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Stefan ärgerte sich noch immer über den Verlauf des letzten Abends. Lisa war ihm keinen Millimeter entgegengekommen. Kein Wort des Dankes, obwohl sie ihn fast dreißig Mark gekostet hatte, ohne den Wein.
Gut, sie war keine Prostituierte, mit der man über den Rechenschieber verkehrte, aber ein bißchen mehr Wärme und Aufgeschlossenheit hätte sie schon aufbringen können. Dann dieser Blödsinn mit den Entwicklungsländern. Absolut kein Thema für ein Candlelight Dinner. Als feigen Schwanzklemmer, der seine Pflicht und Schuldigkeit mit lauem spenden und demonstrieren zu tun können glaubte, hätte sie ihn ebenfalls nicht zu bezeichnen brauchen. Auch wenn sie es nicht besser wußte. Das ging zu weit. Hatte er nicht im März drei Wochen bei einer moslemischen Freischärlereinheit in den Bergen um Sarajevo verbracht, ständig mit dem Tod vor Augen? Klar, nicht nur um sich mit den bosnischen Soldaten zu solidarisieren, die im Namen Allahs kämpften und bei jeder Konferenz der beiden Großen, den Serben und Kroaten, übergangen wurden, sondern auch um Material zu sammeln für einen Artikel über den Balkankrieg, der immer wieder auf die Titelseiten in den europäischen Metropolen zurückgesprengt wurde.
Eigentlich eine Schnapsidee, dieser Einsatz. Aus einer Bierlaune heraus geboren in einer Kreuzberger Kneipe, die Stefan während eines Berlintrips zwischen Weihnachten und Neujahr aufgesucht hatte. Dort war er mit einem Haudegen im Tarnanzug ins Gespräch gekommen, der ihm ausgiebig von seinen Heldentaten erzählte und stolz fünfundzwanzig auf seinem linken Unterarm eintätowierte Striche präsentierte. Jeder Strich stand für einen getöteten Serben.. Er pflegte seine Feinde aus großer Entfernung mit einem Scharfschützengewehr zu erledigen. Die Anwerbungsversuche, die der militante Moslem wenig später unternahm, fielen bei Stefan auf fruchtbaren Boden. Endlich eine Chance, sich aus dem Drecknest herauzuarbeiten. So weit war doch noch kein anderer gegangen. In eine Uniform zu schlüpfen und nach ganz vorne zu gehen, mit der kämpfenden Truppe. Ganz so wie Goebbels Propagandakompanien im zweiten Weltkrieg. Abwechselnd schießen und fotografieren, ohne Rücksicht auf Verluste!
Die Begeisterung war auch am nächsten Morgen nicht verflogen, als Stefan mit einer Zagreber Adresse in der Brieftasche und einem schweren Kopf aufwachte.
Er hatte schon öfters mit dem Gedanken gespielt, sein Glück im ehemaligen Jugoslawien zu versuchen, doch so richtig konkret waren die Pläne nie geworden. Nachdem Auftauchen Abduls, des Moslemskriegers, war dann alles schnell gegangen. Unter anderem weil die Moslems die Underdogs waren und keine Lobby bei den Großmächten besaßen. Diese Volksgruppe konnte man fast nach Belieben drangsalieren und entrechten. Es krähte kein Hahn danach. Sie saßen auf keinen Ölquellen wie ihre reichen Glaubensbrüder auf der arabischen Halbinsel. Stefan betrachtete sich zwar nicht als Märtyrer, aber immerhin, die Sache war den Einsatz wert.
Als die größte Kälte vorüber war, machte er sein Testament und deponierte es mitsamt der Anschrift des geheimen Rekrutierungsbüros bei einem befreundeten Rechtsanwalt in Schwarzheim. Sonst erfuhr niemand von diesem Unternehmen, nicht einmal seine Eltern. Die hätten sich nur unnötig aufgeregt und ihn sowieso nicht verstanden. Es war natürlich auch nicht ganz ungefährlich, in ein Kriegsgebiet einzureisen und dort richtig mitzumischen. Allein mit einer Handgranate konnte man mindestens ein Dutzend Menschen ins Jenseits befördern, die alle Verwandte hatten, die nach Rache dürsteten.
Überall wimmelte es von Spitzeln und Agenten, nicht nur in Bosnien, sondern auch in Deutschland. Die Serben überwachten die Kroaten und Moslems, die Kroaten die Moslems, die Moslems die Serben und Kroaten usw., keiner traute niemanden. Stefan befürchtete, daß er in Berlin aufgefallen war und von einem Killerkommando in Empfang genommen würde. Aber es ging alles glatt und der Einsatz selbst verlief unspektakulärer als erwartet.
Nach zweitägiger Grundausbildung, Stefan profitierte von seiner Bundeswehrzeit, war er einem Infantriezug zugeteilt worden, der ausschließlich nachts operierte. Minen legen, Minen räumen, Stacheldrahtverhaue beseitgen, Gebäude säubern und Scharfschützennester ausheben, waren die Hauptaufgaben. Nur zweimal hatten sie Feindberührung, allerdings auf eine Distanz von circa hundert Metern. Ein paar Schußwechsel und die Sache war erledigt. Keine Nahkampf mit aufgepflanztem Seitengewehr, keine Befragung mit der Daumenschraube. Stefan zweifelte jedoch nicht daran, daß seine Mitstreiter in diesen Disziplinen unerfahren waren. Im Koran gab es genügend einschlägige Passagen, in denen verdeutlicht wurde, wie mit Ungläubigen im Heiligen Krieg zu verfahren war.
Da nur nachts auf Patrouille gegangen wurde, konnte Stefan nur sehr selten von seiner Kamera Gebrauch machen. Er blieb Wortberichterstatter, nur mit Block und Stift bewaffnet. Er hatte es nämlich abgelehnt, ein Sturmgewehr zu tragen, weil er nur so die nötige Distanz zum Geschehen wahren konnte. Wie ich in einer Nacht fühnzehn Serben killte, das war denkbar ungeeignet als Kapitelüberschrift für sein bosnisches Tagebuch. Töten um eine Story zu bekommen. Nein, als Journalist wurde einem vieles verziehen, aber nicht alles.
Stefan kehrte also mit einigermaßen intaktem Gewissen zurück nach Deutschland. Er hatte beobachtet und dokumentiert, für eine gerechte Sache, aber das reichte nicht. Er brachte die Reportage nicht an den Mann. Bilder kamen nur noch an, wenn auf ihnen möglichst viele zerstückelte Leichen zu sehen waren und der Bericht war nach Ansicht eines Chefredakteurs zu tendenziös. Er könne keine Landsergeschichten in seinem Blatt veröffentlichen, obwohl er ihm privat durchaus auf die Schulter klopfe. Wie liebenswürdig.
Stefan war dennoch zufrieden mit seiner Tour. Er hatte sich bewiesen, daß er auch noch etwas anderes konnte, als Hausfrauenrätsel zu Papier zu bringen. Außerdem sah er Dinge etwas gelassener, seitdem er erlebt hatte, unter welch extremen Bedingungen Hundertausende ihr Leben fristen mußten, in unmittelbarer Nachbarschaft zu Deutschland.
Viele waren mehrfach vertrieben worden, verloren über Nacht alles, was sie sich ein ganzes Leben lang erwirtschaftet hatten. Kleine Jungs im Kindergartenalter, die trotzig auf einem Bein durch die zerschoßenen Siedlungen humpelten. Alles viel eindringlicher als durch den Filter Fernseher. Hier konte man nicht ab oder umschalten. Stefan hatte sich vorgenommmen, durch sein Aufzeichnungen zu helfen. Deutschland war doch ein mächtiges Land, daß, wenn es aufgerüttelt war, viel auf der internationalen Bühne erreichen konnte.

Man mußte nur am Ball bleiben und den Finger immer wieder auf den wunden Punkt legen. Freilich währte der Krieg schon sehr lange und mit ihm die Berichterstattung über die schrecklichen Ereignisse. Die Gefahr war groß, daß das Publikum abstumpfte oder sich schlicht satt gesehen hatte.
Auf älle Fälle hatte er etwas Außergewöhnliches geleistet und mußte sich nicht mehr der Gleichgültigkeit bezichtigen lassen. Schon gar nicht von einer Krämerin, die vor Selbstmitleid troff, weil sie einer ihrer Beschäler mit einem Balg zurückgelassen hatte.
Stefan schaltete das Radio ein und stellte sich ans Fenster. Die Löfflers brausten gerade davon. Bestimmt keine schlechte Idee. Wenn Hajo recht behielt und der Tosbach bald kam, würde es bestimmt sehr ungemütlich werden. Ob die Kornmeiers auch türmten? Stefan mußte grinsen, wenn er an diese Ökofamilie dachte. Otto, der Vater, war Schreiner und arbeitete in Ludendorf in einem Alternativbetrieb, der nur glückliche Bäume verarbeitete. Bart, Schafwollpullover und Birkenstock. Diese drei Attribute zierten Otto seit Stefan ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Sommer wie Winter. Eva, seine Frau hatte es sogar fertiggebracht, Lisa dazu zu bewegen, Dinkel und Weizenkeime in ihr Sortiment aufzunehmen. Auch sie war Jahr und Tag in wallende Gwänder gehüllt, eine Generation nach Woodstock. Ihre Kinder schickten sie jedoch brav in staatliche Kindergärten und Schulen. Eine andere Möglichkeit gab es hier draußen auch gar nicht.
Die Kornmeiers waren die einzigen, die in Tosbach richtig aufblühten. Kein Verkehr, keine Industrie, viel freie Natur. Ideal für Aussteiger und Zivilisationsflüchtlinge, die Alternativen zu der von oben und der Allgemeinheit verordneten Daseinsform suchten. Auf der Wiese hinterm Haus hielten sie Schafe und Ziegen, die sie von den Mills erstanden hatten. Besonders die Kinder hingen an den Tieren und würden sie bestimmt nicht einfach ersaufen lassen. Die Kornmeiers blieben also da. Vielleicht war Otto schon am Basteln und stellte eine Arche Noah her. Abgesehen von ihrem Ökogetue waren die Kornmeiers ja ganz nett. Man würde auf sie zählen können, wenn es Schwierigkeiten gab.
Nicht so verbiestert wie die Loses, die ein Haus weiter wohnten. Gleich nach der Wende aus Sachsen-Anhalt rübergewechselt und nahtlos in den Kapitalismus eingegliedert. Dieter Lose hatte den richtigen Beruf mitgebracht: Werkschützer. Solche, die ihr Handwerker verstanden, waren auch im Westen gesucht und er war sehr schnell bei einem Automobilkonzern untergekommen. Stefan bezeichnete ihn Lisa gegnüber als Stasiwendehals, der unter Honey und Wolf sicher so manchen über die Klinge habe springen lassen. Allein der spekulierende Blick spräche Bände. Lisa meinte nur, daß sie solche Spinnereien nicht interessierten. Außerdem hätten sich viele nicht aussuchen können, wie und wo sie sich ihre Kröten verdienten. Da war was dran, aber diesem Lose blitzte permanent der Spitzel aus den Augen.
Seine Traude erledigte die Einkäufe und wechselte nur dabei ein paar Silben mit Lisa, die davon lebte, daß man bei ihr unfiltrierten Sermon ablassen konnte. Sonst hieß die Parole, Schotten dicht, keinen Kontakt zu niemand. Daß sie sich nicht mit den Kornmeiers oder gar der Millfamilie einlassen wollten, durfte man ihnen eigentlich auch nicht nachtragen. Wie sie sich bei einer Hochwasserkatastrophe verhalten würden, war nicht vorhersehbar. Keine Kinder, die gerettet werden mußten, kein Viehzeug, das nicht evakuierbar war.
Vielleicht hielt sich Traude einen Beo, bei dem sie ihre Sorgen loswerden konnte.
Ein Grundstück weiter, über den Tosbach hinüber, waren die Mills zu Hause. Sie spotteten zwar nicht jeder Beschreibung, doch man mußte sie schon einmal mit eigenen Augen gesehen haben, um zu wissen wie man mit ihnen dran war.
Bärbeißig, schroff, einsilbig und fast immer betrunken. Besonders am Wochenende, wenn sie von Bier auf Hochprozentiges umstiegen, waren sie nur noch mit Vorsicht zu genießen. Dann hatte sie nur noch die rüstige Mutter im Griff, die die ab und an lädiert heimkehrenden Burschen zusätzlich mit einem schweren Wanderstock traktierte. So rauh und unberechenbar die Brüder im Umgang mit Menschen waren, so fürsorglich gingen sie mit ihren Tieren um. Natürlich, das Gatter hinterm Wohnhaus glich einem zoologischen Panoptikum und schien neue Arten zu enthalten.

Etwa die Schiege: Vater Geißbock, Mutter Wollschaf. Doch die Tiere wurden immer ordentlich versorgt und gefüttert. Und nicht nur von der Mutter. Hubert und Heinz, der jüngere, legten kräftig mit Hand an, auch wenn sie noch so besoffen waren. Da passierete es schon mal, daß sie ihre Räusche in den Freilandställen ausschliefen. Lisa meinte, wenn die Alte abdankte, wäre es mit den beiden ebenfalls aus, da mit der Mutter die einzige moralische Instanz fiel, die für die Brüder von Bedeutung war. Entweder erschlugen sie sich danach gegenseitig oder landeten im Zuchthaus, wo sie ohne ihre geliebten Viecher bald elendig krepieren würden.
Stefan war das relativ egal, so lange sie ihm nicht in die Quere kamen. Wichtig war nur, daß auch die Mills auf keinen Fall das Feld räumen würden. Es zeichneten sich dort allerdings äußerst unschöne Szenen ab. Wohin mit den Hasen, Hühnern, Tauben, Katzen, Ponies, alle geliebt und unersetzlich, wenn die braune Flut zwischen den Käfigen und Gattern wütete? Tja, was wenn ... ?
Bis jetzt verlief alles nach Plan. Die Niederschläge wurden vom großen Kanal aufgenommen und abtransportiert. Daß der Fluß dabei ein bißchen übers Ufer trat, war nichts Besonderes. Wie man überhaupt glauben konnte, daß etwas extrem außer der Reihe ablaufen würde? Lisa kramte bestimmt
noch keine Schwimmflügel hervor, die sie Anna im V-Fall überstreifen konnte. Sie würde sich folgendermaßen ausdrücken: Berufskrankheit, Sensationsgier, Schreiberlingsphantasien, die nicht das Papier wert waren. Dabei konnte ihr das Lachen schnell vergehen. Ihr Keller war proppenvoll mit leicht verderblichen Lebensmitteln. Da genügten schon ein paar Pfützen und etliche Tausende gingen den Bach runter.
Bislang war nichts passiert, da würde auch in Zukunft nichts schiefgehen. Credo der Lemminge. Was war mit der neuen Staustufe und ihre Auswirkungen auf die Nebengewässer der Drohm? Vielleicht hatten die Kanaillen mit Absicht so gebaut, daß die kleinen störenden Käffer so lange unter Wasser gesetzt wurden, bis die letzten freiwillig ihre Koffer packten und ihre wertlos gewordenen Immobilien für ein Butterbrot veräußerten. Nach der Devise die begriffsstutzigen Kleinhäusler verstehen halt nur eine Sprache.
Schreiberlingsphantasien, ja, ja, der Stefan spinnt mal wieder. Wenn es allerdings so weitergoß, würde Lisa ziemlich bald an ihn denken. Wenn ..., also Schluß mit dem Hin und Her.
Nächstes Haus. Die Dorns. Er, Peter, Polizist, allerdings nur bei der Schupo. Oberwachtmeister oder sowas ähnliches, aber nicht auf den Kopf gefallen. Sie, Doris, nur Ehefrau, keine Kinder. Wahrscheinlich warteten sie die nächste Beförderung ab. Mittlerer Dienst, da war bereits eine Katze nur mit Mühe durchzubringen. Stefan zog Peter deswegen öfter auf, obwohl er ihn wegen der Sozialleistungen beneidete. Peter ließ bisweilen schon mal eine kleine Information rüberwachsen. So auf dem Niveau von Promillezahlen. Der Unfallfahrer, der in der Nacht von Samstag auf Sonntag seine nagelneues BMW-Cabriolet im Wert von sechzigtausend DM gegen eine Baum steuerte, kam mit einem blauen Auge davon. Er entstieg dem Wrack fast unverletzt, aber mit einer gehörigen Fahne im Schlepptau. Die anschließende Blutprobe ergab ... diese kleinen, netten Meldungen eben, die am Montag in den Provinzgazetten allein schon aus erzieherischen Gründen auftauchten. Oder der Verkauf von Sonntagabendehekrächen. Frau verletzt Gatten mit Kartoffelmesser. Kinder laufen schreiend auf die Straße ... der Kurier war dabei. Dank der Polizei. Gratis selbstverständlich. Peter war nicht bestechlich. Man erkaufte sich mit diesen kleinen Gefälligkeiten nur eine positive Berichterstattung. Und die war heutzutage unbezahlbar. Stefan glaubte, daß auch noch etwas anderes dahinter steckte: das Sich wichtig machen Wollen. Ha Kollege, stand ich schon wieder in der Zeitung, auch wenn ich nur ein kleiner Bulle bin.
Aber grundsätzlich war Stefan froh, daß Peter in Tosbach wohnte. Allein schon wegen den Mills, die sich seinetwegen im Dorf immer mit staatlicher Autorität konfrontiert sahen.
Nächste Station, die Königs. Ein ruhiges Rentnerehepaar, das auch seinen Lebensabend auf dem Land verbrachte. So unauffällig, daß man manchmal glaubte, ihr Häuschen stünde leer. Sie hielten ebenfalls jede Menge Kleinvieh und bewirtschafteten sogar noch ein paar Tagwerk Land.

Warum auch nicht, das hielt sie in Form und senkte die Lebenshaltungskosten. Ihr Verhalten bei extraordinärem Hochwasser: nicht im einzelnen voraussehbar, doch auf alle Fälle unspektakulär und angemessen. So wie sie grundsätzlich allen Fährnissen begegneten. Die Königs lebten schon seit vielen Generationen in der Gegend. Die Familie hatte zwar noch keine Reichtümer angehäuft, aber es geschafft, den Besitz zusammenzuhalten und überlebensfähig zu bleiben. Das waren Menschen, die auch Stefan imponierten. Solide, bodenständige Leute, die wußten, was sie geleistet hatten, jeden Abend. Mit der Scholle verwachsen, doch nicht kleinkariert. Der alte König wußte genau, was sich in der großen weiten Welt abspielte, blieb unparteiisch und hielt immer die notwendige Distanz. Einfach ein angenehmer Schlag, den man leider nur noch selten antraf. Die ganze Welt tobte und lärmte doch um nichts. Der Philosoph schweigt und verrichtet seine Arbeit.

Im Radio brachten sie die ersten Pegelstände. Einsachtig über normal, Tendenz steigend. Man merkte richtig, wie der Moderator beim anschließenden Wetterbericht auflebte. Keine Besserung in Sicht, Anhalten der starken Niederschläge. Endlich rührt sich mal was in dieser gottverlassenen Gegend, und wir werden euch rund um die Uhr auf dem laufenden halten. Radio Alpha wird kein Tropfen entgehen, der vom Himmel fällt und mithilft, die Region unter Wasser zu setzen. Macht euch auf ein heißes Wochenende gefaßt. Planscht mal schön!
Natürlich nicht ganz so drastisch, aber die Metereologen hatten dem guten Mann sichtlich Auftrieb verliehen. Ein Gesinnungsgenosse. Manche Leute lebten eben von Katastrophen.
Stefan legte sich auf's Bett und döste weiter vor sich hin. Radio Alpha meldete jede Stunde zehn Zentimeter plus. In zwanzig Stunden also zwei Meter. Sie würden heute nacht bestimmt Dammwachen aufstelllen. Besonders drüben auf der anderen Seite, wo noch immer die Vorkriegskonstruktionen herhalten mußten, war Vorsicht angebracht. Bei hohen Wasserständen kam es immer wieder vor, daß sich Risse bildeten oder Wühlmauslöcher erweitert wurden. Wenn man da nicht gleich mit Sandsäcken vor Ort war, konne die Geschichte schon mal durchbrechen.
Stefan nahm sich vor, ebenfalls mitzumischen. Sehr romantisch, in der Früh um zwei beim größten Sauwetter für die Allgemeinheit tätig zu werden. Schulter an Schulter mit verdienten Kräften der Feuerwehr und des Katastrophenschutzes. Die Frauen brachten Grog und Glühwein, die Kommandanten verkehrten per Walkie Talkie. Hummel eins, alles im Griff. Richtig schade, daß einem diese ganzen Weltkriegserfahrungen entgangen waren. Jahrelang war alles durch Befehle von oben geregelt worden, bis ins kleinste Detail. Zweifel ausgeschlossen. Und man wußte, was man seinem Vaterland schuldig war. Dieser ganze hedonistische Quatsch hatte nicht die geringste Kraft gehabt aufzukeimen. Ein bißchen was von dieser Pfadfindermentalität war jetzt schon zu spüren. Pegelstände, Katastrophenalarm, Dammbrüche, ja da hieß es zusammenhalten.
Gegen elf machte sich Stefan an die Zubereitung des Mitttagessens. In der Gemüsekiste schrumpelten ein paar Kartoffeln vor sich hin. Zu aufwendig. Im Regal glänzte eine Dose Linsen mit Würstchen. Schon besser, konnte in Betracht gezogen weden. Oder chinesische Glasnudeln, mit Maggitomatensoße. Die Nudeln waren in fünf Minuten fertig und man hatte nur wenig Abwasch. Das war das Kriterium, das hauptsächlich über seinen Menüplan entschied. Sogar die allseits beliebten Spiegeleier mit Speck vielen deswegen meistens flach. Einfach zuviel Trouble mit den festegebackenen Eiweißresten.
Stefan entschied sich für die Linsen. Gehaltvolle Kost und gesund, wenn sich beim Eindosen nicht alle Vitamine verkocht hatten. Srefan schüttete die Konserve in einen großen Topf und stellte das Ganze bei schwacher Hitze auf den Ofen. Fehlte nur noch eine knackige Beilage. Im Kühlschrank lag noch eine Salatgurke. Stefan schälte sie und hobelte die Frucht anschließend in eine Glasschüssel. Etwas schlapp, das Ding. Da konnte nur noch eine scharfe Zwiebel helfen. Auch diese fehlte nicht im Sortiment. Eine gute Vorratshaltung war eben die halbe Miete. Er zwickte die Augen zusammen und bearbeitete das tränentreibende Stück, das er ebenfalls dem Kühlschrank entnommen hatte. Das Malheur hielt sich in Grenzen.

Wahrscheinlich wartete das Gewächs schon zu lange auf seinen Einsatz. Die Dinger wurden leider nocht nicht mit Haltbarkeitsdatum geliefert. Stefan mengte die Zwiebelstückchen unter und übergoß alles mit reichlich Essig und Öl. Besonders Essig war wichtig. Ohne rührte er kein Grünzeug an.
Die Linsen begannen zu köcheln. Stefan deckte den Tisch und machte sich ein Bier auf. Allerding nur ein kleines, 0, 33l. Das Gesöff paßte einfach zu den Linsen und würde helfen, die Eintönigkeit des Tages ein wenig zu vertreiben. Wieviele Leute kannte er, die sich ausschließlich von Bier und Wein ernährten, neben ein bißchen Essen selbstverständlich? Spätestens zur Brotzeit oder ersten Pause flogen die Kronkorken. Oder der tiefe Schluck aus der Schnapsbuddel unterm Schreibtisch. Ohne Prozente kam doch so mancher gar nicht mehr in Fahrt. Kein Wunder eigentlich, wenn man sah, wie trist der Alltag oft ablief. Der Wunsch nach Betäubung war nur zu verständlich, bei acht Stunden Fließbandarbeit zum Beispiel.
Aber auch Berufsschreiber kannten diesen Drang zur Flasche. Im Kurier gab's einen, dem seine Frau weggelaufen war, der verputzte schon beim Mittagessen eine Flasche Schampus. Allein. Irgend so einen italienischen Spumante, zu einer halben Pizza. Nicht daß der deswegen wie ein Faschingsprinz in die Redaktion zurückkam, nein, nur das Zittern seiner Hände hatte sich gelegt. Ein hundertprozentiger Alki. Stefan konnte ihn gut verstehen. Das Zeug schmeckte einfach verteufelt gut. Und die Welt verlor eine gute Portion von ihrem Schrecken. Gab es keine Frau oder Freundin, die einem das Glas wegzog, nahm das Verhängnis oftmals seinen Lauf.
Stefan baute vor. Er legte pro Woche mindestens drei Tage ein, an denen er nicht trank. Räusche nur freitags oder samstags, wenn er nicht arbeiten mußte. Eine gute Regelung. Man vergaß nie, daß es auch ohne ging.
Er verputzte die Linsen und genoß den Salat. Nichts geht über Frischkost. Besonders die Saftwürstchen hingen schlapp über den Tellerrand wie ein Pimmel nach dem vierten Orgasmus. Wohl dem, der eine gute Portion Hunger mitbrachte.
Nach dem Mahl stellte er das Geschirr in die Spüle und legte sich wieder auf's Bett. Ohne Radio Alpha. Er hörte sich seine neuen Heavy Metal Scheiben an. Seiner Meinung nach das Beste, was dem Rock and Roll hatte passieren können. Die Jungs machten da weiter, wo Led Zeppelin und Deep Purple aufgehört hatten. Techno war zu mechanisch. Die Metaller brachten mehr Leben rein, auch wenn es manchmal sehr morbide angehaucht war.
Stefan beendete seinen Schönheitsschlaf nach einer Stunde und sah noch einmal nach dem Hochwasser. Keine Frage, es ging aufwärts. Regen ohne Ende. Der Tosbach schien sich ebenfalls nicht lumpen lassen zu wollen. Er füllte jetzt sein Bett mehr als satt aus. Gut, daß im Schuppen noch ein paar Gummitreter standen. Stefan benutzte sie eigentlich nur bei seinen raren Pirschgängen in den Gemüsegarten. Daß dort überhaupt etwas wuchs, war ausschließlich den Königs zu verdanken. Sie kümmerten sich um die fremden Beete, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt. Gute Menschen halt.
Stefan zog die Stiefel an und testete sie im Altwasserarm, der unmittlbar an seinen Garten grenzte. Sie hielten dicht. Wieder vierzig Zentimeter gewonnen. Auch das Altwasser drückte nach oben. Gefahr von zwei Seiten also. Vorteilhaft, daß der alte König hier in der Nähe ein Fischerboot parkte. Wenn alle Stricke rißen, konnte man sich damit bis nach Ludendorf durchschlagen, das etwas höher als Tosbach lag und nicht ganz so schlimm heimgesucht werden würde. Stefan sah sich schon als wagemutiger Retter durch die Gischt steuern, mit Lisa und ihrer Kleinen an Bord. Ein Held, der durch die Stromschnellen pflügte wie Neptun selbst. Der Herr der Wellen und Wasser, dem sein Leben nichts galt und ... danke, genug. Es würde sich noch früh genug erweisen, aus was für einem Holz er wirklich geschnitzt war. Aber was hatte er wirklich noch zu befürchten? Ein Veteran des bosnischen Krieges, der ohne mit der Wimper zu zucken durch Teufelsgärten gerobbt ist ... ein Körnchen Wahrheit war dran. Er hatte Blut geleckt in Bosnien. Der Kitzel der Gefahr, der einen bekanntlich nicht mehr losläßt, wenn man ihn einmal gespürt hat. Wo würde es ihn als nächstes hinverschalgen, nach diesen kleinen Turbulenzen hier? Wieder zurück auf den Balkan, weil es dort so schön übersichtlich war?
Oder woandershin, nach Afrika oder Asien, wo ein Vermißter mehr oder weniger so viel zählte wie ein Fliegenschiß?
Er ging zurück in den Schuppen, verstaute die Stiefel und setzte sich ins Auto. In Ludendorf gab es gemütlich Kneipen, die sich vorzüglich dazu eigneten, solch verpißte Tage rumzubringen. Auf eine sehr angenehme Weise sogar. Man spielte Karten, genoß das gute Bier und vergaß den ganzen anderen Mist für ein paar Stunden. Ein Wirtshaus, das war doch eine der größten Errungenschaften der Menschheit, machte den homo sapiens zu dem, was er ist. Hier wurde debattiert, philosophiert, gelacht, gesungen und natürlich gepichelt. Genau die Tätigkeiten, in denen wir den Stallhasen voraus waren.
Stefan fuhr los. Die Fußballübertragung begann erst um vier. Blieb noch genug Zeit, um ein paar ordentliche Runden Skat zu klopfen. Die Kneipe war randvoll. Dicke Rauchschwaden hingen in der Luft. Er orderte ein großes Helles und und eine Schachtel Reval. Bevor er wieder alle anschnorrte. Er lebte ja sowieso viel zu gesund. Stefan begrüßte seine Bekannten und ließ sich an einem der Tische nieder, an denen Karten gespielt wurde. Sein Ruf als solider Skatbruder war derart gefestigt, daß man ihn durchaus als Springer akzeptierte, wenn einer auf's Klo mußte.