: die musik der nacht. der regen
spülte alles fort. das fünfstrahlige ahornblatt schmierte am boden
dahin. im dreck das eichenblatt. den ahornsamen. als kind hatte er sich diesen
samen auf die nase geklebt. (wann mag das gewesen sein?)
all diese menschen, die ihr herz
an etwas hinhängen, das womöglich längst gestorben war, bebte
es in fleck.
er hob einen dunklen stein vom
boden auf, den ein weißer faden fast geradlinig durchzog. er war angenehm
kalt, dieser stein, er duftete. fleck labte sich an dieser schönen kälte.
sie brachte ihn ein wenig zur besinnung. er hatte ein verlangen nach dem schatten
einer tanne als stillem ort, darüber der katafalk der nacht gedeckt.
vor sich sah er die silhouette
der stadt, erleuchtete zacken in weiter ferne. stumpf saß er im regen,
als die neonbeleuchtung ansprang und wie eine aufquellende narbe flammend
weiß den weg über den kleinen hügel zur stadt wies.
fleck war zuhause auf dem bett
gelegen, hatte roten wein getrunken, schwer und fruchtig, als er etwas leuchten
sah. er hatte von seiner liebe geträumt, hatte einen bedeutungsreichen
brief geschrieben, den er hinterher in hunderte fetzen riss. ein wunderwerk
hätte er schreiben wollen; ihr, die er anbetete, wollte er diesen brief
zukommen lassen: ein papiernes gebet in dunkelblau, in das er mit weißer
tusche einen hübschen vogel hineinmalte. ein feuriges federwerk auf rotorangenem
busch, darüber mit gelb die federn; das leuchtende auge ein tupfen silber,
den schnabel geschwungen, darüber verschwenderisch die buchstaben seiner
liebe hingemalt: gedrechselte worte unverwüstlicher sehnsucht. fleck
trieb die buchstaben ins schwere papier. deklamierte seine zuneigung in steinerne
lettern. meißelte seine wilde leidenschaft. gravierte die tiefen des
geduldigen papiers.
das zitternd perlende mondpapier
schwoll, ein schwachroter schein hinter den wäldern und dunkel hinsterbenden
silhouetten der nacht verblühte, den schemen des gedunkelten dorfes,
die fleck nur undeutlich sehen konnte. in kühlem blau blieb ihm die nacht,
endlich nur die nacht.
als lichtzüngelnder brand
fraß sich das helle seidenweiß des mondes durch alles hindurch,
sengte mit eisengreller klinge, schnitt kalt alles auseinander, was welt war,
was blass und vage am rand blieb, zerschnitt den warmen sonnenrest am unteren
ende des waldsaums dunkelrotes barrett einer stolz hinsterbenden sonne,
zog die stählerne kante des mondes, kitzelte die pupille mit der schneide
eines zerfetzenden rasiermesserblattes. blut rann schnell, kathodenkalt.
wie alles dahinfloss. nirgendwo
gab es noch wärme.
<glaubt gott an gott?>
höhnte fleck mit bitterem schrei hinaus in den regen.
<glaubt morgenrot an morgenrot?>
gab er heiser hinterher. in schwaden wucherte ihm der atem aus dem mund. die
luft blieb kalt.
<glaubt echo an echo?>
<atem an atem?>
fleck trat mit den füßen
gegen die nassen sträucher.
hat gott berücksichtigt,
wie wertlos doch alles war? nagte es an ihm.
<wie herzlos leuchten doch
die sterne!> sprach er tonlos hinauf. seine atemluft rauchte.
<und die sonne ist auch nur>,
er hielt inne, < ein toter anorganischer stein.>
eine zeitlang war es sehr dunkel
geworden: da war das loch in seiner brust. ein unleugbares loch. zuerst dachte
er, es sei eine kleine lücke, ein winziger spalt, ein schlüsselloch;
dachte, er könne sich einen finger an die brust halten, um es unsichtbar
zu machen. jemand, der von dem loch wusste, konnte mühelos einen schlüssel
hineinstecken und ihn umdrehen.
das loch, durch das ein hauch
davon hereinkam, was draußen war: die nächtliche kühle. ob
er vielleicht nicht ein wenig von seinem licht nach draußen bringen
könne.
aber das dunkel fiel in ihn
erst war es nur ein kleiner fleck,
etwas dunkler als fleischfarben: ein muttermal, eine wölbung nach innen.
doch es wurde größer und größer und mit ihm kam schwärze
herein. womit er es hätte füllen können, dieses loch?
es war eine monströse leere,
eine dunkle wüste
seit mit emmy schluss war, wuchs
das loch; erst hat es kaum weh getan, aber nach und nach fingen die ränder
zu brennen an, zuletzt wie feuer. er wollte es nicht spüren, ging darüber
hinweg. einige leute auf den plätzen fragten ihn, was mit ihm sei.
die flammen hatten ihn überwuchert
es holte ihn ein. er war von
ihr gegangen, unweigerlich, hatte sie stehen lassen, obwohl er sie geliebt
hatte, war übernächtigt im frühen morgenwind durch den regen
gegangen. und hatte sie verlassen. damals sein brennender stolz, ein biss
auf die unterlippe, ein gran schadenfreude sogar: triumf in der morgenglut;
schwarzer marmor splitternden briketts vergleichbar; mit schwarzem
gestein hätte er es auspanzern mögen, sein herz, sein wegwerfherz,
dachte er, so sinnlos war ihm dieses ding geworden.
manchmal hatte fleck sie Aurora
genannt: sein sanftes ein und alles. seine reife welt-erklärerin. ein
kurzes knirschen von glasscherben unter der zunge. war es dieses geräusch,
das er hörte ein banges klirren und beben inmitten rauschenden
lebens?
mit solchen gedanken kroch er
hinein in dieses dustere loch.
21 chemisch
egel
umwimmelten ihn, papierdünne larven, blattmenschen, raupen und insekten,
geschöpfe aus der unterwelt, riesengroß, umherspukend, er darunter,
ein fleck mit hut inmitten der schweißbrandenden parfumierten luft.
es war zu heiß. aber wie schön es war, in dieser zu heißen
luft! das harte pochen einer bassgitarre dröhnte durch seine eingeweide.
an einer bar legte er beide arme in die nässe der theke. sein t-shirt
klebte an ihm wie eine feuchte haut.
sie stand neben ihm am tresen:
eine frau mit einem hut. nicht gerade außergewöhnlich auf einem
faschingsball. jedoch hatte irgendwer seinen eigenen hut genommen, als er
ihn beim tanzen abgelegt hatte. hüte sahen oft gleich aus; aber dies
konnte nur sein hut sein. auf alle fälle war es eine gelegenheit ...
emmys kullernder tropfenblick
rollte in zeitlupe auf ihn zu, als er auf sein getränk wartete. der blick
hinein ins raffinierteste labyrinth aller erdenaugen. die verschachtelte treppe
in diesen pupillen, ein warmes dunkles gewölbe, das ihn fort saugte auf
den zweiten dritten vierten blick. ein mund. der sich aufzog wie eine ziehharmonika.
darin strahlte frech eine reihe kleiner weißer zähne.
<hut ab!> fuhr es lustig
aus fleck, und noch ehe er einen klaren gedanken gefasst hatte, gab er schon
ihrer kopfbedeckung einen schubs.
<he!> fuhr es lustig aus
emmy, lächelnd stand sie da, entrüstet. da kamen die getränke.
als sie bezahlte, nahm ihr fleck den hut vom kopf. sie, hin- und hergerissen
zwischen der bedienung und ihm, gestikulierte, zahlte, protestierte. fleck
lachte und setzte ihr den hut wieder auf.
<hut auf!> sagte er.
und schuss! ein polaroid fürs
leben ins album seiner erinnerung eingeklebt. sofortbild.
mit rascher hand nahm ihr fleck
den hut vom kopf und setzte ihr nun den seinen auf. ihr blick wurde wütend.
er setzte sich selbst mit gespielter lässigkeit ihren hut auf. lächelte
gewinnerisch.
<was soll denn das, du ...
!>
siegessicher nahm ihr fleck erneut
den hut vom kopf.
<gib meinen hut her!> sie
war so perplex, dass sie sich nur die hände in die hüften stemmte
und ihn energisch anstierte.
da zog er ihr einen von beiden
hüten auf und schmiss zwei silbermünzen vor sich auf die theke.
<stimmt so>, sagte er zu
ihr gewandt.
lächelte charmeurhaft.
<hut ab ... !> sagte sie,
jetzt frech und dunkel. fleck reagierte nicht.
<mensch, gib sofort meinen
hut her, du spinner!> röhrte sie durch die laute musik hindurch. und
griff nach ihrer kopfbedeckung auf seinem kopf.
<dein glück, dass heute
fasching ist!> sagte sie und grapschte ihm mit einem ruck den hut vom kopf.
<das ist meiner!> protestierte
fleck, und rupfte ihr den hut wieder aus der hand.
schnell warf er sie beide in
die luft. als sie im fallen heruntertaumelten, fing fleck den einen, sie den
anderen.
<na, welcher ist jetzt deiner?>
emmys schallendes gelächter.
jetzt, wo sie es begriffen hatte. beide schwarz, beide breitkrempig. bis auf
das hutband gleich.
sie langte nach dem einen.
<moment>, sagte fleck mit
tiefstem bass in seiner stimme.
<das hier>, zu ihr gewandt,
<ist ein damenhut>. er strahlte sie an.
<und das hier ist ein
herrenhut.> er kniff ein auge zusammen.
<das ist in wirklichkeit:
deiner. wir haben sie wohl vertauscht.>
sie lachte voller ironie auf.
<vertauscht!?> kam
es heiser aus ihr.
<in meinem hut ist ein violettes
schild. da steht darauf: la grange. er ist aus spanien. sieh doch nach,
señorita!>
sie blickte ihn nachdenklich
an. nahm den hut vom kopf, blickte hinein.
<la grange!>
braune haare. dieses kieksende
lachen. ok. woher wusstest du. hier sind doch so viele menschen. was? du kennst
deinen hut. kann ja gar nicht. es ist zufall. ich habe es nicht. und du?
sie lehnten an der bar und redeten.
sie hat so etwas weiches, wenn sie ihren gespielten zorn abgelegt hat, spürte
fleck. fleck sprudelte über, erzählte in wilden gedankensprüngen
von seiner spanienreise, damals, mit seinen eltern in barcelona. auf den ramblas.
in der kirche von gaudi sei er gewesen. die tönerne glocke. hatte einen
geisterhaften klang gehabt. davor war ein kleiner flohmarkt. mit straßenverkäufern.
hier hatte er den hut gekauft. emmy. ein zuckersüßes. edelweiß.
dachte. fleck. dieses herausperlende lachen!
emmys lachen auf den vielen polaroids.
eine ganze pappschachtel besaßen sie davon.
zweimal hatten sie urlaub gemacht:
einmal auf sizilien.
liparische inseln. das grelle
sulfid auf vulcano. ihre vielen <weißt-du-nochs>.
auch hiervon besaßen sie ganz viel. als er sich seine hand am roten
gestein verbrannt hatte. und emmys schelmisches lachen dabei. sie war eine
schadenfrohe chilibohne, dachte fleck. ein clownsfratz. you are my lava
girl.
und einmal im schönen bayernlande
in den alpen gewandert: schnappschüsse vom spitzingsee. emmys lachen
eingefroren in filigrane chemische schicht.
ein fotoalbum hätte es werden
sollen. das stand neu und unbenützt neben der zigarrenschachtel: dazwischen
steckten noch zwei liebesbriefe, ein aus einer illustrierten ausgeschnittener
schmetterling und das bunte gekröse eines geschenkpapiers.
die chemie ihrer küsse.
fleck dachte, dass es nicht auszuschließen
sei, dass die dinge nachts, im versteckten, ihre farbe änderten. wenn
er nicht hinsah, wurde beispielsweise alles heimlich lila. oder blau. (oder
braun?) es blieb solange andersfarbig wie es dunkel im raum war.
und wenn er schlief wenn
er von einem moment auf den nächsten in eine völlig andere welt
gekippt war sich im dunkel eines traumes verlor, wieder zurückschwappte
in fetzen der hiesigen wirklichkeit, für kurze zeit hinabgetaucht in
unterseeisches: dann war es ein luftschnappen, aus all diesen bilderfluten
(die ihn auf abwegen hinabzogen in andere wahrheiten) wieder einen moment
hinaufzustoßen, um luft zu holen bei dem fleck mit einem mal
beides vergessen hatte, was dort, was hier gewesen ist.
der harte sandboden schmerzte,
als fleck sich umdrehen wollte.
in der sekunde vor dem lichtanknipsen
nahm jeder gegenstand flugs wie von zauberhand wieder seine ureigene farbe
an.
22 im kosmos der ruhe
beim
ersten mal hatte ihn der große nadelwald, der fünf viertelstunden
landeinwärts in einem tal dalag, mächtig beeindruckt.
fleck wusste, dass es enormen
mut erfordern würde, von seinem platz wegzugehen.
seine sammlungen, seine pflanzen
(die er in alfabetischer folge vor dem haus in kleinen gemüsebeeten zog
und nachts mit folie abdeckte) seine käfersammlungen, seine blumen, seine
blätter. über monate würde er seinen auszug aus der jetzigen
heimat, die sein glück bedeutete, vorbereiten müssen.
er schob es tage und wochen beiseite,
saß mit spanischem hut unten am wasser in der herrlichen sonne, spürte
die salzkruste auf seiner haut und dörrte um die mittagszeit in der hitze.
schloss die augen, blickte aus schmalen schlitzen ins funkelnde nass. hatte
eine tüte tabak dabei. rauchte.
ein fahrendes haus müsse
es sein, dachte fleck. ein gefährt, in dem er wohnen könne.
ein nest.
ein metallener kokon.
eine arche.
nachdenklich strich er durch
seinen gemüsegarten. nach und nach hatte er sich eine reihe von kräutern
gezogen. er kannte ihre biologischen namen nicht, nur ihre gerüche. deshalb
benannte er sie nach ihren gerüchen: die heuwurz. das vliesbett. die
mäanderriefe. die glockige perle. das nieselgras.
das eine war, alles zu verlieren.
das andere war, nichts zu finden.
fleck pflückte die gräser,
trocknete sie und rieb sie zwischen den handflächen über den speisen.
außer birken gab es nicht viele bäume. hauptsächlich nadelwald.
bergaufwärts standen noch einige vereinzelte laubbäume. als kind
hatte er viele papierbögen mit blättern beklebt: von den bäumen
in seiner heimatstadt. vom ahornbaum dort. ein paar hatte er aufgehoben.
fleck wurde weniger. fleck schrumpfte
auf die größe eines fingerhutes zusammen, so machten ihn der wald,
die bäume, die blätter, die käfer staunen. dazwischen er, im
riesigen brausen des dunklen nadelwaldes. eine nadel war er, nicht einmal,
nur eine der gedoppelten langen nadeln, die sich an ihrem bindeglied auseinanderziehen
ließen.
und wie gerne er doch unter dem
schattigen dach der bäume saß! im dunklen tann, weit drinnen, auf
teppichen von nadeln verborgen. und wie gut es dort doch duftete! die stille,
die nicht wirklich still war. da rauschte der wind durch die zweige, ein ast
knarrte geheimnisvoll, ein buntspecht hämmerte in der ferne. wenn es
kühl war, verbrachte er oft lange abende auf braunen teppichen. hatte
seine kleine decke dabei, und schinken. saß weich und trocken. wenn
die sonne längst untergegangen war, kamen glühwürmchen heran.
winzige (bläuliche) leuchtpunkte schwirrten emsig umher: ganze scharen
fosforeszierender irrlichter.
manchmal saß fleck stunden
so da, den kopf leicht geneigt. dachte, wer denn nach seinem tod all die vielen
feinen dinge, die er besaß, pflegen würde. wer all sein hab und
gut angemessen würdigen könnte.
denn sein erfühltes, das er mit all den dingen verband (mit gerüchen, farben und formen) konnte
niemand ahnen. geschweige denn festhalten. ein relikt aus den tiefen des meeres
rührte ihn an: ein fossil, aus dem er etwas neues (vielleicht eine ahorn-suchstation)
gebaut hatte. etwas einzigartiges: eine muschel, ein blatt, eine spielzeugdose,
deren klingenden musik-mechanismus das beißende salzwasser zerfressen
hatte.
zerrieben zu sand: die muscheln.
wie alt sie waren?
wie lang war die zeit?
fleck saß viele stunden
bei seinen sammlungen und schaute in einem zustand zeitlosen schwebens all
die dinge an. es waren dinge mit innerlichkeiten. sie hatten ein herz.
am liebsten aber waren ihm seine
blätter. fleck gab sich ihnen hin.
ahornbäume standen eine
viertelstunde weges bergaufwärts, über die anhöhe, schräg
hinunter zur großen straße. es waren kleinere bäume als in
seiner heimatsstadt, inmitten einem hain von laubbäumen. fleck liebte
die bäume. ahornbäume zogen ihn magisch an. manchmal, wenn es ihm danach war, stieg er flugs hinauf, setzte sich wie einst hinein in die
breite krone und ließ seinen blick schweifen. über die gräser,
in denen der wind spielte.
fleck konnte bald die jahreszeiten
riechen. auch wenn noch kein schnee gefallen war, roch er ihn; roch die kälte.
er konnte sogar riechen, was für ein schnee gefallen war. er roch die
knospen der bäume im frühjahr, ihre sporen, roch die eberesche,
die buche, den haselstrauch, roch die schlüsselblume, die anemone, den
krokus. jeder tag hatte einen ganz eigenen geruch.
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