Mal so richtig auf den Putz hauen, nur noch Sekt und
Kaviar. Da hieß es aber sich ranhalten und alle Hemmungen
abstreifen. Aalglatt werden und nur noch den lüsternen Leser
im Visier haben, der täglich seinen Skandal zum
Frühstück versiert haben wollte.
Das waren leider noch lauter Luftschlösser. Zuerst hieß
es einen gelungenen Abgang beim Kurier hinlegen. Keine
Verspätungen, keine Patzer mehr. Der Chef sollte einen
Nervenzusammenbruch erleiden, wenn er ihm die Kündigung auf
den Tisch knallte. Also ran.
Man konnte das Gebäude, ein zweistöckiges
Mehrfamilienhaus, nur noch von der Rückseite her betreten.
Die Vermieterin, die Wiwe Fink, hatte vor ein paar Monaten das
Zeitliche gesegnet. Jetzt war ihre Nichte, Lisa Fink, die
Besitzerin des renovierungsbedürftigen Vorkriegshauses.
Stefan störte sich nicht am Zustand der Hütte. Ein
funktionsfähiges Scheißhaus, eine Dusche, Heizung und
ein Dach überm Kopf. Brauchte man wirklich mehr?
Er schloß die massive, verwitterte Eichenholztür auf,
oder besser gesagt, er versuchte es. Erst als er mehrere Male mit
voller Wucht gegen das Holz oberhalb des Schloßkastens
gedroschen hatte, gelang es ihm eine Schlüsselumdrehung zu
bewerkstelligen. Anschließend ging es mit Fußtritten
gegen die linke Hälfte, den Angelbereich, weiter. Schon
sprang die Tür zurück. Als ob überhaupt nichts
gewesen wäre.
Stefan empfing dumpfer Gruftgeruch im Flur. Die hatten die alte
Finke doch abtransportiert?
Der Zugang zum Parterre war Stefan verwehrt. Lisa hatte noch
einige Testamentsgefechte mit den anderen Erben am Laufen und
wollte deshalb vorerst niemanden in die Wohnung ihrer Tante
lassen. Solange der Mief nicht nach oben stieg, ging das in
Ordnung. Aber das war keine Dauerlösung. Gemäuer
mußten atmen, und wenn der Hausschwamm einmal Fuß
gefaßt hatte, war oft nichts mehr zu retten. Stefan nahm
sich vor, die Angelegenheit mit Lisa durchzusprechen.
Möglichst bald, am besten gleich heute abend.
Stefan wollte ins Kino gehen. Vielleicht hatte Lisa auch Lust und
ließ sich übereden.
Erst die Arbeit. Die Wendeltreppe knarrte gotterbärmlich
unter Stefans Schritten. Zwei volle Umdrehungen und spiegelglatte
Stufen, die Konstruktion hatte es wirklich in sich. Ein Bier
zuviel und man mußte auf allen vieren nach oben kriechen.
Stefan hatte diesbezüglich schon einschlägige
Erfahrungen gesammelt. Wahrscheinlich war seine Wohnung
früher den Dienstboten oder Tagelöhnerfamilien
vorbehalten gewesen. War nur fraglich, ob sich in dieser Gegend
jemals strukturierte Gesellschaften etabliert hatten.
Stefan lebte hauptsächlich im Wohnzimmer, dem
größten Raum seines Domizils. Hier wurde gearbeitet,
gegessen und geschlafen. Küche und Bad waren mit den
angestammten Funktionen belegt, die beiden restlichen Räume
dienten ihm als Abstellkammern für die unterschiedlichsten
Gegenstände.
Ein Außenstehender hätte das Ganze wohl als planlosen
Verhau bezeichnet. Stefan sah darin mehr das geordnete Chaos, das
die notwendige schöpferische Kreativität lieferte.
Einmal hatte er es schon geschafft, Lisa in sein Reich zu
entführen. Ihre Reaktion war niederschmetternd gewesen, das
erhoffte Schäferstündchen in unerreichbare Ferne
gerückt. Irgendwie auch verständlich. Wer wollte sich
auch stante pede mit einem verlotterten Schmierfinken einlassen,
der noch nicht über das nach mütterlicher Fürsorge
schreiende Jungesellenbudenstadium hinausgekommen war. Ein Typ,
der mit Ketchupflecken auf dem T-shirt und Schlamm zwischen den
Zehen begeistert über den Teppichboden watschelt ... nein,
man mußte es ihr wirklich nachsehen. Wenn es der Lausbube
mit fünfunddreißig noch nicht besser wußte, war
Hopfen und Malz verloren.
Stefan gab als erstes seinem Computer Saft. Satte Siebentausend
hatte ihn das Prunkstück gekostet, nur teilweise von der
Steuer absetzbar. Der Herr Finanzminister wußte ja genau,
daß das sogenannte Arbeitsmittel zum Spielen und Begaffen
von Pornobildchen mißbraucht wurde.
Nun gut, Stefan besaß mehrere Playboy CD-Roms, doch die
gebrauchte er doch nur, wenn er beim Erstellen langer Artikel
einzunicken drohte. Außerdem war nach den ersten Screens die
Luft raus. Die Pin-up Girls besaßen nach öfteren
Gebrauch allenfalls die Anziehungskraft einer altgedienten
Ehefrau.
Kollege Computer war selbstverständlich an verschiedene
Datennetze angeschlossen. BTX, Fax, alles inklusive. Und
natürlich ein Scanner, der gewisse Anforderungen an alle
Komponenten stellte und den Preis nach oben trieb. Für den
ernsthaft arbeitenden Journalisten war das Auge des PC's zum
Anlegen eines Archivs jedoch unabdingbar. Photos, Grafiken und
Texte konnten blitzschnell gespeichert und beliebig bearbeitet
werden. Stefan wußte gar nicht mehr, wie er früher ohne
dieses Werkzeug ausgekommen war.
Jetzt wurde es aber Zeit. Kreuzworträtsel warten nicht. Auch
diese Übung hatte viel von ihrem Schrecken verloren, seit
Stefan ein spezielles Programm sein eigen nannte, das just
für diesen Zweck geschaffen worden war. Man mußte nur
die Größe und den Wortmenge des sprachlichen
Querschlägermanövers vorgeben und schon legte der
Prozessor los. Zwei senkrecht, vier waagrecht, Stadt am Main,
sieben Felder und wieder senkrecht. Man konnte dabei zusehen und
gelassen die Füße auf dem Schreibtisch ablegen. Das
klappte natürlich nur, wenn man genügend Futter in Form
von Lexikas und Fremdwörterbüchern auf der Festplatte
verstaut hatte. Von nichts, kommt nichts. Natürlich konnte
die Geschichte jederzeit aktualisiert werden. Der Wordschatz stieg
ja ständig. Wer up to date bleiben wollte, mußte auch
das berücksichtigen.
Diese Arbeit war nach knapp zwanzig Minuten beendet. Stefan
begutachtete das Werk kurz: keine Beanstandungen, ab nach
Schwarzheim, per Datenfernübertragung. Das war eben das
Schöne an dieser neuen Technologie. Man konnte seine Produkte
satzfertig abliefern. Und wenn es dann doch noch etwas zu
verändern oder korrigieren gab, ging das kurz und schmerzlos
über die Bühne. Tipp-Ex ade, Fehlerteufel verpiss dich!
Ach du schöne neue Welt. So einfach wie mit den Rätseln
lief es allerdings nicht immer.
Gut, bei den Witzen spickte er ebenfalls. Auch in dieser Sparte
gab es genug Publikationen, auf die man zurückgreifen konnte.
Wenn man zusätzlich die Ohren offenhielt und bei den
richtigen Leuten auf den Busch klopfte, die den ganzen Tag nichts
anderes taten, als Kalauer auszubrüten und durch ihre Betrieb
zu kolportieren, ging einem so gut wie nie der Nachschub aus.
Für die Wochendausgabe reichte es allemal. Da taten es auch
aufgewärmte Radio Eriwan und Klein Ernareißer.
Chefredakteur Birman kritisierte diese Billiglösungen zwar
regelmäßig, doch Stefan kannte seine Leser. Zu
hochgestochen und intellektuell kam nicht an. Die ganze Familie
sollte angesprochen werden, nicht nur der verkrachte Parkstudent
im dreißigsten Semester. Garniert mit ein paar Anekdoten und
Lebensweisheiten konnte auch dieses Oeuvre losgeschickt
werden.
Stefan lag gut in der Zeit. Am Bundesligakommentar hatte er schon
während der Woche vorgearbeitet. Ein paar Agenturmeldungen
auswerten und mit einem neuen Anstrich versehen, das reichte
dicke. Es konnte schließlich niemand verlangen, daß
ein kleiner Provinzjournalist ständig hinter den Stars
herjagte und bei den Vereinspräsidien die Klinken putzte. Bei
dem niedrigen Bugdet war daran nicht im Traum zu denken. Birman
schimpfte bereits, wenn die Telefonrechnung am Monatsende zwei
Mark über der vorgegebenen Schallmauer lag, die laut ihm
äußerst großzügig bemessen war. Aber wenn
der Redakteur alles vom Büro aus erledigen mußte,
konnte das dicke Ende nicht ausbleiben. Gute Informationen hatten
ihren Preis.
Daß sich die Nachrichtenseiten der Tageszeitungen immer
stärker ähnelten, war auch unübersehbar. Entweder
teuer und exklusiv, durch eigene Recherche vor Ort, oder billig
und abgedroschen, durch Einkauf bei Agenturen und internationalen
Computernetzen.
Um achtzehn Uhr hatte Stefan den letzten Punkt an die Redaktion
übermittelt. Endlich Wochenende. Wenn es dem Chef nicht
anders einfiel. Es brauchte nur jemand krank zu werden. Da war der
windige Vinsch wieder recht. Na klar, Junggeselle, keine Freundin,
der kam doch spätestens am Sonntag auf dumme Gedanken. Wer
arbeitet, sündigt nicht. Das Telefon auszuhängen kam
allerdings nicht in Frage. Wer in dem Job nicht rund um die Uhr
erreichbar war, konnte bald einpacken. Die Drohung 'dann ruf' ich
bei Zeitung an' bewirkte in vielen Konflikten wahre Wunder. Der
Staat und viele Unternehmen scheuten die Presse wie der Teufel das
Weihwaser.
Stefan genoß die Macht, die ihm aus diesem Umstand erwuchs.
Wenn Sie nicht kooperativ sind, stehen Sie morgen ihm Kurier. Ein
Druckmittel, das fast immer Wirkung zeigte und so manche Tür
öffnete. Da wurden selbst die hohen Herren kleiner. Stefan
sagte auch nicht nein, wenn man ihm ein paar Blaue unter der Hand
anbot. Draußen in den Käffern zeigten sich besonders
die Gemeinderäte spendabel. Interaktive Medienarbeit
sozusagen. Ein paar Formulierungen entschärfen und schon
waren wieder alle zufrieden.
Stefan hatte deswegen keine moralischen Bedenken. Was er heute
unter den Tisch kehrte, fand sich eben einen Tag später im
Kurier, mit dem Kürzel eines Kollegen hintendran.
Diese Provinzbarone sollten nur glauben, daß sie mit ihrer
Kohle alles regeln konnten. Wirklich aufhalten und ändern
konnten sie jedoch nichts, zumindest im Kurier. Stefan ließ
sie es nur ab und an glauben. Außerdem verschaffte er sich
durch diese Taktik Zugang zu den geheimsten Quellen.
'Aber schreiben Sie bitte nichts drüber. Sie wissen schon,
Top Secret, erst wenn die Zeit reif ist.'
Hinterwäldlergeplänkel, aber schon der Ansatz zu
Hofintrigen im größeren Maßstab, wie in den
Metropolen.
Stefan streifte eine Regenjacke über und ging hinauf zu Lisa,
die am anderen Ende Tosbachs wohnte, drei Häuser weiter. Lisa
besaß einen kleinen, aber wohlsortierten Kramladen mit
Lottoannahmestelle. Wie sie es schaffte hier am Arsch der Welt
davon zu leben, war Stefan immer ein Rätsel geblieben. Jeder
Tosbacher hätte am Tag fünfmal mit einem proppenvollen
Einkaufswagen aus dem mickrigen Verschlag schieben müssen und
auch dann wäre es zweifelhaft gewesen, ob sie jemals schwarze
Zahlen schreiben würde. Gut, sie hatte alles parat, vom
Schnürsenkel bis zur Gänseleberpastete, und hungrige
Handwerker, die sich mit Bier und Wurstsemmeln mästeten, doch
die Hausfrau, die was auf sich hielt, deckte sich im Supermarkt in
Ludendorf ein. Die letzte echte Tante Emma hatte sich schon vor
zehn Jahren von den Regalen gestürzt. Lisa hatte zwar geerbt,
zuerst von ihren Eltern das Haus und den Laden, dann von ihrer
Tante ein weiteres Gemäuer, Stefans Wohnung. Aber die
fünfhundert Mark dafür waren auch nicht weltbewegend.
Sie war vermögend, freilich nur potentiell. Ihre alten
Hütten faulten still vor sich hin und verloren jedes Jahr an
Wert. Außerdem mußte sie noch eine
fünfjährige Tochter großziehen. Das Ergebnis einer
heftigen, allerdings nicht dauerhaften Liäson mit einem
Fabrikarbeiter, der schon längst in die nächste
Großstadt verschwunden war. Seitdem war Lisa zum
männlichen Geschlecht auf Distanz bedacht. Stefans
Annäherungsversuche waren deshalb bisher gänzlich im
Sand verlaufen. So leicht konnte der weibliche Instinkt nicht
getäuscht werden. Seine Absichten waren nicht ganz so
ernsthaft wie er vorgab.
Lisas Figur war nicht ohne und durchaus in der Lage, einen jungen
Burschen in Verwirrung zu versetzen. Kein kaltes Modell, sondern
jemand, der Geborgenheit vermitteln konnte. Knackiger Hintern,
üppige Brüste und stämmige Beine. Ein Typ, den man
oft auf Skibrettern brillieren sah und der auf viele Männer
sehr erotisch wirkte.
Stefan dachte oft an sie, wenn er nachts alleine im Bett lag. Sie
würde in der Tat eine gute Wärmflasche abgeben, das
kleine Fräulein Kolonialwarenhändlerin, aber eben nur
das. Mit ihr den Rest seines Lebens zu verbringen, konnte er sich
noch nicht ganz vorstellen. Nein, das waren zwei völlig
verschiedene Welten, die da aufeinanderprallten.
Für sie war er ein kleiner Spinner, ganz nett, doch nicht
mehr. Passend für ein paar Minuten Quatsch und rumalbern, um
sich die Langeweile zu vertreibenAls fester Freund oder gar Gatte
allerdings völlig indiskutabel. Schrecklich unreif für
sein Alter und bar jeglichen Verantwortungsbewußtseins. Sie
hatte ihn schon mehrmals darauf hingewiesen, daß es in
Schwarzheim oder anderswo gewise Einrichtungen gab für Kerle,
die partout etwas bei einer Frau loswerden mußten.
Derart kursbestimmend war Stefans Brünftigkeit alledings
nicht ausgeprägt, bei aller Liebe zum Objekt. Allein die
Vorstellung wie sich die kleinen Nüttchen periodisch von den
größten Säuen der Region bekletern ließen,
einfach widerlich.
Für den Verkehr bezahlen, eine abstruse Vorstellung.
Genausogut hätte ihn Birman zur Kasse bitten können,
für das Privileg in seiner Redaktion malochen zu
dürfen.
Bei den alten Ferkeln konnte man die gestaffelte Tarifpolitik noch
verstehen. Es dauerte schließlich oft eine Ewigkeit bis sie
einsatzbereit waren. Und das alte schwabblige Fleisch ... da war
eine Art Ekelzulage durchaus in Ordnung. Aber doch nicht bei einem
jungen Racker, der schon ein Rohr schob, wenn nur der Wind
wehte.
Stefans Kontakte zum Milieu waren selten und beschränkten
sich auf's Berufliche. Recherchen wenn's wieder mal Zoff unter den
Jungs gab, neue Territorien und Rangordnungen ausgefochten wurden.
Die Mädels mit den gelangweilten Gesichtern waren meilenweit
davon entfernt, auf seine Sexualzentren zu wirken. Ein Fall
für Perverse, die darauf standen, mit ihrer Kohle Macht
auszuüben.
Erstaunlich war, daß selbst in einem Kaff wie Schwarzheim
die Grundmuster des organisierten Verbrechens zutage traten.
Zuhälterei, Drogenhandel, Schutzgelder. Alles in einer Hand
und straff geführt. Es war ratsam, nicht zu tief in diesem
Morast herumzustochern. Der Mob und die Öffentlichkeit,
vertreten durch den Kurier, zogen an einem Strang. Was nicht sein
sollte, war auch nicht. Gewisse kriminelle Sparten wurden von der
Zeitung geflissentlich übersehen. 'Vinsch, Sie sind ein
Nestbeschmutzer. Bei uns gibt's keine Fixer. Wir sind eine
anständige Stadt mit ehrenwerten Bürgern. Ihre
Revolverblattstories paßen nicht hierher. Wenn Typen wie
Ihnen nichts mehr einfällt, wühlen sie im
nichtvorhandenen Dreck und schleudern ihn blindlings durch die
Gegend. Irgendwas wird schon irgendwo hängen bleiben. Das ist
kein Journalismus, das ist Denunziation. Wenn so etwas noch einmal
passiert, schmeiß ich Sie raus, hochkant', Originalton
Birman als Stefan ihm eine Reportage über Barmädchen auf
dem Land vorgelegt hatte.
Wahrscheinlich befürchtete der Gute, daß zuviel
Lokalgrößen und Honoratioren verwickelt waren. Nicht zu
unrecht. So manches Mal waren bekannte Gesichter aus den
Etablissements gewischt, wenn Stefan auftauchte, um seine
Interviews zu tätigen. Dabei hatten die Mädels so brav
mitgespielt. Eine hatte ihm sogar angeboten, die Studien im
Separee fortzuführen, ohne Topzuschlag.
Mit der Zeit war Stefan feinfühliger geworden. Höchstens
noch einen Anschiß pro Monat. Der Kurier war eine
Familienzeitung, fast fünfzig Prozent der Leser über
sechzig. Die Herren Redakteure hatten sich danach zu richten,
basta.. Man gewöhnte sich daran, aber es war furchtbar
langweilig. Stefan spürte, daß es wieder einmal Zeit
wurde, den Standort zu wechseln. Denn wenn er hier hängen
blieb, konnte er sich mit vierzig beerdigen lassen, so tot war er
bis dahin. Da half auch keine Lisa. Ein bißchen vielleicht
schon, zumindest einen Abend lang.
Lisas Heim unterschied sich wohltuend von den anderen
Häusern. Geranienkästen vor den Fenstern,
Storchschnabelmeere links und rechts neben dem Granitweg, der zum
Laden führte und üppiger Efeu bis zu den Dachrinnen
hinauf. Man konnte auch mit wenigen Mitteln eine große
Wirkung erzielen.
Das Anwesen gegenüber, in dem die Millbrüder mit ihrer
Mutter hausten, wirkte um hundert Jahre älter.
Abblätternder Putz, stumpfe Scheiben und ein vom Moos
überwuchertes Dach. Als ob die Familie genau wußte,
daß demnächst die Welt untergehen würde.
Vielleicht hatten sie ja recht, siehe Staustufe. Solche Leute
hörten oft das Gras wachsen.
Im Laden schien noch gearbeitet zu werden. Einige Kisten standen
zwischen den Regalen. Die Tür war zu. Warum sie es
ausgerechnet heute so genau nahm? War doch erst zehn nach. Stefan
drückte sich die Nase an der Scheibe platt und klopfte
heftig. Nach einer kleinen Ewigkeit tauchte Lisa auf. Aus dem
Keller und mit einem Kasten Bier in der Hand. Fehlten nur noch
Lockenwickler. Lisa sperrte auf.
"Tag Schätzchen! Ist bei dir der Wohlstand ausgebrochen oder
was? Um die Zeit schon zu? Sonst wird doch bei dir immer bis in
die Puppen gepichelt";sagte Stefan und versuchte, ihr den Kasten
abzunehmen.
"Laß das Bier in Ruhe. Du bringst nur alles durcheinander.
Mach Platz." Lisa schob Stefan beiseite und begann, die Flaschen
ins Kühlregal zu räumen.
"Bist du nur schlecht drauf, weil du noch arbeiten mußt oder
bin ich der Grund? Sag mir ruhig, wenn ich dir auf den Wecker
falle. Ich bin sofort wieder weg", sagte Stefan und ging
zurück zur Tür. Das Fräulein hatte wieder schlechte
Laune. Wahrscheinlich nur zwei Stück Butter an den Mann
gebracht. Das konnte einem schon an die Nieren gehen.
"Mach, was du willst. Ich hab zu tun. Deine Einkäufe
tätigst du ja sowieso woanders", äußerte Lisa
unwirsch.
Stefan drehte sich wieder um." Das ist glatt gelogen. Ich kaufe
bei dir was geht. Ohne mich wärst du schon längst
bankrott. Sogar einen Artikel über dein Geschäft hab'
ich im Kurier lanciert. Mit Bild! Und dann sowas. Daß es
eben manchmal nicht anders geht, ist nicht meine Schuld. Oder
führst du Druckertoner und Präservative? Also ..."
Lisa, die mit dem leeren Träger in den Keller
hinuntergegangen war, lachte hörbar." Du und Gummis?
Genausogut könnte man einer Kuh Strapse verkaufen. Welche
Größe denn, damit ich mich eindecken kann? Das
Vergnügen laß ich mir nicht nehmen. Oder hast du
tatsächlich noch jemand aufgegabelt? Wahrscheinlich eine von
deinen überspannten Tippsen. Aber paß auf. Die
servieren dich genauso schnell wieder ab."
"Keine Angst. Ich brauch' die Dinger nur zum Trainieren. Üben
für den Ernstfall. Ich hebe mir alles für dich auf. Wenn
du willst schon heute abend. Ich lade dich ins Kino ein.
Anschließend zum Italiener. Es läuft ein sehr guter
französischer Krimi, kein Hollywoodramsch. Das würde dir
guttun. Nicht nur immer Waschmitel und Mottenkugeln. Der Film
muß echt heiß sein. Ein Kollege hat ihn schon
angetestet."
Lisa kam mit einer weiteren Kiste die Treppe herauf." Und Anna?
Soll ich Sie vielleicht mitnehmen? Du weißt doch, wie
anhänglich sie ist."
Anna war Lisas fünfjährige Tochter. Die Mutter
schützte das Kind meistens vor, wenn Stefan mit ihr ausgehen
wollte. Aber diesmal wollte er nicht so einfach aufstecken. Sie
hatte doch viele Bekannte, die ebenfalls mit Knirpsen gesegnet
waren.
"Bitte überleg dir was. Du kannst mir nicht weismachen,
daß du bis zu ihrem achtzehnten Geburtstag zuhause hocken
willst. Da trocknet man ja ein. Eine Frau in deinem Alter! Ich
versprech dir auch, keinen Annäherungsversuch zu machen. Nur
Kultur und mangiare. Ich freue mich doch schon seit Montag auf
heute nacht. Gib dir einen Ruck. Du wirst es mit Sicherheit nicht
bereuen."
Lisa setzte das Bier neben der Theke ab und strich mit den
Händen über ihren Kittel. Sie schien nicht mehr ganz
abgeneigt zu sein." Unter Umständen könnte es gehen.
Anna ist noch immer bei Paula in Ludendorf. Wenn die heute nichts
mehr vorhat, könnte die Kleine bei ihr übernachten. Ich
muß dann eben morgen früher aufstehen und den Rest
einräumen. Ob ich überhaupt was zum Anziehen hab'?
Apropos, wie siehst du denn aus? Ich dachte, du arbeitest in einem
sauberen Büro und nicht in einer Senkgrube."
"Ach das. War nur eine kleine Havarie. Ich hab' also gewonnen.
Spätestens um halb acht mußt du dich in Schale
geschmißen haben. Können wir deinen Wagen nehmen? Der
ist eleganter. Meiner ist bei diesem Wetter nur mit Vorsicht zu
genießen. Endlich rührt sich mal wieder was in der
Bude. Ich enteile!"
Stefan wurde plötzlich mit Urgewalt in den Laden
zurückgeschoben. Ein zotteliger Riese stürmte ins
Geschäft und grummelte etwas Unverständliches. Helmut,
einer der Millbrüder. Er kam, um für sich
und den Rest der Familie die Abendration zu holen. Die Mutter
trank auch noch gerne einen mit.
Stefan beneidete Lisa nicht um diese Nachbarn. Die Brüder
waren berüchtigte Säufer, die keiner Schlägerei aus
dem Weg gingen. Sie arbeiteten beide auf dem Bau und waren
ausschließlich in einem kleinen Firmen-LKW unterwegs. Ihre
Eskapaden fanden meistens in Schwarzheim statt, am liebsten
Freitag nacht. Nach einer ausgiebigen Kneipentour, wenn sie sich
genug Mut angetrunken hatten, ging es weiter in die Nachtclubs.
Und dort krachte es dann öfter, falls sie sich
übervorteilt fühlten, oder sich die Mädchen
weigerten, mit den Dreckbären ins Bett zu steigen.
Lisa begann sofort, den Korb, den Helmut mitgebracht hatte, mit
Bier zu füllen, ohne besondere Aufforderung. Helmut Mill
fischte einen Zwanzigmarkschein aus seiner Armeejacke und legte
ihn auf die Theke.
"Und eine Schachtel Reval."
Sogar ein Joe Cocker hätte ihn um diese Stimme beneidet. Lisa
nickte und rechnete im Kopf mit. Fünf Mark die Zigaretten,
fünfzehn für's Bier. Wenn es um Alkohol ging, waren die
Mills immer großzügig. Lisa gab achtzig Pfennig heraus
und legte die Glimmstengel auf die Flaschen." Aber bring mir die
leeren Pullen zurück. Ihr müßtet noch welche
haben."
Helmut maß Lisa mit einem abschätzenden Blick und
verließ grußlos den Laden.
"Ein herzliches Früchtchen. Und so freundlich. Wieviel
vertilgen die denn im Schnitt? Einen Kasten, zwei, drei ... ?
fragte Stefan erheitert. Da waren sie doch, die waschechten
Hinterwäldler, die jeden mittelmäßigen Krimi
komplettierten. Maloche, Suff und billiger Sex im Bordell. Wer so
lebte, mußte unheimlich was drauf haben! Keine Laschies, die
nach acht Stunden im Büro Lindenstraße konsumierten und
nebenbei Babies wickelten.
Lisa stellte sich neben Stefan an die Tür." Ich sperr' jetzt
zu. Allein bin ich auf jeden Fall schneller fertig. Also ..."
Stefan nickte." O. k., um halb acht. Ich werde hier sein. Ciao
Bella." Er deutete einen Handkuß an und streifte die Kapuze
über. Der Abend war gerettet. Stefan lief zurück in
seine Wohnung. Der Regen hatte um keinen Deut nachgelassen. Und
die Metereologen stellten keine Besserung in Aussicht. Hoffentlich
behielten sie recht. So eine richtig schöne Naturkatastrophe
mit Toten und Vermißten, Dammbrüche, weggespülte
Häuser und Straßen, Kleinkinder, die auf wackeligen
Bettgestellen durch tosende Wasser treiben ... mein Gott, man
durfte ja gar nicht daran denken. Nur ein einziges Mal sollte sich
in dieser verfluchten Gegend etwas rühren ... und wenn's nur
ein bißchen Hochwasser war.
Stefan legte eine Scheibe in den CD-Player und zog sich aus. Ihm
war gar nicht aufgefallen, daß seine Klamotten so verdreckt
waren. Frauen hatten für sowas ein Auge. Wenn man die
Veranlagung dazu hatte, konnte man alleine ganz schön
verlottern. Für wen sollte man sich auch in Schuß
halten? Für die Arbeitskollegen, die einem genausoviel
Aufmerksamkeit schenkten wie einem Radiergummi? Eben.