dritter teil
denn das ist mir
klar, dass das die fortgeworfenen sind, nicht nur bettler; nein, es sind
eigentlich keine bettler, man muss unterschiede machen. es sind abfälle,
schalen von menschen, die das schicksal ausgespien hat. feucht vom speichel
des schicksals kleben sie an einer mauer, an einer laterne, an einer plakatsäule,
oder sie rinnen langsam die gasse hinunter mit einer dunklen, schmutzigen
spur hinter sich her.
<r.m.
rilke, die aufzeichnungen des malte laurids brigge>
1 gerbera
fleck
ging den weg zu dem ihm wohlbekannten haus mit vorsichtigen und beinahe schweren
schritten; den blick hinabgesenkt auf die rötlich gesprenkelten pflastersteine.
er überlegte, ob er nicht doch einen blumenstrauß hätte besorgen
sollen; ein mitbringsel wenigstens, ganz frühlingshaft. aber verlogen.
ja, verlogen! dachte fleck grimmig. ob sie wohl zuhause sind?
leise zog er die klinke der gartentüre
herunter. er zögerte im ankommen, ging mit mühevollen schritten.
dann wurde ihm einen augenblick lang fast übel. als er sich endlich einen
stoß gab, sich zur vernunft ermahnend, und den klingelknopf drückte,
fühlte er schlagartig große sinnlosigkeit. er war wie abgekühlt.
die mutter öffnete die tür.
jetzt gab es kein entrinnen mehr. ihr gesicht wie immer, die gesunde
gesichtsfarbe, die vielen fältchen, dann ein verstörtes blicken,
fast ein lächeln
der duft aus dem haus kam ihn
an, den fleck so oft genossen hatte. so gern hatte er das gerochen! es war
ein süßer geruch, vermischt mit etwas herbem, wie gut gereifte
äpfel, deren haut schon runzelig geworden war.
er sah ins braun ihrer augen,
die leicht verdutzt aufhellten, ein wenig irritiert, aber erfreut von seinem
unangekündigten besuch. sogleich setzte die mutter ein strahlendes lächeln
auf.
plötzlich fühlte fleck
ihn wieder: den block im hals, dunkel und meerhaft und schwer. seine augen
ruhten auf den ihren, er fühlte wärme und sympathie, sah das erstaunen;
sie sagte etwas zu ihm, er verstand es nicht. fleck ermahnte sich, seine ohren
jetzt aufzusperren; er sei da, um die sache gerade zu richten. er stand
einen augenblick in sich selbst wie in einem dunklen schacht, völlig
abgeschnitten von der außenwelt.
etwas wie <hallo fabian!>
hatte sie wohl gesagt, er hatte es nicht gehört (er hörte so etwas
nie), er überhörte es grundsätzlich und ging grußlos
hinein ins haus, mit schwerem blick, beladen, vorbei an der erstaunten mutter,
die ihm bereitwillig zur seite wich. bestimmt hatte die mutter <hallo fabian!>
gesagt (so hieß er da draußen) sie hatte es wohl immer
gesagt und er hatte es kein einziges mal wahrgenommen, auch dieses mal nicht. auch das gesicht des vaters tauchte verdutzt im türrahmen auf: er ließ
sein weniges haupthaar und einen sehr kritischen blick sehen, bevor er sich
umdrehte.
<wo kommst du her?> fragte
die mutter selber fast erschrocken über die direktheit ihrer frage
und schob: <komm doch erst herein!> in beflissener hausfrauenmanier
hinterher, die fleck, der einen kalten stein mit sich trug, fast zuwider war.
<komm setz dich.>
umwarb ihn die mutter. auf dem tisch standen frische schnittblumen: gelbe
tulpen und rote gerbera inmitten von außerordentlich viel farn. ein
duft von sojaöl drang aus der küche.
tausend gedanken durchzuckten
ihn, während er umständlich hineintrat in die gute stube. seine
linke hand war in aufruhr und zeigte ein wenig seinen inneren zustand; ein
feiner duft nach tee strich ihm an die nase; die katze (die alte Musch), schmiegte
sich ihm weich um die beine. so heimelig; und gleichzeitig war ihm nicht wohl.
mutlos nahm er platz, bekam sogleich eine tasse hingestellt.
sein blick verirrte sich durch
die gardinen hinaus in den garten. erinnerungen zogen ihn fort: auf diesem
sofa waren sie gesessen, emmy und er; und im obergeschoss war emmys zimmer;
und nun saß er hier. er atmete wie unter einer zentnerlast. die mutter
blickte ihn ungeduldig an.
<wie geht es dir?>
wie er dieses palaver hasste.
fleck schwieg einen moment mit unveränderlichen gesichtszügen. die
mutter blickte ihn besorgt an. er hatte keinen blumenstrauß bei sich.
<emmy ist nicht da>, sagte
sie schnell.
fleck schlug den blick nieder.
er nahm den tee, der schwarz und stark war.
fleck blieb stumm. er konnte
eigentlich nicht sprechen oder hatte oft die fantasie, dass wenn er
seinen mund öffnete nur scherben aus seinem mund fallen würden:
gebrochenes bläuliches glas.
fleck saß äußerlich
ganz ruhig, doch in ihm tobte die aufregung. er war nicht zum teetrinken hier.
fast bohrte die wut in ihm. als die mutter aus verlegenheit ein paar der gängigen
fragen stellte (wie es ihm ginge und ob es ihm wirklich gut ginge), fing er
leise und wie unter höchstspannung vibrierend zu reden an, doch blieb
er sehr karg in seinen ausführungen. das nebensächliche: das war
kein sprechen. teegespräche: das war wie ein- und ausatmen.
durch die halb geöffnete
tür zur diele sah er den vater, der dort umständlich auf und ab
ging, um zu lauschen, und doch nicht herein kam.
<komm rein, fred>,
bat die mutter.
da fleck von sich aus mit keinem
wort mit dem grund seines kommens herauskam, erzählte die mutter mit
gespielter harmlosigkeit von ihren erfolgen im sprachkurs, ein wenig familiäres,
ein paar anekdoten aus der nachbarschaft.
fleck hörte es so gut wie
nicht. er blickte gebannt auf das muster des teppichs. auch emmys vater hatte
nun still platz genommen. fleck neigte sich zum wohnzimmertisch, um seinen
tee zu schlürfen, blickte auf die rotweißen servietten, die dort
lagen, und die drei schnapsgläser, die wohl von einem essen noch zurückgeblieben
waren. erst jetzt hörte er leise den laufenden fernseher im flur. licht
fiel durch das panoramafenster.
fleck blickte seine füße
an, wie sie sich in behaglichen schuhen auf dem teppich streckten: feindliches
territorium. ob er jemals nach diesem gespräch hier wieder eine sohle
aufsetzen würde? durchzuckte es ihn kurz.
<emmy hat uns erzählt,
du seist vor einigen tagen auf und davon?> klinkte der vater sich mit fast
barscher stimme ins gespräch ein. <sie habe nicht herausfinden können,
wo du gerade warst und wie es dir ginge. geht es dir im moment nicht gut?>
<doch>, presste fleck hervor.
der vater blickte ihn ungläubig
an. fleck mochte seine stechenden durchdringenden augen nicht.
<warst du bei freunden?>
<nein.>
<bist du gekommen, damit wir
dir helfen? fehlt dir was?> gab sich der vater hilfsbereit.
<wisst ihr>, begann fleck
nach einigem zögern, <es ist so, dass ich emmy wirklich ... im gedächtnis
behalten will. sie ist ein großartiger mensch. sie >
flecks mundwinkel zogen sich
nach unten, etwas bitteres umgab sie. die eltern blickten sehr verstört.
es war gespenstische ruhe eingekehrt. selbst die katze blieb im herumstreunen
plötzlich erschrocken stehen. es gab keine fortsetzung für diesen
begonnen satz.
<wir haben uns sehr geliebt
...>
der vater lachte hell auf. fleck
registrierte es kaum.
<es ist ... ich konnte nicht
anders!>
beide eltern schüttelten
den kopf. der fernseher brachte fröhliche werbeklänge herüber,
animierende melodien, irritierend in ihrer beiläufigkeit. der vater stellte
seinen tee ab.
<du wirst deine gründe
haben.> sagte der vater mit eisiger monotonie. die augen der mutter fielen
auf ihn wie ein damoklesschwert. fleck wandte seinen blick ab.
<es gibt keine gründe.>
<was?> rief der
vater erhitzt.
<es gibt keine gründe.>
sagte fleck fest. <der einzige grund, den es gibt, bin ich selbst.>
sein blick schlug hinaus zum
fenster, bohrte in eine durch flirrendes licht erhellte wolkenbank hinein.
<was sind schon gründe ...> murmelte fleck mit verwegenem tonfall.
der vater beherrschte sich sichtlich,
seine ungehaltenheit zu verbergen. die eltern sahen sich an, als säße
ein verrückter am tisch.
<hört zu, ich habs
nicht gern getan.>
<emmy ist außer sich!>
protestierte die mutter.
<sie empfand deinen abgang, wie sie es die tage nannte, als äußerst verletzend. jawohl! äußerst
verletzend! so etwas ... hätte niemand >
<sie braucht dich, fabian>,
fiel sie dem vater besänftigend ins wort. fleck empfand diesen satz als
zudringlich.
<es ist möglich, dass
sie mich braucht und ich verstehe, dass sie jemanden braucht; aber
sie braucht nicht wirklich mich ...>
<natürlich braucht sie
dich, fabian! sie liebt dich ...> die stimme der mutter bekam etwas
zerbrechliches.
<ich liebe sie auch.>
<dann begreif ich das
nicht.>, seufzte die mutter.
der vater schüttelte wieder
den kopf.
<sicherlich, fabian,
ihr seid fast erwachsen. ich sollte mich nicht ... aber seit tagen ist sie
verändert. sie schläft nicht. sie geht nicht ans telefon. sie treibt
sich herum.>
<fred, sie ist kein kleines
kind mehr ...>
<ja. und auch heute: ich weiß
nicht, wo sie steckt.>
<wir möchten uns nicht
einmischen, aber ... weißt du, fabian, es geht ihr seit tagen
über die maßen schlecht, sie geht nicht mehr zur schule ... geh
doch zu ihr und ...>
<... du kannst emmy nicht
einfach verlassen!> vollendete die mutter den satz für ihn.
<ich muss!>
vor allem der vater blickte nun
voller ärger.
er stand auf und lief herum.
<wisst ihr, es war nicht leicht.
es war im grunde schon lange vorbei. wir hatten uns nichts mehr zu geben ...
es waren immer dieselben momente, an denen wir uns aufrieben. und zudem waren
wir nicht ... frei.>
<nicht frei?>
als der vater ihn anvisierte,
knickte flecks blick um, wie über eine kante gebrochen.
<wenn einer den anderen liebt,
weil er ... ein problem hat, weil er allein ist, weil er sich alleine
nicht vollkommen ist, weil er sehnsucht hat, weil ... na, weil er einfach
nur seiner lust nachgeht, dann ist er nicht frei.>
der vater wurde nervös,
fuhr sich mit der hand über das lichte ergraute haar.
<willst du uns missionieren?>
sagte er kalt. fleck hörte nicht.
<man kommt zueinander, weil
man sich selber nicht aushält, weil man sich selber nicht erträgt.>
<leeres gerede ... von einem,
der nicht einmal ein halbes jahr ...>
fleck empfand die kommentare
des vaters, die den klang von wohlmeinenden und fast altväterlichen ratschlägen
hatten, als unsaubere einmischung.
<wir hatten uns nichts mehr
zu geben. ich wollte zu mir zurück. oder anders gesagt: ich wollte außer
mir sein. ich will von mir loskommen, von meinem ich. und emmy liebte
dieses ich >
<fabian, sieh mal her.
emmy war deine erste freundin. nun? ihr habt eure erfahrungen gemacht, ganz
egal, auch wenn es nicht glücklich gelaufen ist, und die gründe
die es ja offenbar gar nicht gibt die mag ich gar nicht hören.
ihr seid doch noch jung ...>
fleck fühlte sich ins eck
gedrängt, fast kam ihm die ausführung des vaters wie eine binsenweisheit
vor. eine grobe allerweltsgeschichte. doch emmys und seine liebe war keine
allerweltsgeschichte.
<du brauchst uns nichts
zu erklären!> fuhr der vater fort. <in einem solchen fall gibts
nichts zu erklären. das müssen immer die beiden betroffenen miteinander
ausmachen. du bist hier völlig fehl am platz ...>
<fred!> ermahnte ihn die
mutter.
der vater lehnte sich breit im
sessel zurück.
fleck war währenddem ganz
woanders und blickte ihn dunkel unter seinen brauen heraus an.
<sie hatte so viel gutes,
sie war zu gut ...>
wieder umgab fleck eine undurchdringliche
hülle, durch die keine laute von außen drangen. er sah, dass der
vater redete und redete und gestikulierte.
fleck indes schwebte auf der
spitze eines traumes
<fabian>, sagte
die mutter leise, ohne kraft in der stimme.
sie verstehen mich nicht, sie
werden es nicht begreifen. er bezweifelte den sinn seines kommens nun umso
mehr, fast hob es ihn von selbst vom sitz.
<ihre augen hatten so viel
gewicht, hatten mich so tief berührt ...>, murmelte er vor sich hin.
durch das fenster brach flirrendes licht herein, draußen strahlte eine
dunkelnde sonne. es war so viel leere in ihm. als er keine geräusche
mehr wahrnahm, blickte er wieder auf.
<magst du noch ein glas tee, fabian?>
fleck schüttelte energisch
den kopf ohne ein wort des dankes. die mutter räumte die teetassen fort.
<wollt ihr es vielleicht nicht
doch noch mal versuchen?>
er habe sein herz an eine frau
hingehängt. und es hinterher verloren. er hätte sein herz genauso
gut an einen haken hängen können, dachte fleck.
das war es also: sein herz hinhängen,
an etwas. sein herz festmachen, an einer sache (einem menschen): sein herz
hergeben für etwas. seine finger zuckten wie auf den tasten eines imaginären
telefons in einer gewissen ziffernkombination auf dem tisch, spielten an der
unterkante des tisches; fleck starrte, gedankenverloren.
<was sollten wir denn versuchen?>
gab er gleichgültig zurück.
<ihr wart so ein schönes
paar ...>, sagte die mutter mit traurigem unterton.
da zuckte ihm emmys lachen durch
den kopf, der heitere singsang ihrer stimme, wie ein paar musikalische glanzlichter.
fleck riss den kopf herum, um die erinnerungen wie ein buch zuzuschlagen.
<ich gehe jetzt>, sagte
er mit keuchender stimme.
[keine musik]
beide eltern begleiteten ihn
zur türe. fleck sprach gedankenlos irgendeine grußfloskel hin,
ging durch den dunklen kanal hinaus und erwachte erst, als die haustüre
ins schloss fiel
eine seltsame mischung aus melancholie
und geheimer lust erfasste ihn. er war aus feinen stoffen (gesang, nebel),
wurde beinahe gasförmig und verdichtete sich im moment, als sich seine
augen öffneten: melodien weißfarbener winde senkten sich auf ihn.
schwere schleier dichterer atmosfären tauchten ihn ein, strichen über
ihn hinweg, wehten ihm durch und durch. fleck war atem: der eindrang und ausdrang:
stunden des hauches: für momente konnte er sich auflösen: wurde
wind, luft, edles gas: ihn beschwerte nur ein wenig die angst: dass ihn die
feinen stoffe davon trügen wie einen wisch mit einem ruck, dem
er nicht gewachsen war; der ihn wohl endgültig auseinanderriss, so schön
es war, die haftung am boden aufzugeben
je mehr er sich auflöste,
desto mehr spürte er, dass er dann nichts mehr in sich barg: nur noch
die weite; und die weite wurde ihm leer. und nun wusste fleck: in fleck war
immer ein weiterer fleck gewesen. er war in sich selbst vielfach. er war aus
erde; er faltete sich in lüfte; und er würde einmal dort oben oxidieren.
in den spitzen seines geistes sich selbst versengen
eine zweifelhafte symbiose war
fleck mit seinen alten flecken eingegangen, mit all denen, die fleck einmal
gewesen ist. daneben die neuen: und alle brachten sie ihm ihren ballast mit,
ihr erfühltes; alle wollten sie in ihm hausen und ihr (un)wesen treiben,
mit ihren gesichten; nun konnte fleck sie alle fühlen, wie sie sich in
ihm reckten und streckten und aus ihm hinaus drängten; unter seiner haut
fühlte sie fleck, ein blubbern von blasen: augenballen, die an seine
haut stießen und wie toll an die oberfläche wollten. es waren seine
eigenen augen, die nach draußen zu sehen begehrten. fleck fühlte
ihr geschubse unter der gespannten haut, fühlte, wie sie sich aneinander
rieben, sich aneinander hindrückten, sich drängten, bedrängten,
verdrängten, unter der haut balgten und kniffen und stritten, fühlte,
wie sie sich gegenseitig im rosarot des verborgenen verzehrten.
in fleck war wieder ein fleck
und in diesem noch ein fleck:
wenn fleck wenigstens ein schnappmesser
gewesen wäre. eines, das mit einem metallischen klicken aufsprang und
blitze und stiche austeilen könnte!
da war er in den jahren
ohne es gleich zu merken einer von diesen schwadronierern geworden,
die auf parkbänken hockten und nichts zu sagen hatten, jedem bärbeißig
ihre arme und meinungen auferlegten und bei sonnenuntergang in ihren abgeschilferten
jacken larmoyant wurden; ein volk, das ihn früher angewidert hatte. ungeschlachte
kerle aus stein, nur aufgeweicht von dünnflüssigem gift. arme kerle,
die nichts mehr so richtig anrührte, oder alles ein bisschen. oxidierte
köpfe, die bereits höhere atmosfären durchlaufen hatten.
wo fleck früher vor schmerz
und lust schrie, zerrte es ihm jetzt ein wenig an den mundwinkeln; aber hitze
und kälte war in ein einziges laues getaucht; durchschnittstemperatur;
die welt wurde ihm zum lauwarmen wasserbad. er hatte sein herz hergegeben.
demgegenüber war das, was
er sah, was er hörte, was er miterlebte, ein gekreisch voll von buntestem,
lautestem, schrillstem leben! manchmal, wenn er so da saß, wenn er fühlte,
wie es an ihm nagte, wenn sich seine gedanken abspalteten und die welt
wie durch eine dunkle scheibe betrachet davon tauchte, wenn er sich
entfernte und weit weg selber treiben sah, wenn neben ihm die menschen lachten
und scherzten und ihn anstupsten, stand er ruckartig auf und bellte wie ein
tier, warf hässliche blicke, verbarg sich. wie sie an ihrem dummen
leben klebten, spottete fleck ihnen hinterher. hoffentlich nicht an meinem.
fleck wandte sich ab. fleck wandte
sich von sich selbst ab. fleck wollte den ewigen singsang nirgends hören.
allerorts hörte fleck das gewinsel am verlust der liebe; die tränen,
weil ihnen irgendein mensch gestorben war (ein leiden am <gefühl>):
liebe!
was für eine dumme idiotie
da unter seiner haut aufbegehrte. und zu welchen idioten dieses gefühl
sprach! ein zwergengefühl und dazu die dümmste einbildung der menschen;
ein sentimentales gesinge von zweisamkeit. weinerliches (wertloses) geluder: alles, was für ihn liebe war, blätterte von ihm ab.
fleck wollte das zudringliche
augenrollen des vergangenen abtöten. er wollte in sich nichts mehr spüren.
jedes noch so harte (aber wirksame) mittel wäre ihm dazu recht gewesen.
denn liebe dachte fleck
das ist was für die, die nichts größeres kennen.
ein allgemeingut ... eine dreckige, abgegriffene münze, an der der goldene
schein schon unter den dunklen grinden des speckigen verschwunden ist. liebe
das ist etwas, was sie auf die tollsten höhen ihrer leidenschaften
hinaufreißt, in wahre stürme von leidenschaften und plumpste wildheiten!
denn liebe dachte fleck
ist ihnen groß, weil sie sonst nie großes erfühlt
haben, weil sie scheinbar etwas großes mit ihnen macht; weil
ihre ganzen <gefühle> daran hängen wie an marionettenfäden;
dazu eine klapprige innerei, ein billiger zellofanwisch! war ihm das, diese seele.
und was sie mit so etwas dünnem
alles erfühlten! wie fleck es aus ihren liedern herauszuhören
vermeinte: ihren liebesfirlefanz! kleine spärliche gefühle, die
in käfigen hockten oder in verdünntem leben; im grunde wussten die
wenigsten, die schalheit der liebe abzuschätzen. sie waren infiziert
von der verherrlichung der liebe. was liegt schon an der liebe? im grunde
eine armselige illusion nach nähe; doch die nähe zwischen zwei menschen
ist nicht möglich, und wenn, dann als kurzfristige mischung zweier komponenten,
einer emulsion, die genauso schnell vergehe, wie sie entsteht, dachte fleck;
ein labiler zustand, der ihnen das hirn zersetzte; und als ob liebe nicht
mehr schmerzen verursachte als glücksgefühl! eine feine kruste löste
sich. darunter blähte sich blutiges gallert, einer rotgeäderten
qualle gleich. fleck drehte sich fort und der welt den rücken zu.
haut ging ab. überall flogen
feine weiße häutchen herum, wie gummi, ließen sich abziehen
und klein und dünn zwischen den fingerkuppen zusammenkräuseln.
seine alte liebe: da wohnte etwas
vergangenes, an das er immer wieder stieß. und in fleck war noch ein
fleck, noch ein anderer. fleck hatte immer angst davor, zu entdecken, dass
fleck sich selbst nicht mehr kannte. fleck sah sich selbst mit blindem fleck:
war fleck doch selbst nur ein blinder fleck.
ich bin ich, dachte er.
so drehte sich alles fort. hautfaden
um hautfaden schälte sich seine liebe ab. und fleck schlug sich an den
kopf, bis etwas barst. er versank in rotz. hämmerte die stirn gegen die
wand. was in diesem schädel saß? nichts außer schmerz.
es half nichts. fleck liebte
emmy nicht mehr. (was war schon liebe?) er bohrte mit den fingernägeln
tief in seine handflächen hinein.
2 aufbruch
fleck
hatte den motorblock in die maschine eingesetzt, die walzen flottgemacht und
montierte zuletzt den motor an die nockenwelle. nachdem ein erneuter start
geglückt war, rollte er mit dem schlepper knatternd auf den hof hinaus.
aus dem schlot blies dunkler rauch.
da war der frühling herausgekommen.
auch fleck fühlte es. in ihm regte sich ein leiser widerwillen. er ging,
hin- und hergerissen zwischen den leuchtend bunten farben der bäume,
der blüten, des flieders und dem willen, sich zu vergraben: entsagen
wollte er allem.
fort zu sich selbst, sich eine
weiche mulde schaffen. wo er alleine war. wo es weich um ihn war. eine sandkuhle.
auf seinem hof stand nun ein leuchtender Kristall, funkelnd wie eine lotosblume,
in dem er all sein hab und gut unterbringen würde.
die maschine stand nun fix und
fertig auf dem hof, das werk monatelanger arbeit unter rinnendem schweiß.
das heck war aufgeklappt und nach und nach häufte fleck all sein hab
und gut darin auf wie im innenraum einer rettungssonde. er wickelte jeden
blumentopf in silberfolie ein, umwickelte seine laubsammlungen mit tüchern,
gab jedem seiner kleinen strandgutobjekte einen platz im inneren seiner maschine,
die ab jetzt sein eigentlicher lebensmittelpunkt werden sollte. bald waren
nur noch restflächen frei, die er zu füllen suchte. je mehr er arbeitete
und zur maschine schleppte, umso bewusster wurde ihm, dass er eine auswahl
treffen, teile wieder herausräumen und neu einstapeln musste. fleck schlichtete
mit schier unendlicher geduld.
im heck der Artesiana nahmen
neben ganzen säcken voll proviant die schönen tongefäße
seiner mutter und die wuchtigen bambusstauden platz, kam der kleine hocker
aus kindertagen hinein, sowie das radio seines vaters, das er nach einer weile
wieder herausholte, um beim einräumen noch musik hören zu können.
allmählich füllte sich
der stauraum mit flecks kostbarkeiten bis zu einer beträchtlichen höhe
an.
das cockpit bestand aus einer
schmalen kabine, ganz in kupfernem glanz, mit schaltern, hebel, knöpfen,
pedalen und einem zarten steuerknüppel, der im vergleich zur klobigen
größe der maschine eine winzige uhrwerkhafte wippe war. an ihr
zog fleck nach links und nach rechts. die wuchtigen walzenräder taten
es der wippe nach. ein knopf bedeutete fahren, ein hebel bedeutete bremsen;
dazu gab es noch einen schieberegler für geschwindigkeit. er nahm bäuchlings
liegend vor einem ansehnlichen fenster platz, das von außen so dunkel
verspiegelt war, dass ihn im innersten seines Kristalls niemand sah.
wieder knatterte der motor. fleck
jubelte! er sprang noch einmal hinaus und öffnete die ventile, prüfte
die armaturen, schloss den gepäckraum, verriegelte von außen alle
türen.
fleck blickte auf das gehöft
zurück. einen moment stand er (betrachtend) still, bis er sich überlegte,
ob er sein altes haus den flammen übergeben solle. dann wandte er sich
um.
ohne die haustüren zu verschließen,
das haus wie eine abgeworfene leere schale beiseite lassend, stieg er in sein
gefährt und ließ den motor an. leise hörte er es fauchen.
der durchdringende schall des motors war im innersten so gut wie nicht zu
hören. er steuerte langsam ruckelnd voran. Artesiana rollte federleicht
an.
3 das schweben
fleck
schwebte hinein in jenes orange licht, das wie eine feuersbrunst vor ihm immer
größer wurde. Artesiana senkte sich nieder wie ein getarnter falter,
schwebte im sinkflug lautlos mit sinkschirm, glitt sacht (geisterhaft) auf
das parkdeck nieder. fleck parkte seinen fliegenden Kristall auf dem dach
eines dieser hohen häuser; eine geraume zeit blickte er durch die scharten,
was ihn dort umgab. er lauschte an der außenhaut, doch die stadt schien
zu schlafen. eine ganze stunde beobachtete er (horchte, spähte), ließ
ein kleines selbstgebasteltes periskop über dem eisendeckel des oberen
einstiegs kreisen, und maß die außentemperatur, bis er endlich
einen blick aus der dachluke wagte. er fühlte die luft der stadt bereits
im innenraum, als er ein fenster hob und hinauslugte. beinahe lautlos öffnete
er die tür seines Kristalls. es war dunkel. unendlich langsam glitt fleck
die trittleiter hinab, setzte eine sohle vorsichtig auf den boden des flachdachs,
bis er beidbeinig vor Artesiana stand. es fröstelte ihn
die luft, die ihn umgab, war
kühl. noch klang das surren der maschine nach. sie war heiß, als
er mit seiner hand die außenhülle streifte. fleck kniff seine augen
zusammen, sie musterten eindringlich, was sie ganz weit dort drunten sahen:
einen belebten straßenzug, chausseen, straßen, kreuzungen, alleen,
lichter etc.
er vernahm geheul, sirenen, motoren.
die geräusche empfand er als gleichmäßiges gluckern; kein
meer rauschte, kein wind fuhr rauschend durch die bäume, keine grille
zirpte
dunkel und kühl reichte
die nacht bis an den horizont. sein atem dampfte; kühle legte sich auf
seine haut. er hörte leise das motorengeräusch der autos, ein gleichförmiges
rauschen. es hatte etwas anrührendes, etwas schönes
fleck schaute mit hellen augen,
in denen sich das kalte neongleißen spiegelte, hinab: das glitzern des
asfalts, von licht umsäumt; stahlträger; schneetreiben; anonymes
rätsel; dunkle szenerie; lichter brannten in roten punkten
fleck bebte.
er hörte von ferne ein hupen.
einsamkeit; verödet im mondschein; kälte stieg in ihm auf. nebel
umhüllte ihn mit feinen schlieren, legte sich immer mehr wie weißliche
watte um ihn herum
in fleck verdichtete sich nach
und nach eine starke beklemmung: angst legte sich auf ihn, beschwerte ihn.
er hatte das bedürfnis, sich zu vermummen, sich zu polstern, sich ganz
dick in einen schutzanzug einzupacken. um komplett isoliert einen ersten schritt
hinein in die Große Stadt wagen zu können
eine weile hielt er fest seinen
kopf in den händen: seine haare waren triefend nass. es gab kein wohin;
es gab schon gar kein zurück
er sah eine tür, die in
ein treppenhaus führte. als er hinein ging, sprang hell ein licht an
4 das gebäude
dort
waren geschwungene treppen: in sich verdrehte granitene spiralen, die sich
barock in einander schlängelten und sich gegenseitig abschnürten.
die treppen führten hinauf in andere, in mächtigere treppen, strebten
als ganzes treppenknäuel aufwärts zu einem weiteren treppenturm,
der sich in ein neues gewirr von treppenläufen, -steigungen und -verwindungen
aus trittleitern und steinernen geländern (mit kegelförmig gedrechselten
sprossen) auslief.
dazwischen bewegten sich leere
rolltreppen, wuchtige raupen, deren silberner schuppenrücken sich auf-
und abwärts wand. seitliche glasscheiben glitzerten wie die häute
sich hinaufringelnder schlangen: monströse ineinander verkröpfte
rampen, die sich einrollten und in fingerartige verkürzungen endeten.
der weg in den himmel, dachte
fleck
pieres la fé,
cualquier esperanza es vana
y no sé
qué creer;
pero olvidame
que nadie te ha llamado
y ya estás
otra vez
fleck wusste nicht, wo er sich
befand, irrte durch endlose gänge und räume, war unterwegs durch
zyklopische fluchten, abgänge und schächte.
plötzlich stand er vor sich
selbst! er erschrak über die verschlissene gestalt, die er sah,
aber nahm es augenblicklich gelassen. es war ein blankpolierter spiegel auf
einer tür. an ihrer rechten seite war ein knopf. fleck drückte.
fast lautlos schob sich die spiegelwand auf und lud ihn zum eintreten ein.
er fand sich in einem komplett verspiegelten innenraum. eine blecherne stimme
(weiblich) sagte: erdgeschoss. hinauf oder hinab ... er spottete ein
wenig mit sich selbst und drückte dann mit geschlossenen augen
innerlich jubelnd über die beliebigkeit dieses spiels eine taste.
die tür schloss ebenso lautlos. er spürte einen schub abwärts,
da es ihn ruckhaft ein wenig nach oben zog, als würde er schweben.
er fuhr endlose etagen hinab
und wieder hinauf; es schienen ihm enorme entfernungen zu sein. fleck fuhr
aufwärts; abwärts; kam jedoch an kein ziel. (gab es noch ziele?
fragte er sich einen kurzen moment lang.) fleck wollte zurück, dahin,
wo er früher gelebt hatte. was ihn beschäftigte, war die möglichkeit,
eine abkürzung zu suchen, wie er hier noch schneller nach oben kommen
könne (oder nach unten?). der aufzug beförderte ihn über weitere
schachtsysteme immer weiter abwärts, bis er irgendwann zum stehen kam.
fleck trat hinaus, fand sich
in einer art foyer, das mit purpurrotem teppich ausgelegt war. durch einige
glastüren kam er bis zu einem raum, der einem vortragssaal glich. wie
eindrucksvoll, wie großzügig das alles war! staunte fleck. schon
der durchmesser des aufzugs hatte bestimmt einige meter gemessen. eine solche
weite in gebäuden war neu für fleck.
ihm gegenüber befand sich
eine bühne. roter samt bespannte die sitzpolster weiß lackierter
rokokositze. kein mensch weit und breit. das ganze gebäude war wie leer
gefegt und fleck mittendrin. dabei hatte er das vage gefühl, von menschen
umringt zu sein: womöglich drängten sie links und rechts an ihm
vorbei. doch fleck sah niemanden. wie durch eine art filter wurden sie (sofern
vorhanden) einfach ausgeblendet.
er setzte sich auf einen roten
sitz. das licht wurde etwas dunkler, aber es gab keine vorstellung, allerdings
schien augenblicklich die perspektive auseinander zu kippen, der raum zu wippen
und zu drehen. er sah die stuhlreihen plötzlich von oben und empfand
alles plötzlich so menschenleer. und deswegen eben so angenehm, urteilte
fleck.
nachdem er noch lange dieses
rein optische spiel genoss, stand er auf und ging zurück, kam in ein
anderes treppenhaus. wieder in einem neuen treppenturm schleppte er sich endlose
stufen hinauf und musste nun jede stufe einzeln nehmen, hinauf in einen dunkelgrauen
erker mit länglichen schatten.
fleck war entzückt von den
vielen zimmern und räumen, die es in dem gebäude gab: keine zwei
waren gleich. hinter hellen holzgetäfelten türen schlossen glastüren
an, ganze reihungen von glastüren. er ging lichte gänge in fast
reinem glas entlang. selbst der fußboden war dort aus glas.
fleck befühlte die oberfläche
des glases, betastete dessen kühle; dann blickte er die tür von
der seite an, sah das grün des glases im profil. er hielt das auge an
die seitenkante; und die welt kippte in unendliche spiegelwelten auseinander.
alles spiegelte sich in sich selbst und in sich selbst und in sich selbst
... und am rande des unendlichen widergespiegeltwerdens (das sich in der ferne
immer mehr in einen grünen undeutlichen schimmer verschwamm) entdeckte
er ein stück seines kopfes, darin groß und bohrend ein auge; ein
jäher schmerz durchzuckte ihn.
als er sich erholt hatte und
weiterging, wurden die einzelnen glasräume nach und nach immer kleiner;
bis die türen so dicht aufeinanderfolgten, dass er selbst flach wie eine
glasscheibe wurde, um sich noch hindurchzupressen; fleck hatte das gefühl,
am ende der unendlichkeit dünn wie ein blatt papier werden zu müssen,
um noch dazwischen zu passen
es folgten quadratische kabinette,
hübsch verziert, dahinter ein tunnel mit steiltreppe: eher ein dunkler
schacht. hier musste fleck aufwärts, konnte nicht mehr zurück. hinauf
ging es zu einem großen saal.
fleck hörte stimmen, fühlte
sich belebt, von hinten sanft geschoben, hörte sogar etwas nebulöses
klingen (musik?) das heißt, es war nicht wirklich musik, es war
eher ein ruhiges, sfärisches schwingen. er kam in eine riesige halle,
deren wände mit plastiktafeln rot ausgekleidet waren. auch der fußboden
leuchtete in grellem rot. als er näher hinsah, waren die roten felder
an der wand fein mit mäandermustern geschmückt. es ging durch mehrere
dieser säle, immer weiter, (ein großes labyrinth) ohne fenster,
trotzdem von der decke herab hell erleuchtet. er hatte dauernd das gefühl,
er bewege sich in all diesen raumwelten unter einer riesigen dunklen glocke,
und sobald das licht verlöschen würde, wäre er von schwarzem
rätsel umgeben.
als fleck durch mehrere dieser
völlig gleichen räume gegangen war (und schon die hoffnung aufgegeben
hatte, dass jemals noch etwas anderes komme als große rotgetäfelte
hallen), stand er plötzlich mitten in einem kleinen selbstbedienungsladen.
interessiert lief er durch die langen gänge mit lebensmittel (noch nie
hatte er irgendwo so eine große auswahl gehabt!) er brauchte sich den
wagen gar nicht zu füllen. das tat der wagen erstaunlicherweise selbst.
als er jedoch an der kasse angelangt war, konnte er der frau nicht vermitteln,
dass er doch gar nichts dazu getan habe, nun einen gefüllten wagen zu
haben. die frau ließ sich nicht auf ein solches gespräch ein. er
solle entweder die sachen hinlegen wo er sie her habe oder dafür bezahlen.
fleck ging und stellte alles
feinsäuberlich und akkurat an seinen platz zurück, fand einen hinterausgang,
wo er mit einem mal in einem noch kleineren laden war. er blickte durch das
schaufenster in den laden, in dem er zuvor war. vielleicht war hier ein laden
neben dem andern? getrennt durch schaufenster. die einkaufenden konnten sich
(eingezwängt hinter gläsern) durch die scheiben sehen.
dort war geschäftiger betrieb;
ein wenig konnte er nun die menschen sehen, wenn auch nur in umrissen, und
hörte auch das geräusch ihres sprechens, ihre gleichmut beim warten
und schlangestehen.
fleck achtete nicht darauf, was
er alles in den wagen legte. war das nicht vollkommen einerlei? er wollte
nur, wie alle anderen, mit einer prall gefüllten tüte hinausgehen.
die menschen hier scheinen freundlich zu sein, dachte er. obgleich er nur
schemen sah, schemen bunter ware, obgleich er nur schematische gespräche
hörte und schematische kassen sah, die in langen reihen nebeneinander
die fröhlichen käufer abfingen, spürte er doch die beherzte
atmosfäre in diesem laden. ja, er gehörte dazu. und das bedeutete
etwas: dazugehören!
dann, mit einem moment, war alles
leer gefegt, war es wieder nur die hülle des raumes, mit rotgetäfelten
plastikwänden. auch dieses klima war nicht unangenehm, er fühlte
den raum, fühlte sein rotes prangen, fühlte die einladende großzügigkeit.
seine hohen wände waren ohne begrenzung: hinter jedem raum lag noch ein
weiterer raum. es gab keine verschlossenen räume. er sah nicht einmal
türen. die raumecken waren offen: an der stelle, wo es von vorne so aussah
als sei die wand geschlossen, war genau auf der breite der wandtäfelung
eine raumhohe tür, die in den nächsten raum führte.
doch auch das gefühl der
unendlichkeit konnte für fleck zur einöde werden.
<fabian herwitter!>
sein bürgerlicher name hieb
ihm wie ein peitschenknall ins ohr. erschrocken fuhr er herum, sah einen übergroßen
runden tisch aus dunklem holz, hinter dem ein podium war, wo zwei seiner mitschülerinnen
eine rede hielten, dass es am besten sei, wenn jeder mitschüler sich
noch heute anmelden würde.
großer gott! morgen war
ja schon die klausur! wie konnte er das nur wieder vergessen? hatte er es
nicht immer vergessen? musste er es jedes mal vergessen! und er hatte
wie immer eine irrinnige menge stoff aufzuholen. das war kaum zu machen. er
sah seine mitschülerinnen ganz deutlich; sie strahlten so viel ruhe aus.
die kleinere der beiden nahm das goldene mikrofon und sprach hinein. als er
weitergehen wollte, sprachen sie ihn direkt an.
sie hatten beide dunkle haare
und trugen enge shirts. sie waren ein wenig schüchtern, sprachen mit
etwas piepsigen vibrierenden stimmen, was die mikrofone noch verstärkten.
er fühlte sich fehl am platz.
fleck trieb davon. die räume
hatten sich zu einem gigantischen schulgebäude verändert, über
dem gewissermaßen ein alter muff hing. körperschweiß aus
turnhallen, die gänge schlecht gelüftet, ein bau der vorigen jahrhundertwende;
marmorsäulen; staubige schränke, hallen, endlose flure. geruch nach
holz. ein wenig licht fiel durch butzenscheiben, durch die er vergeblich versuchte
hinauszuspähen.
fleck flüchtete in einen
kleinen selbstbedienungsladen in der aula. als er drin war, fiel ihm ein,
dass es den früher komischerweise nie gegeben hatte, oder wenigstens
war er ihm nie aufgefallen. und in diesem shop gab es lauter getränkeautomaten,
eisautomaten, süßigkeitenautomaten.
es war nicht sein ort. einerseits
ermüdet, andererseits aufgeregt, was er noch alles bei diesem herumirren
finden würde, flüchtete er sich wieder in gläserne gassen hinein,
wollte zum ausgang gelangen, dorthin, wo die straßenbahn abfuhr, nach
...
er wusste den namen nicht. was
bedeuten namen. was bedeuten worte. fleck hatte es bisher nie erlebt, dass
in dieser stadt je eine sonne schien. immer war es dämmerig, immer war
es beinahe nacht. die tageszeiten schienen eingetaucht in nächtlichen
schimmer.
5 in drusen
so
nahm er die tram, die (wie bestellt) mit einem merkwürdig eindringlichen
gebimmel angefahren kam mehr eine schlittenpost als eine tram
und wahrhaftig: die leute, wie altmodisch sie dastanden, mit ihren seltsamen
hüten, ihren taschen und ihren 7 sachen. der reguläre zug fahre
nicht, beklagten sie. man müsse entweder einen kilometer zur anderen
station laufen, und eine reihe von leuten taten dies, oder auf den nächsten
zug warten, der dann aber nur bis zur ecke fuhr. gelb waren diese züge
und breiter, als er es je irgendwo gesehen hatte. die leute redeten und redeten
und redeten. er hörte ihren sorgen zu. ihren nett gemeinten, harmlosen
geschichten. eine frau sprach mit ihrem hund. fast jeder hatte eine reihe
von dingen und tüten dabei. bald kam sich fleck seltsam vor, dass er
keine tüte dabei hatte und sich doch noch dazu so schlecht auskannte.
aber nett waren sie, das musste fleck ihnen lassen. wenn er oben beim turm
wäre, dachte er, dann würde er sich aufs fahrrad setzen und sich
hinabrollern lassen!
für wen oder was sie das
nur alles umherschleppen, fragte sich fleck. was sie bloß damit wollten?
der zahn der zeit wird es ihnen wegfressen, noch ehe sie sich über ihren
besitz wirklich erfreuen können!
fleck stieg mit einer art gleichgültigen
gelangweiltseins an der nächsten station aus, im bewusstsein, falsch
gefahren zu sein. um einen großen turm ging es herum, einen stadtmauergraben
entlang. hinauf, hinunter, ins verhaltene licht. dort erstrahlten ein paar
lampions. und viele menschen hüllten ihn ein, gesichtslos. da war der
hauptplatz, dessen name so wohlklingend war, dass er ihn eine zeitlang sang.
hier gab es eine unterführung. man kam auf einem weiteren platz heraus,
wenn man dort hindurchging. er vernahm ein buntes treiben auf dem platz, beleuchtet
von kleinen warmen laternen, läden waren da. und dächer, quer über
den platz gespannt. er mochte diesen platz sofort. und oben, auf der anhöhe
(das sah er aus der entfernung) standen unvermutet seine eltern und wollten
mit ihm nach hause fahren. wo immer das gewesen wäre. fleck freute sich
kurz darüber.
einen moment erschrak er, weil
er den namen der trambahnstation vergessen hatte. er blieb stehen und überlegte
sich den namen, es war irgendetwas wie Kirchheim gewesen ... dass er sich
nie diesen albernen namen merken konnte! er wollte erst nicht weitergehen,
bis ihm der genaue stationsname wieder eingefallen war.
fleck betrat eine dunkle kammer,
und noch bevor er verstand, warum er nun in diesen raum gelangt war, sah er
sich bereits umstellt von bewegungslosen menschen. ein herz hätte ihm
bis zum hals schlagen müssen, doch fleck verspürte nur einen kleinen
anflug von furcht. metallisch kühles licht ging an. er schritt vorsichtig
auf eine reglose personengruppe zu. im näherkommen bermerkte er ihre
gespenstisch kalten gesichtszüge. die menschen waren in hautenge overalls
gekleidet: kühles orange, kühles blau, die gesichter der menschen
waren stark idealisiert. sie sahen aus wie models. sie bewegten sich nicht.
sie sprachen nicht. manche der gesichter hatten einen silbernen glanz, in
dem sich bläuliches neonlicht spiegelte. sie zeigten keine regung.
es waren leblose erstarrte puppen.
sie standen jede in einer muschel, einer art edelsteindruse, die in allen
möglichen farben funkelte. durch den raum schossen laserschnelle lichtblitze.
auf dem boden verlief ein muster, das sich schachbrettähnlich ausbreitete.
an dessen schnittpunkten, von dioden erhellt, verschoben sich die quadrate
zu rauten, rhomben und parallelogrammen. je nach lichtblitz änderten
sie ihre farben. der raum besaß eine unbeschreibliche höhe: eine
halle, deren dach er nicht zu spüren meinte. fleck sah kein dach, fühlte
nur die umgrenzung von wänden: die decke war komplett schwarz. einige
der puppen standen ohne drusen auf dem kopf. es gab kein oben und unten. je
weiter er sich in den raum hineinbewegte, desto mehr puppen wurden es. sie
wirkten eigenartig tot, eigenartig geschlechtslos und hatten alle das gleiche
gesicht, jedoch unterschiedliche frisuren. ihre glatten köpfe blitzten
im kalten licht.
als fleck an sich hinabblickte,
trug er einen ebensolchen overall wie die puppen. er lag hauteng an und war
ein dünnes gewebe, das fleck gar nicht spürte. er fühlte sich
nackt. (war er ebenfalls eine puppe?) doch er bewegte sich ja und stand in
keiner druse.
nun bemerkte fleck, dass sich
bei seinen schritten nur der boden bewegte (oder vielmehr nur das leuchtmuster
darauf), aber die puppen wesentlich langsamer auf ihn zukamen. eigentlich
bewegte sich nur das muster des fußbodens; vielleicht war alles illusion?
überhaupt konnte er selbst nur roboterhafte bewegungen machen. seine
gliedmaßen ruckelten abgehackt, als gäbe es irgendein unsichtbares
raster, in das ihre bewegungsabläufe eingezwängt waren. auf einer
großen schwarzweißgemusterten tafel am ende des raumes schwang
sich grell ein türkiser schriftzug: Ballhaus stand dort zu lesen.
fleck näherte sich in abgehacktem
gang einer puppe. es brauchte große anstrengung, ihr nahe zu kommen.
als er ihr nahe war und in ihr gesicht blickte, erkannte er nach einer weile
die gesichtszüge von james dean!
nun begannen auch die anderen
puppen, sich zuckend zu bewegen, aufeinander zuzugehen und den raum zu erkunden;
und in ihren zaghaften bewegungen erkannte er dieselbe leise furcht wie bei
sich selbst. er erschrak heftig bei der vorstellung, dass sie alle
genauso wie er kein herz haben könnten. in diesem moment verzehnfachte
sich seine angst. und er las gleichzeitig dieselbe angst im innehalten aller
im raum anwesenden!
ein schreckliches ahnen erfasste
ihn: alle figuren im raum einschließlich ihm selbst waren james dean!
er fasste sich an sein gesicht und bemerkte, dass es ebenfalls aus plastik
war! und nun registrierte er die bewegung, die anstrengung der anderen puppen,
die ebenso umherirrten wie er selbst und alles betrachteten, sich nacheinander
plötzlich alle ans gesicht fassten. denn nur auf den ersten blick schienen
sie reglos, aber sie mühten sich in winzigen schritten genauso ab wie
er, sich nahezukommen. alle hatten sie ebenmäßige, glatte, fast
eisige gesichter.
dann endlich, nach langem weg,
stand er antlitz zu antlitz mit einem james dean. fast durchzog ihn schon
ein hauch freude, und er meinte auch, bei james ein wenig freude zu sehen.
wenigstens erhellte einer jener bunt durch die gegend schießenden lichtblitze
kurz sein gesicht. wer sich nur dahinter verbarg? noch schrecklicher wäre
es, dachte fleck, wenn er selbst alle diese puppen wäre,
nur gespiegelt, nur in ein ebenbürtiges james-dean-korsett gepresst ...
ein geräusch drang ganz
nahe an sein ohr: als ob sich ein reißverschluss zuzöge, der seinen
atem gänzlich abschnürt. fleck hielt sich die hände vor sein
gesicht. er blickte nur noch durch die zwischenräume seiner finger hindurch. und alle puppen im raum hielten sich die hände vor ihre gesichter!
eine weile konnte er sich vor
schreck nicht rühren. er stand stocksteif wie eine puppe. eine schreckliche
ahnung fraß in seinem magen. doch als er über einen ausweg aus
dieser lage nachdachte, kam ihm plötzlich, dass alle <auswege>
nur aufschübe waren;
einen ausweg gab es nicht
es gab eine menge türen,
die scheinbar nach nirgendwo führten. er nahm eine solche tür, leidenschaftslos,
und floh.
fleck stand plötzlich draußen.
es war dunkle nacht, im ersten augenlick sah er nichts, nur dunkelheit. seine
augen mussten sich erst ans dunkel gewöhnen.
wo sollte er nun hingehen? zurück
zur trambahnstation? weiter nach Kirchheim? in einen außenbezirk? befand
er sich noch in der Großen Stadt? er ging ein wenig umher, um seine
lage zu erkunden.
ehe er sich versah, war er durch
eine andere tür wieder in eine kammer geraten, in der aufzüge ankamen.
zuerst sah er sich um, blickte auf die chromblitzenden aufzugstüren,
sah sich mehrmals selbst in den verspiegelten wänden, die verschlossen
waren. er war so froh, dass sein spiegelbild überhaupt noch ein gesicht
hatte. obwohl es sich fast vollkommen aufgelöst hatte und so gut wie
keine individuellen züge mehr hatte, erkannte er sich. seine haare, ein
perückenhaft verfilzter blondschopf, dazu sein eigentümliches starren
durch stahlgrau verhärtete mündungen ein blick, der ihm selbst
eindringlich (schmerzlich) ins innerste bohrte, so dass er augenblicklich
wegsah.
eine weile stand er vor der anzeigetafel
und las die nummern: ein aufzug fuhr nach oben, ein anderer kam ihm gerade
entgegen.
fleck berührte eine sensortaste,
die sofort nach der berührung rot aufglomm. schon nach kurzer zeit hielt
ein aufzug und öffnete mit einem eleganten zischen die tür. darin
war nichts zu sehen, nur eine knopfleiste. nach oben wollte er, heraus aus
diesem schacht. alles war so blitzsauber und mit freundlich sterilem aluminiumglänzen
versehen. es gab keine schramme, kein staubkorn, auch nicht die kleinste faser
lag umher. höchste perfektion.
der aufzug schien sehr schnell
zu fahren. es drückte fleck fest auf seine schuhsohlen. er hörte
so gut wie kein fahrgeräusch. wie zuvor kündigte wieder eine freundliche
weibliche stimme von band das geschoss an. dort angelangt öffnete die
tür selbsttätig.
6 nachtfährte
er
ging durch den ausgang und stand auf einer plattform: eine metallkonstruktion,
auf der reger verkehr herrschte. fleck stand auf einem ponton, wie ein angler
auf einer klippe steht, und blickte hinunter, wo eine kreuzung zu sein schien,
die mit einer glasüberdachung überdeckt war. er roch keine abgase.
autos fuhren blitzschnell, wie geschosse, in beiden richtungen unter ihm hindurch.
dort waren auch schienen. er war scheinbar in der nähe eines bahnhofs,
nach der vielzahl der geleise zu schließen.
fleck wurde schwindlig auf den
beinen. das schweigen der schlote. vakuum. brückenbögen. fleck ging
ein wenig umher, kam an leere plätze, sah eine ranzige stiege, leitern,
eine verlassene sitzgruppe, bestehend aus drahtstühlen im halbkreis;
am boden lag erbrochenes, lagen glasscherben. weiter hinten bemerkte fleck
eine bushaltestelle. hausecken klafften wie scharfe angriffslustige klingen.
das spazierengehen und erkunden,
die vielen eindrücke ermüdeten ihn sehr. nachtland, nachtbeleuchtung,
nachtschneegrieseln. er fühlte taube finger.
eine weile betrachtete er das
gusseiserne gestänge, das mit nieten verbunden war und blauschwarz glänzte.
mächtige stählträger liefen in der mitte zusammen und waren
mit seilen abgespannt.
fleck steuerte auf eine gläserne
pyramide zu. als er sie erreichte, stellte er fest, dass sie rundherum geschlossen
war. an der türe befand sich ein automat, der sich anscheinend öffnete,
wenn man geld hineinwarf. im inneren dieses glashauses war nichts zu sehen
außer einem seltsamen schimmer, dessen farbe er noch nicht einmal eindeutig
bestimmen konnte. am ehesten leuchtete es grün. fleck äugte hinein
und erkannte eine winzige lichtquelle am boden. querlicht fiel durch das verdunkelte
glas herab. er ging weiter.
es fror ihn. er hob die hand
an den mund, atmete auf seine finger. unentschieden liefen seine beine einfach
weiter geradeaus. (unterwegs wohin?) er fühlte keinen wind. nicht einmal
sterne auf der haut. nur kalten frost. fleck hätte lust gehabt, in einen
dieser züge einzusteigen und sich irgendwo hinfahren zu lassen. er wäre
dann schon irgendwo herausgekommen. das ganze leben bestand ja darin, irgendwo
einzusteigen und woanders wieder herauszukommen. sich hineinwerfen, sich davontreiben
lassen, oder gar aus einem fahrenden zug aussteigen
für einen moment begeisterte
ihn das!
die formen, die sich einfach
aufgelöst hatten: sterne, rauten, punkte. er fühlte sich einfach
nur schwarz. wenn doch alles (die welt, das abwärtssteigen, das leben)
wenn die farbe des lebens wenigstens lila gewesen wäre!
noch nie in seinem leben hatte sich fleck so fern gefühlt: fern von allem,
fern von jeglicher berührung, fern von allem leben. und vielleicht war
dies der einzige erträgliche zustand: zu einem kühl metallischen
wesen zu mutieren, das ähnlich kalt und unbeherzt wie all die automaten
war? eine james-dean-puppe?
die scheiben der vorbeihuschenden
gefährte waren verdunkelt, so dass er die umrisse der menschen darin
nur ahnen konnte. dort, wo er stand, sah er keine person. keine personen!
(gab es überhaupt menschen?) fleck konnte die nacht mit seinen augen
nicht durchdringen. womöglich war es um ihn herum längst tag geworden
und die geschäfte hatten vielleicht schon geöffnet. er war gefangen
in einem kokon aus dunkelheit.
come on baby let the good
times roll!
las er auf einer litfasssäule.
eine frau zog genüsslich an einer zigarette. die buchstaben der marke
auf der abgebildeten packung waren so groß wie sein ganzer körper.
die frau lächelte. fleck betrachtete für einen augenblick seinen
schatten im vergleich zur größe der hand mit der zigarette. tausendfach
plakatierter wall: das lächeln prangte x-fach kopiert auf dem papier;
vielfältig, beliebig, wertlos.
es war eigenartig, von nichts
getrieben zu sein, wie all diejenigen um ihn herum (und dennoch ziellos wie
ein stück papier umher zu wehen!), die alle scheinbar einen termin hatten
oder aus irgendeinem grund in eile waren, die er aber nicht einmal sah.
er spürte sie. er spürte ein tausendfältiges anonymes umwimmeltsein,
beiseitegedrücktwerden, ellenbogenrammen; fühlte sich unwichtig
und unsichtbar, ja sogar unsinnig, weil nicht zugehörig. fleck war ein
fremdkörper in all dem treiben und getriebensein. womöglich starrte
man ihn an wie einen irren oder einen geist, der herumwandelte völlig
ohne zeit und raum in den proportionen dieses dunklen nachtspiels längst
verloren
wie er wohl hinuntergelangen
konnte zu den zügen? die beschilderung war spärlich, bestand aus
lauter zeichen, die er nicht verstand: es waren symbole mit schwarzen menschenkörpern,
eigenartig transformiert, in funktionalitäten zersplittert; gehend, wartend,
treppensteigend: zeichen einer mysteriösen geheimsprache (codes, chiffren),
die andere (nicht ihn) unterwiesen
ein endloser schatten tauchte
ihn ein, umhüllte ihn, barg ihn. mit schattenbeinen ging er, mit schattenaugen
blickte er. (war er unsichtbar?) abgestufte stationen u-bahnhof gelichter
schilderwall eine aufschrift: Bitte Bahngleis nicht betreten.
lochkartenfassade, städtebauliche implantation, amputation, galante drift,
schneekahl, fetzen wald, splitterwiesen, strommasten, oberleitungen, bahnsteige,
baukörper, plattformen, betonwälle, sekundenzeiger, gerade, verschoben,
gebogen, trigonometrische unterwelt: basement, selbstöffnende türen,
parfumherzen, kribbeliges flirren der schneeflocken auf seiner zunge
(die nacht aufessen)
doch fleck würde nicht in einem zug fahren, sondern auf ihm sitzen wollen; er wollte in einen fliegenden
zug einsteigen, der von seinen geleisen abhob und mit ihm durch die lüfte
flog: wie eine glitzernde schlange (gläsern) hoch oben über die
funkelnden dächer und balkone und penthouses und parks und industrieanlagen
der stadt fleck würde von oben ihre häuser sehen, ihre plätze,
schlote, kräne, sportarenen, hügel, wälder, seen
oder lieber doch zurück
ins völlige dunkel? in einen raum, in dem völliges dunkel herrscht:
eine sonnenlose höhle. das könnte angenehmer sein als dieses übermaß
an licht, das über und über vor bewegung und funkelnder helligkeit
brauste, und dennoch gleißendes niemandsland blieb. warum sich alles
mit einer atemberaubenden geschwindigkeit bewegte? warum alles so kühl,
so geruchlos, so sauber, so makellos war? warum nirgendwo jemand war, der
mit liebe und gelassenheit all die vorteile des sauberen, schönen, glattpolierten
nutzte?
seine augen hatten mühe,
die optische flut zu erfassen, die auf ihn von allen seiten einprasselte;
fleck stand minutenlang mit offenem mund. eindrücke schienen durch ihn
hindurch zu treiben
verschweißt verspiegelt
unberührt anonym ziffernblätter haarnadelsekunden ticker sekundengenaues
ankommen. etikettiert gestempelt nachtzüge in linie schlafwagen. stimmsalven
in wachträumen wahnträumen multipliziert und zusammengeheftet. totale
kontrolle kameraüberwachung auf plätzen und leeren flächen,
aufmarschplätzen, exerzieralleen: achsen, gerade, axial und zum quadrat
genommen. entleertes bewusstseinsareal. fixpunkte, koordinaten, bezugssysteme;
katheten, hypotenusen, tangenten, sekanten, diskanten
es wurde zeit, in den zug einzusteigen.
unter ihm fuhr mit aerodynamisch abgeplatteter schnauze ein großer weißer
zug in den bahnhof ein. fleck gab sich einen ruck
er stieg schnell die metalltreppe
hinab und spürte kühlen fahrtwind. glück ist die beste Unterhaltung,
las er auf einem plakat, das für den besuch der spielbanken warb. der
zug kam mit leisem zischen zum stehen. die türen öffneten beinahe
lautlos. vorsichtig trat fleck ein. die türen schlossen mit hermetischem
geräusch. danach ertönte ein herausgebelltes: <zurückbleiben
bitte!>
7 lichtwall
spiegel
sausten wie flüssiges metall, der bahnhof schwebte unter schwarzen himmeln
davon; flache formen; periferien; vage vorbeihuschende landschaft; graue steppe;
landschaftvolumina; unbewohnte balkone; zäune; paradoxien, ohne befund.
plakate, schriftzeichen, lichtpunkte,
dann ins dunkel, hinein in eine betonröhre, grau und mit kabelsträngen
ausgespannt: dann graffiti (fetzenwahrnehmung) sich auflösende gesichter
heften an gesichtern immer schneller treffen sich pupillen an pupillen gesprächsfetzen
verstecken sich mädchen hinter mädchen mit eis im stehen neben ihm
lacht ein pärchen wendet den blick notsignale zeit gleitet lautlos leises
beben (ding dang dong) eine automatenstimme spricht <nächster
halt > fleck hört nichts mehr erneut licht gekachelter
bahnhof (pupillen ruckeln beim blick durch die scheibe) erleuchtete nervensysteme
anatomien über glanzpolierten abkantungen lichtbruchstelle schmilzt seidenweiches
plexiglas watteweiches gelee in schwarze flügel abgedichtete laibungen
isolierschaum
glasplatten in reihung, hundertfach,
tausendfach, unendliche arkaden der gleichgültigtkeit: das samtpelzige
grün der patina bleckt galantes türkis. lichtpassagen weisen fleck
ab; blicke huschen verstohlen durchs milchglas, unsichtbar, aus dem versteck;
verwaschene ätzradierungen, weichgezeichnete traumkanten (auf einem plakat: she loves me), spielzeug im überfluss, kunterbunte lichterzüge,
glühlampen (glühpunkte), werbemelodien kondensieren auf der außenhaut
& fressen sich löcher in konsumierfreudige ohren; glastüren
mit alarmanlage
todesvisionen auf werbetafeln,
werbemonitoren, gleißende schnell drehende schnell wechselnd geschnittene
wechselwelt (wechselbalg), kurzszenerien, clips, sequenzen, augenweiden, cartoons,
große tafeln: Wir wünschen Ihnen einen schönen Tag! in der
warenauswurfwelt. glühtrasse glühende großstadt speckland
süße versuchung hereinspaziert! lichtwall (lichtschwall)
sand- und menschensturm, überriss, (historisierend) von hinten oder vorne
backsteingraue öde, kalkverputzt. ein schriftband schmückt den xxx-platz
im vorüberflug, warten auf die verlangsamung (aus dem zug springen) den
bremsschub leise in den gedärmen. fantome (unsichtbar) suchen an stangen
halt, schieben zur tür, greifen nach dem türhebel
wieder das kaum hörbare
schnarren der türfeder. fleck stieg aus, die tür hinter ihm schloss
lautlos. er eilte inmitten einer bewegenden kraft (orientierungslos): masse,
die nach allen richtungen strömte, ein teil der masse nach links, ein
teil nach rechts. die masse strömte auf die rolltreppen, ergoss sich
rechts stehend, links vorbeigehend, durch oranges licht; zähes schieben
nach oben. hinaus, schnell hinaus. durchsagen, abgehackte melodien
(jazz?), schwindlige höhen, gänge (neon) über sitzbänke,
barrieren, schleusen, drehkreuze. polizisten vor kassenschaltern, kontrolleure
in blauer uniform. die masse kam (automatisch) nach oben, ergoss sich zeitlupenhaft
in drei richtungen zu drei ausgängen
fleck fühlte die drift der
masse im dunkel, die ihn erfasste und wie ein ausschwärmender körper
aus silbrigen fischen mitriss, mitzog, er mittendrin, unentwindbar, ein teil
des ganzen
fleck trieb willenlos, ein papierschiffchen
in großer flut, auf einen der ausgänge zu, irrte beliebig durch
die straßen, durch die ein kalter windhauch blies, der die häuserschlucht
noch weiter aushöhlte und in die länge zog wie geronnenes blei.
der wind zerrte ihm an allen gliedmaßen. in ihm wogte der ruß
(das abgestorbene, das lichtlose); verbrannten gesprochene worte in der luft
zu kohle, ruß, aschefetzen
der asfalt war ein totes meer,
eine nachtfarbene platte, die gischt wie ascheflocken sprühend (kalte
lava). auf der haut fühlte er ein frösteln. flockiges licht (weichgewaschen)
warf gebrochen an einer mit spiegel beklebten kugel lichtblitze in den raum,
erhellte schattensäle. nachtgesang asfaltfluss, flutende bäume
in seinem kopf in einem meer von häusern. das müde licht (blau,
kalt, leer). der geruch der dunklen bäume, das dunkle überhaupt
um ihn, das nie abebbte; die blinden hauseingänge
stühle standen leer vor
haustüren
totes meer; absenz; knochen;
ausgeschältes leuchtgerippe der nacht. endlose strahlerkette, laternennetz,
nachtfluter in einer baumstruktur, die stadt erleuchtend. keine gebete. (beten
bäume?) ausgeschälte abszisse des neonlichts; nachtpsalm. der stumpf
der nacht ragte über die stadtkulisse: eine schwarze sonne (sonnenfratze),
auf den dünnen grat einer antenne postiert
flecks augen flackerten im dunkeln,
als er vorüberging. straßenlaternen; schmerzgrenze (entartet).
ein werbeplakat blätterte von der wand, vom fahrtwind bewegt (bewischt)
flattern fetzchen, haltlos
liebe!
was für ein wahnwitz das
sei, und wie sich die menschen damit aneinander ketten, sich scheinbar damit
vergnügen, begehrte es in fleck auf. gibt es etwas diffuseres? etwas
schwammigeres? etwas, das noch mehr zum scheitern verurteilt ist? als zwei
menschen, dachte fleck, als zweisamkeit. zwei menschen sind nun einmal zwei
menschen, sie könnten nicht einfach verschmelzen oder eins werden. überhaupt
sei das <miteinander> gar nicht möglich. überhaupt könne
jemand nie eine ganze person lieben, sondern immer nur anteile dieser person.
überhaupt enstünde das ganze leid erst, weil die liebe die welt verdorben hatte.
fleck verbarg seine augen in
den handflächen. er mochte blind werden. regloses nichts; ampelfasen;
rotes grellrot: durch die straßen ging es ihn hin. es wehte ihn, trieb
ihn hindurch. die straße ging fleck; wie einen wirbelwisch blies es
ihn durch die straßen. die jacke, die an seine ohren trommelte; die
nacht füllte sich. die nacht verdickte. die nacht quoll wie die tunke
des himmels: jeder blitz
für einen moment
als er das laute krachen (die wut) des himmels hörte, fühlte fleck
sich frei und erhört
jeder blitz war ein willkommensgruß.
weißes licht erhellte die taube nacht: eine kühlerhaube blendete
kurz im zurückwerfen des grellen lichtstachels. das schiere ausatmen
des donners zerschmetterte die stille; totes gärte, dahingeworfen. herbe
lüfte. fysikalisch kalt knisterte funkenübersprung. (nichts ist
anatomisch)
ein oranges blinklicht (leer)
flackerte willenlos geschaltet durch die nacht; musik (ewigkeit); verriegelte
jalousien, heruntergelassene eisengatter vor geschäften. häuserfluchten.
dahingewelkte arkaden. monotoner markt auf dem stadtplatz. das treiben der
menschen kam fleck gespenstisch vor, es schien ihm, als sei es um alles dunkle
umwölbung herumgespannt: eine undurchdringliche hülle, in der sie umherliefen, aneinander vorbei geschäfte trieben, arbeiteten, als schliefen sie bei tage; oder nie
das grün, das gelb, das
zartbraun der häuser im kahlen licht; eines wie das andere. der boden
lief fleck. nirgends eine einkehr. nirgends fand er etwas wie eine reibungsfläche,
einen anhaltspunkt irgendetwas, das ihm etwas sagte, ihn zum innehalten
und gar zum verweilen einlud: die räume, die sich ihm auftaten, wurden
immer noch größer, noch gigantischer, noch weitläufiger: nun
hatte er endgültig die orientierung verloren und war sich auch über
seinen rückweg nicht mehr im klaren. doch wo hätte er hingehen sollen?
ein zurück gab es nicht. wo hätte ihn Artesiana hinbringen
können?
er suchte nur noch nach sich
selbst
8 totentuch
fleck
fand marmorböden, fliesen, leere plätze nach mitternacht. darin,
in schaufenstern (ein perverses gebräu aus licht): illuminationen, gespiegeltes
gepränge, daneben schwarze hallen, frierendes zischen, plastiksäcke,
abfalltonnen. er querte kalte kirchen mit basaltenen palisaden (abweisend
und leer). mörderische foyers; trieb in spiegelblanke, verblasene kurven,
öde straßen, die sich in abrupt endende sackgassen ausliefen, straßenkeile
und spitze winkel, aus denen ein trampelpfad über ein matschiges feld
wies
dabei hatte sich emmy ebenso
aufgelöst wie sich alle menschen vor ihm auflösten. zuletzt gab
es zwei personen, die ein wenig waren wie emmy. da war jene süßliche
frau um ihn herum, die ihn immerzu herzen und lieb haben wollte, sich selten
mit ihm wirklich zankte; die ihm alles nachsah und ihn mit ihrer affenliebe
mehr erdrückte als ihm gut tat, das war emerald. doch emerald hatte immer
wieder ihre maske heruntergezogen und ihr anderes gesicht gezeigt, erinnerte
sich fleck: sie wurde laut, fahrig, wütend, sie wurde gewalttätig
und schrie ihn an, wollte ihn aufwecken, ihn von seinem schatten befreien.
wenn sie nicht gerade über ihn lachen wollte. sie bekam dann eine andere
stimme wie emerald; sie hieß mylinda.
fleck konnte die schwere sonne,
die wie eine träne über seinen himmel zog, niemals wegwischen
die zeit riss ihn mit sich; bald
konnte er überhaupt nicht mehr sagen, ob es tag oder nacht war. es war
alles gleich. es war immer nacht. er sah sich gefangen in immer neuen raumpartien,
kam erneut zu u-bahn-eingängen mit verriegelten toren, mitternächtlichen
schlünden, katakomben, höhlen, minen, untergängen, unterständen,
untertagebau. blaues neon kreiste, bohrte grell in seine augen. auf den pflastersteinen
sah er schaumkronen und schaumballen herumkreuchen, stupste mit seinen schuhen
an müllgekröse und papier, stieß an zerknüllte verpackungen.
es roch nach verbrauchtem leben. irgendwo drangen helle schreie aus einem
geöffneten fenster, musik tirilierte, viel zu schnell abgespielt, stach
ihm fein und piepsig ins ohr. buntes licht flackerte schwelend hinter den
scheiben
ventile schnürten ventile
ab: fleck fühlte diese stadt als riesiges system aus rohrstücken,
ventilen, armaturen, die sich gegenseitig das leben abdrehten. vorbei ging
er an gräben und hinterhöfen, betrachtete kabeltrassen, schleppte
sich über wirtschaftswege, wendezonen, feuerwehreinfahrten, verlassenheit
ziellos und ungesteuert gelangte
er schrittweise eine steilrampe hinauf, blickte von oben hinunter wie in ein
loch: stählern wanden sich fluchttreppen in flüchttürmen abwärts,
ringelten sich spindelförmig zu gewerbeflächen hinab, ragte stacheldraht
vor silos, werbetafeln, absperrungen
dabei schien alles flott und
bunt und wohlgeordnet zu sein! und so schön! sogar so etwas wie eine
sonne schien zu scheinen. die stimmung war heiter und ausgelassen; so zumindest
fühlte fleck es um sich herum. wenn er wenigstens die menschen sehen
würde, die er allerorts spürte: doch es war wie ein teig, der ihn
mitriss, ein gefühl, breitgetreten und mitgewalzt zu werden, von einer
massenwoge geschluckt. dazwischen immer wieder (tonspur verwischt) kurzzeitig
geräusche wie aus einem radio mit unterbrochenem empfang: musik, durchsagen,
werbung. er spürte den verkehr fließen, obgleich er nichts davon
sah, außer einem dumpfen, diffusen glitzern und aufflackern von lichtern
(ausgestoßene helligkeit), das mit einer vielzahl prickelnder, glühender
augen in die seinen bohrte. er spürte einen sog, spürte geschwindigkeit,
spürte schnelligkeit
wo hätte er hin gekonnt?
wenn sich nicht vom allgegenwärtigen strom mitreißen, aufsaugen,
verschlucken zu lassen? als unsichtbare glaskugel unter einer millionenfachen
flut an glaskugeln erdrückt? fortgerissen? zermalmt?
fleck hielt sich an einer laterne
fest, atmete schwer. das drehen, das kreisen, das vielfarbige gefunzel drehte
ihm schier den magen herum; er verlor sich. selbst seine augen fanden keinen
halt mehr
wo hätte er sein sollen?
die nacht war lebhaft; nachttaumel;
die blüten des dunkels. licht verhuschte nebulös, nacht rann. straßen
rannen in tränen und versunkenheit und totem fluss durch täler und
senken,
die nacht saß mit ihm auf
bänken, vergeblich und traumlos, ein totentuch (schwarzer ausfluss):
umgehungsstraßen schlängelten sich nach und nach um ihn herum
verschoben, verdrängt, verlassen. untergehend flackerte verfinsterung,
verhallte steinernes gebet.
oberleitungen, botschaftengeblinke,
gleißende reflexionen der reflektorpfleile: die stadt formierte sich
zu einem bündel aus zubringerstraßen, brücken, linksabbiegerspuren,
rechtsabbiegerspuren, autospuren: unentwirrbares kleeblatt der nacht, spuren,
sarg. selig das tote laub. weißblech konservenmüll
(an einer hauswand stand: liebe
machen)
gab es hotels? unterkünfte?
notunterkünfte?
psalmenerde; überdruck;
samtwallender katafalk
was hätte fleck nur für
ein wenig feuer gegeben?
er durchschritt leeres gelände,
streifte entleerte distrikte und sperrzonen, überquerte unbeleuchtete
einkaufspassagen, ging durch fußgängerzonen, lief unruhig über
zebrastreifen in eine traumwelt. setzte fuß vor fuß, sohle vor
sohle, schwamm durch wellen, massenwellen, maschinenwellen; nebelnacht; fleck
glitt wie ein fantom durch werbebotschaften, synchrone schwingungen, spürte
nieselregen auf der haut, verfärbte ins lila
da war der wille, die welt leise
anzufachen, sie in brand zu setzen
ein übersprungsreflex: ganz
sacht und nur mit einem hauch sprühten erste sonnenstrahlen durch das
tiefblau (perforierte nacht) der aufgeheizten atmosfärischen schichten
und erleuchteten den himmel wie eine vielfarbige kuppel. der morgen zog herauf,
beginnend in hellblau. fleck stand vor einer gelbschwarzen schranke und ging
darum herum. er gelangte in eine baracke, tastete sich durch das halbdunkel,
verließ sie gleich wieder
er kam an einen großen
runden platz mit einem uhrturm, einige buden standen da, mit frischem obst,
gemüse, blumen. fleck sog den geruch in die nase, verspürte ein
paar wenige regentropfen, labte sich einen moment an der kühlen luft.
das tote laub.
9 material
als
sei er endlos im kreis gelaufen, kam er bald auf einem schönen platz
mit weißem kalksteinpflaster heraus, an einem fluss, dessen namen er
nicht kannte. vor sich sah er die überreste eines marktes: feuchten,
nass gesprühten boden, ein geruch stieg ihm auf, nach abfall, nach totem
tier, nach blut.
schuppiger fisch lag in der lake.
fleck atmete das bitterfaulige des blutes, eingetrocknete fäulnis. einen
moment musste er sich angewidert wegdrehen, es hob ihm den magen. das bläuliche
rot. blut im gärprozess; blutschuppen. der abschaum vermischt mit den
düften rohen fisches, der scharfe strahl eines wasserschlauchs wusch
das blut hinweg.
spülte es fort: heißes
wasser wurde über den platz gesprüht. eine rotbraune flut war entstanden.
er sah vor sich die wasserbrunnen, die gekachelten verkaufsküchen, die
rohen hände der fischhändler und fleischhauer, die leidenschaftslos
und blitzschnell an den fischen herumsäbelten, ihnen mit scharfen kurzen
messern die innereien herausschnitten, die sogleich auf häufchen unter
dem tisch verschwanden. die erstarrten glotzaugen der fische; das graue gesupp
der überreste, der häute, flossen, gräten; hergerichtet, herausgeputzt
und dekoriert, wie bei banketten, auf bergen von eissplittern: der thunfisch,
der hai, die makrele; und rot die panzer der krebse, der hummer, der langusten
(ihre fühler); als kind hatte ihn all dies unsagbar angeekelt.
zum ende wurden die toten fischreste
mit groben besen aufgekehrt, hunde und katzen stupsten mit ihren schnauzen
an das gewöll (die köpfe, die häute, lebern, nieren, blasen,
mägen) rissen mit ihren tatzen daran herum, fraßen das aas, verabscheuten
die innereien. später, wenn der fischmarkt vorbei war, die fliesen gesäubert
waren, glänzte alles rein, und nur noch als ahnung lag der geruch toter
meerestiere in der luft
abgeschilfert die nackten launen
des fisches.
fleck machte die augen zu: lautlose
lichttümpel, in denen sich die sonne stechend gelb verfing, an den bärten
und moosen des dunkels. gehäutete augen, als hätte es sich kurz
eine sonne einmal eingefangen und das makellose blau der geschuppten wellen
bespiegelt.
im geist sah er die freundlichen
fischer, in erinnerung der geruch des hafens, die bunten boote am quai: auf
dem fischmarkt bei barcelona. durch die luft sausten ihre versteckten zeichen
bei versteigerungen, solange sie beim verkauf ganzer fischladungen mitboten.
das geschrei in den fischhallen. fischreste. speckiger abfall. ranziges, totes
plastik. seemannstau.
und wieder schoss es ihn durch
rohre, rohrstücke, kanäle abwärts und aufwärts, schwemmte
es ihn mit zäher gewalt auf und ab, immer mit dem gewaltigen strom, der
nirgends ein ende hatte.
fleck sah noch vereinzelte imbissstände
hinter dem markt. marktschreier priesen ihre ware an. für momente sah
er etwas, riss es ihn wie während einer kurzen aufklarung aus dem dunkel
heraus wie aus der isolation; es war ihm, als hätte er für augenblicke
eine alles verdunkelnde brille abgenommen.
nun hörte er auch das reden,
das murmeln, das lachen der leute, sah ihre gesichter, sah, wie sie ihn ansahen
(selbst die sonne war jetzt heraußen und schien ihm warm in den nacken),
spürte im moment eine gewisse fröhlichkeit dabeizusein, dazuzugehören,
prüfte sogar wie im reflex, ob er ein wenig geld habe, um sich auf diesem
markt etwas zu kaufen, doch leider hatte fleck nicht einmal einen geldbeutel,
was ihn sofort bedrückte. einen augenblick blieb er an einem stand stehen,
wo es kinderspielzeug gab. ein junge drängte sich vor ihn und sah zu,
wie er eine kleine windmühle in die hand nahm und den mechanismus des
rades untersuchte. es gab sprechende puppen, bunte bälle, und würfel
aus holz zum auseinander bauen. fleck spielte eine geraume zeit mit diesen
gegenständen und sagte nebenbei irgendwelche dinge zum verkäufer,
der sich darüber köstlich amüsierte. bald war es ihm zu müßig.
er stellte den würfel wieder zurück und wandte sich um.
menschenmaterial, dachte fleck.
manchmal erwachte er inmitten eines gesprächs, saß zwischen ihm
wohl gesonnenen menschen, die er nicht kannte (nicht mehr kannte).
es war ihm, als schäle er sich aus schlaf und träumen empor, irgendwo
zusammengekauert erwachend. das licht (mustergültiges morgengebet) drang
durch schmale sehschlitze und scharten, quetschte sich am rand von schützenden
kanten in seine augen, drang wie gleißende blitze durch die spalten
des schlafs.
allmählich vernahm er das
erwachen des morgens: vogelgebell, gekräh, vereinzeltes geratter von
jalousien, anspringende autos, schlagende türen, (tönern), eilige
fußtritte auf dem pflaster.
und wieder öffneten sich
flecks augen. lichtblasen frühmorgens: unberührte silhouette. die
hände vor den augen, um sich vor dem licht zu schirmen, blickte er wie
durch einen vergitterten ausblick. im schädel das brackwasser einer nacht,
an die er sich nicht erinnerte, zermalmte er mit seinen daumenkuppen die kopfhaut,
punktierte blutwege, massierte nerven. er fing ein seltsames lachen auf, von
jemandem, der vorüberging. schräges querlicht sprenkelte aus dunklen
scharten weitläufig.
bleiglanz der küsten. müll
überhäufte müll. lichtblenden. paneele. bracken. hüllen:
plastikgeleucht. plastikreflexionen. plastikwelten. verkehrsflächen.
transportflure. überbordendes windmeer. die stadt erschien fleck wie
eine riesige halde strandguts
es zog ihn davon, hinunter in
die kühlen basements, in die schluchten und portale der unterwelt.
fleck drehte sich um und ging
den weg zurück in den untergrund. warum die menschen in der Großen
Stadt eigentlich nicht alle nackt gingen und ihre straßen und wege mit
roten feingewirkten teppichen auslegten?
fleck fühlte sich inmitten
eines betondickichts. an einer wand befand sich eine reihe von sitzen. sitzpolster
in poppigen farben, mit einem übermütigen muster bezogen. kein ornament,
nur eine wilde sprenkelung. jedes sitzpolster war haargleich. es fasste sich
an wie glibberiges gelee.
fleck fühlte sich fremd,
gehörte nicht dazu, blieb an den oberflächen dieser stadt förmlich
hängen, ohne in sie einzudringen. er konnte durch ein weit gespanntes
glasoberlicht den himmel nicht wirklich erkennen, da sich darunter ein kunsthimmel
spannte, der wohl zur hauptnutzungszeit ein werbeträger war. eine riesige
leinwand vielleicht, auf der sich nachts ein film, eine show zeigte? es gab
auch keine uhren, wenigstens konnte er keine uhr entdecken, die ihm als solche
geläufig gewesen wäre.
am himmel oder an jener
decke, die er als himmel sah bewegten sich mit einem mal formen und
farben: ein buntes flackern von licht erschien, dazu erklang ein lautes getöse
(das wohl musik sein sollte), fleck flüchtete schnell davon, sah durch
kleine löcher im glasdach kleine himmel (puzzlestücke, getrübtes
blau) wie stücke von gedorrtem holz. fleck ging vorbei an sichtbar vernebelten
trennscheiben, sah blaues monochrom neben isolierglas, betastete aufgeplatzte
farbschichten.
es bohrte in fleck: irgend etwas
entscheidendes schien ihm zu fehlen. immer wieder kam er an lautsprechern
vorbei, erschrak vor plötzlichen durchsagen, hörte züge in
der tiefe unter sich hindurch rauschen ein dumpfes wummern wie unterirdische
bohrungen. hautlos äugte gedämpftes licht, blaue nebelbahn, schatten.
anonym durchzuckte ihn dumpfes unbehagen aus der tiefe. weshalb trafer hier
nirgends jemanden an? weshalb war ihm die geschwindigkeit fremd, mit der hier
alle abläufe, vorgänge, prozesse vonstatten gingen? womöglich
teilte er irgendeine angst, irgendeine befürchtung nicht, die jedermann
zur eile antrieb? ganz gewiss aber musste es ein gewisser druck sein, der
auf ihnen lastete und den er nicht spürte.
fleck spürte nichts, was spürbar hätte genannt werden können.
(wenn er etwas nicht begriff,
war es das davonfließen der zeit. es schien ihm, als würde er stundenlang,
tagelang, wochenlang an einem ort kleben, förmlich anhaften und festeisen,
bevor es eine weiterbewegung gab.)
er folgte einem schild mit der
aufschrift Pretty Park, eine schrift, die sich von den genormten abgehackten
lettern unterschied, da sie aussah wie von hand frei geschwungen. eine rolltreppe,
deren stufen in metallischem lila glänzten, fuhr, als er auf die trittfläche
trat, mit verhaltenem rattern los, hinunter in einen schacht. dort sah er
eine vielzahl bunt flackernder schriften, kam an einem trakt heraus, der die
aufschrift sofortige Erlebniswunderwelt trug.
aus einer vielzahl von der decke
herabbaumelnen lautsprechergehängen kam musik in den raum (weiches geplätscher),
melodien einer big band ohne gesang. dazwischen folgte immer wieder ein ding-dong.
überall standen eine menge geräte umher: spielautomaten, vergnügungsapparate,
wunderkästen. manche von ihnen klingelten mit einem animierenden geräusch,
spielten kurze einfache melodien, sagten ein wort oder ließen ein synthetisch
klingendes tirilieren, blubbern oder quaken hören.
nach einer kurzen weile sagte
eine frauenstimme aus den lautsprechern: <meine sehr verehrten damen
und herren, wenn sie an der heutigen show teilnehmen möchten, dann gehen
sie bitte zum deck 43, dort findet ab 19 uhr eine veranstaltung statt.>
vorbei an leeren restaurants
ging er zu einer treppe. er befand sich in deck 41. überall werbefähnchen:
snow white world; litfasssäulen, plakate, cafés, bars (getaucht
in dunkel) inmitten dieses großen komplexes, in dem es nirgends fenster, ein draußen gab.
bin ich überirdisch? bin
ich unterirdisch? fragte sich fleck.
er stand vor einer verspiegelten
glastür. als er sich näherte, öffnete sie automatisch.
10 catwalk
zerfallender
abend in einem schwarzen café; dunkle blumen; abblendungen; nächtliche
kuvertüre, die alles bedeckt; zerfall; lichtspiel; haltlos braune nebel
kriechen durch dunkle gatter. süße gerüche, verlogener nektar
und parfum auf dem prospekt; hochhaus; spiegelglas; alptraum; zement, sichtbeton,
fassaden, klinker, gesprühte schrift.
fleck hörte laute musik,
sah vor sich eine riesige bühne, auf der halbnackte frauen herumtanzten,
die ihre beine in die luft warfen; das nackte fleisch der beine wirkte auf
ihn wie ein rasant stimulierendes parfum. ein catwalk mit mehreren stegen
zog sich durch den gesamten saal. die damen, die zunächst auf der bühne
aufreizende tänze vollführten, gingen hinter einer spanischen wand
vorbei, und kamen wenig später völlig neu gedresst wieder hervor:
in wallenden samtkostümen (blau, grau, anthrazit), in wogenden froschartigen
gummimänteln, in seidendünnen negligés. überall waren
bequeme sofas und sitzbuchten, in denen die zuschauer (vorwiegend junge männer)
saßen. die roten sitzmöbel waren belegt. hier wurde man belustigt.
hier wurde jeder von einem abendfüllenden komplettprogramm versorgt.
hier sollte sich ein jeder pudelwohl fühlen. sogar ganze familien saßen
in einer gemütlichen runden nische und hatten vor sich ein kleines beistelltischchen
stehen, auf dem ihnen von herumflitzenden weißbedressten bedienungen
getränke serviert wurden; kleine reizvolle rauchig-kühle fläschchen,
die sich mit einem lauten explosionsartigen zischen öffneten, das ohne
hall plötzlich abrupt verstummte. dazu chips und knabbergebäck.
das programm nannte sich Moulin Rouge.
an einer bar, hinter der junge
dandies in edlen schwarzen roben mit blitzweißen krägen standen,
saßen einige leute mit gelangweilten mienen, tranken bier oder erhoben
theatralisch ein auffällig designtes sektglas, rauchten mit spitzchen.
eine frau (kneipengewächs)
am tresen der caféteria hatte ihre beine markant und graziös übereinander
geschlagen. hielt ihre zigarette elegant wie einen zeigestab, den sie zum
gestikulieren benutzte. ihre haare waren leuchtend rot (erdbeerfarben), erhielten
durch den hellen halogenkegel einen feurigen glanz. sie tupfte resolut die
asche ihrer zigarette ab.
fleck stellte sich an die bar
und hörte eine weile dem gespräch hinter sich zu, das, als er sich
nahe dazustellte, ein wenig verhaltener wurde. ein jüngeres pärchen,
das sich über einer zigarettenschachtel an den fingerkuppen berührte,
tauschte sich aus. flecks augen betrachteten lange das muster des fussbodens
aus imitiertem marmor in hellem grauton, dessen lange fugen in ein zentrum
hineinliefen, das kurz vor der bühne liegen musste, überlegte er.
die einzelnen fliesen waren derart gründlich blank gewischt, dass sich
alles unscharf darin spiegelte. der manschettenknopf eines herren an der bar
war so blitzblank, dass fleck einen winzigen moment die reflektion der leuchte
darin wie ein pfeil ins auge stach.
die damen auf der bühne
warfen im bunten lichtgepränge der bühnenbeleuchtung ihre rotbestrapsten
beine in die luft und jauchzten einen moment lang so impulsiv, dass fleck
die ohren weh taten.
blaues neonband beleuchtete die
bar. halogenkegel stachen aus einem gewellten aluprofil herab. die augen der
menschen wichen flecks blicken aus. bemerkenswert fand er die schrägen
übergänge der einzeln sich kreuzenden bleche, zwischen denen immer
wieder schräg geschnittene milchglaselemente eingelassen waren.
es war nicht sein ort. fleck
hatte mit einem mal bedenken, dieser raum könne zuschnappen wie eine
falle. deshalb verließ er, noch bevor einer der bedienungen ihm einen
platz oder ein getränk angeboten hatten, den saal.
ein schild wies zum 4. stock.
fleck nahm den aufzug (hermetisch, verschlossen, blankpoliert). er gelangte
in ein treppenhaus, über dessen geschwungenen galeriegeländern sich
ein riesiges oberlicht befand, das einen vielstöckigen lichthof ausleuchtete.
bewusst warmes licht ergoss sich durch das leicht getönte glas hinunter
in ein atrium, in dem die einzelnen etagen durch rolltreppen miteinander verbunden
waren.
elegante geschäfte lagen
eins am anderen: mode, schmuck, ausgesuchte kleidung, exquisite papiergeschäfte,
konfiserien. ein brunnen aus seltsam verschraubten edelstahlarmaturen sprühte
wasser in kurzen und langen spritzern. dazu spielte aus in den decken der
galerien eingelassene lautsprecher anmutige klaviertöne.
fleck fuhr mehrere geschosse
mit den rolltreppen hinunter und kam bis ins basement.
11 im paradies
durch
die fensterscheiben der erdgeschossebene flirrte die sonne ins dunkel herab.
da war der frühling herausgekommen. auch fleck fühlte es. ein leiser
widerwillen regte sich. er ging an einem gartengeschäft vorbei:
Junipers
Pflanzenparadies
hin- und hergerissen zwischen
den bunten farben des flieders im innenhof des geschäftes und dem willen,
sich zu vergraben, wagte er schließlich einen schritt hinein.
schon der duft beim eintreten:
stark, durchdringend, fruchtig. fleck wunderte sich, als er ihren stark grasigen
geruch einatmete, dass pflanzen so würzig und durchdringend riechen können.
freundliche kaufhausmusik, ideal zum shopping, wie ein plakat kündete.
gleich am eingang lockte ein durch glasscheiben abgetrenntes bistro. von dort
erströmte kaffeeduft. überall liefen grün gedresste verkäuferinnen
umher, die alle arten von pflanzen umhertrugen. menschen, beladen mit blumen
und gartengewächsen, hoben erde, harken, schaufeln, terrakottatöpfe
(kurz: jede art von gartengerät) in ihre einkaufswägen. eine wahrhaft
besinnliche freude am aufladen und aufhäufen ist das, dachte fleck. er
mochte diese seligkeit nicht, von der die menschen befallen sind, wenn der
mai anbricht. das maienglück
all diese fröhlichkeit,
freundlichkeit, mit der sie sich einander wohl tun. jedes ihrer gesichter
ist ein übergriff, dachte fleck. er fand das frühlingsgetue unsäglich.
einen stein hätte er hineinwerfen mögen: in die visage der welt.
in ihr betuliches frühlingserwachen. dabei waren die leute mit ihren
kleinen freundlichkeiten, dachte fleck, hinter ihre gesichtszüge eingemauert:
ein paar sonnenstrahlen genügen schon, die menschen zu solchen kindereien
zu veranlassen! um ihnen jene oberflächliche illusion: <wir-lieben-uns-alle>
einzugeben. frühling hieß diese illusion. was für ein
dumpfes idyll! was für ein unfug. jeder blick, der ihn traf, war eine
anzüglichkeit, eine frechheit gut gelaunten frohseins. diese harmlose
und doofe nettigkeit, die versprüht wurde wie ein parfum! und überall
dieses nette zunicken, zuzwinkern, das ihn allerorts traf wie ein peitschenhieb!
der frohsinn wenn es sonst nichts mehr zu lachen gibt. wenn die starke
durchdringende freude längst eingeschrumpelt ist, das herzchen nur noch
müde vor sich hin tickt dann ist man frohsinnig, gut gelaunt!
sinnierte er. da war kaum die sonne heraußen (diese gelbe unverschämtheit
am himmel), war aus ihrem winterloch hervorgekrochen und ihnen über ihre
stumpfen seelen gerollt, das, allein das animierte sie zum frohsein.
wie grotesk!
fleck hatte die hände in
den taschen und stand einen augenblick halb interessiert vor gartenkräutern,
deren lateinische namen er las. hier gab es allerhand zum selbstanbauen. vor
allem alle möglichen tomaten, zwergtomaten, strauchtomaten, riesentomaten
... daneben radieschen, rettich und erdbeeren.
nimm dich in acht vor blonden
frauen, sie haben so etwas gewisses ... tönte
es munter aus den lautsprechern.
der duft der blumen: verschwendet,
dachte er. was ging die nasen dieser maienbegückten massen, die hier
herumstreunten, dieser duft an? sie konnten doch gar nichts damit anfangen!
ihre nasen waren nicht in der lage, diesen duft wirklich wahrzunehmen. ihre
nasen waren doch dreiviertelst vernebelt von frühlingswonnegefühlchen.
jawohl, gefühlchen. fleck konnte das wort <gefühl> nicht leiden.
und je mehr freundliche blicke
fleck zugeworfen wurden, an diesem schönen maientag, desto mehr vergrub
er sich. das heißt, auch fleck lächelte sie an, aber aus purer
bosheit. das heißt, auch fleck trug seine zähne wie einen patronengurt
strahlend offen umher.
ein gewisser ekel kam ihn an: sie waren immer so. immer bescheiden, nett und freundlich. immer lieb
und herzig und gut zu einander. richtigen hass kannten sie gar nicht, bohrte
es in fleck. auch nicht, was es heißt, böse zu sein, was es heißt,
nichts mit all dem zu tun haben zu wollen: mit diesem frohsinn, dieser munterkeit, diesem lustigsein. was bloß alles damit
verhüllt werden muss; wie viel grabesluft nur diese frühlingsüberschwänglichen
blumenidyllen zudecken sollen! dachte er.
eingemauert in ihre niedlichen
gefühlchen, die sie einnebeln wie der blumenduft, den sie kaufen und
im trauten heim gedeihen lassen. dabei kennen sie nur fünf verschiedene
düftchen: wonne, herzlichkeit, liebsein, nettigkeit und wohlfühlen.
entsagen wollte er allem (zumal
dem sich-ergehen in kleinen gefühlen), fort zu sich selbst, sich eine
weiche mulde schaffen. wo er alleine war. wo es weich um ihn war. eine sandkuhle,
einsam und kühlend; vielleicht eine enklave, in der es noch richtige
kälte gab.
von selbst öffneten und
schlossen die glastüren, als er das blumenparadies verließ. eine
weile hatte er noch das süße gedudel der musik in dem geschäft
im ohr; belanglose klimpereien eines oberflächlichen klavierklimperers,
lästerte es in fleck weiter. was sich so alles <gefühlvoll>
schimpft. ihre gefühle kannten keine weite, verloren sich im klein-klein,
im zweidimensionalen, verstrickten sich, entzündeten sich, waren ablesbar,
normiert, es gab sie von der stange: kleine nettigkeiten, kleine aufmerksamkeiten,
kleine enttäuschungen, kleine wiedergutmachungen, kleine malicen, kleine
versöhnungen. eine hübscher mäusezirkus war ihm das.
dabei kannten sie nicht
den hass aus größe.
12 schwarz
er
trat in eine rotonde ein, die sich vor ihm wie ein gewaltiger schwarzer zylinder
öffnete. er genoss das kompromisslose schwarz dieses raumes. im grunde
war schwarz die einzige farbe, die er ertragen konnte. schwarz war schwarz.
schwarz stellte keine fragen, war klar, eindeutig, war ein klares <nein>
zur farbigkeit, die ihm in vielen fällen bloß irgendetwas unausgegorenes
ins gesicht schrie, was er womöglich nicht mochte. schwarz mochte man
oder man mochte es nicht.
an der seite des runds waren
kleine, sehr grazil wirkende treppenläufe angebracht. fleck stand auf
einem gitterrost und sah unter sich nur schwärze. er trat vor, wo er
von der galerie nach unten blicken konnte.
ein unten gab es nicht.
die galerie war eine umgrenzung der gitterplattform, die mit vielen genieteten
stahlprofilen aufwändig gestaltet war. ein oben gab es genauso
wenig, zumindest konnte er hier kein oben erkennen.
da ging es eine treppe hinunter,
und fleck war beflügelt vom erkundungsdrang, zu sehen, was dort unten
sei. ein pfeil bedeutete Skywalk: zunächst ging es eine flache rolltreppe
hinunter, eher einen laufgang. jedoch war diese stelle wenig besucht. hinter
einer zwischenwand standen ein paar zusammengeschobene einkaufswägen,
lag das glas einer zerbrochenen flasche. stockwerk um stockwerk gelangte fleck
nun immer tiefer. als die rolltreppen endeten, führte eine treppe unter
einem ungestrichenen treppenhaus noch weiter hinab.
fleck kam durch ein portal, das
sich hoch aufrichtete, in einen langgestreckten eher niedrigen raum. als er
sich umsah, war er auf etwas getreten, das unter seinem fuß knackste.
jetzt sah er es.
der ganze boden war über
und über bedeckt mit plastikscherben. da lagen kleine puppengliedmaßen:
kleine füßchen, beinchen, körperchen, ärmchen, händchen,
köpfchen; ganz kleine, mittelgroße, dazwischen ganz große,
die aussahen wie abgebrochene stücke und scherben von schaufensterpuppen;
augen (oder scherben von augen), die ihn ansahen und doch ins leere starrten;
zertretene köpfe, rosige splitter, zerbrochenes. dazwischen büschel
von kunsthaar (braun, grau, schwarz, rot, blond). nylonlocken kräuselten
sich in allen farbnuancen: nußbaum, mahagoni, kirsch.
es war eine riesige halde an
puppenscherben. wohin er trat, knirschte es unter seinen sohlen.
puppen in allen größen
und farben: mädchenpuppen, jungenpuppen, frauenpuppen, männerpuppen;
unbekleidet. alte und junge. babypuppen, kinderpuppen, erwachsenenpuppen,
seniorenpuppen, puppen in verschiedenen hautfarben. da lag big jim und big
josh neben viel zu großen köpfen mit eingefrorenem stilisierten
kindelächeln und kulleraugen. zu große arme aufgehäuft neben
winzigen händen; zwergenhafte embryos neben fötalen plastikriesen
mit starrenden glotzaugen: karikaturen der kindlichkeit, verstümmelt,
zertreten, zerfetzt. kleine augen, erstarrt; augendeckel mit maschinell begradigten
wimpern; am gelenk abgedrehte arme, halbe köpfe. aufgerissene augen.
abgerissene haarbüschel. glasmurmelaugen, putzige rote kindermünder
(süß), zerbrochene sommersprossengesichter, blondes seidenes nylonhaar,
lose. puppen von toten. ein totes puppenmeer: riesenpuppen zwergenpuppen.
schwarze, gelbe, rote, weiße rassenpuppen.
ein deckel öffnete sich
vor ihm. einen moment hatte fleck angst, dass aus der tiefe grässlich
entstellte tiere heraufkämen. doch der deckel bedeckte ein rohr. die
einstiegsluke hatte einen rotweiß markierten rand. beim öffnen
der klappe sprang eine notbeleuchtung an. hinab führte eine rutschbahn.
Organisches Material
abladen verboten
fleck stieg kurzerhand hinein.
und schon begann er, mit immer größer werdender geschwindigkeit
durch ein federndes plastikrohr, an dessen nähten er immer leicht mit
den gelenken anstieß, hinabzusausen. es holperte und schaukelte. er
sah so gut wie nichts. hautteile erhitzten von der reibung. nach kurzer zeit
plumpste er auf einen hügel heraus.
13 wegwerfwelt
nachdem
seine augen in der dunkelheit etwas sahen und der staub, der durch das aufplumpsen
enstanden war, sich ein wenig verzogen hatte, blickte fleck sich um. er befand
ich in einer unterirdischen halle, die in großen abständen von
turmdicken pfeilern gestützt wurde. der boden war von einer unbeschreiblichen
dunklen masse überzogen: etwas mattglänzendes wie schrundiger teer
(schwarze verkrustung), das an etlichen stellen durch schrundige löcher
unterbrochen wurde. löcher, die wie krater in der masse starrten. dazwischen
lagen hügel mit bröckeliger lava. fleck war umgeben von schwarzem
gesteinsschutt. nach einer weile bemerkte er, dass er sich auf einer halde
befand.
ein eingedüstertes licht,
seltsam neblig und unscharf, erfüllte den raum. durch diese verhuschte
nebelwelt trieb eine staubwolke; unscharf ragte dahinter eine art baukran
auf; von fern erklang bleiernes lachen; etwas bewegte sich gleichmäßig,
maschinen tuckerten (dumpfes mahlen, hämmern, klopfen). fleck konnte
nicht sagen, was genau sich bewegte. es waren schatten mit menschlichen maßstäben.
wind drückte an ihn heran.
ein unbequemes aufsaugen, schwülwarme abluft, aufgesaugtwerden. stadtzunge.
in einem cartoon fraß ein
chamäleon hartes glas. niemand lachte.
fleck ging ein stück voran
und kam tiefer, gelangte an eine freie fläche, die ihm eher wie ein kinderspielplatz
erschien. als er näher kam, sah er: es war eine trümmerwelt. in
fast völliger dunkelheit lagen hier computerteile autowracks flaschenhälse
schachteln möbel glasscherben bauschutt mikrochips platinen digitaler
schrott tastaturen kabel motherboards ...
endlich kam er auf eine lichtung.
durch eine riesige öffnung in der decke fiel sogar so etwas wie sonnenlicht
herein, wenn auch etwas trister, mit gebrochener glut.
trotz dieser anhäufung des
ganzen mülls roch er keine gerüche der fäulnis. als er näher
an einige autowracks kam, roch er etwas wie altöl.
eine stimme: he! fleck dreht
sich um.
ein wesen in undefinierbarem
alter springt hinter einem autowrack hervor. es trägt einen dunklen flaumbart,
eine schwarze wollmütze, das oberteil eines trainingsanzugs, eine zerrissene
hose, überdimensionierte schuhe. das wesen bleibt vor fleck stehen.
das wesen: hi! was machst du
hier? fleck mustert das wesen. brauchst du etwas? fleck schweigt. na, irgendwas wirst du hier schon wollen. das wesen streckt ihm die hand
entgegen. hi, ich bin earp. fleck schlägt nach einigem zögern
ein. willst du was kaufen?
fleck: was hast du?
earp: ich hab alles.
fleck: du hast alles.
earp: was brauchst du?
fleck: nichts.
earp: das gibts doch nicht!
das soll ich dir glauben? er lachte irr. irgendwas wirst du doch wohl
brauchen.
fleck: ich bin komplett.
earp: hör zu, hier kommt
niemand umsonst her. und wie du aussiehst, scheinst du irgendwas zu suchen.
du bist nicht wie <die> ... er deutet mit seinem daumen plump nach
oben.
fleck: wie wer? ein anderer
kommt noch hervorgesprungen.
earp: na, wie <die> eben.
der andere: lass ihn doch. er
ist scheints ... macht eine schnell wischende handbewegung vor seinem
gesicht.
earp: hör zu. wie heißt
du? na egal. du musst hier höllisch aufpassen. hier ist ganz schönes
gelumpe unterwegs. die rauben dich aus und ... das wars dann.
fleck: ich hab ja nichts.
earp: bild dir da mal nichts
drauf ein. so einer wie du ist schnell abgestochen. das macht den jungs noch
spaß, weißt du?! also, sieh dich vor, sonst hast du so was
hier earp lässt eine klinge schnappen und fuchtelt damit vor flecks
nase herum zwischen deinen speckschwarten stecken. er lachte. so
schnell schaust du gar nicht, steckt dir dieses ding >
fleck: im bauch?
earp: oder im herzen.
fleck: monoton das kannst
du ja mal probieren.
earp: zu dem anderen he
whistler, haste das gehört: wir sollen es mal probieren! aufgedreht,
doch nicht wirklich aggressiv, fuchtelt er fleck mit der klinge direkt vor
der brust herum, als wolle er zustechen. fleck steht völlig unbeeindruckt
da.
fleck: trocken ich hab
kein herz.
earp: lacht übertrieben du bist ja vielleicht ein scherzkeks ... kein herz, hihi ... . witzbold.
fleck: ich habs mir rausmachen
lassen.
whistler: von der seite dann wärste ja tot ...
fleck: ich bin tot.
earp: lacht gekünstelt,
doch ein wenig irritiert guter spaß, wirklich! aber wer steht dann
vor mir? ein gespenst? ein zombie?!
fleck beginnt ohne eile sein
hemd aufzuknöpfen. eine lange, weiß gewordene narbe zieht sich
unter dem hals senkrecht nach unten. die augen der beiden werden groß
und größer. ein wenig scheint sie fleck aus dem gleis zu bringen.
fleck: verzieht spöttisch
das gesicht wer von euch beiden ist denn noch am leben?
whistler: der hat sie nicht alle.
komm, lass uns verschwinden. whistler ab.
fleck: habt ihr je gelebt? oder
bildet ihr euch vielleicht nur ein, zu leben?
earp: du spinnst, aber irgendwie
gefällst du mir.
fleck: könnte ein mensch
ohne herz leben?
earp: schaut fassungslos nicht allzu lange. bist du ein mensch?
fleck: das ist möglich.
earp: hör zu, du bist in
meinen augen der größte chaot, den ich je getroffen habe. aber
völlig harmlos, ich mein ungefährlich. scheinbar ist dir deine
operation (was immer man dir da malt mit dem zeigefinger einen senkrechten
strich auf seine brust herausoperiert hat) nicht bekommen. zudem bist
du irgendwie ... na ja ... religiös, oder so. hast du einen deal mit
gott?
fleck: nicht nur mit dem.
earp: blickt völlig irritiert was?!
fleck: versunken bist
du denn ein mensch?
earp: wundert sich über
gar nichts mehr. er spickt sein messer gespielt lässig in einen baumstrunk,
der am boden liegt. was sollte ich sonst sein?
fleck: der gott der wegwerfwelt
...
earp: schreit mit erheiterter
entrüstung ein was? ein gott? der wie-bitte-welt?!
fleck: der wegwerfwelt. sich
selber suchen, finden und neu zusammenfügen. wie einen bausatz. hier
kann man seine zukunft finden. das neue leben liegt sozusagen auf der straße
earp: sieh zu, dass du schleunig
land gewinnst!
fleck: leise liebst du
die menschen? leiser liebst du jemanden? noch leiser liebst
du irgendwen? flüstert liebst du dich selbst?
earp: lässt ein verkrampftes
gelächter hören und geht hastig davon, ruft im weggehen: schönen
gruß noch, an den lieben gott.
*
es war lange her, dass fleck
alleine am dunklen stadttor unterwegs war. als er jetzt den ersten schnee
fallen sah, erinnerte er sich. es war schon herbst gewesen. fleck hatte nicht
den eindruck, dass er je ans licht kam, so hell die sonne auch schien. immer
hing das trübe über der stadt. immer wieder trieb es ihn hinein
in schächte, röhren, gänge, aufzüge, tunnels. dort, wo
ihn niemand kannte, war es erträglich. dort, in den künstlichen
kuben, in den einkaufsmärkten, in den anonymen hallen, auf den großen
boulevards. kinder, die ihm mit auswendig herausgeleierten sprüchen zeitungen
in die hand drücken wollten.
es lag schnee: eine feine, unberührte
schicht (weißer samt). schnee. auf dem fleck als allererster ging. er
wandte sich kurz nach seinen fußstapfen um und schmunzelte.
14 ausverkauf
die
jahreszeiten machten ihn schwindelig. ein grausen, wie sich alles drehte:
in seinem kopf: ein kreiselndes drehen, rasende launen der natur, ein karussell
der temperaturen, kreisläufe des blühens. die welt flog an ihm vorbei,
unaufhaltsam.
ein mann tauchte auf.
<guten tag>, sprach er
durch weiße zähne hindurch, <ich möchte ihr bestes kaufen!> wisperte er zwinkernd, <was haben sie?>
fleck spürte den zugriff
dieser worte, spürte durch die kühlenden bäume etwas wie die
schattigen fingerspitzen des herbstes; eine gewisse melancholie, die sich
milde herabließ. nach und nach kroch kälte nach.
<was haben sie?>
fleck deutete zögerlich
mit dem zeigefinger auf seine brust. ein paar blätter fielen.
fleck schwieg.
<ja, bitte!> gluckste der
herr lechzend herum, eine gewaltige unruhe verbergend. der herbst flog behände
vorbei. fleck knöpfte schwerfällig sein hemd auseinander. das gesicht
des herren verzerrte sich erwartungsvoll mit jedem geöffneten knopf mehr.
<oh ... !> rief der herr
aus. erste schneeflocken fielen.
<na ja, dann ...>, winkte
der herr ab, mit jovialem lächeln (ein einstudiertes breites grinsen
er gefiel sich mit diesem lächeln) <... kann man eben nichts
machen>, er schien sich fast entschuldigen zu wollen. <vielleicht ein
andermal>, schob er noch hinterdrein, <nichts für ungut>, sprang
er flugs davon.
die kälte zog an. fleck
hatte das gefühl, seine jacke sei zu dünn für solche temperaturen.
das, wonach er suchte, konnte er nirgends entdecken; manchmal, wie jetzt,
im beginnenden frühjahr, zog seine narbe ein wenig.
fleck rieb sich die augen. ein
bisschen drang nun schon die sonne durch die geschlossene wolkendecke; er
war sich etwas unschlüssig, wohin er sich nun wenden solle. zumal er
nicht fand, wonach er eigentlich suchte
der frühling kam. fleck
war es, als hörte er eine musik erklingen; als könnten gladiolen
musizieren. er spazierte an einem schwarzen gatter vorbei, hinter dem ein
kleiner garten angelegt war, mit anemonen, butterblumen, chrysanthemen etc.
wie ein knick lief eine gerippte wolkenbank über den himmel.
<haben sie ein herz?>
trat eine frau aus einem hausflur heraus auf die straße, leicht bekleidet,
und entblößte vor seinem gesicht zwei brüste.
<oh ... !> fuhr es aus
fleck.
der sommer kam, sie wog ihre
brüste auf den handflächen hin und her.
<na, mein herr, haben sie
ein herz?> fragte sie auffordernd.
blätter sausten um ihn,
ein blutrot gefärbtes ahornblatt blieb auf der brust der frau kleben.
<oh, es regnet!> sagte
fleck, zog seine jacke bis zum hals zu und ging davon.
<für sie kostets
nur fünfzig! ...>
garantiert frische herzen, dachte
fleck und lächelte säuerlich.
<kommen sie schon!> rief
ihm die dame mit heiserer stimme hinterher.
da traten noch weitere frauen
heraus, die wohl das schrille rufen ihrer kollegin gehört hatten.
<hallo, mein süßer
herr!> lockten sie, <kommen sie, kommen sie!>
manche von ihnen trugen grellrote
plastikherzen an schnüren, andere fuhren mit schlittschuhen auf der eisbedeckten
straße herum; alle trugen neckische dessous. dabei war es bereits bitterkalt
geworden. fleck kaufte von einer freundlich lächelnden dame ein rotes
herz an der schnur. vielleicht könne ihn dessen rot ein wenig wärmen,
dachte er.
déjalo
ya,
no seas membrillo
y
permite pasar
<na, mein süßer,
noch ein zweites herzchen gefällig? hm?!> sie spitzte ihren mund zu
einer kussschnute. doch fleck ließ sich kein zweites herz mehr aufdrängen.
<ich bin komplett!> sprach
fleck, während ihm ein weicher sonnenstrahl durch die wolken fiel.
eine amsel sang ihr lied
weich glitt die straße
unter seinen sohlen hin. einen moment fragte er sich, ob nicht die promenade
es war, die sich unter ihm bewegte. durch die baumkronen der allee fielen
helle flecken sonnenscheins vor seine füße und sprenkelten die
allee wie einen flirrenden laufsteg. das glück war grün.
er versuchte, mit den fußspitzen
auf dem muster der sonnenmalereien zu tanzen. fleck knetete vor freude sein
herz, bis es mit lautem knall zerplatzte.
da fand er ein erstes gefallenes
ahornblatt
er ging über den platz und
blickte in einer kleineren seitengasse in die schaufenster.
als wäre es vereinbart gewesen,
schlossen sich fleck drei herren im frack an, die ihn an einer ecke abgepasst
hatten. sie trugen schwarze zylinder. ein paar tropfen erwischten ihn an der
wange. er blickte unwillkürlich zum himmel. die wolke, die direkt über
ihm hing, hatte einen ungesunden braunton, dennoch war es drückend schwül.
der boden scheckte sich mit kleinen flecken. ein sommergewitter?
fleck musterte die drei herren,
die unterschiedlich groß waren und in der reihenfolge ihrer größe
vor ihm standen. der kleinste hatte seinen zylinder abgenommen und fächerte
sich ein wenig kühlenden wind zu.
<da sie schon ihr haus nicht
verkaufen wollen>, begann der vorderste sehr forsch, <lassen sie uns
doch wenigstens ihr herz beerdigen.>
fleck schwitzte unter der last
der sonnenglut.
<wie sie möchten>,
antwortete fleck erstaunlich gefasst, und übergab ihnen den roten ballonlappen.
die drei herren tupften sich
mit taschentuchzipfeln gekünstelt ein paar tränen aus den augenwinkeln.
<sie ärmster>, sagte
einer.
<macht drei fünfzig>,
brachte ein anderer gepresst heraus.
fleck dagegen fragte: <wo
wird es beigesetzt?>
ein kühler wind ging. der
himmel bedeckte sich. es wurde schnell herbst. die drei schwiegen zuerst pietätvoll.
fleck winkte ab, noch bevor einer der herren die sich schon sekunden
später gegenseitig das wort abschnitten vollends antworten konnte
und machte sich davon. er ließ sie stehen und rief den dreien dann aus
weiter ferne noch hinterher: <wo ist denn der herzensmarkt?> einer der
herren lief ihm nach und flüsterte zurückhaltend (aber geschäftsbewusst):
<mein herr, unser honorar ...>
fleck zuckte die achseln.
<ich verstehe, ich verstehe.
mein aufrichtigstes beileid. hier meine karte ...>, sagte der eine herr
und drückte fleck ein vollkommen schwarzes kärtchen in die hand,
in das, schräg gegen die sonne gehalten, ein eingestanzter name zu lesen
war:
Agentur Bodo B.
Balduin
Versicherungen
und Transaktionen
... für Sie
selbstverständlich immer mobil zu erreichen ...
ein paar hagelkörner prasselten
auf die erde.
<sagen sie mir, wo ist der
herzensmarkt>
<zwei straßen vor, zweite
ampel links, zweite einfahrt zur herzensgasse viel glück!>,
haspelte der herr heraus, setzte seinen klappchapeau auf und war auf und davon.
<viel glück! >
sagte fleck leise zu sich selbst.
pünktlich zum wintereinbruch
erreichte fleck die herzgasse, eine gerade straße, in die ein hässlich
kalter wind herein schnitt.
überall gab es herzen in
den auslagen: kleine, große, dicke, schmale, dünne, aus allerlei
papieren, aus zellofan, holz, gummi, plüschfell und sogar aus
metall. alle pulsierten auf ihre eigene art. fleck blickte neugierig. herzen,
effektvoll mit lichterketten, kunstvoll drapierten schleifen, andere aus leder
mit moschusduft etc.
da hörte er neben sich eine
heiter hingepfiffene melodie. fleck fühlte einen augenblick seine ganze
schwere von sich abfallen, als ihn die munteren töne aus tiefen gedanken
rissen. er drehte erstaunt den kopf. ein junge mit geröteten pausbacken
sah ihn an. auch der junge schreckte in dem moment, als er fleck in die augen
sah, aus einem wachtraum hoch.
<na, mein herr?> sagte
er, <brauchen sie nicht auch mal wieder ein neues herz jetzt im
frühling?!>
fleck strahlte über den
frohsinn des jungen und freute sich.
<ja, natürlich, junge ...>, sagte er nachdenklich. ein foto seines großvaters kam ihm in
den sinn, wie er breitbeinig in seiner schützenuniform todernst mit einigen
kameraden vor der kamera posierte.
<jetzt, wo es doch bald sommer
wird ...>
fleck war es, als könne
er goldene vögel in den glänzenden augen des jungen fliegen sehen.
<ein neues herz, ja ... das wär ein ding ...>
nun brannte die sonne so stark
herab, dass der kleine sein käppi weiter ins gesicht zog.
<na, ich würd mir
ja an ihrer stelle ein praktisches herz kaufen! sehn sie mal; das da
zum beispiel ...>
der junge deutete auf ein herz,
das schnittig aussah: flach und fast stromlinienförmig, klein und handlich,
ohne irgendwelche schnörkel und rüschen; glatt und vollkommen silber.
<ja, das ...> fleck kam
ins stocken, <das! ist ein tolles herz.>
<das tuts doch! nicht?
schnell! holen sie sichs! aber holen sie sichs jetzt, wos
noch sommer ist!>
<ja!> versprach fleck,
und beinahe war einen moment etwas von der begeisterung des jungen in seiner
stimme.
der junge war fort. fleck wurde
etwas kühler zumute. der himmel hatte sich bedeckt. unglaublich, wie
schnell das doch gehen kann, dachte fleck. er blickte in das schaufenster
und kam so nahe mit dem gesicht ans glas, dass er unwillkürlich zurückschritt,
als sich der hauch seines atems vor ihm auf der scheibe abzeichnete.
da kam plötzlich wieder
der junge mit einem skateboard angerauscht.
<na, immer noch nix gekauft?
dabei hatten sie doch die gelegenheit!> rief er im vorbeifahren.
ein mädchen, das hinter
ihm stand, kicherte. fleck verstand die welt nicht mehr. das mädchen
trug bereits ohrenschützer. es war mit einem mal sehr kalt geworden.
<ist ja nicht schlimm>,
sagte das mädchen, zu fleck gewandt. <schauen sie, es gibt ja auch
wintermodelle. aber>, sie stockte kurz, <irgendwann sollten sies
tun ... sie werden sehen, es ist ein himmelweiter unterschied!>
ihre stimme klang so froh.
fleck rieb sich beide hände
aneinander.
<ich hab mir dieses
jahr ein frühlingsherz gekauft>, schwärmte sie. <aber sie...
. sie sind eher ein herbsttyp, stimmts?>
<spätherbst ...> log
fleck.
<toll! na dann?! sehen sie
das große blaue dort hinten? nichts wie rein in den laden, und grüßen
sie drinnen von emerald.>
<ja, mach ich!> imitierte
er den lebendigen singsang in ihrer stimme.
das mädchen war, noch ehe
sich fleck richtig zu ihr umgedreht hatte, mit einer blitzartigen geschwindigkeit
aufs fahrrad gestiegen und davon gefahren. unglaublich, wie schnell die jungen
leute doch fahren können, dachte er. als fleck sich anschickte, durch
die tür zu gehen, stand dort in markanten lettern:
Im Winter vom
31.11. bis zum 31.01. geschlossen
dabei gibt es doch gar keinen
31. november, sann er kopfschüttelnd. das nämlich wäre
genau sein tag gewesen.
<schönen neujahrstag!>
rief ihm da ein pärchen zu, das heiter lachend quer über die straße
flanierte. die frau trug ein plietschblaues ballkleid.
<suchen sie ein neues herz
zum neuen jahr?> warf sie kichernd herüber.
fleck starrte auf das quietschige
kleidchen, bis die beiden um eine hausecke drehten.
ein älterer herr stand neben
ihm. fleck drehte den kopf. der herr nickte ihm freundlich zu.
<suchen sie?> fragte er
still.
<ja, ja ...> kam es aus
fleck.
<na, da haben sie sich ja
einen schönen termin ausgesucht! ihnen würde doch ein kristallherz
gut stehen.>
plötzlich bemerkte fleck
im augenwinkel die große menschentraube, die sich unversehens hinter
ihm gebildet hatte. als er sich umblickte, sahen die leute verlegen zur seite
oder zu boden, gingen sogar ein wenig weiter, als stünden sie nur durch
zufall hier.
<sie stehen hier jeden tag
und blicken den ganzen tag durchs fenster.> sagte eine frau halblaut, zu
ihm hingeneigt.
da hörte er den jungen mit
dem skateboard wieder.
<... und er kauft ja doch
kein herz! hihi!>
und lachend war der junge schon
wieder fort, sein board unter dem arm. das lachen des kleinen schnitt ihm
(grell) in die ohren. die menge hatte sich zerstreut. wieder wurde es ein
wenig wärmer.
eine ältere dame trat zu
ihm hin und fragte: <sagen sie, darf ich ihnen behilflich sein?>
fleck blickte irritiert.
<junger mann, ich weiß,
was ihnen fehlt. kommen sie doch mit mir in den laden. ich werde ihnen eines
... oder, verzeihen sie>, sie lächelte souverän, <ich werde
mit ihnen zusammen eines aussuchen!>
ihr lächeln war eine mischung
aus elegantem witz und wärmstem zutrauen. fleck war hingerissen.
<lassen sie sich eines sagen>,
sprach sie ihm leise zu, <die besten stücke sind doch sowieso umsonst.>
fleck starrte sie ungläubig
an. sie nickte eifrig und lächelte dabei.
<kommen sie, kommen sie!>
sie winkte ihn mit freundlicher geste zum eingang.
erst jetzt las er den namen des
geschäft:
Stycks Herzensmarkt
(nur frische Ware)
fleck ging mit der frau in den
laden. ein seltsamer duft lag in dem geschäft, der ihm nicht unangenehm
war; etwas verstaubtes (aber gut aufbewahrtes) angesichts all der ladenhüter
lag in der luft. fleck konnte sich ein schmunzeln nicht verkneifen. die dame
hatte einen recht herrischen schritt und stellte ihm wie in einer ausstellung
die exponate vor, indem sie ihm alle herzen erklärte.
<sehen sie, dieses hier zum
beispiel ist ein echtes modeherz. es ist eigentlich eine imitation, eine kopie
vom original, das hier drüben liegt, aber plüschiger und nicht so
fein gearbeitet ...>
es war ein selbstbedienungsladen.
fleck sah keine menschen in diesem laden. erst als sie weiter vordrangen,
sah er hinter dem großen glastresen ein kleines weißhaariges männchen
sitzen.
die dame zeigte mit ihren rosa
lackierten fingernägeln (was fleck abstoßend fand) auf allerlei
herzen. dabei sprach sie von seinem <typ> und was sie seinem <typ>
anempfehlen würde. fleck hatte das gefühl, sie verstehe sehr wohl
etwas von herzen, aber verwechsle ihn doch immerfort mit einem <typ>,
dem er wenigstens in seinem innersten keineswegs zu entsprechen glaubte.
das geschäft war größer,
als es dies von außen erwarten ließ; ein wahrer supermarkt der
herzen
<mein herr, sie brauchen ein
elegantes herz, eines das etwas herbes hat. sie sind weiß gott
kein blumiger typ. schauen sie, dieses hier zum beispiel (sie zog eines heraus),
es ist groß, sehr groß sogar, und ich meine, ihnen stehen nur
sehr große herzen. es hat etwas herbes, es ist schön gearbeitet,
mit einer ledernote, es ist weich und dennoch robust; auch der farbton ...
was meinen sie? gehen sie und probieren sie es ...>
das wetter machte offenbar einen
umschwung. selbst in dem beleuchteten innenraum kühlten alle farben ab.
einen augenblick lang versuchte
fleck zu verstehen, warum die frau dies für ihn tat. er hörte ihre
worte nicht, sondern nur die melodie ihrer stimme: eine kupferfarbene wellenbewegung.
seine augen glänzten. er ließ sich auf den wellen ein wenig treiben.
fast schloss er die augen.
<... sie können es zu
jeder jahreszeit tragen. es kleidet sie ungemein und verleiht ihnen sogar
eine besondere note. es macht sie sie werden es nicht glauben
ungemein attraktiv >
das war eine ausgemachte unverschämtheit.
er wurde unwillig: niemand müsse ausgerechnet ihm herzen erklären!
in diesem moment kam auf einmal seine mutter in den laden. fleck spürte
eiseskälte trotz der mittlerweile wieder sommerlichen temperaturen. der
frost zog ihm stark in den beinen, obgleich er im laden stand. die mutter
erblickte ihn, vollkommen entrüstet, bahnte sich ihren weg und begann,
grußlos zu schimpfen.
<wie kannst du nur? du hast
dein herz bereits vergeben! weißt du das nicht, junge?>
sie wollte fleck am handgelenk
nehmen, doch dieser schüttelte sie brüsk ab. herbstliche falten
hatten sich auf mutters gesicht gebildet. er sah sie aus der nähe. sie
kam ihm sehr nahe mit ihrem gesicht. fleck empfand die eindringliche nähe
zu seiner mutter als äußerst unangenehm. immer wieder versuchte
sie ihn zu berühren. ihr gesicht wurde vor seinem gesicht riesengroß.
<junge ... wo warst
du nur so lange? wo bist du immerfort geblieben?> die vollkommene kälte
ihrer augen fuhr ihm wie ein eiszapfen unter die haut.
<was willst du von mir?>
entgegnete fleck laut und bestimmt und ließ seine mutter stehen. sie
versuchte ihm zu folgen.
er sehnte sich nach seiner beraterin
zurück und drehte sich ihr zu hatte er doch schon gleich ein großes
vertrauen zu ihr gefasst. obwohl er wusste, dass sie ihm niemals das finden
würde, was er suchte, so hatte sie doch einen gewissen charme, der ihn
mitzog; obgleich er sich neben ihr ein wenig unmündig fühlte, wirkte
sich doch insgesamt sehr kundig und selbstbewusst. denn letzten endes sei
es ihm ja sowieso gleichgültig, was er für ein herz trage. und für
sie ist es gewiss nur ein netter zeitvertreib, ihm ein neues herz zu verpassen,
dachte fleck.
so trieb er in diesem laden umher
wie ein schiffbrüchiger, orientierunsglos und hilflos. er hatte sich
zuerst an die dame geklammert wie ein ertrinkender, an ihren humor und ihren
sicheren schritt. fleck fühlte zum ersten mal die chance, endlich, endlich!
mut zu fassen und sich mit einem neuen herzen auszustatten. das glück,
so schien es ihm einen kurzen (rauschhaften) moment, war doch zu haben,
wenn man nur ...
die dame war verschwunden.
<fabian!> fuhr ihn
seine mutter rücklings an, als ob sie seine gedanken mitgelauscht
hätte: <es gibt keine konfektionsherzen! glaub es mir doch.
es gibt keine herzen von der stange.> mutters stimme sank tief, wurde sehr
ernst und brüchig.
<du hattest doch so ein großes
herz! mein gott und du hasts hergegeben!> in ihrer wut lag
verzweiflung.
fleck sah zu boden, um irgendwo
mit seinem blick halt zu fassen. ein paar sekunden war er richtig froh, dass
er es hergegeben hatte. in tausend himmelsrichtungen verstreut, in fetzen
zerstoben (die irgendwo vor kälte erstarrt lägen), begraben neben
dem bordstein.
wenn sie sich doch sofort in
luft auflösen würde! und alle herzen dazu!
<komm mit, das hier ist nichts
für dich.> fleck spürte so etwas wie ohnmacht, einen anflug von
verzweiflung. obwohl er längst ein erwachsener mann war, konnte er nur
mit not dem drang widerstehen, dem energischen <komm ...> seiner mutter
zu folgen.
alle herzen in dem laden prangten
einen moment umso farbiger. gespiegelt durch einen glanz in seinen augen drehte
sich der laden um ihn wie ein vielfarbiges karussel.
als kleines kind hatte er sich
die grundschule wie ein karussel vorgestellt, an dem man sich tag für
tag traf, auf bunte lustige gefährte aufsaß und im kreis herumfuhr.
und wie es in ihm rumorte!
natürlich hätte er sein herz nicht hergeben dürfen! und wie
genau er das doch wusste! es war ein fehler gewesen, vielleicht der schwerste
seines lebens. aber war es nicht gerade das reizvolle am leben, die große
freiheit zu besitzen, große fehler zu begehen? und beging diesen fehler nicht jeder irgendwann?
<fabian!> bemühte
sich die mutter lautstark.
jeder würde auf einem anderen
gefährt aufsitzen, tag für tag, einmal auf einer giraffe, den nächsten
tag auf einem löwen, dann wieder auf einer antilope, einem strauß,
einem leoparden ...
<lass mich, mutter>, versuchte
fleck sich loszureißen, <dort drüben sind sonderangebote und
second-hand-herzen.>
<second-hand-herzen?> rief
sie schrill. <junge, du weißt nicht ... du verausgabst dich
...>
fleck drehte sich um und wandte
sich mit schnellen schritten in eine andere abteilung, so schnell, dass seine
mutter, die ihm zunächst protestierend folgte, ihn außer augen
verlieren musste. <fabian! ... fabian!>
hörte er sie eine weile verzweifelt rufen.
in dieser abteilung hingen vor
einer leicht vergilbten tapete schnörkelige herzen in allen größen
an der wand. es schienen restposten zu sein. fleck hob langsam die hand, um
sachte ein herz zu betasten. i like the way you twist ... tönte
aus dem lautsprecher ... ive got my eyes on you.
<nicht anfassen!> keifte
da eine ältere frau aus dem hintergrund, die wie eine kröte hinter
der auslage gelauert hatte. dabei hatte seine hand noch nicht einmal den eigentümlich
schillernden stoff berührt. und fleck wollte doch nur wissen, wie sich
das material anfühlt, denn das musste er ja beim kauf eines herzens wissen!
als die frau umständlich herantrottete, ging er fort.
das licht hatte etwas trübes,
ja betrübliches bekommen. es schien fahl zum fenster herein.
ein kleines treppchen führte
hinab in ein hinterzimmer. dort unten waren keine fenster mehr und alles war
erleuchtet von fahlem neonlicht. die wände waren grellweiß, weswegen
fleck einen moment zögerte, wirklich hinein zu gehen. er fand den raum
ungemütlich. aber er sah einige leute. langsam verlor er die lust an
den herzen.
er wünschte, dass sie hoffentlich
endlich gegangen sei, als er nichts mehr von seiner mutter sah noch hörte.
er ging weiter.
ein studentisch jungscher typ
fledderte mit seinen langen fingernägeln in der ware, die in einem wühltisch
auslag.
Winterschlussverkauf!
Alles zum 1/2 Preis
boom-boom! alles
muss raus!
stand auf einem schild geschrieben.
fleck sah nur hände.
hände, wie sie sich durcheinander
schoben, sich bewegten, in die ware hinein schlängelten, an einzelstücke
heran drängelten, herzen heraus zerrten, sie befühlten, an ihnen
herum drückten; sie beiseite legten und wieder auf ein neues achtlos
hinein grapschten, es auseinander legten; ein anderes hervorwühlten und
auch dieses dann bald mit beinah abfälliger geste wieder fallen ließen.
diese herzen hatten nichts spektakuläres, sie waren teils eigenartig
schlicht, oder sahen gewissermaßen billig aus. ein paar waren bestimmt
schon schadhaft, dachte fleck.
an einem anderen wühltisch
sah fleck eine junge frau, die ein großes rosa herz heraushob.
einen kurzen moment musste er
an die zahl seines geburtsjahres denken. die zahl war wie ein wiegenlied.
vorne, wo die zahl begann: warm und voller klang; hinten, wo die zahl endete:
rund und angenehm.
gab es gott?
fleck sah die frau das herz betrachten,
wie sie es (da es schlaff herab hing) ein paar mal drehte und wendete, dann
wieder von sich legte und betrachtete.
er hörte in sich eine schnelle
folge von melodien: charthits eines vergangen jahrzehnts; sein kopf drehte
sich wie ein plattenteller, ein paar hits stoben durch sein gehirn; fast war
es ihm, als spiegele ihm das helle sonnenlicht barcelonas in die augen. die
frau war jung und äußerst attraktiv. sein schritt wurde weicher.
er fühlte ein bedürfnis zu tanzen und gleichzeitig ein schwächerwerden
in den knien.
das herz schien ihm etwas größer
zu sein als die anderen herzen in diesem wühltisch. ein richtiger gummilappen
war das!
mein gott! ein großes herz
würde ihm stehen! aber mit der <ledernote>, von der die dame gesprochen
hatte was auch immer das sein konnte hatte er arge schwierigkeiten.
dabei hatte sie sich gut ausgekannt und war die erste, die ihm wirklich zu
einem herzen verhelfen wollte.
entre dos tierras
estas
y no dejas aire
que respirar
fleck stand auf dem treppchen
und blickte hinunter in dieses einkaufsparadies. als er wieder zum wühltisch
hinübersah, bemerkte er, dass die junge frau das herz herausgenommen
hatte und damit zur kasse marschierte. fleck ging ihr schnell hinterher. es
war kein blumiges herz. es war nicht wirklich schön. aber es war groß
und rosa.
fleck war kein ledernacken, hatte
nicht im entferntesten eine verwandtschaft mit einem holzfäller, haudegen,
hauruckmenschen oder sonst etwas derart duftend-rassigem, das diese dame in
ihm sah und trotz ihrer (großartigen) hilfsbereitschaft von seinem <typ>
fabulierte ... es war ihm, als wäre plötzlich alles licht im raum
erloschen, als hätte die kälte im raum schlagartig zugenommen.
keine sonne. kein wind.
jetzt erkannte er es.
<halt, das ist meins!>,
kam es unwillkürlich aus ihm. <es ist meins!!>, rief er
noch einmal, lauter als vorher.
fast hätte er sich den mund
zuhalten müssen. er hastete hinüber.
die frau guckte ihn verwirrt
und empört an.
<was ist denn mit ihnen los?
dieses herz hier >
< es gehört mir.>
sagte fleck.
<was ist denn in sie gefahren?
ich habe es mir ausgesucht und ich werde es mir kaufen!>
<das können sie nicht.
es steht nicht zum verkauf ...>
sie lachte perplex.
<und ob ich es kaufen kann!>
<verzeihen sie, das ist mein herz!!> er wollte ihr das herz aus der hand nehmen.
<lassen sie los!> rief
die frau energisch und warf mit einer bewegung ihre haare zurück.
verzweifelt blickte er um sich.
die kollektion wurde gerade entfernt und ein neues schild aufgestellt.
die frau reihte sich an der kasse
ein. fleck stellte sich erhobenen kopfes vor sie.
<bitte seien sie doch vernünftig!
dies ist mein herz. bitte geben sie es mir zurück.>
<was soll denn das? gehen
sie mir aus dem weg.> sie gestikulierte heftig, <lassen sie mich jetzt
bitte dieses herz kaufen!!>
<es gehört mir, ich darf
es nicht verlieren.>
<was wollen sie damit sagen?
sie sind ja ... sie sind ja ...>
die frau wollte ihn mit zittriger
hand zur seite schieben.
boom-boom!
Sommerschlussverkauf.
Alles zum 1/2 preis
las er auf dem neuen schild.
<... verrückt sind sie,
jawohl! verrückt!! verrückt!!!>
fleck wurde es augenblicklich
übel.
<bitte geben sie mir dieses
herz zurück.>
<was soll denn das? es ist
meins!>
<nein.>
sie blickte fleck an wie einen
komplett verrückt gewordenen.
<und selbst wenn es einmal
ihres gewesen ist ...>
<warum möchten sie ausgerechnet
dieses? es war meins!>
<... dann war das einmal.>
nun erkannte er die frau. es
war mylinda.
er blickte ins tiefe labyrinth
ihrer augen. Aurora (seine sonne) stieg auf den blaugeschliffenen himmel.
<mylinda.> sagte er ruhig.
sie regte sich nicht.
<und jetzt gehen sie bitte
zur seite.>
<mylinda.> sagte er. sie
sah ihm bohrend ins gesicht.
<hör zu, fabian>,
sagte sie, <du kannst ein gegebenes herz nicht zurückfordern. ein
herz ist noch mehr als ein wort. hättest du mir nur dein wort gegeben,
gäbe ich es dir zurück. aber ein herz zurückgeben!?>
sie schüttelte den kopf
und lächelte mitleidig.
da kam sein vater. mit ihm trat
sonne in den raum. fleck war nicht einmal erstaunt, seinen vater hier anzutreffen.
wolkenbrausen.
(geigentöne)
sofort hatte vater die situation
erkannt.
<geben sies ihm zurück.>
sagte sein vater zu mylinda. <er ist mein sohn, er hat nur dieses eine.>
hagelstürme.
<dieses eine hat er mir gegeben!>
<er gab es ihnen. aber er
wusste nicht, was er tat! er hat es verloren.> gewittertosen.
<nun, ist es meins. aber wenn
sie meinen, dass er leichtfertig sein herz verschenkt? was liegt dann noch
daran ... ?!>
<können sie nicht verstehen,
dass er es aus übereifer tat? es war nicht einmal le ...> peitschender
sturm.
mylinda lachte schallend.
<ach ja? ein irrtum? jemand
verliert also sein herz wegen eines irrtums?>
ein irrtum! fleck schüttelte
den kopf, ganz als ob er versuche, die wirbel der witterungen abzuschütteln.
<war es ein irrtum, fleck?>
fragte mylinda leise.
fleck schwieg.
die chemie ihrer küsse
<jeder kann sich irren>,
fiel sein vater dazwischen, <irren ist menschlich. menschen verlieren ihre
herzen ...>
<hör auf!> schrie
fleck.
mylinda fuhr sich ungeduldig
durch die haare. dann fasste sie sich mit beiden händen ein herz und
sah es an. sommerbrise.
<geben sie es ihm doch zurück,
bitte ...>
mylinda lachte bitter. ihr blick
pendelte zwischen vater und sohn hin und her, schweifte abschätzig, betrachtete
beide von oben bis unten, ganz als ob sie sich nicht entscheiden konnte, was
für sie schlimmer wog: die hilflosigkeit des sohnes und seine ohnmacht,
sich vom vater helfen zu lassen selbst nicht manns genug, sein herz
zurückzufordern; oder die unbeholfenheit des vaters, der flink beisprang
und dem sohn zur hand ging, im grunde ebenso hilflos mit binsenweisheiten
einen verrat zum <irrtum> herunterzuspielen suchte.
sie warf das herz in flecks richtung.
<hier hast du dein dummes
irrtum-herz ... !> schrie sie voller schmerz.
es plumpste vor ihm wie ein sack
zu boden. fleck drehte sich brüsk um, wollte davongehen.
<so nimms dir doch ruhig.
es ist doch deines. es gehört dir nun wieder!>
vaters stimme bekam etwas übereifriges
und gleichzeitig wisperndes.
fleck fühlte etwas schäbiges
dabei, sein herz auf diese art wieder zu bekommen, es wie ein bettler vom
boden auflesen zu müssen. schließlich war seine liebe zu mylinda
kein irrtum gewesen.
<na, es ist doch deins!>
neckte der vater nun fast.
<ja!!!> schrie fleck aufgebracht.
erst jetzt sah er die menschentraube, die sich um die streitenden gebildet
hatte. mylinda war wütend davongelaufen.
da lag es. groß, schwabbelig,
rosa. vater nahm es vorsichtig auf. fleck rührte sich nicht von der stelle.
auf ihm lag etwas gebrochenes. beide schwiegen.
<willst du es dir wieder einsetzen
lassen?> fragte vater voller begeisterung und legte es ihm auf den arm.
das war es! warum er seinen
vater hasste. eine solche frage zu einem solchen zeitpunkt.
das interesse des vaters begann
erst zu erwachen, als fleck keinerlei reaktion zeigte. noch bevor vater etwas
wie: <man spielt nicht mit herzen> hatte sagen können, legte sich
fleck das herz vorsichtig an die brust und ging (traumwandelnd) hinaus ohne
zu bezahlen.
er hörte, wie vater mit
der kassiererin verhandelte. das war das metier seines vaters: bezahlungen
pünktlich und genau zu erledigen.
fleck atmete wieder durch. endlich
war er aus diesem einkaufscenter draußen. was wusste vater schon von
herzensdingen? war doch alles, was begehrt war, ein wenig gebraucht und knittrig
und hatte den flair des abgegriffenen, dachte fleck.
aber er hatte sein herz wieder
15 wald in der stimme
si yo no tengo
la culpa de verte caer.
fleck
fühlte sich wohl, weil er niemanden kannte. man könnte fast sagen, das wurde ihm zum wesentlichen lebensgefühl: niemanden zu kennen.
die welt war gar nicht so kalt, wenn man niemanden kannte; nur das vermissen kühlte die welt ab. wer wärme nicht mehr gewohnt war, konnte
sie nicht vermissen. fleck wollte niemanden mehr kennen: unangenehm
waren ihm all diese berührungen. lieber noch die kalte eiseskälte
der Großen Stadt, ihre großen hallen und entleerten räume,
ihr gut gesäubertes innenleben und ihre glatt polierten oberflächen,
als die dumpfen tavernen, in denen der atem der vielen und ihre ausdünstungen
zusammenflossen, ihr gerede babylonisch durcheinanderhallte, dumpfe witze
hindurchpolterten, von meckenerndem wieherndem schepperndem brüllendem
tosendem wüstem lachen begleitet; weindurchsungen, branntweindurchzittert,
bierdurchsogen
durch ein meer von geigentönen
schwimmen. mit beiden beinen im leben stehen: die reife des sonnenlichtes,
singende matrosen. ihre bärbeißigen witze, wenn sie in der sonne
lachten. kartenspiele und ungetrübtes. ein pianist, geigentöne.
wein dezent, aber ausreichend. gesang. rauchgrazien; dort am tisch unter kühlender
marquise; heiteres palaver. flecks kopf brauste wie eine turbine. gedanken
zerfetzten in allen richtungen
in seinem kopf tauchte ein bild
(von renoir) auf, verschwand wieder, undeutlich; er hatte es einmal vor vielen
jahren gesehen. freude: ein gelb, das ihn mit seiner fröhlichkeit blendete
fleck trug wald in der stimme
in etwas schönem schwimmen,
sich ganz hingeben; aufreizende parfums, luftige gespräche, small-talk,
perliges lachen, nichts war perfid. ein tag wie sommerwarmes geigenspiel.
heitere balkon-plaudereien, dazu feines essen genießen, selbst zubereitete
salate, frisches braunes brot
ob sein vater jemals ein herz
besessen hatte? fragte sich fleck
ob irgendwer je ein herz besessen
hatte
16 kraftfeld
fleck
fuhr mit einem x-beliebigen aufzug nach oben und kam auf einem parkdeck heraus.
er kam nahe an die absperrung. man hatte ein rotweißes band gezogen.
er fühlte sich blockiert
von einer gegenbewegung, aufgehalten von einer kraft, die ihn zurückschob
erst sanft, dann eindringlich. der anziehung wirkte eine abstoßung
entgegen: ein abgestoßensein, als wäre fleck ein winziger eisenspan,
der sich dem sog eines großen magneten (kupferfarben) näherte,
der aber schon in der annäherung mit vielen anderen spänen auf eine
äußere kraftbahn abgedrängt wurde.
hände, die ihn zurückdrängten.
dann stimmen, die scharf und deutlich aus dem dunkel herausbellten, ohne dass
er imstande gewesen wäre, wirklich ein gesicht wahrzunehmen. nebelschlieren.
eine serie von scheinwerfern beleuchtete durch nebligen hauch hindurch das
objekt inmitten der absperrung.
fleck kam nicht näher hin,
so sehr er auch versuchte, gegen die massenbewegung anzudrücken, umso
mehr, da der mittelpunkt der absperrung der einzige ort war, der ihn unwiderstehlich
und mit macht anzog, sofern er sich auch nur ein wenig drehte, der
ihm so etwas wie zuflucht oder heimat bedeutete.
doch seine heimat war abgeschottet
von einem unsichtbaren und undurchdringbaren sperrgürtel aus kräften
und kraftlinien, gegen die er nicht ankam. die luft schwirrte förmlich
vor jenem fänomen, das er im ungünstigsten fall als <geräusche>
wahrnahm. ein hektischer apparat an gegeneinander reibenden, durcheinander
sirrenden, umeinander wirbelnden einzelkräften bewirkten, dass er immer
wieder abgedrängt wurde.
mit höchstem interesse betrachtete
er (sofern der blick frei war) die beinahe organisch wirkende außenhaut
des objektes, die sich in weißlichen scheinwerferkegeln fing und einen
eigentümlich perlmuttnen glanz bekam.
das innere wäre ohnehin
entweiht, dachte fleck, von einer unzahl von händen, die alles mit nüchternem
kalkül befühlten, untersuchten, archivierten, entwerteten
was sein ein und alles gewesen war!
und erst jetzt hörte er
eigentümlich verzerrte und abgehackte stimmfetzen (funkgeräte?),
konnte umso weniger der anziehung nachgeben, spürte den sog seines besitzes,
unerreichbar wie durch eine dicke glasscheibe. doch es trieb ihn
verzweiflung
zu seinem ein und alles, zu seiner
überlebenskapsel. im nebligen schimmer, zwischen den schwaden, ragte
der rötliche glanz seines Kristalls.
fleck löste sich aus den
schiebenden kraftbahnen und ging, ohne sich auch nur einmal umzuwenden, zurück
zum aufzug.
17 muttermal
dabei
gab es gar keinen 31. november. sie salutierten vor allem, was ihnen
groß schien. braun bedeutete leben: ein schrei, der durch die nacht
hallte. ein raubvogel, der sich sein opfer riss, um zu überleben. das
war überbordendes leben, dachte fleck.
sommertag: inmitten dieses
nebels, der sich schlierenhaft auf ihn legte, wurde ihm sanft zumute. es zerrte ihn fort, es tauchte in ihn. auch hier: das beben. dunkel und
kohlrabenschwarz hockten sie im gras. schimpften schnarrend. dennoch betörten
sie fleck durch ihre gleichmut. hockten im wintergras und bohrten ihre schnäbel
in die hoffnungslosigkeit.
krähen waren immer schrecklich
gewesen. als er noch so viel jünger war, fielen greife elegant heraus
aus sonnen, nutzten das gegenlicht, ließen sich durch ihr eigenes gewicht
herabfallen. stürzten, schlugen, fraßen.
krähen hackten mit schwarzen
schnäbeln im gras. seit er nun allerorts schwarze krähen sah, fühlte
er zerrüttung, die ihm alles wegfraß. fleck hatte seine heimat
endgültig nun verloren.
fleck musste sich einen termin
geben lassen. die in ihm heraufquellende schwärze war das klarste zeichen:
schwarz oder weiß. es musste sein; die chirurgische abteilung des krankenhauses,
jetzt, wo er schon so weit abseits war. alle hatten sie ihn verlassen. so
wollte auch er sich endlich auch von seinem besten trennen: von seiner
herzlosigkeit.
er entschlief wie ein käfer.
in süßen glückvollen traumlosen schlummer: ein wenig traurig
war fleck darüber, dass er mit jedem moment ein wenig von seinem kindsein
verlor.
te puedes vender,
cualquier oferta
es buena
si quieres poder.
er spürte beim einschlafen
das ohrläppchen durchrieselt von einem nervenzittern. es kitzelte, und
ein wenig musste er lachen. es lag daran, dass er eine zeitlang zu viel gedacht
hatte. jetzt dachte er an den grün glitzernden flügel des glücklichseins:
beim aufwachen würde ihm vieles leichter werden.
fleck tauchte seine hände ins schmutzige
rosa, verteilte es wie makeup auf seinen schrundigen händen. danach in
erdiges braun, in glühendes orange und wieder in schreiendes rot; fleck
trug eimer voller blätter nach hause. blätter, teils so spröde,
dass er sie zwischen den händen zerreiben konnte. er zerbröselte
sie und dickte die brösel mit leim, wasser und seife an; er tunkte blätter
ins wasser, löste sie auf, stellte daraus eine klebrige flüssigkeit
her, in die er seine hände eintauchte. damit bemalte er sein gesicht,
seinen hals, seine schultern. blattspitter bedeckten seine haut.
flecks gesichtsfarbe war kalkweiß.
er legte sich für stunden nieder und regte sich nicht.
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