zweiter teil
1 das licht der trauer
da
war das licht. am anfang seiner gedanken: eine wolkenbank, die seinen kopf
verwirrte. das licht, das an seinen gedanken zerrte. an seinem dreißigsten
geburtstag hatte er sich das gesicht verbrannt. das leben war sonnentaumel,
gewesen. so vieles lag nun schon hinter ihm. seine mutter hatte kalte hände
gehabt. hände, die ihn nicht bewahrt hatten. auch emmys hände hatten
fleck niemals bewahrt, vor dem verlust. der sonnenbrand kam in der nacht.
die ohren glühten. die gesichtshaut spannte und mehrmals kühlte
er mit klarem wasser die knallheiße haut.
von seinem vater war noch das
alte röhrenradio da. ein brauner kasten aus geschwungenem kirschholz,
die kanten abgerundet. es hatte einen beigen gemusterten stoffbezug vor der
beschallung und wuchtige drehknöpfe aus gelblichweißem plastik.
es besaß große tasten und eine goldene senderanzeige auf glas.
auf dieser konnte fleck schon als kind lesen: Luxembourg und Bruxelles. gern
hatte vater abend für abend aus diesem radio der musik gelauscht. am
liebsten: klavierkonzerten. flecks vater wollte nie ein neuwertiges gerät
anschaffen.
schon als kleinkind, konnte fleck
sich erinnern, habe er den schmerz seiner mutter gespürt: er sah franzi
als kleines mädchen im rosa kleidchen (ein trauriges kind), das vor den
großen turbulenzen der welt schutz suchte, aber ihn nirgends fand.
fleck erinnerte sich an einen
nachmittag, als ihn seine mutter zum einkaufen mitgenommen hatte, zum kleinen
kaufladen vorne an der straße. sie hatte ein paar lebensmittel zu kaufen
und damit einen korb gefüllt. es war ein schöner, runder, voller
tag: nur er und seine mutter in der wärmenden sonne. seine schwestern
waren nicht da gewesen. er hatte viel zeit mit seiner mutter. eine freundin
war sie ihm gewesen. munter sprang fleck den bordstein hinab, und fühlte
plötzlich, wie grausam die welt war zu seiner mutter.
auf dem rückweg hüpfte
das wabbelige plastiksäckchen aus dem korb heraus, auf die straße
hinab ein weißer platsch! erst musste fleck laut lachen über
dieses laute platschen! als ob die milch noch ein letztes patziges wort von
sich gegeben hätte: ein protest der dahinscheidenden.
die milch rann in weißlichem
fließen über den sommerheißen asfalt.
fleck hatte laut gelacht, weshalb
ihn der blick seiner mutter böse traf: er solle nicht so blöd lachen.
fleck verstummte. da sah er tränen in den augen seiner mutter. ein entschuldigendes
verstecktes aufblitzen der weltschwere in zwei kleinen tröpfchen. sie
blickte weg. ging neben ihm her, nach hause. sprach kein wort. keine silbe.
er fühlte, wie schwer ihr alles war. wie traurig sie war.
dejamé,
que yo no tengo
la culpa de verte caer
si yo no tengo
la culpa de ver que
da ging der tag in rück-,
vor- und sonnenblenden. licht überspiegelte, plusterte sich wie ein glitzerndes
segel über alles hin. lichtkaskaden versengten die augen. lichtkuben
schoben sich aus den wolken, ein wahrer blizzard aus schneeweiß tanzenden
edelweißblüten toste unentwegt, bis dunkle flecken auf der netzhaut
grieselten, bis alles dämmerte, eintrübte, verging der morgen,
der abend, die nacht;
sonnenbekleckste tage in spanien:
nur noch hauch einer erinnerung; welkes schattenspiel; die tage begannen,
in einer enormen drehung um sich selbst zu kreisen, und drückten fleck
in zentrifugaler kraft auf die seite, an die wand;
flecks kopf war ausgehöhlt:
ein leeres buch ohne schrift. mondwarm glitzerte die nacht. fleck starrte
stundenlang reglos in den spiegel. seine züge verschwammen zu konturen,
die sich auflösten. rohes material, verblassend und faltig, gealtertertes
gallert.
fleck dachte, bald würde
jede nervenbahn gefühllos sein.
die welt hatte eine delle gekommen.
sie eierte an der stelle, wo sie eingedrückt war. die welt war an den
polen abgeplattet. gib mir einen platz, wo ich stehen kann, und ich werde
die welt aus den angeln heben, hatte einst jemand gesagt, wusste fleck:
meine welt dreht sich nun in immer engeren kreisen um mein ende.
regen, der aus den halb offenen
luken des firmaments herabstürzte wie durch klaffende scharten. regentropfen
in seinem kopf: wo, dachte fleck, sind diese regentropfen? ein bild, das ein
oben und ein unten hat. wo befindet sich dieses bild? wo ist <oben>
und <unten> wirklich? gäbe es ein messgerät, die größe
dieses bildes in seinem kopf zu messen? eine apparatur, die das bild aus seinem
kopf herauszerren konnte? wo überhaupt war das bild und wo der betrachter? war da in seinem kopf eine kleine leinwand und ein projektor?
was war denn nun wirklichkeit?
spöttisch glitzerten seine
zähne.
wirklichkeit existiert nur in
den köpfen der menschen, aber nicht <in wirklichkeit>; denn
wo sollte sich die wirklichkeit aufhalten?
fleck scheuchte diesen gedanken
mit einer handbewegung fort. der boden war voller regen. ein grauer, dreckiger
film, der so heftig über alles hinweg strömte, dass er erde und
dreck und klumpen ausriss. ein regen brach los, wie er ihn bisher nicht erlebt
hatte. der heftige sturzbach überschüttete ihn, überschwemmte
ihn förmlich. fleck sprang die paar meter unter das kleine vordach eines
kircheneingangs zurück, um nicht der ganzen gewalt des wolkenbruchs ausgesetzt
zu sein. ein mann stand mit ihm, ein gottesfürchtiger junger mann, der
innehielt und mit ihm den platz unter dem schmalen dach teilen mochte. fleck
blickte diesen fremden an, der in ungewohnter nähe neben ihm verweilte,
die hände in die anzugtaschen vergraben, herzlich zu ihm her lächelnd,
mit einem feinen zwinkern. als wäre dieses herabbrechen ein tragischer
moment, oder sogar eine katastrofe, die sie nun gemeinsam durchstehen müssten;
eine katastrofe von kurzer dauer. die luft kühlte ab.
der himmel blieb hell, obwohl
das wasser mit wucht herabfiel. es spritzte ihnen beiden mit gleichförmigem
prasseln die füße nass und rauschte bereits um bordsteinkanten
herum. der mann, ein junger spanier, zog eine schachtel heraus, um hier, auf
dem treppenabsatz der kirche, eine zigarette zu rauchen. er suchte nach seinem
feuer. einen moment lang erwägte fleck, ob denn die gottesfürchtigkeit
des jungen mannes nicht doch nur einbildung sei. das dunkle, schöne gesicht
des jungen mannes! durch die schüttenden tropfen hindurch sah fleck immer
ein wenig das helle klaffen der sonne. sah hinter eintrübenden wasserschwaden
das geheime blinzeln des guten.
<fuego>, verstand
fleck. und schüttelte den kopf. dass er für den mann kein feuer
habe, sei ebenfalls eine gewisse tragik, dachte fleck. unbeholfen gestikulierte
fleck. der mann hatte humor und grinste plötzlich mit einem breiten strahlen,
das ihn so sehr erwärmte. was war aller regen gegen dieses herrliche
strahlen?
der mann redete in sehr schnellem
spanisch. ob denn, verstand fleck, der regen oder die kirche ein grund seien,
auf eine zigarette zu verzichten? deutete fleck aus den gesten. der mann lachte
und schüttelte den kopf. gestikulierte mit der zigarette. feuer habe
er nicht.
fleck bedeutete dem dunkelhaarigen
mann, dass er <no fuego> habe. na ja, pech. aber auch egal, dass
man ab und zu so viel pech habe. verstand fleck. sie lachten beide.
<teatro>, sagte
der mann jetzt. fleck verstand nicht, was er damit meinen könnte. der
mann gestikulierte, lachte, sprach überdeutlich. fleck verstand nicht.
er hatte ein talent für theatralisches, dachte fleck. war denn dieser
mann ein schauspieler? der gottesfürchtigkeit nur spielte?
sonne spielte um die stirne des
mannes. der regen wurde etwas weniger. der mann hielt eine handfläche
ins freie, um die stärke des gusses zu spüren. tropfen perlten auf
seiner haut. in der anderen rollte der mann die zigarette. er redete wieder
spanisch. fleck verstand allmählich, dass der mann es eigentlich eilig
habe, weil seine frau vor dem theater auf ihn wartete. aber sie bemerke ja
auch, dass es regnete, sagte er mit breitem grinsen. seine uhr blinkte im
hellen licht.
ob fleck denn ein tourist sei?
und wie ihm spanien gefiele? engländer? nein. o, aleman! si, señor.
wieder ein reizendes lachen. dann ein griff in die hosentasche, gedankenlos,
im wunsch, die zigarette zu erleuchten. er hatte kurz vergessen, beim plausch,
dass ja kein feuer da war. wieder ein herzliches lachen. dann streckte er
prüfend noch einmal die hand nach vorne. jetzt geht es schon, verstand
fleck. die sonne lugte indessen unverdrossen durch die verknitterte wolkenwand,
die jetzt einen dunklen farbton bekommen hatte. also gehen wir. ich habs
eilig ... vamonos, amigo! ein stück ging fleck mit. ein paar brocken
verstand er, ein paar brocken redete er von seiner reise durch das südliche
spanien.
eine schöne zeit noch. si,
señor. salud!
oft sah er menschen.
wie man sich wohl fühlte,
wenn das auto ausbricht? man den lenker nicht mehr herumreißen kann?
kurz tauchte ein bild vor ihm auf: ein amerikanischer wagen, vollkommen verbeult.
lackschäden. blut. ein cabrio. zwei tote. einer davon james dean.
ob es wirklich stimmt, dass die
götter den lieben, den sie zu früh zu sich nehmen? in aller
heldenhaftigkeit? was waren schon helden, dachte er und blickte in einen anflug
von rotem licht hinein.
und wer denn diese götter
überhaupt seien, rumorte es in fleck.
2 bärentatzen
franzi
besaß einen seismografen für die zustände der welt. dazu die
angst, die wie ein brand an ihr fraß: eine flackernde glut in ihrem
inneren, die sie aufzehrte. die immerwährende trauer.
franzi hatte die zerbrechlichkeit
der welt gespürt. sie wusste für sich, dass das leben eine rasante
reise war, die schnell zuende ging nicht nur gehen konnte.
jedes rouge war aufgetupft. mit
kleinem rosa schminkkissen. wie schnell einen die vergänglichkeit doch
einholt.
franzi wollte sich gegen die
gewalt der welt spreizen, doch sie war zu schwach.
auch ihr lachen war oft nur aufgetupft,
töne blass in die luft aquarelliert, töne, die schnell abfärbten,
schwächer wurden, verblichen ...
himmel, in denen cembalos weben.
die weisheit eines kindes. das geräusch eines schläfrigen bären.
schon hört franzi seine leichten schritte von fern. die nacht zieht sich
ihr gewand über die ohren. honigsüß das gebrumm des bären,
petzi, der beschützt. der bär brummt, zart brummt der bär.
und lacht. und gar im schlaf noch murmelt er mit glöckchensüßer
stimme. nur das süße gesumm des bären. seine einschläfernden
worte rieseln herab inmitten von flocken sanft sich senkenden stanniolschnees,
begleitet von leisem husten, von holpern, von silvesterböllern, in welches
sich fein die sterne als muster legen. petzi schläft mit scheinwerferaugen.
auch sterne müssen schlafen. die tatze, die große tatze des bären,
kommt näher und wirft einen langen schwarzen schatten. schlaf, petzi!
dann tappt bärchens tatze nach franzi. geh, petzi, lass mich doch schlafen.
es klopft, es rumpelt, jetzt eine sirrende schlange, die sich mit langem schlangensingen
durch alles hindurchheult. sie brennt in den ohren, diese singschlange. petzi,
wach auf, komm petzi, alarm.
die mutter holte die kleine,
kam mit kerze ins zimmer, und wie grell dieses gelbe licht doch in die augen
stach!
los schnell, steh
auf, franzi, komm schon.
ich nehm petzi mit
ja, aber beeil dich
jetzt
schnell in den keller
dann polternde tritte treppabwärts.
lautes mannsbrüllen. entfernt das rumpeln. eine schwere metalltür
fiel unsanft ins schloss. das warten. wie oft hatte sie es fleck erzählt.
wie sie dort unten gottserbärmlich gefroren hatte. erdrückende stille
war dort gewesen, ein warteraum, auf das ungewisse; auf den tod.
die angst, wenn von der decke
der putz in kleinen platten auf ihre schürze herabplatzte.
franzi war zu schwach, um gegen
das, was aus den himmeln herunter fiel, vor dem die menschen in ihren dunklen
verstecken zitterten, ihre kleinen hände aufzuheben; zu schwach, um die
trauer und verzweiflung von den augen der menschen zu nehmen und die schweren
furchen in ihren gesichtern zu glätten.
ihre hände hatten keine
wärme für fleck. trotzdem schirmten sie; dünn und zerbrechlich,
ein wenig blass, mit zittriger kraft. nichts mehr würde so sein wie es
war, wenn die wände der wohnung niedergefallen sind, dachte franzi.
3 sterben ist doof
manche
himmel waren schnell und behände, andere ließen sich länger
zeit.
im dachgestühl, damals in
der stadtwohnung, hingen ganze flächen grauer spinnweben an decke und
wand, zentimeterdick lag der staub. mitten im raum ein paar stapel bretter.
auf einem dieser bretter sah fleck etwas liegen. es war eine schlafende katze.
und wie sauber sie war.
ja, sie schlief. sie war süß
eingeschlafen. so schön ruhig, wie sie da lag, alle viere ausgestreckt.
als er genau hinsah, bemerkte fleck, dass sie ein wenig abgezehrt war. eine
schwarze katze mit geschlossenen augen. noch jung war sie, dachte fleck. fast
hätte er sie streicheln mögen.
da gab es einen tag am strand
von la maceta. ein kleines schmutziges tier mit räudigem fell war umhergetollt,
das nach etwas essbarem suchte. es zerrte an schnurfetzen, biss in plastikfetzen,
scharrte mit flinken tatzen im sand. fleck lag gerade in der sonne und spielte
schach gegen sich selbst. es gab partien, bei denen er der meinung war, dass
selbst der schachmeister hier nicht den besten zug getan hatte: beispielsweise
eine opferkombination, aus der es scheinbar kein entrinnen gab. doch fleck
wollte sie finden.
er hatte das weißbraune
tier schon bemerkt und immer wieder mit einer handbewegung weggescheucht,
eigentlich, weil es unangenehm roch. dennoch suchte es seine nähe. fleck
mochte keine hunde. zumal keine verwilderten. als fleck lautstark wurde, ging
der rüde auf abstand. er roch abscheulich. nach ein paar minuten hatte
sich das tier wieder näher herangewagt und legte sich nun in gebührlichem
abstand neben fleck, sich das fell leckend. ab und zu blickte es ihn an, indem
es den kopf hin und her wog, ein wenig knurrte und sich dabei fortwährend
mit dem linken hinterbein am ohr kratzte.
mit einem mal sprang das fellknäuel
auf, hüpfte und scharwenzelte hin und her. dann scharrte es mit seinen
pfoten wie wild im sand, jaulte seltsam, steckte seine schnauze hinein, bis
ein großer krebs herausschnellte, der sich sogleich auf die hinterbeine
aufstellte und blitzschnell zum meer hinunter raste. doch der hund schnitt
ihm den weg ab. fleck blickte vom schachbrett auf. der krebs kam ganz in seine
nähe. und wie dieser balancieren konnte! die winzigen augen des tieres
(kleine schielende punkte) fixierten in todesangst den rüden: der sprang
kläffend um ihn herum, ließ den krebs nicht zum wasser gelangen,
hechelte, hieb mit seiner tatze nach dem schalentier, fürchtete aber
dessen scharfen scheren; genoss gleichwohl seine überlegenheit.
der krebs behielt das gleichgewicht,
tanzte mit einer fast maschinell anmutenden eleganz auf den spitzen seiner
dünnen stachelbeine, die scheren in die luft gereckt, und bewegte die
schneiden. wenn der kläffer zu nahe kam, langte er mit der schere zu.
wie aufs äußerste angespannte wesen lugten die augen des meerestiers,
beharrlich und wachsam, aus der panzerung hervor.
mit frappierender wendigkeit
trippelte der krebs im halbkreis, versuchte dabei immer, den rücken zum
wasser frei zu haben. ein paar mal versuchte er, in eine seitliche stellung
zu gelangen, um nach hinten davonlaufen zu können. der rüde traute
sich nicht richtig heran. mehr spielerisch als angriffslustig hieb er mit
der tatze immer wieder auf den krebs ein und bellte, wahrte jedoch immer genug
abstand. das krustentier ließ den feind partout nicht herankommen.
niemals vorher hatte fleck so
einen kampf gesehen. er hatte krebse für träge kriechtiere gehalten.
dabei war dieser ein virtuoser tänzer mit blitzschneller reaktion: ein
stepper, der den sidestep beherrschte wie kein anderer.
der hund verlor allmählich
die lust. sicher war dieser kampf auch für ihn neuartig. und vielleicht
spürte er fleck an seiner seite? dabei hielt der zum krebs.
der hund zog sich zurück.
eine kurze weile lag der krebs wie tot auf dem nassen sand. dann ließ
er sich von einer welle überspülen. als die welle wieder zurückwich,
war der krebs verschwunden.
fleck mochte es nicht, wenn jemand
um seine freundschaft buhlte. schon gar nicht, wenn es ein hund tat, mit einem
dummen imponiergehabe gegenüber einem schwächeren. dagegen die freundschaft
zu einem krebs: das wäre etwas neuartiges gewesen.
es gab eine partie des schachmeisters u...
seit jahren grübelte fleck,
ob die bewegung des turmes in einer prekären situation wirklich den erfolg
gebracht habe, den sich der meister davon versprochen hatte. es war ein guter
zug, ein mächtiger und durchdachter zug, aber auch er wandte den untergang
nicht ab.
nie hatte fleck eine entspanntere
haltung gesehen als bei der katze. es war eine noch sehr junge katze mit glänzendem
fell. sie hatte, um davonzugehen, eine ganz bequeme seitenlage gewählt.
so würde auch er einmal sterben wollen, dachte fleck.
die sonne hatte lange geschienen,
doch nun begann es merklich abzukühlen.
4 sonnenspiele
da
war der dolch;
und die sonne darin wie ein gelber
kobold, der das auge kitzelte; es gab den hellen schimmer im auge der anderen,
der ihn reizte. ein gewisses flirren und ein schnelles wegblicken, wenn im
grunde der hass schon brannte; ätzender schaum, am rande seines gesichtskreises,
da, wo der schreckliche punkt war wie fleck ihn nannte.
<deine blicke können
wände durchschlagen!> hatten ihm schon welche gesagt.
im stahlgrau seiner augen spiegelte
sich unüberwindlichkeit. die klarheit des fest entschlossenen; endgültig
und ohne hoffnung. formlose schemen. lichtspiele im eis.
es war der dolch in seinen gedanken.
er besaß eine scharfe oberkante, eine scharfe unterkante, zwei seitenkanten;
nach vorne liefen alle vier kanten in eine feine spitze aus.
in flecks vorstellung gab es
eine menge spitzer dinge, die er in gedanken gegen etwas richtete; seine gedanken
selbst waren solche spitzen, seine pupillen wurden zur mündung, durch
die geschosse austraten. sie zielten genau.
auf der zunge lag ihm der schatten
einer taube. und was ihm alles auf der zunge lag! sein fuß hatte
etwas gehetztes und doch federleichtes, er huschte, wenn er lief und trotzdem
war sein gang fest und bestimmt. sein blick durchdrang, ging den dingen auf
den grund und blickte noch hinter die gründe. in ihm gab es einen dolch,
länger als ein gewöhnlicher dolch.
sein dolch könne ihnen noch lehren, was eine scharfe klinge sei, dachte fleck.
fleck wandte die augen ab. warf
den blick zu boden, um zu schützen. es tat auf dauer weh, nicht sehen
zu dürfen, nicht hinblicken zu dürfen, wo er doch so genau sah.
seine blicke verdichteten sich
zu einem einzigen spitzen metall, das senkrecht in ihm stakte: eine doppelklinge,
zweischneidig, die alles zerschnitt, was sie anblickte. oft schnitt diese
klinge geometrische formen aus allem heraus, was ihn umgab. er wollte niemandem
weh tun, und richtete: den dolch in der achse seines blicks gegen sich selbst.
in der antike hatte man feinde
des regimes in die wüste gefahren; sie leicht bekleidet dort abgestellt.
man gab ihnen einen dolch: entweder verdursten oder hand an sich legen. was
hätte fleck getan, um die spiegelung der sonne im metall auszuhalten?
fleck hätte das spiel der wolken betrachtet und gewartet.
der frühling kam und brachte
seine eigenen muster, farben, sonnen. selbst die motoren der autos klangen
heller und freudiger.
als kind hatte er aufgeschrien,
und konnte doch nicht genau sagen, was er denn da gesehen habe. ein auge?
einen runden zwerg? etwas großes hässliches? vor schreck hatte
er sich dabei ein ganzes stück fleisch aus der backe gebissen. aber der
schmerz bewirkte, dass die angst wegging. diese narbe heilte im mund nur langsam
zu, war eine böse scharte, die er lange mit sich herumtrug. sie wirkte
riesengroß in seinem mund. fleck traute der sonne nicht. auch hinter
ihr war das dunkelste. sie selbst war nur eine illusion des lichtes, eine
posse aus gas, die irgendwann verpuffen würde
als kind, wenn er nicht schlafen
konnte, drückte fleck an seinem auge herum, drückte die augäpfel
hin und her; er sah lichttupfer unterschiedlichster farbe, die sich aus eindrücken
auf der netzhaut bildeten; farbflächen, bewegte formen, geometrien; wenn
es dunkel war, sah er daneben bilder, ganze filme, die sich in mehreren schichten
übereinander legten. die eindrücke und seine vorstellungen vermischten
ineinander. er liebte das. fleck drückte an seinem auge und steigerte
so die flut der bilder.
er war noch klein und einmal
plötzlich arg erschrocken, als er etwas riesiges großes gesehen
hatte: ein blaues böses auge, das aus der dunkelheit herauslurte. im
grunde wusste er, dass es etwas furchtbares gab, hinter den dingen. es war
nur maskerade, in die sich die dinge einkleideten. was blieb, wenn man ihnen
die masken herunterriss? wie viel blieb übrig, wenn man der welt ihre
eitlen kostümierungen auszog?
da waren ihm seine sammlungen
recht; seine käfer, getrockneten blüten, stillen blätter; überhaupt
die stille war ihm das einzig echte. stille ist wahrhaftigkeit, dachte fleck.
sie braucht keine zuschauer.
seine dinge hatten ein herz,
in denen das leben pulsierte.
bis zu dem punkt, wo das grausen
kam: ein helles auge, dahinter noch viel größer ein grün sich
hervorschiebendes antlitz, das wie sengendes fosforlicht aus dem dunkelsten
herausstierte und ihn gewaltsam betrachtete. größer als alles,
was er je gesehen hatte.
5 auf der kippe
wer
je eine solche treppe hinab gestiegen ist, immer hinab, eine steile endlose
treppe, der weiß, was angst ist. noch dazu, wenn es kein zurück
gibt. oben: da ist nichts. die nacht vielleicht. eine tür, die,
wenn es sie gibt, geschlossen ist. sie ist ohne frage geschlossen. du kannst
nicht wieder hinauf.
hinab gehst du also die verschachtelungen
(des schattens), in eine kalte schräge; unten: da ist nichts.
die nacht vielleicht. ein fühlloses nichts, das dich angrient wie kältester
stahl; hoffnungslos. dunkelgrauer und immer gleicher stein.
wenn du wenigstens gut sehen
könntest. aber es ist dunkel.
eine treppe, die dir vorspiegelt,
es würde bald ein ende im abwärtssteigen geben. denn schließlich
verbindet eine treppe ein oben und ein unten miteinander. es ist leichter,
hinunter zu gehen als hinauf. dabei ist es ohnehin gleich, in welche richtung
du gehst. das hinauf würde dich umbringen. das hinunter ebenso.
bald wünschst du dir, dass
doch etwas käme, was dich erlösen würde vom steigen-müssen.
es gibt tage, an denen du leicht gehst. es gibt tage, da schaffst du nur ein
paar stufen. es ist eine mühsal. dennoch gehst du weiter. es zieht dich
hinab.
dabei lauert immer die angst,
es könnte dort auf den stufen etwas sitzen und auf dich warten, um dich
zu vernichten. doch das steigen vernichtet dich ebenso.
die treppe: das ist eine gekippte
wüste, ein brett, das krumm im raum steht, du bist darauf, und kletterst
hinab, hinab, hinab ...
es gibt kein geländer. die
unendlichkeit ist eine schiefe ebene, wo es nichts gibt.
außer deinem abstieg.
es geht für dich hinunter,
über die endlosigkeit einer engstufigen treppe hinab ins immer dunklere;
du wirst nie hinauf gelangen. es gibt keinen podest, auf dem du dich ausruhen
könntest, keinen halt (was ist halt?). keinen ruhepunkt. irgendwann
vergisst du, dass es ein ende gibt; dass es überhaupt eine andere beschäftigung
gibt als abwärts zu steigen.
da ist nicht einmal ein lichtschimmer.
nirgends helligkeit. deine welt besteht aus treppenstufen. du beginnst zu
hören, wie die stufen dich auf schritt und tritt verhöhnen. sie
beginnen, dich im duett deiner hallenden absätze auszulachen. es gibt
kein wohin. es gibt nur das hinunter. das hinab.
<na, wo solls denn heute
hingehen?>
talwärts, talwärts,
murren deine beine. du magst das echo deiner tritte nicht mehr hören.
du wirst müde. für dich gibt es kein zurück, nicht einmal den
blick zurück.
und blickst du zurück, wirst
du nichts sehen. außer stufen, stufen, stufen. die du schon gegangen
bist. dabei willst du gar nicht hinunter. doch du kannst auf den schmalen
stufen nicht sitzen, sie sind hart und steinern und kalt.
deine knie krachen beim abstieg
in den gelenken. sie schmerzen von tag zu tag mehr. deine wadenmuskeln sind
zwei harte blöcke geworden, die du gar nicht mehr spürst. du sitzt
auf der harten kante, um ein wenig ruhe zu haben. dann weiter.
weiter.
weiter.
warum? ist die frage,
die du unter deinem absatz zertrittst. du willst sie nicht hören. dich
interessiert diese frage nicht. du hörst sie mit jedem schritt hallen,
du hörst sie bei jedem fußtritt kichern, und dennoch gibt es sie
nicht. jeder deiner atemzüge lautet doch im grunde schon warum?
doch was bedeutet schon eine
antwort. selbst die allerbeste antwort ist auch nur eine antwort. gegen die
antworten steht das vergessen. irgendwann beginnst du zu ahnen, dass dein
abstieg nie enden wird. dass dort unten (wo auch immer das sein sollte) gar
nichts auf dich wartet, was auch immer dort warten könnte. (ein stuhl
vielleicht? eine plattform? die große liebe? ein glückliches ende
... )
da ist kein glaube.
du gehst tagelang, einen fuß
unten, einen fuß oben. hinkst parallel zu den stufen, um dein schicksal
ein wenig auszutricksen. läufst auf kinn und ellenbogen. humpelst rückwärts
in aberwitzig clownesken figuren, springst seitwärts, nimmst zwei, drei,
vier stufen auf einmal, lässt dich fallen, um schmerzen zu spüren,
um irgendetwas zu spüren, das beim steigen wachhält. aber
bald langweilt es dich.
für stunden gibst du dich
dem wunsch hin, dass es da doch noch so etwas wie ein entrinnen gäbe,
ein davonkommen, oder wenigstens einen aufschub vor dem abwärtsgehen.
du gehst für stunden vielleicht
sogar ein wenig wieder nach oben, doch der weg nach oben ist auf dauer noch
trostloser. du legst dich erschöpft nieder. die kanten schneiden dir
ins rückgrat. lange hältst du es nicht durch. du wirst doch weiter
gehen. hinab ...
am ende fragst du nicht mehr.
du weißt gewiss, dass es keine antworten gibt. es ist einerlei. irgendwann
hast du dich einmal dafür interessiert, wer dieses irrwitzige bauwerk
erschaffen hat; jetzt, viel später, ist es dir egal. du würdest
es nicht einmal mehr wissen wollen, selbst wenn es dir jemand sagte. es ist
dir alles gleichgültig geworden. alle erklärungen sind in der lichtlosigkeit
dahingewelkt. alle deine wünsche ebenso. sie bedeuten nichts.
die endlosigkeit der stufen ermüdet
dich; ein albtraum; und vorbei ist die zeit, als du davon träumtest,
die treppe in die waagrechte zu kippen, wie ein geripptes wellenmeer, in dem
du ewig ruhen könntest
6 leuchtkörper
während
fleck in der warmen kuhle des bettes bei emmy lag, dachte er daran, wie kalt
es sein würde, wenn er sich bald wieder von ihrem körper lösen
würde. ihre hand, die sanft in seinen haaren wühlte, war in seiner
vorstellung schon zu staub zerfallen.
nie war ihm ein wunder geschehen;
kein einziges mal war die welt für ihn aus den nähten geplatzt oder
hatte sich in überschäumender freude um ihn herum ergossen. nie
war der himmel in buntem farbreigen auseinandergeflogen. es gab nur das graue.
und selbst emmys küsse so sehr er sie geliebt hatte waren
in ihrem wesen grau.
das universum war vielleicht
nur eine vorübergehende emulsion, gefiltert durch irgendeinen wahrnehmungsapparat;
eine zufällige verkettung von galaxien, ein kurzer überdruck von
materie im all so schnell vergangen, wie alles vorher entstanden ist.
aus einer anderen perspektive war das entstehen und vergehen des alls vielleicht
nur das das zerplatzen einer seifenblase und die galaxien irgendein
öliger film auf dünner kurzlebiger haut.
fleck atmete schwer, als ihn
solche gedanken durchzogen. er schlief schlecht. er hatte seine rechnungen
längst gemacht.
er ertappte sich dabei, dass
er die kisten, die ihm die frau aus dem laden vorbeigebracht hatte, nicht
an kühlen abenden am feuer verschürte, sondern aufhob. ein ganzer
stapel davon war bereits im schuppen. auf einem stück papier, von solch
einer verpackung heruntergerissen, hatte er in gedanken versunken etwas gezeichnet,
wie eine skizze: die strichzeichnung zeigte etwas klobiges, überdimensionales;
ähnlich einem Kristall, mit kanten und seitenflächen. ein stumpfer
bleistift war ihm mit weicher spitze über das papier gefahren. mit einem
mal hatte fleck dabei ein wildes fieber erfasst, doch mit der bleistiftspitze
fester aufzudrücken, um das gezeichnete besser herauszuholen.
fleck erinnerte sich an augenblicke,
als die sterne richtig bunt waren.
ein dunkler diamant entstand
in bleiernem anthrazit; fleck blies den dunklen staub des stiftes zur seite
und strich mit der fingerkuppe die konturen weich. es wurde ein vielflächner
mit uneinheitlichen seiten. seine finger glänzten silber von bleistaub.
er betrachtete eine weile seine hände, dann ging er hinaus.
der schuppen roch seltsam und
märchenhaft nach altem obst, vermischt mit dem herben duft des moders.
fleck begann dort kisten auseinanderzustellen, um seine sammlungen einzusortieren.
er stapelte und sortierte. er hatte sich im kaufladen holzkisten besorgt,
die er mit erde und humus ausfüllte und in die er seine selbsgezogenen
pflanzen und kräuter liebevoll einsetzte. er begann, sie neu zu nummerieren.
eine schutzhülle müsste
es sein, dachte fleck. ein schneckenhaus aus metall. gute schneckenhäuser
waren immer aus metall. und rollen müsse es haben, dachte fleck, damit
es sich bewegen könne: er würde bequem darin sitzen und imstande
sein, jede treppe hinauf- und hinabzufahren, wie er es wolle, indem sich das
gefälle im innenraum ausgleichen ließ. all seine habe sollte darin
platz haben. hinausblicken würde er durch schmale schlitze.
fleck hatte diese kleinen muster
gesehen, kleine sterne, die auseinander fielen wie bunte schneeflocken, in
alle farben; strichzeichnungen auf die haut. bunte zartfühlige wesen.
wie sehr hatte er sich danach gesehnt. es waren emmys fingerkuppen gewesen,
die fleck wie kleine flussläufer über die haut liefen, als er manchmal
für augenblicke schon in den schlaf hinüberwechselte.
fleck schliff die dunkle fläche
des diamanten in stundenlangem auftragen von blei, gab schattierungen bei;
modellierte auf seinem papier eine wundervoll schwarze blume aus metall.
es waren kleine fantome, die
ihn erregten: scherzende gespenster, bunte kitzelwesen, winzige eisflockenträume,
die schnell kamen, lachten, sprangen und wieder verschwanden. sekundenwesen.
sie erstrahlten einen kurzen augenblick (atemberaubend) in der vollkommenen
ganzheit der farbmusterspiele in einem kaleidoskop, veränderten sich
ruckhaft zu neuer vollkommenheit, glitten in bewegten farbigen linien wie
leuchtkörper während einer langzeitbelichtung, formierten sich vage
und schmolzen wieder dahin.
fleck entwarf das innere der
blume auf mehreren blättern, spitzte zwischendurch immer wieder den bleistift
mit einem scharfen messer gut an, schattierte den hintergrund und betrachtete
endlich seinen glänzenden Kristall: eine lotusblume war es geworden.
schwarz, stählern. am abend zerriss er seine zeichnung, die sich zu einem
monströsen vehikel ausgewachsen hatte.
7 fallende blütenblätter
es
gab so viele nächte, in denen sie sich in ihren betten aneinander schmiegten.
zuerst hatte er es gar nicht
bemerkt. es vollzog sich im versteckten. die ernte fiel herab und verdorrte
auf dem feld. wie die sommer dahingingen mit ihrem vielfarbigen strahlen.
wie sich fallende blütenblätter in sein lachen hineinsenkten! wie
sich die momente ausweiten konnten; gleich dem flügelschlag eines weißen
vogels, in unendlicher zeitlupe zerdehnt.
er vegetierte neben emmy wie
ein außerirdischer; er fühlte sich an ihrer seite wohl, doch in
ihm gähnte der abgrund seiner eigenen welt. eine dunkle tür, die
in ihm aufging, eine tür nach hinten (ins nichts?), zugig und kalt. fleck
war ihr immer öfter vollkommen fremd, ja sie sprach sogar von einer veränderten
persönlichkeit, wenn er seine blicke bekam. wenn sie wahrnahm,
wie er trüb (ins nichts?) starrte und ihm dabei die blonden strähnen
ins gesicht hingen.
eine zeitlang sehnte er sich
danach, dass wenigstens eine andere frau käme, in die er sich verlieben
könne. eine zeitlang spielte er mit, eine zeitlang bemerkte emmy nicht,
wie ihn alles ermüdete, da er seinen entschluss längst gefasst hatte.
da war in ihm angst, ihr zu sagen
und dieses sagen war eher ein beibringen, ein herantragen, das ganz
sanft geschehen müsste dass er sie nicht mehr liebte; es wurde
ihm, je mehr sich emmy im gemeinsamen alltagsleben wohlfühlte und sich
in diesem wohlgefühl völlig einigelte, mehr und mehr zuwider. am
widerlichsten fand er ihre plumpe sucht nach wohlfühlen, das mehr ein
wohlleben war; ein konsumieren, ein sich-einverleiben von dingen; ein
gieriges nach allem und jedem grapschen und es in sich hineinstopfen.
dabei gab es für fleck gar
keinen grund, emmy zu verlassen, und dennoch fühlte er die tagtäglichen
begegnungen als last; selbst die vertrautheit wurde ihm allmählich zu
anstrengend. sich beständig einstellen zu sollen auf emmys wünsche,
emmys gewohnheiten und emmys eigenheiten engte ihn ein, war ihm bald unmöglich.
fleck war zu sich zurückgekehrt.
er begegnete emmy anders als er ihr früher begegnet war. selbst als sie
beide der alltag völlig auffraß. er ging zu sich zurück, in
seine eigene welt (in sein hermetisches ein-und-alles), sanft und stück
für stück. er brauchte ihr nichts beibringen.
es war die einzige form der heimkehr,
die es für ihn gab. seine heimat war er selbst. und fleck verzweifelte
daran.
8 familienfeier
fleck
stieß ins dämmer; und von der angeblich großen party (wie manche das leben nannten) hatte er nichts mitbekommen.
eine verblassende fotografie:
über die jahre ihre rottöne verlierend. fleck saß vor den
alten aufnahmen aus seinen kindertagen, schaute stumm, ein wenig staunend;
fleck fühlte in sich den dämmer der farben. die überlappungen,
die wischungen der rottöne; die leichten verwackelungen; nachdunkelungen
des empfundenen, das heraufkommen des dusters.
er wollte das dunkle in sich
saugen: es war ihm nicht unangenehm. kaltes dunkles meerwasser, wie es kälte
abstrahlte und etwas herbes hatte. etwas raues lag in seinem geruch. es barg
den tod, dachte fleck, das unüberwindbare.
eingefroren das rotbackige gesicht
seines großvaters, mit noch sehr jugendlichen vollen und dunklen haaren,
vital, breit grinsend, mit gelblichen zähnen; später war er zerbrechlich
geworden, die haare dünn und schlohweiß. und wie eng ihm der altmodische
nadelstreifensakko am leib saß: familienfeier. flecks augen flackerten.
das alte sitzmobiliar, die dunkelgrünen
sessel; und über allem das licht; das licht, das blauschwarz sein musste.
die gesichter seiner beiden schwestern, pausbackig, unwirklich rosa, mit rötlicher
und blonder strubbelfrisur. dazwischen ein winziger fabian im alter
von vielleicht ein oder zwei jahren; ein mittelpunkt?
fleck fühlte die kraft des
meeres, die kraft des einsaugens; die tiefe.
als er vorsichtig das papier
umlegte eine marmorierte seite fein gewirkten transparentpapiers
sah er weitere blitzlichtgrimassen, denen scharlachrote (pupillenlose) knopfaugen
in ihren bleichgesichtern prangten: arterielles blut in augenhintergründen.
da war das blau seiner adern
unter der rosigen haut: seiner finger, seiner hände: das durchscheinen
jenes filigranen gespinns von blutgefäßen, von kapillaren, von
äderchen, die er auf der handinnenseite hindurchschimmern sah.
nachts saß er stunden am
meer und lauschte dem schwarz. das wenige licht, das in seine tage fiel, begann
ihn allmählich beinahe zu stören. jeder trug das meer in sich. das
dunkle war unabwendbar.
fleck fühlte den tod aller
dinge.
er sah für augenblicke die
leicht rotstichigen bilder nicht mehr; sein blick bohrte auf die tischplatte,
schrammte über die maserung des holzes, fiel von dort aufs stumpf ausgetretene
parkett, lief hinein in die ritzen.
beim umlegen der seite sah er
noch ein foto: eine große hand, die einen kleinen leib in eine badewanne
hineinlegte: fabian mit nassem dunkelblondem schopf, dicklippig ausdruckslos,
staunend. große augen, dickes kinn.
sodann klappte er das album zu,
löschte mit zitternden spuckefingern die beiden kerzen, atmete das bienenwachs,
stieß ins dämmer.
9 kristall
am
vormittag stellte er sich das radio seines vaters in den geräteschuppen
und begann, dessen hinteren bereich nach blech und metallstücken abzusuchen.
alles, was er fand, waren zwei oder drei rostige teile, die an den ecken verbogen
waren: altes eisen. und wie schwer es war, dachte fleck. herüber tönten
die klänge eines alten requiems.
im hintersten teil des schuppens
war er noch nie gewesen. dort wollte er sonst nie hineingehen, weil dort so
viel gerümpel herumstand irgendwelches landwirtschaftsgerät:
eggen, sensen, räder, maschinenteile und pflugscharen aus vergangener
zeit. man kam gar nicht hinein, so viel war hier aufgetürmt. altes, nach
vertrocknetem öl riechendes gerät.
neugierig blickte er durch den
eingang. eine katze huschte ihm plötzlich über die unbekleideten
füße. er musste aufpassen, hier nicht in irgendetwas hineinzutreten.
von fern die getragenen klänge,
gesang; er schaute neugierig herum, was sich dort an plunder auftürmte:
gerät aus dem letzten jahrhundert. die bauern einst hatten die felder
mit riesigen, breitreifigen traktoren bebaut. da hatte er einmal bilder gesehen.
so breit wie walzen waren diese reifen gewesen, erinnerte sich fleck.
aus dem radio klang schwermütig
dunkler gesang herüber; fleck ging hinüber, drehte an dem runden
senderrädchen, bis er etwas fröhlicheres fand. fleck summte ein
wenig mit, stellte am drehknopf volle lautstärke ein.
ein wenig angst hatte er bei
diesem stöbern. was war, wenn er nun plötzlich den mut verlor und
sich doch wieder zurückziehen würde? er war doch jetzt schon so
weit! und wie oft hatte er schon diese aufbruchsstimmung gepürt, und
war kurz darauf tief in sich zusammengesunken; hoffnungslos.
fleck ging in den gerätetrakt
des schuppens hinein und begann die tür aufzuziehen, die er noch nie
geöffnet hatte. sie klemmte im scharnier. er zog und rüttelte an
der tür. doch das scharnier war eingerostet. nur nicht die geduld verlieren!
er holte werkzeug und schraubte kurzerhand das ganze scharnier ab. er stellte
die tür beiseite und spähte aufgeregt hinein.
darin stand, wie er auch vorher
schon undeutlich durch spalte in der wand gesehen hatte, ein ganzes sammelsurium
uralter baufahrzeuge, die er eine weile angestrengt betrachtete. dann ging
er, so weit es ging, hinein, stieg über verrostete gerätschaften.
an der seite lehnten ein paar uralte kutschenräder. sogar ein altes pferdegeschirr
hing an der wand: das holz grau von der witterung, das leder auf seiner innenseite
aufgebrochen. die zügel hingen lose herab. am boden lag ein altes hufeisen.
das brächte ihnen glück, dachte fleck.
die luft roch seltsam; es war
ein geruch nach rost, vermischt mit moder; spinnenweben spannten sich in den
innenflächen der eisenprofile.
je weiter er nach hinten gelangte,
desto dunkler wurde es. am boden lag stroh. im hintersten bereich sah er plötzlich
eine walze; in der art der alten traktorenreifen. fleck freute sich, kletterte
über anhänger, gusseiserne stangen, achsen und felgen in den hintersten
bereich.
dort stand ein monstrum, über
und über von decken und matten bedeckt.
so etwas hatte er ja noch nie
gesehen! fleck war entzückt. das war nun wirklich eine überraschung.
gleich morgen würde er beginnen, das große gefährt, das es
womöglich war, freizulegen.
es war eine alte maschine! er
würde sie aufrüsten, umrüsten und aus ihr sein fahrendes schneckenhaus
machen. verkleiden würde er sie. ein dunkel blitzender Kristall würde
es werden; eine rollende lotosblume; wie er sie gezeichnet hatte.
fleck war mit einem mal feuer
und flamme. hinüberrollen zur Großen Stadt wollte er. und wenn
es sein musste, über das meer.
10 kalter kopf
am
nächsten morgen erwachte fleck mit bleiernen gliedern. seine gedanken
dagegen sausten in sternen, kometen, spiralen, blitzen -
ein wenig später, er saß
auf der wiese, schien die sonne auf seinen nackten oberkörper. da waren
so viele dinge: an einem sommertag in der warmen glut der sonne auf der kleinen
wiese liegen, unten am strand, sanfte meeresbrisen auf dem rücken spüren
und den eigentümlichen meeresduft seiner bucht einatmen. das war das
leben, das fleck so genoss. da waren muscheln, die er auflas, der feine sand,
der schon ein paar hundert meter weiter ganz anders beschaffen war, da waren
all die geräusche des alten hauses, an die er sich so gewohnt hatte:
einzigartige das knarren jeder tür, der duft seiner küche, seines
zimmers, des heuschobers, des geräteschuppens. die farbe des hauses wie
eine ihm tief vertraute akkordeonmelodie. das sonnenlicht an der bucht hatte
seinen ganz eigenen glanz.
fleck empfand keine freude. denn
wie hätte er freude fühlen können. aber ein wenig leichter
wurde ihm doch. so waren alle schmerzen überwindbar, wenn sie auch deswegen
nicht leicht waren.
oft überlegte er, ob die
welt am ende aufginge oder ob am ende ein unteilbarer rest übrig bliebe.
es gab so viele reste in seinem leben, die er irgendwo aufbewahrte. in jedem
winkel saß ein unteilbarer rest und kicherte.
<mühsam!>
nun hieß es abschied nehmen.
abschied jedoch lag ihm nicht. abschied war eine schwere sache. fleck konnte
nicht ohne weiteres gehen. früher war jeder abschied mit schmerz verbunden.
fleck musste sich jetzt sammeln, musste das genüssliche, unbeschwerte
leben aufgeben. er hatte geglaubt, keine schmerzen zu spüren, wenn er
davon ging: da badete er sich in seinem stolz, wie entschlusskräftig
und hart er doch sein konnte. der große schmerz, der ihn monatelang
wie eine krankheit plagte, kam viel später.
wasser, dachte er, kühles
wasser würde ihn abhärten. da man ihm vor monaten schon das wasser
abgedreht hatte, ging er auf den hof hinaus und pumpte am hebel des alten
ziehbrunnens. nach einigen pumpbewegungen, bei denen der hebel ein schrilles
quieken von sich gab, kam ein dicker schwall kühlen wassers, das er sich
über den kopf laufen ließ. eiskalt, aber angenehm.
<mühsam!> schrie fleck
aus unterster brust, immerzu, <mühsam!>
sein geschrei hallte über
den hof. dann hielt er ein paar mal den kopf unter den frischen schwall, bis
seine haare eine einzige dunkle masse wurden, ganze minuten, bis ihm die kälte
des wassers schon weh tat. und dennoch erfrischte. erst, als seine nerven
schon taub vor kälte waren, gab sich fleck zufrieden. sein kopf war so
kalt, dass er sich eine zeitlang überlegte, ob er überhaupt noch
einen kopf hatte.
<mühsam!>
das wort brach sich an den hausecken
und sprang in kurzem widerhall umher. so klang flecks klagen noch erbärmlicher.
sein sehnlichster wunsch war, wieder auf die beine zu kommen. er wusste, was
er vorhatte, doch es war ihm noch nie so schwer gefallen, sich aufzuraffen.
er stand da, über und über triefend. mit nassem hemd schleppte er
sich hinüber zum schuppen. das wasser rann in bächen von ihm hinunter.
da gab es so viel angst, so viele zweifel. da gab es so vieles, was noch würde
schief gehen können. im grunde war es unerträglich. im grunde wollte
er nicht einen finger rühren, um sein zuhause aufzulösen. es fiel
ihm im traum nicht ein, wegen irgendwelcher gesetze oder erbrechte sein heim
zu verlassen. sie sollten kommen und ihn wegtragen: hier war sein zuhause.
auch er war ein erbe seines vaters.
er brauche doch nichts, glaubte
fleck, oder wenigstens brauche er nichts anderes! vielleicht war es
richtig, dass er noch vieles vor sich hatte, aber es müsse erst einen
triftigen grund geben: um wegzugehen. fast wollte er zum trotz bleiben, wenn
ihn da nicht die roten winde davongezogen hätten
<mühsam!>, schrie
er.
fleck ging zurück und setzte
sich auf den hof in die warme sonne. herrlich, so ein tag! neben dem brunnen
saß er einige stunden und starrte in den himmel. es war schon später
nachmittag geworden. morgen wollte er beginnen. immer war es der nächste
tag, an dem er beginnen wollte, der nächste tag, an dem alles besser
werden sollte. immerzu erwartete er für den nächsten morgen die
erlösung.
der glanz der morgensonne. und
die angst, die ihn erfasste, wenn es so weit war.
hier war doch alles so schön.
hier war die sonne mandarinenfarben wie auf einem urlaubsposter. und etwas
anderes zählte ja nicht, dachte fleck.
11 katzenauge
die
stimme war ihm vom <mühsam>-schreien völlig heiser geworden.
die sonne tat ihm gut. die sonne war das einzige, was ihn wärmte. so
genoss er ihr mildes licht. er legte sich wieder auf den stein und tat nichts.
er hörte auf seine atemzüge, wie sie langsam ein- und ausgingen.
da hätte noch ein zweites geräusch sein können.
unter dem dämmer nagte die
restwelt an ihm: das kleine bisschen an welt, das ihm da noch blieb.
ein tag war kurz, nur ein paar
atemzüge lang. fleck konnte eine stunde im seichten wasser stehen ohne
sich zu bewegen. er hielt den wind aus. die hitze, die mücken, das schmerzen
seiner sehnen.
fleck lag in der sonne, gelähmt.
mücken saßen ihm auf der haut. er regte sich nicht. er verbiss
sich das kratzen. er mochte seinen körper nicht regen. schweiß
perlte auf seiner stirn. er lag hingestreckt zu füßen des ziehbrunnens.
heute endlich wollte er es wagen: die alte maschine im schuppen freilegen,
um sich daraus sein gefährt zu bauen
sein himmelsvehikel.
es war schon nachmittag. hatte
er überhaupt kraft in den armen? würde er auch nur eine einzige
schraube drehen können? eine roststelle entfernen? er fühlte
sich unsäglich müde. es war schon spät. sein leben war schon
über mittag hinaus.
das faszinierende an dem holzkasten
war eine kleine anzeige: ein rundes loch, das aussah wie ein glasauge. darin
waren zwei mintgrüne balken, die sich je besser der empfang war
umso näher kamen. stießen sie beinahe zusammen, war es der
empfang am besten.
dem grünen auge hatte er
immer zugesehen, als kleiner junge, wie es sich zusammenkniff oder auseinanderzog.
sogar im dunklen sah er es glimmen; es war leuchtstoff, derselbe wie auf den
zeigern der uhren.
fleck lag am boden neben dem
ziehbrunnen. seit stunden hatte sich nicht mehr geregt. was hätte ihn
antreiben sollen? in seinem kopf sah er das auge einer katze. katzen sahen
im dunkeln, wusste fleck. ein wenig kühl schon war es. als eine stechmücke
ihm aufsaß, schlug er mit der flachen hand zu; umsonst. schon begann
es zu jucken und zu schwellen.
fleck lag bäuchlings auf
dem pflaster. es gab keinen grund aufzustehen; keinen grund für irgendetwas;
deshalb war kein hochkommen mehr. fleck dachte: es ist einerlei, wann ich
beginne; ob ich beginne, mit irgendetwas. wenn ich heute tot
wäre, würde es keinen unterschied machen. es bedeutet nichts
12 häutung
licht
wurde allmählich zu bläulichem film, die nacht kam dröge. fleck
lag am boden.
kein hunger, kein durst, kein
gefühl. sein kopf hämmerte. es war schön, das blau, dachte
fleck. es war ein angenehmes blau; eines, das wärme hatte und doch hell
war: hellblau. es gab auch stechendes oder grelles hellblau. das mochte er
nicht. kein türkis! dieses licht aber, den bläulichen ton des sonnenuntergangs
am himmel, der sich auch in den noch nicht ganz verdunsteten wassergerinnseln
am boden abzeichnete, mochte fleck. seeblau. luftblau. lichtblau:
ein falter setzte sich auf seinen
arm. fleck zuckte nicht weg. er beobachtete das braune tier, das sanft die
fühler bewegte. noch unruhig zappelnd, noch gewappnet, bis es sich nach
und nach niederließ. ein anderes kreiselte tumb mit schwerfälligem
propellerbrausen dicht über sein ohr hinweg. das zirpen einer grille
setzte ein. der falter saß auf seinem arm. der andere ließ sich
dicht vor seinem gesicht am boden nieder. fleck vernahm, wie die dämmerung
aus ihrem versteck kroch. sie floss wie schwarzer dicker kleister aus einer
truhe, die sich langsam öffnete:
hervor quoll basaltene nacht
wie ein elixier, quirlig: die dunkle luft bevölkerte sich und ein weiterer
nachtjäger landete auf flecks haut. fleck sah den falter an. maserungen
noppten wie silberwellen über zwei hellbraune flügel, flossen aus
in eine weich gezackte goldspur; ein mitternachtsrequiem, dachte fleck. grabgesang
für einen längst vergessenen gott:
aus dem kabinett des nächtlichen
zufalls kamen sie hervor, saßen neben fleck, dunkel gerautete, deren
bestäubtes kleid sanft und fein gezeichnet in arabesken mustern schillerte,
tätowiert in den tarnungen der finsternis, vom licht nur in blitzen beleckt.
seltsame mosaike zieren die schattenseite der sonne: selbst das dunkelste
schmückt sich noch für die liebe, dachte fleck. zwielichtige schönheit
dunkler male; braungescheckt in flecken nachtaktiver kaltblüter; metamorfes
getier. frühgeburten der erdgeschichte. ein vogelruf in zersplitterndem
hall; flageolette:
dunkelblau sank das letzte licht
langsam herab.
fleck lag danieder, bei sich.
verfinsterung breitete sich aus. insekten erhoben sich von der erde. begannen
zu kreisen, in der dunkelheit ihr opfer zu beobachten. die nacht strömte
wie pech auf den sternenlosen himmel.
faunisches girrte.
da entdeckte fleck doch einen
stern am himmel, einen einzigen kleinen funkelnden punkt: sofern er ihn sah,
flackerte und blinkte er, doch dann hatte er ihn wieder verloren.
die luft kühlte ab, wurde
herb und feucht; die nacht drang nun so nahe zu ihm. nachtgetier kreiste.
grillen zirpten, wenn sich die lider der schlafenden fest aufeinander drückten.
nachts, wenn die welt in trümmern aus träumen lag und die kissen
schüttelte, hatten sich emmy und fleck lange in ihrem gemeinsamen bett
zusammengekuschelt.
damals erzählten sie sich
kurze gutenachtgeschichten, wobei ihre hände und fingerkuppen fein über
ihre haut glitten und beide sich vorstellten, alles in der welt sei lila.
oder grün. (oder braun?)
aber die farbe braun mochten sie nicht besonders. auch rot nicht. rot war
ihnen zu scharf, zu feurig. nur lila sollte sie sein, ihre welt: die bäume,
die häuser, die straßen, die autos, die vögel, das meer, der
wald, selbst das glas. und sogar die augen der menschen waren lila, ihre pupillen:
und konnten sie dann noch sehen, wie lila alles war? sie lachten: lila, alles
lila, in einer stiefmütterchenfarbenen welt. selbst das chlorofyll war
lila.
<und das wasser?>
<und das licht?>
ihre kussmünder ...
sie lagen unter ihrer lila sommerdecke
ganz nackt zusammen, die sie dünn bedeckte, sprachen über all die
bunten gegenstände in der welt und scherzten und alberten, was denn alles
davon lila sei. teils überrascht, teils erheitert, fiel ihnen immer ein
neuer gegenstand ein, der auch noch lila war. und wie eigenartig er in ihrer
vorstellung dann aussah! selbst der bart des hausmeisters war lila. er hatte
lila zähne und trank lila bier. sie lachten. lila sogar das müllfahrzeug
und dessen runde bürste. selbst das feuer loderte lila.
ein wenig aber machte es sie
beide auch traurig, weil ja alles gleich wäre, wenn wirklich alles lila
wäre: es gäbe keine unterschiede und womöglich keine sichtbaren
grenzen mehr zwischen den gegenständen, obwohl es sicherlich unterschiedliche
helligkeiten gäbe: das dunkle blieb dunkel und das helle blieb hell.
sie sprachen, eng angeschmiegt, dass die welt in tiefes lila getaucht werde,
durch die violette glut der sonne, die in die violette see hinunterging. und
das paradies und gott waren lila. selbst die sterne leuchteten lila aus der
lila nacht hervor, und flackerten, ein wenig heller als die nacht;
aber lila.
der mond leuchtete ganz violett
am violetten himmel, glänzte seinen bleichen violetten glanz hinaus in
die weiten des violetten weltalls
sie liebten sich: und ihre küsse
und zungen wären lila. ihre augenblicke, ihre ideen, ihre liebe füreinander,
ihre brustwarzen, ihre scham, sein glied, das heiße feuer, das lachen,
der gipfel der lust: lila. die töne, klänge, musik. der atem, das
sprechen, die worte. das flüstern: lila. ihre gerüche, geschmäcker,
berührungen. ihre träume verfärbten sich lila, wie das all,
die nacht, der tod.
die ewigkeit war mit einem schlag
aus blau und rot gemischt. das ewige leben (oder der ewige tod?), die zeit,
das nichts und das gegenteil des nichts: lila. die zeitlosigkeit, das licht,
die schallwellen, die sonnenstrahlen, die weltkugel, das meer, die luft. alles
war lila, selbst die atome, die moleküle, selbst der zwischenraum der
moleküle, der leere raum, die materie, die energie! sie staunten.
das herzpochen. das graswachsen.
das grillenzirpen: lila. sie lachten und hatten sich lieb; lila lieb. ihr
lachen klang veilchenfarben. doch als sie feststellten, dass alles nur ein
kleiner spaß war, erhoben sie sich von ihrem heißen lager und
trockneten sich die schweißnassen körper ab, aus denen lila schweiß-
und lachperlen gekullert waren.
sie zogen sich an und gingen
hinunter zum kleinen see, um nackt im see zu baden, um einzutauchen und zu
versinken im tiefen violett des sees ... doch ein wenig angst hatten sie,
denn dort im see, dort wohnte ein dunkler großer fisch, der sie verschlingen
konnte (der war schwarz).
das ende war lila, und das ende
vom ende. ihre lippen spielten aneinander. sie gaben sich einen dunklen kuss,
bevor sie zusammen ins wasser eintauchten. dann plätscherte das wasser.
sie glitten hinein. milchig violett spiegelte die wasseroberfläche den
sternenschein, der in den augen der fische violett glänzte. und lila
und leer war alles, die menschen von kopf bis fuß, die gesichter, augen,
haare, münder
in sternhäutungen
davongetrieben. es schwand ihm
alles davon. nacht drang in seinen kopf. millionen käfer und mücken
kamen und übersäten den liegenden, bis flecks körper blauschwarz
schillerte, kamen über ihn und hockten auf ihm wie auf einem erdbeerkuchen:
surrten, griebelten, krabbelten, kitzelten auf seiner haut.
da wachte er auf, und merkte,
dass es regnete. kleine hagelkörner stachen seine haut. pieksten kurz
wie feine nadeln. fleck lag da und konnte sich nicht regen. es war mitternacht
geworden. es fror ihn. doch er konnte nicht aufstehen. er lag, bis die haut
vor kälte taub war.
in seiner brust: herzleere. schatten
schoben sich in sein herz und eine unzahl von nachtfaltern bedeckte sein gesicht,
seinen mund, seine zunge, mit der er die dunklen lockungen der nacht liebkoste.
das flackern des einen sternes erschien ihm wie das possenstück eines
tänzelnden punktes, der nicht bestimmbar sein wollte und sich für
augenblicke neckisch verbarg. fleck glaubte für momente sogar, am himmel
verhaltenes gelächter zu hören.
13 tintenflecken
als
das schummrige licht des sonnenaufgangs in seine fast geschlossenen augen
drang, stand er auf. fleck fühlte sich steif wie ein brett. er musste
einige male entsetzlich niesen, ging ins haus und kochte sich einen heißen
tee. zu essen hatte er nichts mehr außer einem braungefaulten apfel.
die braune stelle schnitt er heraus, den rest verschlang er gierig: das einzige,
was ihm half. als er seine augen schloss, wurde es komplett weiß um
ihn.
da hinein tauchte fleck: ins
weiße. einen moment hatte er das bedürfnis, die stirn mit wucht
auf die kante des tisches zu hauen. der aufzuckende schmerz würde ihn
dann vielleicht ein wenig zur besinnung bringen; oder ihm so etwas wie besinnlichkeit
zurückgeben. ein schlimmer husten riss ihm im hals und schüttelte
ihn ein paar mal kräftig durch.
sein kopf brummte vollkommen
leer und ausglöscht. nichts war mehr darin; seine gedanken schneeweiß.
träge puderzuckergedanken, süß und klebrig; er hätte
vielleicht zwei silben pro stunde zu sprechen vermocht. und im schuppen wartete
der bau eines vehikels. fleck hockte mit der schwere eines steines. er konnte
sich nicht einmal regen. apathisch starrte er ins leere. so saß er geraume
zeit.
auf einmal sprang er auf, durchsuchte
das vertigo, den alten sekretär seines vaters, wühlte in all seinen
schubladen, von etwas gepackt, klapperte mit alten schachteln, warf hefte,
werkzeug, besteck durch die gegend, leerte kleine kisten aus, stülpte
gefäße um, bis er ihn fand: seinen alten füllfederhalter.
schwarz war er, mit perlmuttenem muster wenn man genau hinsah. er besaß
eine schöne feder, golden und verziert. das gold war trüb und stumpf
geworden.
eine dreiviertel stunde lang
reparierte fleck seinen füller. er war innen von alter tinte verklebt.
erst wusch er ihn unter dem wasser seines brunnens aus. immer wieder kamen
neue blaue wallungen heraus, die ihm über die finger rannen. immer wieder
tupfte er die feder an einem weißen stück stoff aus.
<wer etwas werden will, muss
hand anlegen. womöglich an sich selbst ...>, monologisierte fleck
vor sich hin. sonst sprach er nie ein wort und erschrak plötzlich über
den klang seiner stimme, die er lange nicht mehr gehört hatte. dieser
klang in seinem kopf. der klang seiner stimme in diesem dumpfen raum befremdete
ihn.
<oft genug hatten menschen
erst nach ihrem tod so richtig erfolg>. wieder hustete er, mit langem röcheln.
die nacht steckte in seinem hals.
die feder wurde nach und nach
sauber. getrocknete tintenkruste ließ sich entfernen. fleck hielt die
schreibspitze des füllers immer wieder unter den pumpenstrahl. dann bohrte
er mit seinem stoff ins innere des federhalters und saugte die letzte bläuliche
farbe heraus. seine finger und hände waren über und über befleckt
von tiefdunklen flecken blaus.
tinte hielt ewig
lange hatte fleck nicht mehr
geschrieben. das tintenglas war fest verschlossen. die chinatinte im inneren
war aber nicht getrocknet, da sie sich im glas bewegte. er glaubte nicht daran,
dass er imstande sei, auch nur einen vernünftigen buchstaben auf das
papier zu bringen. er war schon kaum fähig, den stift zu halten. früher
sei das so leicht gewesen, dachte fleck. doch konnte er das tintenglas nicht
öffnen. der deckel war festgetrocknet. während er an ihm drehte,
sprang ein dunkler blauer ring ab. fleck drehte mit aller gewalt, biss mit
den zähnen auf die rillen des deckels und wollte schon aufgeben, als
er plötzlich ein dumpfes knacken im mund spürte: der verschluss
gab nach.
fleck zog tinte in den füller.
seine hand verkrampfte sich. er spürte selbst, wie sich sein atem staute
und beim ringen nach worten anders bewegte. er suchte einen bogen papier.
die weiße des blattes machte ihm angst. es war so weiß! angesichts
dessen, was er alles darauf schreiben wollte. es war ihm in seiner eigenen
vorstellung nahezu unmöglich, das, was er dachte, nun in buchstaben zu
fassen. schreiben wollte er, jedoch würde er es erst probieren müssen.
dann, nach langem herumklecksen, als er etliche weiße bögen papiers
(die er beim füller gefunden hatte) schon vertropft hatte, verspannte
sich seine hand immer mehr, tat an den fingerknöcheln weh, wo er den
stift hielt. mit einem hässlichen schrei warf er den füller fort.
sein zorn bebte
fleck holte den füller nach
einer weile wieder. die tintenfeder war mit einem büschel staub bedeckt,
aber nicht verbogen. er atmete auf.
wieder und wieder kritzelte er
über das papier. nach schier endloser zeit rannen ihm endlich
wenn auch unendlich langsam und schnörkelig halbwegs ansehnliche
buchstaben aufs papier.
liebe dunkelnamen,
an die ich mich nicht erinnern kann.
meine lieben schwestern!
die worte liegen mir so
schwer auf der zunge, dass ich bald an ihnen ersticke. ihr wisst es: ich
bin herzlos. glaubt nicht, dass mir dadurch etwas leichter würde. im
grunde verabscheue ich alles. das einzige, was mir nicht an der seele kratzt,
ist der wind am meer, wenn er mir in den ohren braust.
euch hier zu haben
schrieb er, die hand schmerzte
bereits sehr, doch fleck kam in schwung
wäre eine wohltat
im vergleich zu dem, was ich jetzt erlebe. so sehr lebt ihr doch in mir!
ich war schon tot, bevor
ich je lebte. mir war schlecht von so viel leben. ich erkannte mich nicht
mehr, als alles so leicht ging! es war sagenhaft schön und gleichzeitig
würgte ich an der glattheit der dinge. der mundgeruch des lebens erzeugte
mir brechreiz. der hunger nach leben ekelte mich an. ich lief ihm davon.
ich hatte nur die wahl
zwischen zwei übeln: entweder im erfühlten aufleuchtend mich selbst
zu verzehren oder mir die hälfte von meinem fühlen wegzuhacken.
daneben die gier der
welt. ich ertrage sie nicht und schon gar nicht mit leichtigkeit! sie ist
der größte würgegriff. so weit entkomme ich der gier gar
nicht, dass sie mich nicht noch mit ihrem schlechten atem erreicht.
wenn es irgendwie geht,
trennt euch vom leben. werft es weg, solange ihr noch mut habt. wenn ihr
erst gelitten habt, ist es zu spät. zerschneidet die nabelschnur zu
zeit und welt. zertrennt euren sinnfaden. auch wenn das leben euch jetzt
leicht erscheint, ist es noch ein graus. zerreißt die gänseblumenkette,
die euch an dieses sinnlose dasein knüpft. zerstreut euren kopf in
alle winde! am ende werdet ihr ja doch tot sein.
nur in der gewissheit,
dass ihr euer leben bald fortwerfen werdet, wie einen strauß blumen,
der schon ein wenig welk ist, kann das dasein erträglich werden. dann
lässt sich die tumbe sonnenglut aushalten, die euch tag um tag mehr
verbrennt.
ich bin mein herz los.
die gewissheit des baldigen todes ist angenehmer, als den geist immer mehr
zu einem brennglas zu schärfen. ihr verbrennt nur selbst dabei, je
genauer ihr alles seht. es bleibt euch nur gleichgültigkeit, die den
schmerz ein wenig lindert. seht nur, wie mich schon jetzt die gleichgültigkeit
an allem beschwert. nur mit mühe kann ich jetzt noch meine hand heben.
mein geist hat mich verbrannt. dabei mochte ich so vieles nicht fühlen:
nicht den hass, nicht den abscheu, nicht den ekel, auch nicht die güte,
das mitleid, die liebe.
mit entsetzen sehe ich,
wie die wellen stück für stück meine lebenskraft davonspülen.
wie sie auch euer lächeln mit sich fort nehmen. jede welle, die sich
ans ufer entrollt, bedeutet: einen augenblick früher sterben.
wenn ihr zurückkämt,
könnte vielleicht alles noch einmal anders werden. doch ihr seid dahin!
ich würde euch empfangen und versorgen, wenn ihr mich nur annehmen
würdet. dann würde ich mich an eure herzen schmiegen. jedoch kommt
dieser brief nicht mehr zur rechten zeit, deshalb muss ich schweigen.
lebt wohl
ihr lieben.
f.
gedankenverloren sah er zu, wie
die blauen tintenbuchstaben im leicht schaukelnden wasser langsam verflossen,
während das blatt sich voller wasser sog. keine regung war auf flecks
gesicht zu sehen, als der papierbogen einsank.
eine weile glaubte er, um sich
lauter kleine wesen zu spüren, bettler, die an ihm zupfen und zerrten.
doch was wollten sie nur? ein wenig schabernack; scherz; es waren kleine bunte
lustige gesellen: die hand wollten sie ihm reichen. er glaubte, sie in der
luft lachen, scherzen, singen zu hören. ein paar von ihnen hatten melancholische
stimmen, ein paar meinte er sogar klagen, jammern oder schreien zu hören.
buchstaben starrten stumm zu
ihm empor wie ein sich-aufbäumen, ein sich-sträuben, ein verzweifeltes
sich-weigern
blau zerfaserte im schaumigen
nass. fleck schaute starr ins wasser, kein wind erfasste seine gesichtszüge.
das papier weichte auf, sank ein und wurde wieder heraufgespült, trieb
im sanft schaukelnden wasser dahin. kein falter hob seine mundwinkel. kein
ahornblatt erhellte seinen blick.
noch einmal umschwirrte es ihn:
eine art seltsames windiges gefleuch, umkreiste, zerrte, riss an ihm und saß
auf seiner haut. fleck wurde unbehaglich. er ahnte, was da um ihn herumschwirrte
und glaubte sogar stimmen zu hören. eine gewisse anzügliche wärme
lag in diesem vielstimmigen gewisper. er wollte es abschütteln, sehnte
sich nach ruhe, nach wahrhaftigkeit
und stille.
<sieh uns an>, hieß
das <sprich mit uns. beachte uns doch, nur ein wenig...>
es kitzelte, wie fantomschmerzen,
von denen er einmal gehört hatte.
alles, was er sich abgetrennt
hatte, fasste noch einmal mit zudringlichkeit nach ihm. ein wenig schmerz
kitzelte, ein wenig trauer nagte, ein wenig zorn fauchte unterirdisch, ein
wenig liebe riss ihn hin, ein wenig abschied (zwergdrache) winkte ihm mit
winziger lockender hand und zupfte an seinen kleidern.
im grunde war er froh, dass sie alle tot waren. er zog sich seine jacke zu und ging den weg hinunter zum meer.
er ging am rand des sich schuppenden wassers. er fühlte sich so leicht.
das einzige, was er um sich hatte, war der wind. seine jacke knatterte in
den böen und schloss bis zum kinn. so blieb er eine geschlagene stunde
stehen, bis es vorbei war. die kälte war das einzige, was ihn
zur besinnung brachte was das <geschmeiß> vertrieb.
davontreiben solle es ihn! auflösen
wolle er sich. wie tintenbuchstaben.
14 gartenstühle
dabei
hatte fleck seinen vater doch so sehr geliebt.
einmal (als er schon sehr litt)
hatte dieser zu ihm über rachmaninov gesprochen. der vater liebte klavierkonzerte
sehr. und obwohl er gerne in aller frühe aufstand (allein wegen des lichtes,
wie er stets betonte), war er dennoch einmal bis tief in die nacht aufgeblieben.
rachmaninov war vaters große
liebe. und vor allem die klavierkonzerte.
<sie sind so bunt, so durchwachsen,
so voller drama und leidenschaft!> sagte er und seine augen leuchteten.
eng saßen sie zusammen
auf der veranda, in ihren gartenstühlen, damals, im sommer, und da nahm
sich der vater zeit; zeit für rachmaninov.
<das ist große
musik!> schwärmte er. <größer als beethoven, was leidenschaft
betrifft, und unserer zeit näher. da höre ich das gegenwärtige
herausklingen. diese musik, fabian, ist wie feuer und wasser. weißt
du, fabian, das leben, du wirst es noch merken>, er strich sich
nachdenklich durch den dunklen oberlippenbart, <ist feuer und wasser.>
fleck schwieg.
<da sind diese feinheiten
...>, seine klobigen hände formten etwas diffuses aber kleines, das
sie gar nicht recht zu fassen vermochten.
<fabian, da gibt es
keine worte.>
keine worte.
<und dann wieder >
die hand des vaters wurde eine
haarige faust, die mit voller wucht kantig durch die luft hieb. für viele
dinge gab es keine worte.
<markig und geradeheraus.
so ist es. seine musik ist da sonnendurchtränkt und weich, wo das leben
sonnendurchtränkt und weich ist.>
sonnendurchtränkt ... er
schwieg eine zeit.
<und es ist da trostlos und
düster, fabian, wo das leben trostlos und düster ist.>
vaters stimme wurde eigenartig
heiser.
<das leben ist nicht schön,
glaub es mir. und diese musik ist noch ein bezaubernd angenehmes lied
auf alles unschöne gefiltert durch die russische seele.>
die russische seele
...
<weißt du, es ist mir
nichts fremd in dieser musik.>
nichts fremd.
<sie ist ruhe und frieden
und gleichzeitig stürmisches, südländisches feuer! hitze! glut!
geysir! ja, es brandet und flammt. dann wird sie wieder lieblich und zart
und sanftmütig, klar und mild wie ein oktobertag. und sie ist nie flach,
dafür in jeder sekunde aufregend und neu. diese musik verjüngt sich
selbst in jeder sekunde.>
vater redete nun wieder mit seiner
vollen, schönen stimme, redete und redete, redete über musik, über
klaviervirtuosen, über seine eigene musikalität und was ihn sonst
mit der musik verband.
<da ist so viel freude neben
aller melancholie. da ist vor allem die sehnsucht, weißt du, fabian?
die sehnsucht >
<er blickt zurück>,
unterbrach ihn fleck trocken. <papa! ... rachmaninov war ein träumer,
er lebte damals schon in einer welt von vorgestern ...>
heiser begehrte etwas unerbittliches,
aber unzerbrochenes in flecks stimme auf.
<fabian, hör mir
zu, es ist die große melodie, und wo bei den modernen gibt es sie noch?>
<ich kann diejenigen nicht
leiden, die das vergangene lieben, weil sie das neue nicht mögen.>
sagte fleck bestimmt.
der vater blickte zu boden. deshalb
hasste fleck ihn, weil er ihn in einem solchen moment nicht anblickte, sondern
die augen niederschlug. <schau mich an!> hätte fleck schreien wollen,
<wenn du dir etwas wert bist.>
vater redete weiter. doch fleck
hörte ihn nicht mehr. es kam ein gerede, das halb entschuldigend, halb
beschwichtigend im tonfall auf harmlosere dinge abglitt, ungefährliches
terrain: auf liebesthemen, capricen, vokalisen. elegische melodien von grieg.
puccinis crisantem. und wie schön das doch sei. monets blumen in musik
gemalt. fleck hätte speien mögen! und ravels pavane sei doch nun
wirklich modern. und borodin. wo wir wieder bei den russen wären. jetzt
lächelte vater wieder und blickte ihn an. was für eine rede; was
für eine bedingungslose kapitulation; vor ihm, seinem sohn, dachte
fleck.
er ist so weich, bohrte es in
fleck, er ist so ein sonnenzerbrannter hitzkopf ohne courage, er kann den
blick nicht halten, seine klavierkonzerte haben ihn aufgeweicht.
flecks mutter saß ebenfalls
dabei, hatte aber die ganze zeit über geschwiegen. jetzt erst nahm fleck
sie wahr. sie stocherte in ihrem eis. ihr einziges interesse galt ihren eisbechern
und ihrem bunten kugeligen inhalt. so eine schmach, dachte fleck, von ihm!,
der sein ganzes leben nicht zu dozieren aufhörte, was wirkliche größe
sei! um so vollkommen daneben zu liegen. sich einzunisten in einen bequemen
bürgerlichen bildungskanon, der ihnen beiden wie auf die haut geschneidert
war, in einen (nach außen dichten) kokon aus halbkünstlertum und
ein paar klischees von größe und großartigkeit, bohrte es
in fleck.
das waren sie also! sein vater:
ein feigling, der nie etwas besonderes aus seinem leben gemacht hatte. seine
mutter: eine gebrochene frau, die sich hinter ihrer krankheit verschanzt hatte
und sich schon längst aufgegeben hatte, dachte fleck. beide hatten sie
sich selber aufgegeben. und nie, nie! würde er sich so gehen lassen!
und so zu ochs und esel werden.
15 symbiose
jetzt
packte ihn fast die wut, dass er so ein zögerer war. was hatte er schon
zeit vertrödelt, um sich jetzt weiterhin in seiner schwäche zu baden!
es leuchtete wieder. ein glänzen erfasste seine wangen. den dolch hineintreiben.
der welt zwischen die augen
und plötzlich wurde es ihm
weit; plötzlich sah er in reichweite die maschine fertig dastehen: ein
blitzender basalt seiner fantasie; ein genuss würde es sein, den motor
stampfen, die zylinder fauchen, den auspuff röhren zu hören.
seine finger begannen sich zu
regen. er badete seine hände in dunklem öl. und ob er kraft in den
armen hatte ... fleck hatte ein breites kreuz und war gewiss kein schwächling.
er war ein kraftbündel, wenn es darauf ankam. und dieses kraftpaket explodierte
mit wucht im schuppen. fleck turnte flugs hinauf auf den alten schlepper.
sein haarschopf flog wie ein pinsel durch den schuppen, bis er die haare auf
dem hinterkopf zu einem hellen knäuel zusammenband.
dunkel, groß und abgedeckt
stand ein ungetüm vor fleck. davonfahren würde er, in der blitzenden
kabine des himmelsgefährts. ob es kufen haben würde? von einem rotor
angetrieben ein sausender wilder Kristall, der durch die lüfte glitt.
ob er eins mit ihm werden könne? wie sengendes metall durch den himmel
schneiden ... eine symbiose eingehen mit einer maschine. verschmelzen mit
einem metallenen kokon, zur blume werden ... und dann:
am himmel andocken.
es war ihm, als müsse er
seinen körper erst wie einen metallkorpus abschleifen und von allen dunklen
stellen befreien. glänzend müsse sein körper werden. er führte
die feile über beine, waden, hüften, schenkel und glied. er schabte
das dunkle, eingefärbte ab. weiße funken stoben umher. es blieben
schleifspuren, schräg übers metall laufende maserungen.
noch vor sonnenaufgang zog fleck
in einem kraftakt das ganze landwirtschaftsgerät auf den hof hinaus,
schwere werkzeuge und maschinen, die er zentimeter um zentimeter hinaus bugsierte.
der schweiß rann ihm literweise von der stirn. seine knie knackten garstig.
an einem eisen hatte er sich den handrücken aufgerissen. das brannte
äußerst schmerzhaft, aber er hielt durch. fleck schob, drückte
und stemmte mit leibeskraft. fleck plackte sich und rackerte. flecks kreuz
barst beinahe unter der beanspruchung. fleck fühlte es nicht.
dahinter kam endlich der alte
dampfschlepper, dieses monströse ungetüm, das er nur als rostige
silhouette wahrgenommen hatte, zum vorschein. eine dunkle metallene kontur
schälte sich hervor und ragte roh zur decke. fleck sog muffigen geruch
in die nase.
genau hatte er das gerät
noch nicht untersucht. er leckte immer wieder über seine schmutzige handrückseite.
dunkelrotes blut drückte am rand des schnittes heraus, verfloss sich
in fältchen und poren.
breite walzenräder lugten
hervor. der schlepper war teilweise mit decken und matten abgedeckt, aber
man konnte seine größe erahnen! fleck begann, das alte wrack, das
hier seit jahrzehnten, wenn nicht sogar schon seit bald hundert jahren in
dieser düsteren kammer stand, zu befreien. er stand im dunst seines eigenen
schweißes, den armrücken nass, weil er sich damit immer wieder
über die stirn schmierte.
fleck kletterte hinauf und zog
an den matten. ein hässlicher, modriger gestank kroch darunter hervor.
spinnen krabbelten aufgeschreckt herum. fleck warf die matten hinunter auf
den steinboden der baracke.
er wich den dicken staubschichten
aus, die schon seit ewigkeiten auf den matten lagen und in dichten grauen
büscheln herabfielen.
fast fühlte sich fleck wie
ein archäologe oder ein entdecker, der ein urtümliches fossil aus
der vorzeit ans licht holt. niemand hatte es gewagt, diese alte maschine aus
ihrem jahrhundertschlaf zu holen, aus jener zeitlosen ruhe, in der sie seit
ewigkeiten schlummerte.
er befühlte kalte rohre
mit den händen, sah roten uralten anstrich, dort, wo er den körper
des gefährts freigelegt hatte: kühles metall war darunter. roststellen
wucherten.
fleck hatte berge an decken und
matten abgearbeitet und an vielen stellen kam das vehikel schon zum vorschein.
es nahm formen an. nach und nach entmummte sich unter der hülle ein großes,
unförmiges fahrzeug, ähnlich einem riesigen traktor, schrottreifes
betagtes gerät. neben schrauben, wellen, naben, speichen, achsen, felgen
und traktorenrädern.
doch ein feiner kupferfarbener
glanz umgab es. fleck wusste nicht, ob es der rost oder ein alter anstrich
war. unter einer dünnen schicht holzstaub waren buchstaben zu lesen,
die er mit seinen fingern nachfuhr. Artesian... stand da. er hielt kurz inne,
denn die schrift war geschwungen und schön, von einer art schönheit,
die heute etwas nostalgisches hatte.
fleck arbeitete wie besessen
den ganzen tag und die halbe nacht. als die sonne bereits wieder durch die
staubigen dachfenster hereinlugte, hatte er den alten schlepper ganz freigelegt.
er arbeitete weiter bis zur erschöpfung.
da stand das wuchtige gefährt
vor ihm; verfallen, die gelenke eingerostet. in der mitte war erhöht
ein führerhaus mit blinden scheiben, über und über mit dreck
verkrustet. davor ein riesiger schlot. fleck ruckelte an ihm. das alte eisen
ächzte.
es roch so alt: der rost, der
moder, das alte motorenöl. verrottetes totes metall. dass es nur nicht
auseinanderfiel, wenn er hinaufstieg ins führerhaus!
dieses gefährt zum fahren
zu bringen schien fleck plötzlich ähnlich unsinnig wie am skelett
eines toten vogels wiederbelebungsversuche anzustellen.
einen moment überlegte sich
fleck, ob er das richtige tat, ob er nicht viel lieber das gerät wieder
einpacken solle: es verhüllen, abdecken, ihm seine ruhe zurückgeben.
es begraben unter einer vielzahl von decken.
er hatte jedoch die große
hoffnung, die maschine zum fahren zu bringen! er würde all seine energie
hineinstecken, und wenn er monate, vielleicht sogar jahre daran arbeiten würde!
mit einem scheppern sprang das
alte dieselaggregat an. getriebe gaspedal flugs hinauf und den schraubenschlüssel
angesetzt. drehzahlen düsen zahnrad. fleck schraubte in windeseile den
motor auseinander. sein herz war ein windkanal. wuchtete die haube herunter
und mitten hinein ins alte eisen. der motor sollte eine düse werden,
eine turbine mit verdichtendem schub; er legte die alte leitung für den
sprit zum anlasser, die den tank anfuhr.
fleck wollte die kabine zum cockpit
umwandeln. er hämmerte bohrte klopfte schweißte lag rücklings
auf dem boden, metallspäne sausten dicht an seiner dunklen brille vorbei,
von unten schmerzte eisig der nachtfrost. er bockte die lichtmaschine auf,
montierte schmierte ölte fettete und verlor sich zwischendurch in anfällen
der mutlosigkeit. rauchte mit fettverschmierten fingern selbstgedrehte zigaretten,
saß herum und sinnierte. dann langte er erneut mit den fingern hinein
in das schwarze öl und setzte seine zange an. schraubte am chassis, hämmerte
klopfte bohrte wühlte in zylindern nockenwellen gebläsen verdichtern
antriebswellen naben ritzeln schubstangen ölte bockte bohrte schraubte
und schließlich stand etwas fertig da. ein großer öliger
brocken aus metallenen gerätschaften, über schläuche verbunden:
herzstück. für das treibstoffgemisch aus dem vergaser. fleck verbrachte
tage an seiner maschine. eine autobatterie überbrückte, die zündung
mit spannung zu versorgen.
spannung! fleck zog mit hartem
biss auf die unterlippe am anlasser, ein hartes klicken, kein tuckern, kein
metallisches schnauben, nichts der kolben regte sich keinen millimeter.
fleck brach förmlich zusammen,
fiel hin vor seine metallene herzmaschine und lag stunden einfach da, die
wange in sägespänen. hauchte und sog die luft ein, hustete, atmete
staub, blieb am boden.
die schubkraft einer lokomotive
(ein fauchen), kesseligen dumpfen klang, das anspringen eines röhrenden
riesenmotors hatte er erwartet. das brausen eines raketengetriebes. durch
den schuppen hätte es donnern sollen. markantes anblasen eines drachenatems.
hochspannung! anfauchendes aufheulendes durchdringendes turbinengetöse;
wind; bewegung;
nur kaltes schweigen kam aus
seinem wundergetriebe. er hatte versagt. ein nichts. ein verkabeltes nichts
stand vor ihm. unnütz! zwei wochen mit den abgearbeiteten händen
gegraben im herzstück, herzklappen und herzventile durchgeblasen, adern
angeschlossen, blutgefäße und kapillaren hinmontiert; es hat nichts
geholfen.
er fuhr sich durch die haare,
mit händen, die bis zum ellenbogen hinauf vom öl verschmiert waren.
er lag und träumte von seiner maschine. bedecken sollte sie ihn, von
kopf bis fuß mit schilden, platten, panzerungen, wie im innersten einer
schildkröte, verborgen vor den augen der menschen da draußen.
das innere organ eines metallischen Kristalls, der mit leichtigkeit in die
welt hinaus fuhr. er würde sogar über dem erdboden schweben, zart
und geräuschlos. eine arche, dort hinein fleck seine sammlungen stapeln
wollte, nach außen hermetisch und dicht.
er lauschte dem kraftfeld in
seinem inneren.
16 untersicht
blätterhände,
die sich ausstreckten. atem kroch über den boden. fingerknöchel,
dunkel. kuppen kreisten auf der erde. ein auge lugte schräg, durch schatten.
eisiger wind blies dicht über den estrich. spinnen flitzten, insekten
schwirrten, kleingetier nahte fast unbemerkt. mäuse tollten, sogar vögel
hopsten, erst zögerlich, dann sich immer näher heranwagend, auf
nahrungssuche bis dicht vor sein gesicht.
nach stunden fasste sich fleck
erneut ein herz. er müsse doch nun endlich weitermachen, dürfe sich
nicht entmutigen lassen. wie entsetzlich er sich fühlte, als er sich
nach stunden hochriss und allmählich auf die beine kam. steif waren die
gelenke, der frost nagte an den muskeln; kaum, dass er sich regen konnte.
dann ging er erst einmal nach hinten in den hof und streunte durch seine pflanzungen,
besah seine ziergärtchen. dort blühten anemonen, begonyen, clematis.
dort wuchsen seine kräuter; dill, estragon, fenchel. die kräuter
waren alle wunderbar gepflegt. die blumen waren eine pracht. hatten sonne
und wasser.
doch auf einmal wurde ihm schwindlig,
wie er schattenhaft durch das tor die große maschine dastehen sah, dieses
wuchtige ungetüm, das etwas so zartes bergen sollte. sein kopf drehte
sich. fleck fühlte ein hämmern darin. nach stunden ging er wieder
in den schuppen hinein. er wollte endlich vom fleck kommen.
es kostete ihn so viel kraft!
eine senkrechte eisenleiter führte hinauf zum führerhäuschen.
dort oben, in augenhöhe, führte ein trittbrett ins innere des vehikels.
die restliche leiter war weggebrochen. fleck senkte den blick. beklemmung
erfasste ihn in dem augenblick, als er sich mit einem schwung in das führerhaus
setzen wollte.
dabei waren seine vorbereitungen
schon so weit gediehen. wieder vergingen einige tage. fleck hatte sich alle
möglichen gefäße und kisten besorgt, und als gälte es,
eine rettungskapsel zu bestücken, hatte er auf einer silberfolie (die
seine eltern früher beim campen benutzt hatten) alles lebenswichtige
aufgehäuft. da waren zunächst seine decken und matten, mit denen
er das innere des Kristalls auskleiden mochte. ein weiches tierfell, auf dem
er vor der steuerapparatur zu sitzen wünschte. und natürlich vaters
röhrenradio. ein fernglas, um in die ferne sehen zu können. kleidung
brauchte er nicht viel. er brauchte proviant: schinken, wasser, brot. er kaufte
sich ein großes kontingent zwieback, dazu ein paar abgepackte pakete
vollkornbrot, kommissbrot, pumpernickel. fleck schnitt äpfel, birnen,
pflaumen, aprikosen klein und trocknete sie unter dem dach seines schuppens.
er fing eine menge fisch, den er einpökelte. er kochte große mengen
tee, die er in große plastikkanister abfüllte. seine botanische
sammlung verteilte fleck auf unzählige kleine schachteln und kistchen,
die er abdeckte. so vergingen fast zwei wochen, in denen er sehr eifrig arbeitete,
immer getrieben vom wunsch, bald aufzubrechen.
er hatte größere paletten
gesammelt, auf denen er seine selbstgebastelten gerätschaften und kunstwerke
lagerte, die er sich in all den jahren gebaut hatte. dennoch war er sich klar
darüber, dass er sie fast alle zurücklassen musste. es gab merkwürdigerweise
nichts, von dem er sich überhaupt nicht trennen konnte. einige dieser
dinge warf er abends mit einer gleichgültigkeit, die etwas achtloses
hatte, einfach ins meer.
die wände des cockpits würde
er mit hellen matten bespannen, an die er seine schönsten blätter
anbringen würde. er würde diesen kokon dann nie mehr verlassen wollen,
in dem er von nun an sicher und unberührt dahinrollen konnte.
abheben wollte er zuletzt.
17 der schlund
eine
endlose schwere: das meer zwischen der Großen Stadt und fleck. es blähte
sich in der dunkelheit zu einem ungetüm (von dem er die umrisse nur erahnte),
verfloss sich seitlich weit in glitzernde wucherungen und ausbuchtungen, waberte
schier grenzenlos, floss und leckte über ufer hinüber. fleck stand
da und spähte hinaus wie auf ein großes geheimnis. das meer war
immer da und dehnte sich aus, als großes wesen fluktuierend, dem organismus
einer riesenamöbe gleich, zungte, leckte, biss, grapschte und schwappte
mit seinen vieltausenden tentakeln an land, grieselte sich in feinen schaum
aus, zog sich wieder zurück und stieß von neuem hervor; lag bei
mondschein in endloser ruhe, eine glänzende nachtschwarze platte, fahl
erleuchtet; taumelnd tanzten die kuppen seiner gischten; tranig zerfloss das
rauschen in tiefes gleichförmiges glucksen der nacht; dunkel und bitter
roch es; tiefschwarz schuppte welle über welle. mit gleichförmigem
brausen rollte das dunkel heran, überspülte flecks schuhe und schwappte
ihm bis zu den schenkeln. das meer schluckte unter blauer sonne blaues licht,
blaue nacht: es saugte an ihm
fleck sah in den nächten
häufig zu den sternen hinauf. sternbilder kannte er nicht. namen waren
ihm gleichgültig, als bedeutungslose koordinaten eines benennungssystems.
dass niemand wusste, was sterne wirklich sind: das beeindruckte ihn.
er war beeindruckt von der ferne des lichtes, von der größe und
tiefe des raumes, als bewiese (verkörpere) dieser raum das unermessliche
unwissen der menschen, das alle menschen verbindet: dass alle menschen
(ausgestattet mit winzigen gedankenapparaten) bisher zu den sternen hinaufgeblickt
haben und hinaufblicken werden, ohne wirklich zu erkennen, was sie dort oben
sehen. dieses verbundensein im nichtwissen war fleck ein tiefer trost.
wenn du mit einem boot unterwegs
wärst und wenn die see dir noch so schnittige wellen bereitstellte
und wenn der wind dir mit starken stößen kraft gäbe, dir den
rücken stärkte und dein boot beschleunigte du spürtest
doch unter dir das unendliche meer. den brodelnden abgrund. den geöffneten
schlund. du fühltest doch unter dir die schwankende see!
das beben deiner welt
das meer wird dich so oder so
aufsaugen, irgendwann in sich aufnehmen, am ende deiner zeit verschlucken,
so oder so. es wird dich so oder so in seinen schmatzenden schlund wegschlotzen,
selbst wenn du mit himmelsflügeln darüber hinschwebtest, ohne das
nass auch nur mit einer einzigen faser zu berühren. schon die eisige
salzluft wird dir widrig entgegen schlagen. und selbst wenn du auf einem vom
wasser gelösten kokon dahinschwebtest (und du wirst eine gute zeit darüber
hinwegschweben), wirst du nach einer zeit wieder auf den wogen aufsetzen müssen,
hoch oben auf den rollenden rippen der see, die dich kippend wippend umherschaukelten,
nach lust und laune umher wiegen,
-wehen,
-werfen,
wenn sie dich einer möwe
gleich auf wellenkuppen, ohne anker wankend und schwankend, mit den glitschigen
pranken der see umgreifen (umarmen, umpacken) dann wirst du mit einem mal
das gleichgewicht verlieren und hastig nach halt tastend ins leere fassen,
in gewaltige erbarmungslose bracken, feindliche starke wassermasse ohne festen
grund. du wirst, nachdem dein gefährt dahin gegangen ist (und es wird
so oder so dahingehen!) eine weile im kreis rudern, herumplätschern,
-plantschen; du wirst auf hilfe wartend und flehend verzweifelt im wasser
zappeln, sehr bald kraft verlieren, wirst, um irgendein lebenszeichen zu sehen,
wie verrückt den kopf herumwerfen, nach rettungsboot, -flugzeug, -kapsel
... und vielleicht wirst du wirklich weit entfernt ein boot erspähen;
aber nach und nach werden deine kräfte schwinden; die kälte, der
sog, das wasser wird dich immer weiter umfassen bis du endlich hinabsinkst:
vollgesogen, fortgesaugt, versackt. du wirst müde und schwer immer tiefer
sinken, die lungen werden dir irgendwann vor druck bersten.
fleck stand eine schweißperle
auf der stirn
er sah die welt, wie sie ins
kippen kommt, bis zuletzt nichts mehr lotrecht steht: ein einziger taumel
des schwankenden, schlingernden, unsicheren, unvorhersehbaren, unwägbaren.
weltbilder schaukeln. alles schwankt, wird bodenlos oder doppelbödig;
fleck verliert für momente jeden halt, jeden boden, es zieht ihn hinab,
stufenweise; zeit rast hin. die welt steht auf wässrigen füßen.
ohne oben, ohne unten. alles droht, von einem moment auf den
anderen umzustürzen, umzufallen, jede welle wird von einer neuen welle
überdeckt, überleckt, die alles schluckt, was vorher war; und welle
um welle wird jede wahrheit von einer neuen wahrheit überlagert
den wellen ist alles eins und einerlei; war gott am ende selbst ein opfer
der wellen?
die sonne leckte ihn auf wie
einen wassertropfen.
fleck, gasförmiger hauch,
schwebte in den himmel
18 schwarzweißbild
fleck
fühlte sich durch und durch unbeweglich: bleierne schwere, die sich mit
zentnerlast auf ihn legte. er war vor müdigkeit vor seiner maschine eingeschlafen
und hatte wieder eine nacht auf dem boden seines schuppens verbracht. es bohrte
die gewissheit in seinen gedanken, ganz von vorne beginnen zu müssen.
doch er lag noch keine zwei minuten
wach, als ihm schlagartig klar wurde, woran es lag. ein glücksgefühl
fuhr ihm durch und durch. die alte autobatterie! er hatte die batterie ja
nicht aufgeladen! sie stand seit jahren herum, und beim herumstehen hatte
sie auf dauer einfach einen spannungsverlust erlitten. was für ein dummer
anfängerfehler! dachte fleck.
mit seinem handwagen karrte er
seine alte autobatterie bis zum ende der ortschaft, wo eine kleine tankstelle
war. als er seinen geldbeutel herauszog, fiel ein altes schwarzweißfoto
von seinem vater heraus. fleck schob es schnell wieder ein. ein flackern lief
über sein gesicht.
diesmal nahm er sich unendlich
viel zeit, klemmte die kabel alle erneut an, überprüfte die anschlüsse,
nackelte am kupfer, um wirklich jeden kontakt zu überprüfen. er
tauschte die sicherungen im schaltkasten gegen neue aus, prüfte an der
ringfarbe die richtigkeit ihrer amperezahl. er drehte an allen gewinden, die
locker in ihren geöltern lagern ruhten, reinigte die übersetzung
des getriebes mit einer geduld, die ihm selbst fremd war. fleck wischte mit
einem lappen an allen eingedickten kontaktstellen vorbei und wienerte jedes
ritzel, zog das tuch durch alle zwischenräume, bis das edelstahl unter
dem schwarzen öl hervorblitzte.
die kompression der turbine würde
einen gewaltigen schub erzeugen, also müsse er sofort nach dem anlassen
auskuppeln.
fleck packte eine packung argonit
aus, um die ventile zu enteisen, ließ den keilriemen sirren, prüfte
den schub, entließ die verschmutzte abluft aus dem motorkessel, drehte
die hubkolben auf 3/8 des hubraums, bohrte mit dünnem stahlbohrer die
rückwand der sfärentrommel auf, verband die gratpumpe zunächst
mit dem zellkrümmer, um so mehr schub zu bekommen, öffnete alle
abzugsventile zum gas, verlegte eine leitung zum steuerknüppel, kombinierte
die totpunktlage der achswelle zu den turbinenstangen und hob den lichtkanal
überzwerch heraus, fasste die zündungsnut über kreiskolben
zum kompressor und schweißte unter sprühenden sternen ein wellenförmiges
außenruder an das riesige heck. nachdem er die treibstoffleitungen an
den tank montiert hatte, wurde der blaufarbene druckkessel für die interne
spannungsversorgung des strahlenkörpers zum opalkrümmer verschweißt
und halbleitende kupferkabel verlegt. zögerlich ruckelnd lief die marmorwinde
an.
dann legte fleck den zündschlüssel
um.
ein tosen ein atem ein wellenmeer
ein stampfen ein ohrenbetäubendes aufwiehern ruckhaft ineinander greifender
zahnräder mit weißem gekeuch des dampfes schoss ätzung in
himmel; in wildem zentrifugalem schnauben im aufstand ihrer kraft begannen
die eingerosteten lager zu keuchen und zu ächzen; begann das herzstück
mit seinem keilriemen zu holpern und auf dem bock zu hüpfen, begann endlich
rau und heiser loszuknattern: ohrenbetäubendes rumpeln in überschalldüsen
zitterte durch jede einzelne pore der glasfibernute, hob sich ein bronzenes
gemisch in chemischer emulsion empor, schoss über und über, sprudelte,
übersäte, befleckte mit goldspritzern den boden. sternenbasalt zierte
die erde. fleck war außer sich und jubelte! auch wenn das motorgeheul
nach kurzer zeit wieder abstarb.
fleck sprang im taumel wild singend
durch seinen schuppen. das alte radio seines vaters spielte chopins sylfiden
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