Tom Saalfeld
TOSBACH
Der Regen
"Das waren die Veranstaltungshinweise, meine lieben Schwestern und
Brüder. Wer Radio Alpha hört, macht am Wochenende nichts
verköhrt! Vergeßt das beschißene Wetter und
laßt die Sau raus. Man muß die Feste feiern, wie sie
fallen. Euch hinterm Ofen vestecken könnt ihr noch lang'
genug, wenn ihr 'mal in Rente seid. Also nicht verzagen, Radio
Alpha fragen. Apropos beschißenes Wetter ... es wird noch
mieser, wenn das überhaupt möglich ist. Na ja, wir
werden sehen. Scheißt euch nicht ein zu Hause, sondern
unternehmt was ... auf die Plätze ..."
Endlich wieder Musik. Stefan Vinsch erhöhte die
Lautstärke und trommelte den Rhythmus auf dem Lenkrad mit.
Immerhin, zwei Tage frei, besser als nichts. Bei diesem Regen
würden sich wenigstens keine Ausflügler ins Dorf
verirren. Stefan rückte unwillkürlich näher an die
Windschutzscheibe heran. Die Sicht wurde ihm regelmäßig
für Sekundenbruchteile durch graue Schlieren verwehrt. Die
Wischerblätter waren wahrscheinlich noch immer original und
das mit hundertachtzigtausend Kilometer auf dem Buckel. Wenn das
nur gutging. Die Kollegen in der Redaktion lachten immer wieder
schadenfroh ab, wenn er mit ölverschmierten Händen und
höllischer Verspätung auftauchte.
Die Karre hatte ihre Macken, zweifellos, aber der Kern war gesund.
Man mußte sie nur zu nehmen wissen.
Stefan steckte sich eine Zigarette an und kurbelte das
Seitenfenster ein klein wenig nach unten. Das Lüftungssystem
gab immer öfters den Geist auf und der Genuß der
Billigglimmstengel war nur im Freien uneingeschränkt zu
empfehlen.
Je mehr sich Stefan Tosbach, seinem Dorf näherte, desto
spärlicher wurde der Verkehr. Zugmaschinen, vereinzelte
Mopedfahrer und vielleicht noch eine Bofrostkutsche. Es konnte
also schon rein rechnerisch nicht mehr viel schiefgehen. Der Regen
ließ auch wieder etwas nach. In einer kräftigen Biegung
passierte es dennoch. Plötzlich war der Asphalt mit
schmierigem Lehm zugekleistert. Das Fahrzeug widersetzte sich
erfolgreich allen Kontrollversuchen und landete schmatzend im
linken Straßengraben.
Stefan kam mit dem Schrecken davon, auch wenn die Kiste nicht
über die neusten Sicherheitseinrichtungen verfügte.
Airbag von unten, oben und hinten, das war doch was für
Flaschen, die auch auf dem Scheißhaus noch einen
Sicherheitsgurt anlegten. Der Profi fährt so, daß
nichts passieren kann. Alles andere war neurotisch und
gefährlich, da es die ganzen Ärsche mit den dicken
Schlitten nur darauf anlegten. Ihnen konnte ja nichts passieren.
Die kleine Gurke vor mir schiebe ich zusammen wie ein Kartenhaus.
Also munter drauf los, die Straße gehört dem mit den
meisten Mäusen. Aber das war eigentlich auch nichts
Neues.
Nun gut, jetzt war es halt doch passiert. Mit dem Hinterteil voran
in den Graben. Stefan streifte sich seinen Armeeponcho über,
stieg aus und landete sofort auf dem Bauch. Die Lehmschmiere war
vom Regen über die Böschung gespült worden. Wenn
man darauf nicht gefaßt war, keine Chance.
Der Graben führte schon ordentlich Wasser. Wenn das so
weiterging ... Stefan sah das Rinnsal sich in einen
reißenden Bach verwandeln. Der Golf auf dem Dach schwimmend,
immer unerbittlicher von der tosenden Urgewalt gegen Findlinge und
entwurzelte Bäume geschmettert. Bald ähnelte die
Karosserie einer zusammengeknüllten Getränkedose. Wo
bitte geht's zum nächsten Entsorgungshof?
Stefan hatte noch gut reagiert und die Ame vor die Brust gebracht,
so daß er jetzt in Liegestützposition in der
Böschung lag. Nur die Schuhe steckten im Wasser und die Hose
hätte sowieso in die Wäsche gemußt.
Auch wenn die Antriebsräder fast mit dem Asphalt Kontakt
hatten, war an eine Münchhausenaktion nicht zu denken. In
dieser Stellung würde sogar der geländegängigste
Jeep scheitern, allen Differentialen und Untersetzungen zum
Trotz.
Oder auch nicht. Die Mercedestrucks sollten bei der Bundeswehr ja
wahre Wunderdinge vollbringen. Aber das brachte ihn jetzt auch
nicht weiter. Für seinen Volkswagen war die Klitsche auf alle
Fälle zu steil und naß. Stefan zog sich an der
geöffneten Fahrertür nach oben und bewegte sich
bedächtig, immer mit den Händen auf dem Fahrzeug,
zurück auf die Straße. Wie sollte es weitergehen?
Abwarten oder losmarschieren? Eins war so wenig erfolgversprechend
wie das andere. Ersteres wegen der geringen Verkehrsdichte.
Vielleicht alle zwanzig Minuten ein Fahrzeug. Viele zogen es vor,
sich ausschließlich um ihre eigenen Angelegenheiten zu
kümmern und wenn jemand stoppte, dann wahrscheinlich nur, um
einen Abschleppunternehmer oder die Bullen zu verständigen.
Abschleppen fiel grundsätzlich flach, weil die Gebühren
womöglich den Schätzwert des Fahrzeugs überstiegen.
Er konnte sich also unter Umständen krumm und bucklig
warten.
Beim Trampen benötigte man für die Strecke Schwarzheim
Tosbach bis zu drei Stunden. Für lächerliche
fünfundzwanzig Kilometer. Aber die Leute waren hier nunmal
so. Stoppen war was für Gammler und Asoziale. Der
anständige Bürger verfügte über einen eigenen
fahrbaren Untersatz oder benutzte die öffentlichen
Verkehrsmittel. Tosbach war ja ans Bahnbusnetz angeschlossen. Man
mußte nur früh genug aufstehen.
Also los. Stefan schätzte die restliche Strecke auf etwa
sieben Kilometer. Eine gute Stunde, wenn man sich ranhielt.
Vielleicht tauchte doch ein Traktor in den Feldern auf. Und
vielleicht konnte so ein Landmann durch genügend Cash
überredet werden.
Schade, daß vorhin keiner von den Kollegen zugegen gewesen
war. 'Provinzjournalist bis zu den Knien in Schlammaffäre,
unser Korrespondet vor Ort berichtet'. Dazu ein schönes
Photo, hätte wunderbar in die Sparte Vermischtes
gepaßt.
Wenn das verdammte Handy nicht gerade mal wieder in der Werkstatt
stecken würde. Nur wenn die Dinger nicht da waren, merkte
man, wie dringend man sie brauchte. Jetzt konnte er die
Buschtrommel auspacken. Es blieb allerdings fraglich, ob von der
Redaktion wirklich jemand angesprungen wäre. Bei einem
banalen Ausrutscher, noch dazu ohne Blechschaden. Doch immerhin
besser als nichts. Man könnte das Ganze noch ein
bißchen ausschmücken, vielleicht mit 'Elch drängte
Golf in den Graben'. Oder 'europageschädigte Landwirte
sperren Bundesstraße mit Klärschlamm, mehrere
Unfälle'. So in der Art. Warum nicht, sie hatten schon
dickere Hunde geliefert.
Stefan war eigentlich ein begeisterter Spaziergänger, aber
das, nein, das hatte mit erholsamer Fortbewegung an frischer Luft
nichts mehr zu tun. Der Wind klatschte ihm pflaumengroße
Tropfen ins Gesicht. Der schöne Ausblick auf's Flußtal
hinunter wurde einem durch tiefhängende graue Wolken
verstellt und seine Jeans hatte sich innerhalb weniger Minuten wie
ein Schwamm vollgesogen. Das einzige Fahrzeug, dem er begegnete,
war ein vollbesetzter VW-Bus. Und der preschte mit hundertzwanzig
Sachen vorbei. Lauthupend und mit einer Wasserfontäne im
Schlepptau.
Stefan hatte sich vorsorglich in ein Rübenfeld
zurückgezogen. Solchen Idioten war alles zuzutrauen. War es
denn ein Verbrechen, eine Panne zu haben? Dieser Gaskopf
mußte doch das havarierte Auto gesehen haben. Leider war das
Nummernschild des Rasers durch das Spritzwasser unleserlich
geworden. So einen Rüpel müßte man eigentlich
belangen, wegen Dummheit am Steuer.
Am besten nicht darüber aufregen. Aber wie, verdammt noch
mal, wenn man bis auf die Knochen naß war und vor sechs Uhr
der Kram für die Wochenendausgabe fertig sein mußte.
Zum Beispiel das Kreuzworträtsel, ein Artikel über die
Bundesliga und ein paar abgestaubte Witze, das alles bis achtzehn
Uhr.
Diese Dreckbären, die die Straße versaut hatten,
gehörten an den Pranger. Das mußte man den Moslems
lassen. Ihre direkte Art der Bestrafung hatte eine Menge für
sich. Verunreinigung einer öffentlichen Straße, zwanzig
Stockhiebe. Wer das durchgemacht hatte, war beim nächsten Mal
mit der Zahnbürste unterwegs.
Zehn Minuten später entdeckte Stefan einen Traktor, zwischen
gut bestockten Maisschlägen. Die Rettung. Er nahm nicht die
Abkürzung durch die Kartoffeln, sondern hielt sich strikt an
die Feldwege. Wenn zuletzt die Erdäpfel dem guten Mann
gehörten, wäre die Mission schon von vornherein zum
Scheitern verurteilt gewesen. Gott sei Dank stoppte der Landmann
bald seine Maschine. Wahrscheinlich hatte er ihn im
Rückspiegel ausgemacht. Es gab eben doch noch anständige
Leute. Stefan wollte die Gunst der Stunde auf jeden Fall nutzen
und legte die restlichen Meter im Trablauf zurück, so
daß er ziemlich außer Puste bei dem mächtigen
Schlepper ankam. Der Agrarier empfing ihn breit grinsend vor
seinem Ungetüm.
"Na, Genosse, wie sieht's denn aus? Haben Sie dich vertrimmt oder
gar ausgeraubt? Deine Mutti wird sich freuen, so naß und
dreckig wie du durch die Weltgeschichte strauchelst."
"Nein, nein, überfallen bin ich nicht gerade worden. Das
kommt in der Gegend hier vielleicht alle hundert Jahre mal vor.
Leider. Ich hab' nur 'ne Panne mit meinem Auto. Irgendwelche
Schwachsinnige haben den ganzen Dreck von den Feldern auf die
Straße befördert, mitten in 'ne grobe Kurve hinein. Na
ja, da bin ich halt im Graben gelandet. Alleine komm ich nicht
mehr raus. Ihr Prachtstück wär' da gerade richtig
dafür. Mit dem können Sie sogar einen Panzer bergen. Ich
zahl' Ihnen auch was."
Stefan zückte seine Geldbörse. Er wollte dem Mann
zeigen, daß er es ernst meinte. Der Landwirt nickte kurz und
schlug vor, die Unterhaltung im Traktor weiterzuführen.
"Ich will nicht so naß wie du werden. Hier drin ist's
schön warm und Radio haben wir auch. Für zwanzig Mark
hole ich dich raus."
Die Kabine war groß genug für vier. Stefan machte es
sich links auf einem ausklappbaren Sitz bequem und bestaunte die
vielen Schalter und Hebel.
"Da braucht man ja den Pilotenschein. Mein lieber Schwan, das
muß wohl ne ganze Ecke gekostet haben." – "Jo, ich kann
nicht klagen. Aber man muß investieren, sonst bleibt man
ganz schnell auf der Strecke. Mit 'nem alten Hanomag ist
heutzutage kein Staat mehr zu machen. Das Ding hat sechs Ziffern
auf dem Preisschild stehen gehabt. Ich weiß nicht, ob ich
das noch erlebe, daß der allein mir gehört. Aber was
willst du machen? Die Herren Politiker sind doch erst zufrieden,
wenn sie uns alle ruiniert haben. Hoffentlich bricht dann wieder
ein Krieg aus. So daß vom Ausland nichts mehr hereinkommt.
Dann können sie wieder im Stadtpark Steckrüben anbauen.
"
Stefan fragte, ob er rauchen dürfe. Der Landwirt wendete und
lamentierte weiter.
"Ach, mach' doch, was du willst. Als ob das noch einen Unterschied
macht. Der Dreck auf der Straße stammt übrigens von
irgendwelchen Kieskutschern, nicht von uns. Aber das ist typisch.
Alles wird den Bauern in die Schuhe geschoben:
Umweltverschmutzung, Geruchsbelästigung, Gift in Fleisch und
Brot. Soll ich denn meine vierzig Hektar nur mit der Harke
bearbeiten? Mein Herr Sohn ist nicht so blöde. Arbeitet in
der Fabrik, nicht einmal acht Stunden am Tag. Reichlich Urlaub,
hat das schönste Leben. Ob er den Hof mal übernimmt, ist
mehr als fraglich. Dann war alles für die Katz. Das Werk von
fünf Generationen geht mir nichts dir nichts den Bach runter.
Ihr Stadtmenschen wißt ja gar nicht, was das heißt.
Euch ist doch alles schnuppe. Eines Tages rächt sich das
alles, und ich bete, daß ich es noch erleben darf. Wo bist
du eigentlich her? Du redest so komisch."
Stefan zündete sich eine Zigarette an und antwortete:
"Aus Tosbach, aber nicht ursprünglich. Erst seit zwei Jahren.
Sie haben übrigens auch einen ganz ulkigen Dialekt."
"Aus Tosbach. Jetzt wundert mich nix mehr. Da gibt's doch nur
Verrückte, schon immer. Alles Spinner, sage ich dir. Mach
bloß, daß du von da wieder weg kommst. Was da schon
für Sachen passiert sind ..." – "Hier auf dem flachen Land
sind doch alle ein bißchen verdreht. Wenn man sich von
vornherein keinen Illusionen hingibt, fährt man nicht
schlecht. Ich liebe die Ruhe und die bekömmliche Luft. Wir
sind sowieso bloß noch acht Haushalte. So gut wie
ausgestorben."
"Aber nimm dich in acht. Du wirst noch an meine Worte denken. Das
Kaff hat noch keinem Glück gebracht."
Kurz darauf erreichten sie die Unfallstelle, da der Traktor auf
der Straße sechzig Sachen machte. Stefan fühlte sich in
dem Gefährt auf alle Fälle besser aufgehoben als in
seinem Golf. Mit so einem Ding kam man überall durch. Ein
Glanzstück deutscher Ingenieurskunst, das sein Geld
sicherlich wert war. Es stellte sich natürlich auch die
Frage, ob so ein Dinosaurier für bundesrepublikanische
Verhältnisse nicht überdimensioniert war. Eher kleine
Parzellen, schmale Straßen und überbreiter
Maschinenpark, das wollte nicht recht zusammenpassen. So ein
Gerät konnte sich hierzulande nie richtig amortisieren. Das
rechnete sich vielleicht in der Ukraine oder in Kanada, wo man
eine Woche benötigte, um einen Acker umzupflügen. Doch
nie hier, im engen Deutschland.
Alles nur ein heimtückischer Plan der Banken und
Agrarkonzerne, um die kleinen und mittleren Betriebe auszutrocknen
und zum Verkaufen zu bewegen? Großzügige Kreditvergabe
und dann gnadenlos zuschlagen, wenn die am Tropf hängenden
Höfe sturmreif geschoßen waren?
Eine zu drastische Formulierung vielleicht. Die Wahrheit trat wohl
erst zutage, wenn man sich tiefer in die Materie einarbeitete. Mit
Pauschalurteilen und unqualifizierten Phrasen war auch hier kein
Staat zu machen. Stefan nahm sich vor, tiefer in die Problematik
einzusteigen. Das Sujet lag direkt vor der Haustür. War ja
möglich, daß dabei noch ein schöner Artikel
absprang.
Der Landwirt wendete und brachte seinen Schlepper in Position.
Stefan stieg aus und hängte den Wagen mit dem Abschleppseil
an den Traktor. Ein kurzer Ruck und schon stand das Auto wieder
auf der Straße. Stefan löste das Seil von der
Ackerschiene und überreichte dem Bauern die vereinbarten
zwanzig Mark. Der Mann grunzte etwas Unverständliches und
brauste davon. Stefan versuchte nun den Knoten an seinem Fahrzeug
zu lösen. Doch er hatte den Strick verkehrt angebracht. Durch
den Zug war das verfluchte Seil derart fest zusammengezurrt,
daß keine Chance mehr auf eine Öffnung bestand. Stefan
holte sein Taschenmesser aus dem Handschuhfach und kappte das Seil
dicht neben der Öse. Gemäß dem Sprichwort
'Blöd darf man ruhig sein, man muß sich nur zu helfen
wissen.'
Was stand als nächstes an? Ein kleiner Motorschaden etwa?
Doch der Diesel ließ ihn nicht im Stich, auch wenn er
feuchtes Wetter eher verabscheute. Stefan legte die restliche
Strecke ohne weitere Komplikationen zurück. Tosbach empfing
ihn im vertrauten Grau, dazu Schlaglöcher,
renovierungsbedürftige Fassaden und verwilderte
Vorgärten. Ein richtiges Hinterwäldlerkaff, wie man es
eher vor zehn Jahren in der DDR erwartet hätte. Die
Einheimischen weitgehend ausgestorben oder verzogen, die
Neusiedler anscheinend mit dem abgetakelten Outfit zufrieden.
Oder, in Stefans Fall pekunär verhindert.
Das Gerücht, wonach Tosbach beim Bau einer weiteren Staustufe
einfach überflutet werden sollte, tat ein übriges. Warum
sich noch abtun und sinnlos Geld verpulvern, wenn eh alles
zerstört wurde?
Stefan leckte sich bereits die Lippen. Die sollten nur kommen. Ein
paar Kilometer stromabwärts war der Widerstand gegen die
Flußbauer zwar nach ein paar großzügigen
Finanzspritzen stillschweigend versiegt, doch an Tosbach sollten
sich die Staatsfritzen die Zähne ausbeißen. Ein
gefundenes Fressen für den Mann mit den richtigen
Verbindungen. Er würde buchstäblich über Leichen
gehen und jede umgemähte Brennessel in die zwanzig Uhr
Nachrichten bringen. Vielleicht, vielleicht war das der Durchbruch
und er schaffte den Aufstieg in die Top Ten, Stern oder Focus, zum
Beispiel.
Nur endlich raus aus diesem widerwärtigen Provinzmief. Wie
ihn das alles ankotzte: Fahnenweihen, Geburtagsfeiern im
Altenheim, dieses hölzerne Gekicke in den C-Klassen, und
überall gute Miene zum bösen Spiel machen müssen.
Diese Rapporte beim Chefredakteur und Herausgeber, 'Vinsch, Sie
Idiot, Vinsch, Ihre Artikel sind unter aller Sau, Vinsch, das sind
keine Kanarienvögel, die Sie zu fotografieren haben, sondern
Menschen. Wenn Sie nicht aufhören, die Leute zu verarschen,
fliegen Sie. Wennn Sie wollen, noch heute'.
Es konnte eben keiner über seinen Schatten springen.
Stefan verstaute den Wagen in der Scheune und leerte den
Regenmesser aus. Wenn es so weitergoß, trat die Drohm noch
heute nacht übers Ufer. Diese gottverdammten Idioten vom
Wasserwirtschaftsamt. Zig Millionen in den Sand gesetzt. Der
Gewinn: ein paar lumpige Megawatt für die Bahn. Angeblich
sollte mit den Stauwerken auch der Sohlenvertiefung Einhalt
geboten werden. Den Teufel mit dem Beelzebub austreiben, denn
hinter jeder Stufe schoß der Fluß mit erhöhter
Rasanz durch sein Bett.
Wahrscheinlich würden sie erst Ruhe geben, wenn jedes Rinnsal
kanalisiert und geknebelt war. Daß dabei einmalige Biotope
beerdigt wurden, schien die Herren in der Regierung nur noch zu
größerem Eifer anzustacheln. Intakte Ökosysteme
paßten nicht in ein modernes Industrieland. Zurechtstutzen
und abholzen. Der Landschaftsplaner wird's schon wieder richten.
Da war es wieder von Vorteil, in einem so kleinen Kaff zu wohnen.
In der Staat bekam man diese oktroyierten Verwüstungen doch
gar nicht mit. Aber vielleicht war das besser so. Da hatte man
dann noch in seinem Herzen Platz für die Regnwälder in
Lateinamerika. Oder man spendete für Greenpeace, nichtsahnend
welche Katastrophen sich vor der eigenen Haustür
abspielten.
Damit sich in Tosbach überregionale Demonstranten einfanden,
mußte das Militär wohl überirdische
Atombombenversuche vornehmen, mindestens. Obwohl, bei der
Schwarzheimstaustufe hatte sich der Widerstand auch sehen lassen
können. Eine Bürgerinitiative, Unterschriften für
ein Volksbegehren, Protesmärsche. Jedoch alles eher auf
Sparflamme, das ganz große Echo fehlte. Keine
Rainbow-warrior mußten von Pappeln losgeschweißt
werden. Lag es daran, daß die ganze Region von der
generösen Grundstückspreispolitik der Regierung
profitierte? Jeder, der ein paar lumpige Tagwerk sein eigen
nannte, machte mit der Flußbaugesellschaft seinen Schnitt.
Wer Land verlor, wurde mit Äckern bester Bonität
entschädigt. Da hatten sich die Herren nicht lumpen lassen.
Es wäre jedoch unfair, den Bauern den schwarzen Peter
zuzuschieben. So mancher von ihnen wußte, was es für
Kraft und Geld kostete, gegen den Staat zu prozessesieren. Und man
verlor doch meistens.
Die Herren Kommunalpolitiker in den Gemeinderäten und
Magistraten hatten klein beigegeben. Hier eine
Umgebungsstraße, dort eine moderne Brücke. Wer wollte
da noch bockig bleiben und das Großprojekt ablehnen. Es kam
ja doch. Daß die Straße auch ohne Stausee gebaut
worden wäre, stand auf einem anderen Blatt. Ebenfalls eine
Wahrheit war, daß die große Mehrheit der Bürger
nichts mit Radikalökologen am Hut hatte. Ein bißchen
Umweltschutz war o. k., aber nur dort, wo es nicht weh tat. Alle
Wahlen der vergangenen Monate belegten dies eindeutig.
Ein paar grüne Sprenkler, wenn es sein mußte auch in
der Regierung, gingen in Ordnung, aber bitte nicht zuviel davon.
Irgendwie hate sie auch recht, die schweigende Mehrheit. Die
ganzen von oben herab verordneten Umweltmaßnahmen trafen
meistens nur den kleinen Mann. Die Oberdreckschleuderer von der
Industrie wehrten jegliche Eingriffe schon im Ansatz mit dem
Argument Arbeitsplätze ab.
In Bangladesch gab es keine Emissionsgrenzwerte. Dann würden
eben die neuen Fertigungsanlagen dort errichtet. Ende der Debatte.
Schon durfte munter weiter drauflosverpestet werden.
Die großartige Bundesrepublik war davon abgesehen schon seit
Jahren federführend in den Bemühungen um
verschärfte Auflagen, nur die anderen, bekannten
Bösewichte blockierten die Verhandlungen, die nur sinnvoll
auf internationaler Ebene geführt werden konnten.
Ausflüchte, Beschwichtigungen und aufgeblasene Plattheiten,
glatt zum Lachen, wenn das Thema nicht so wichtig gewesen
wäre.
Auch wenn sich Stefan nicht viel Idealismus aus seiner Schulzeit
herübergerettet hatte, lief es ihm doch immer wieder kalt den
Rücken hinunter, wenn er die einschlägigen Meldungen in
den Zeitungen las. Er scannte abends alles in seinen Computer
hinein. Das so entstandene Archiv des Schreckens wuchs von Woche
zu Woche bedenklich. Wenn man die Tonnen und Kubikmeter summierte,
mußte man sich fragen, wie es überhaupt noch eine tumbe
Bazille schaffte, länger als vierundzwanzig Stunden üner
den Planeten zu kriechen, von höheren Lebewesen ganz
abgesehen.
Tagtäglich mit einem prähistorischen Diesel Dutzende von
Kilometern durch die Gegend zu stinken, zeugte freilich auch nicht
gerade von ausgeprägtem Ökologiebewußtsein. Doch
was blieb einem anderes übrig als Kleinverdiener? Stefan war
vor der Wahl gestanden: entweder ein neuer Gebrauchter oder ein
leistungsfähiger Computer. Mit einem Auto konnte man keine
Artikel schreiben, also kam der potente Rechner ins Haus, mit dem
er wesentlich schneller und besser arbeiten konnte, eben auch von
zuhause aus. Das war natürlich eine Bestätigung seiner
These. Die Bosse konnten sich immer das neueste und
superabgasbereinigte Modell leisten, während der Schmalhans
mit hohen Steuern und Fahrverboten für seine Rattenkiste
bestraft wurde.
Da klatschte der saturierte S-Klassepilot Beifall. Runter mit den
Gammlern von der Straße. Die Behindern doch nur den Verkehr
und schädigen den Ruf des anständigen Kraftfahrers.
Hatte nicht irgendwann einmal ein 911-er Porsche am wenigsten Gift
ausgepustet? Warum sprang da der Staat nicht in die Bresche, mit
einem angemessenen Betrag für bedürftige,
umrüstungswillige KFZ-Eigner? Sonst ging man ja auch in die
Vollen, bei Steuergeschenken für die armen Unternehmer und
Millionäre zum Bespiel. Durchdacht und logisch war dieses
System weiß Gott nicht, aber das kam grundsätzlich nur
selten vor, wenn viele Menschen beteiligt waren.
Stefan inspizierte kurz die Gemüsebeete. Schnecken und noch
'mal Schnecken. Heuer machten sie sich sogar über die
Zwiebeln und den Lauch her, sonst eine sichere Bank. Hatten die
alten Propheten doch recht? Stand die Ankunft des Antichristen
bevor, waren die gefräßigen Weichtiere eine biblische
Plage?
Von der Hand zu weisen war das nicht. Globale
Klimaveränderungen, die sich in den gemäßigten
Breiten durch milde Winter und tropische Sommer manifestierten,
waren durchaus geeignet, der Menschheit gehörig
zuzusetzen.
Tornados, Überschwemmungen und gefährdete Ernten, da
sich die Schädlinge durch den fehlenden Frost explosionsartig
vermehrten und Pilzkrankheiten durch die dämpfige Luft
begünstigt wurden.
Waren das die Gewänder des neuzeitlichen Gog, der seinen
Altar auf der Profitgeilheit der Gesellschaft errichtete?
Die Botschaft blieb dieselbe. Wer die Gestze mißachtet, wird
bestraft. Man mußte nur die Symbolik und Erscheinungsform
ins heute gebräuchliche Vokabular übersetzen.
Stefan war weit davon entfernt, ein Weltverbesserer zu sein. Er
hatte früh begriffen, daß ihm die Veranlagung zum
Märtyrer fehlte. Sein Lebensziel war nicht die Errettung des
Planeten, sondern sein eigenes Fortkommen. Der banale Wunsch,
Millionär zu werden, stand ganz weit oben auf seiner
Prioritätsliste. Von den Zinsen leben zu können, eine
Winterresidenz in der Südsee, Hochseejacht und Motorrad, ein
attraktives Auto ... die adäquate Gespielin würde sich
dann ganz von alleine finden.
Nie mehr für jemand anderen arbeiten müssen, sich jeden
Tag die Birne zuknallen zu können, unter LSD Bilder malen,
Videos produzieren, fotografieren, in vornehmen Cafes
frühstücken, Havannas rauchen, im Sommer jeden Tag zum
Baden gehen, nachts durch die Diskotheken ziehen und so weiter,
und so weiter.
Die unendliche Geschichte, Teil dreizehn.
Warum so viele Lottomillionäre noch weiterarbeiteten, nachdem
die Geldbombe eingeschlagen hatte? War das zuviel, absolute
Freiheit bis ans Lebensende, sich ausschließlich den eigenen
Launen hingeben zu können, Leben ohne Plan und Vorgaben? War
das nichts für ordnungsliebende Charaktere, denen ohne
Gängelung von oben unwohl wurde? Angst vor der eigenen
Courage?
Als Journalist ans ganz große Geld zu kommen, war nicht
gerade leicht. Man verkaufte sich mit Haut und Haaren an die
Redaktion, war nicht umsatzbeteiligt. Bücher müßte
man schreiben können, Herz-Schmerzreportagen, die sich
glänzend verkauften, wenn der Name schon zum Markenartikel
aufgestiegen war. Nur von selbstproduzierten Schmökern leben
zu können, schafften allerdings auch nicht viele.
In Deutschland sollte die Ziffer weit unter hundert liegen. Das
war nicht weiter verwunderlich, denn allein mit der Herstellung
des Werkes war es nicht getan. Alle wollten sich eine dicke
Scheibe abschneiden und der Anfänger mußte sich mit
mickrigen fünf Prozent vom Nettoverkaufspreis bescheiden. Da
mußte die Auflage schon siebenstellig werden, um genug
absahnen zu können.
Es machte wohl ebensoviel Sinn, auf einen Sechser zu warten.
Stefan malte folglich allwöchentlich seine Kreuzchen auf die
Spielformulare. Genauso wie die anderen Spießer, die
angeblich beim Haupttreffer aus der Bahn geworfen wurden und nicht
durch die jahrzehntelange Flaute. O. k., vielleicht nicht alle,
aber doch einige. Man las das doch immer wieder in der
Regenbogenpresse.
Ein Job bei der Bunten käme gut rüber, wenigtsens
für ein, zwei Jahre. Gesellschaftskolumnist Baby Vinsch, der
nach dem Interview die jungen, knackigen Schauspielerinnen en gros
vernaschte.