Stefan ärgerte sich noch immer über den Verlauf
des letzten Abends. Lisa war ihm keinen Millimeter
entgegengekommen. Kein Wort des Dankes, obwohl sie ihn fast
dreißig Mark gekostet hatte, ohne den Wein.
Gut, sie war keine Prostituierte, mit der man über den
Rechenschieber verkehrte, aber ein bißchen mehr Wärme
und Aufgeschlossenheit hätte sie schon aufbringen
können. Dann dieser Blödsinn mit den
Entwicklungsländern. Absolut kein Thema für ein
Candlelight Dinner. Als feigen Schwanzklemmer, der seine Pflicht
und Schuldigkeit mit lauem spenden und demonstrieren zu tun
können glaubte, hätte sie ihn ebenfalls nicht zu
bezeichnen brauchen. Auch wenn sie es nicht besser wußte.
Das ging zu weit. Hatte er nicht im März drei Wochen bei
einer moslemischen Freischärlereinheit in den Bergen um
Sarajevo verbracht, ständig mit dem Tod vor Augen? Klar,
nicht nur um sich mit den bosnischen Soldaten zu solidarisieren,
die im Namen Allahs kämpften und bei jeder Konferenz der
beiden Großen, den Serben und Kroaten, übergangen
wurden, sondern auch um Material zu sammeln für einen Artikel
über den Balkankrieg, der immer wieder auf die Titelseiten in
den europäischen Metropolen zurückgesprengt wurde.
Eigentlich eine Schnapsidee, dieser Einsatz. Aus einer Bierlaune
heraus geboren in einer Kreuzberger Kneipe, die Stefan
während eines Berlintrips zwischen Weihnachten und Neujahr
aufgesucht hatte. Dort war er mit einem Haudegen im Tarnanzug ins
Gespräch gekommen, der ihm ausgiebig von seinen Heldentaten
erzählte und stolz fünfundzwanzig auf seinem linken
Unterarm eintätowierte Striche präsentierte. Jeder
Strich stand für einen getöteten Serben.. Er pflegte
seine Feinde aus großer Entfernung mit einem
Scharfschützengewehr zu erledigen. Die Anwerbungsversuche,
die der militante Moslem wenig später unternahm, fielen bei
Stefan auf fruchtbaren Boden. Endlich eine Chance, sich aus dem
Drecknest herauzuarbeiten. So weit war doch noch kein anderer
gegangen. In eine Uniform zu schlüpfen und nach ganz vorne zu
gehen, mit der kämpfenden Truppe. Ganz so wie Goebbels
Propagandakompanien im zweiten Weltkrieg. Abwechselnd
schießen und fotografieren, ohne Rücksicht auf
Verluste!
Die Begeisterung war auch am nächsten Morgen nicht verflogen,
als Stefan mit einer Zagreber Adresse in der Brieftasche und einem
schweren Kopf aufwachte.
Er hatte schon öfters mit dem Gedanken gespielt, sein
Glück im ehemaligen Jugoslawien zu versuchen, doch so richtig
konkret waren die Pläne nie geworden. Nachdem Auftauchen
Abduls, des Moslemskriegers, war dann alles schnell gegangen.
Unter anderem weil die Moslems die Underdogs waren und keine Lobby
bei den Großmächten besaßen. Diese Volksgruppe
konnte man fast nach Belieben drangsalieren und entrechten. Es
krähte kein Hahn danach. Sie saßen auf keinen
Ölquellen wie ihre reichen Glaubensbrüder auf der
arabischen Halbinsel. Stefan betrachtete sich zwar nicht als
Märtyrer, aber immerhin, die Sache war den Einsatz wert.
Als die größte Kälte vorüber war, machte er
sein Testament und deponierte es mitsamt der Anschrift des
geheimen Rekrutierungsbüros bei einem befreundeten
Rechtsanwalt in Schwarzheim. Sonst erfuhr niemand von diesem
Unternehmen, nicht einmal seine Eltern. Die hätten sich nur
unnötig aufgeregt und ihn sowieso nicht verstanden. Es war
natürlich auch nicht ganz ungefährlich, in ein
Kriegsgebiet einzureisen und dort richtig mitzumischen. Allein mit
einer Handgranate konnte man mindestens ein Dutzend Menschen ins
Jenseits befördern, die alle Verwandte hatten, die nach Rache
dürsteten.
Überall wimmelte es von Spitzeln und Agenten, nicht nur in
Bosnien, sondern auch in Deutschland. Die Serben überwachten
die Kroaten und Moslems, die Kroaten die Moslems, die Moslems die
Serben und Kroaten usw., keiner traute niemanden. Stefan
befürchtete, daß er in Berlin aufgefallen war und von
einem Killerkommando in Empfang genommen würde. Aber es ging
alles glatt und der Einsatz selbst verlief unspektakulärer
als erwartet.
Nach zweitägiger Grundausbildung, Stefan profitierte von
seiner Bundeswehrzeit, war er einem Infantriezug zugeteilt worden,
der ausschließlich nachts operierte. Minen legen, Minen
räumen, Stacheldrahtverhaue beseitgen, Gebäude
säubern und Scharfschützennester ausheben, waren die
Hauptaufgaben. Nur zweimal hatten sie Feindberührung,
allerdings auf eine Distanz von circa hundert Metern. Ein paar
Schußwechsel und die Sache war erledigt. Keine Nahkampf mit
aufgepflanztem Seitengewehr, keine Befragung mit der
Daumenschraube. Stefan zweifelte jedoch nicht daran, daß
seine Mitstreiter in diesen Disziplinen unerfahren waren. Im Koran
gab es genügend einschlägige Passagen, in denen
verdeutlicht wurde, wie mit Ungläubigen im Heiligen Krieg zu
verfahren war.
Da nur nachts auf Patrouille gegangen wurde, konnte Stefan nur
sehr selten von seiner Kamera Gebrauch machen. Er blieb
Wortberichterstatter, nur mit Block und Stift bewaffnet. Er hatte
es nämlich abgelehnt, ein Sturmgewehr zu tragen, weil er nur
so die nötige Distanz zum Geschehen wahren konnte. Wie ich in
einer Nacht fühnzehn Serben killte, das war denkbar
ungeeignet als Kapitelüberschrift für sein bosnisches
Tagebuch. Töten um eine Story zu bekommen. Nein, als
Journalist wurde einem vieles verziehen, aber nicht alles.
Stefan kehrte also mit einigermaßen intaktem Gewissen
zurück nach Deutschland. Er hatte beobachtet und
dokumentiert, für eine gerechte Sache, aber das reichte
nicht. Er brachte die Reportage nicht an den Mann. Bilder kamen
nur noch an, wenn auf ihnen möglichst viele zerstückelte
Leichen zu sehen waren und der Bericht war nach Ansicht eines
Chefredakteurs zu tendenziös. Er könne keine
Landsergeschichten in seinem Blatt veröffentlichen, obwohl er
ihm privat durchaus auf die Schulter klopfe. Wie
liebenswürdig.
Stefan war dennoch zufrieden mit seiner Tour. Er hatte sich
bewiesen, daß er auch noch etwas anderes konnte, als
Hausfrauenrätsel zu Papier zu bringen. Außerdem sah er
Dinge etwas gelassener, seitdem er erlebt hatte, unter welch
extremen Bedingungen Hundertausende ihr Leben fristen
mußten, in unmittelbarer Nachbarschaft zu Deutschland.
Viele waren mehrfach vertrieben worden, verloren über Nacht
alles, was sie sich ein ganzes Leben lang erwirtschaftet hatten.
Kleine Jungs im Kindergartenalter, die trotzig auf einem Bein
durch die zerschoßenen Siedlungen humpelten. Alles viel
eindringlicher als durch den Filter Fernseher. Hier konte man
nicht ab oder umschalten. Stefan hatte sich vorgenommmen, durch
sein Aufzeichnungen zu helfen. Deutschland war doch ein
mächtiges Land, daß, wenn es aufgerüttelt war,
viel auf der internationalen Bühne erreichen konnte.
Man mußte nur am Ball bleiben und den Finger immer wieder
auf den wunden Punkt legen. Freilich währte der Krieg schon
sehr lange und mit ihm die Berichterstattung über die
schrecklichen Ereignisse. Die Gefahr war groß, daß das
Publikum abstumpfte oder sich schlicht satt gesehen hatte.
Auf älle Fälle hatte er etwas
Außergewöhnliches geleistet und mußte sich nicht
mehr der Gleichgültigkeit bezichtigen lassen. Schon gar nicht
von einer Krämerin, die vor Selbstmitleid troff, weil sie
einer ihrer Beschäler mit einem Balg zurückgelassen
hatte.
Stefan schaltete das Radio ein und stellte sich ans Fenster. Die
Löfflers brausten gerade davon. Bestimmt keine schlechte
Idee. Wenn Hajo recht behielt und der Tosbach bald kam, würde
es bestimmt sehr ungemütlich werden. Ob die Kornmeiers auch
türmten? Stefan mußte grinsen, wenn er an diese
Ökofamilie dachte. Otto, der Vater, war Schreiner und
arbeitete in Ludendorf in einem Alternativbetrieb, der nur
glückliche Bäume verarbeitete. Bart, Schafwollpullover
und Birkenstock. Diese drei Attribute zierten Otto seit Stefan ihn
zum ersten Mal gesehen hatte. Sommer wie Winter. Eva, seine Frau
hatte es sogar fertiggebracht, Lisa dazu zu bewegen, Dinkel und
Weizenkeime in ihr Sortiment aufzunehmen. Auch sie war Jahr und
Tag in wallende Gwänder gehüllt, eine Generation nach
Woodstock. Ihre Kinder schickten sie jedoch brav in staatliche
Kindergärten und Schulen. Eine andere Möglichkeit gab es
hier draußen auch gar nicht.
Die Kornmeiers waren die einzigen, die in Tosbach richtig
aufblühten. Kein Verkehr, keine Industrie, viel freie Natur.
Ideal für Aussteiger und Zivilisationsflüchtlinge, die
Alternativen zu der von oben und der Allgemeinheit verordneten
Daseinsform suchten. Auf der Wiese hinterm Haus hielten sie Schafe
und Ziegen, die sie von den Mills erstanden hatten. Besonders die
Kinder hingen an den Tieren und würden sie bestimmt nicht
einfach ersaufen lassen. Die Kornmeiers blieben also da.
Vielleicht war Otto schon am Basteln und stellte eine Arche Noah
her. Abgesehen von ihrem Ökogetue waren die Kornmeiers ja
ganz nett. Man würde auf sie zählen können, wenn es
Schwierigkeiten gab.
Nicht so verbiestert wie die Loses, die ein Haus weiter wohnten.
Gleich nach der Wende aus Sachsen-Anhalt rübergewechselt und
nahtlos in den Kapitalismus eingegliedert. Dieter Lose hatte den
richtigen Beruf mitgebracht: Werkschützer. Solche, die ihr
Handwerker verstanden, waren auch im Westen gesucht und er war
sehr schnell bei einem Automobilkonzern untergekommen. Stefan
bezeichnete ihn Lisa gegnüber als Stasiwendehals, der unter
Honey und Wolf sicher so manchen über die Klinge habe
springen lassen. Allein der spekulierende Blick spräche
Bände. Lisa meinte nur, daß sie solche Spinnereien
nicht interessierten. Außerdem hätten sich viele nicht
aussuchen können, wie und wo sie sich ihre Kröten
verdienten. Da war was dran, aber diesem Lose blitzte permanent
der Spitzel aus den Augen.
Seine Traude erledigte die Einkäufe und wechselte nur dabei
ein paar Silben mit Lisa, die davon lebte, daß man bei ihr
unfiltrierten Sermon ablassen konnte. Sonst hieß die Parole,
Schotten dicht, keinen Kontakt zu niemand. Daß sie sich
nicht mit den Kornmeiers oder gar der Millfamilie einlassen
wollten, durfte man ihnen eigentlich auch nicht nachtragen. Wie
sie sich bei einer Hochwasserkatastrophe verhalten würden,
war nicht vorhersehbar. Keine Kinder, die gerettet werden
mußten, kein Viehzeug, das nicht evakuierbar war.
Vielleicht hielt sich Traude einen Beo, bei dem sie ihre Sorgen
loswerden konnte.
Ein Grundstück weiter, über den Tosbach hinüber,
waren die Mills zu Hause. Sie spotteten zwar nicht jeder
Beschreibung, doch man mußte sie schon einmal mit eigenen
Augen gesehen haben, um zu wissen wie man mit ihnen dran war.
Bärbeißig, schroff, einsilbig und fast immer betrunken.
Besonders am Wochenende, wenn sie von Bier auf Hochprozentiges
umstiegen, waren sie nur noch mit Vorsicht zu genießen. Dann
hatte sie nur noch die rüstige Mutter im Griff, die die ab
und an lädiert heimkehrenden Burschen zusätzlich mit
einem schweren Wanderstock traktierte. So rauh und unberechenbar
die Brüder im Umgang mit Menschen waren, so fürsorglich
gingen sie mit ihren Tieren um. Natürlich, das Gatter hinterm
Wohnhaus glich einem zoologischen Panoptikum und schien neue Arten
zu enthalten.
Etwa die Schiege: Vater Geißbock, Mutter Wollschaf. Doch die
Tiere wurden immer ordentlich versorgt und gefüttert. Und
nicht nur von der Mutter. Hubert und Heinz, der jüngere,
legten kräftig mit Hand an, auch wenn sie noch so besoffen
waren. Da passierete es schon mal, daß sie ihre Räusche
in den Freilandställen ausschliefen. Lisa meinte, wenn die
Alte abdankte, wäre es mit den beiden ebenfalls aus, da mit
der Mutter die einzige moralische Instanz fiel, die für die
Brüder von Bedeutung war. Entweder erschlugen sie sich danach
gegenseitig oder landeten im Zuchthaus, wo sie ohne ihre geliebten
Viecher bald elendig krepieren würden.
Stefan war das relativ egal, so lange sie ihm nicht in die Quere
kamen. Wichtig war nur, daß auch die Mills auf keinen Fall
das Feld räumen würden. Es zeichneten sich dort
allerdings äußerst unschöne Szenen ab. Wohin mit
den Hasen, Hühnern, Tauben, Katzen, Ponies, alle geliebt und
unersetzlich, wenn die braune Flut zwischen den Käfigen und
Gattern wütete? Tja, was wenn ... ?
Bis jetzt verlief alles nach Plan. Die Niederschläge wurden
vom großen Kanal aufgenommen und abtransportiert. Daß
der Fluß dabei ein bißchen übers Ufer trat, war
nichts Besonderes. Wie man überhaupt glauben konnte,
daß etwas extrem außer der Reihe ablaufen würde?
Lisa kramte bestimmt
noch keine Schwimmflügel hervor, die sie Anna im V-Fall
überstreifen konnte. Sie würde sich folgendermaßen
ausdrücken: Berufskrankheit, Sensationsgier,
Schreiberlingsphantasien, die nicht das Papier wert waren. Dabei
konnte ihr das Lachen schnell vergehen. Ihr Keller war proppenvoll
mit leicht verderblichen Lebensmitteln. Da genügten schon ein
paar Pfützen und etliche Tausende gingen den Bach runter.
Bislang war nichts passiert, da würde auch in Zukunft nichts
schiefgehen. Credo der Lemminge. Was war mit der neuen Staustufe
und ihre Auswirkungen auf die Nebengewässer der Drohm?
Vielleicht hatten die Kanaillen mit Absicht so gebaut, daß
die kleinen störenden Käffer so lange unter Wasser
gesetzt wurden, bis die letzten freiwillig ihre Koffer packten und
ihre wertlos gewordenen Immobilien für ein Butterbrot
veräußerten. Nach der Devise die begriffsstutzigen
Kleinhäusler verstehen halt nur eine Sprache.
Schreiberlingsphantasien, ja, ja, der Stefan spinnt mal wieder.
Wenn es allerdings so weitergoß, würde Lisa ziemlich
bald an ihn denken. Wenn ..., also Schluß mit dem Hin und
Her.
Nächstes Haus. Die Dorns. Er, Peter, Polizist, allerdings nur
bei der Schupo. Oberwachtmeister oder sowas ähnliches, aber
nicht auf den Kopf gefallen. Sie, Doris, nur Ehefrau, keine
Kinder. Wahrscheinlich warteten sie die nächste
Beförderung ab. Mittlerer Dienst, da war bereits eine Katze
nur mit Mühe durchzubringen. Stefan zog Peter deswegen
öfter auf, obwohl er ihn wegen der Sozialleistungen
beneidete. Peter ließ bisweilen schon mal eine kleine
Information rüberwachsen. So auf dem Niveau von
Promillezahlen. Der Unfallfahrer, der in der Nacht von Samstag auf
Sonntag seine nagelneues BMW-Cabriolet im Wert von sechzigtausend
DM gegen eine Baum steuerte, kam mit einem blauen Auge davon. Er
entstieg dem Wrack fast unverletzt, aber mit einer gehörigen
Fahne im Schlepptau. Die anschließende Blutprobe ergab ...
diese kleinen, netten Meldungen eben, die am Montag in den
Provinzgazetten allein schon aus erzieherischen Gründen
auftauchten. Oder der Verkauf von Sonntagabendehekrächen.
Frau verletzt Gatten mit Kartoffelmesser. Kinder laufen schreiend
auf die Straße ... der Kurier war dabei. Dank der Polizei.
Gratis selbstverständlich. Peter war nicht bestechlich. Man
erkaufte sich mit diesen kleinen Gefälligkeiten nur eine
positive Berichterstattung. Und die war heutzutage unbezahlbar.
Stefan glaubte, daß auch noch etwas anderes dahinter
steckte: das Sich wichtig machen Wollen. Ha Kollege, stand ich
schon wieder in der Zeitung, auch wenn ich nur ein kleiner Bulle
bin.
Aber grundsätzlich war Stefan froh, daß Peter in
Tosbach wohnte. Allein schon wegen den Mills, die sich seinetwegen
im Dorf immer mit staatlicher Autorität konfrontiert
sahen.
Nächste Station, die Königs. Ein ruhiges Rentnerehepaar,
das auch seinen Lebensabend auf dem Land verbrachte. So
unauffällig, daß man manchmal glaubte, ihr
Häuschen stünde leer. Sie hielten ebenfalls jede Menge
Kleinvieh und bewirtschafteten sogar noch ein paar Tagwerk
Land.
Warum auch nicht, das hielt sie in Form und senkte die
Lebenshaltungskosten. Ihr Verhalten bei extraordinärem
Hochwasser: nicht im einzelnen voraussehbar, doch auf alle
Fälle unspektakulär und angemessen. So wie sie
grundsätzlich allen Fährnissen begegneten. Die
Königs lebten schon seit vielen Generationen in der Gegend.
Die Familie hatte zwar noch keine Reichtümer angehäuft,
aber es geschafft, den Besitz zusammenzuhalten und
überlebensfähig zu bleiben. Das waren Menschen, die auch
Stefan imponierten. Solide, bodenständige Leute, die
wußten, was sie geleistet hatten, jeden Abend. Mit der
Scholle verwachsen, doch nicht kleinkariert. Der alte König
wußte genau, was sich in der großen weiten Welt
abspielte, blieb unparteiisch und hielt immer die notwendige
Distanz. Einfach ein angenehmer Schlag, den man leider nur noch
selten antraf. Die ganze Welt tobte und lärmte doch um
nichts. Der Philosoph schweigt und verrichtet seine Arbeit.
Im Radio brachten sie die ersten Pegelstände. Einsachtig
über normal, Tendenz steigend. Man merkte richtig, wie der
Moderator beim anschließenden Wetterbericht auflebte. Keine
Besserung in Sicht, Anhalten der starken Niederschläge.
Endlich rührt sich mal was in dieser gottverlassenen Gegend,
und wir werden euch rund um die Uhr auf dem laufenden halten.
Radio Alpha wird kein Tropfen entgehen, der vom Himmel fällt
und mithilft, die Region unter Wasser zu setzen. Macht euch auf
ein heißes Wochenende gefaßt. Planscht mal
schön!
Natürlich nicht ganz so drastisch, aber die Metereologen
hatten dem guten Mann sichtlich Auftrieb verliehen. Ein
Gesinnungsgenosse. Manche Leute lebten eben von Katastrophen.
Stefan legte sich auf's Bett und döste weiter vor sich hin.
Radio Alpha meldete jede Stunde zehn Zentimeter plus. In zwanzig
Stunden also zwei Meter. Sie würden heute nacht bestimmt
Dammwachen aufstelllen. Besonders drüben auf der anderen
Seite, wo noch immer die Vorkriegskonstruktionen herhalten
mußten, war Vorsicht angebracht. Bei hohen
Wasserständen kam es immer wieder vor, daß sich Risse
bildeten oder Wühlmauslöcher erweitert wurden. Wenn man
da nicht gleich mit Sandsäcken vor Ort war, konne die
Geschichte schon mal durchbrechen.
Stefan nahm sich vor, ebenfalls mitzumischen. Sehr romantisch, in
der Früh um zwei beim größten Sauwetter für
die Allgemeinheit tätig zu werden. Schulter an Schulter mit
verdienten Kräften der Feuerwehr und des
Katastrophenschutzes. Die Frauen brachten Grog und Glühwein,
die Kommandanten verkehrten per Walkie Talkie. Hummel eins, alles
im Griff. Richtig schade, daß einem diese ganzen
Weltkriegserfahrungen entgangen waren. Jahrelang war alles durch
Befehle von oben geregelt worden, bis ins kleinste Detail. Zweifel
ausgeschlossen. Und man wußte, was man seinem Vaterland
schuldig war. Dieser ganze hedonistische Quatsch hatte nicht die
geringste Kraft gehabt aufzukeimen. Ein bißchen was von
dieser Pfadfindermentalität war jetzt schon zu spüren.
Pegelstände, Katastrophenalarm, Dammbrüche, ja da
hieß es zusammenhalten.
Gegen elf machte sich Stefan an die Zubereitung des Mitttagessens.
In der Gemüsekiste schrumpelten ein paar Kartoffeln vor sich
hin. Zu aufwendig. Im Regal glänzte eine Dose Linsen mit
Würstchen. Schon besser, konnte in Betracht gezogen weden.
Oder chinesische Glasnudeln, mit Maggitomatensoße. Die
Nudeln waren in fünf Minuten fertig und man hatte nur wenig
Abwasch. Das war das Kriterium, das hauptsächlich über
seinen Menüplan entschied. Sogar die allseits beliebten
Spiegeleier mit Speck vielen deswegen meistens flach. Einfach
zuviel Trouble mit den festegebackenen Eiweißresten.
Stefan entschied sich für die Linsen. Gehaltvolle Kost und
gesund, wenn sich beim Eindosen nicht alle Vitamine verkocht
hatten. Srefan schüttete die Konserve in einen großen
Topf und stellte das Ganze bei schwacher Hitze auf den Ofen.
Fehlte nur noch eine knackige Beilage. Im Kühlschrank lag
noch eine Salatgurke. Stefan schälte sie und hobelte die
Frucht anschließend in eine Glasschüssel. Etwas
schlapp, das Ding. Da konnte nur noch eine scharfe Zwiebel helfen.
Auch diese fehlte nicht im Sortiment. Eine gute Vorratshaltung war
eben die halbe Miete. Er zwickte die Augen zusammen und
bearbeitete das tränentreibende Stück, das er ebenfalls
dem Kühlschrank entnommen hatte. Das Malheur hielt sich in
Grenzen.
Wahrscheinlich wartete das Gewächs schon zu lange auf seinen
Einsatz. Die Dinger wurden leider nocht nicht mit
Haltbarkeitsdatum geliefert. Stefan mengte die
Zwiebelstückchen unter und übergoß alles mit
reichlich Essig und Öl. Besonders Essig war wichtig. Ohne
rührte er kein Grünzeug an.
Die Linsen begannen zu köcheln. Stefan deckte den Tisch und
machte sich ein Bier auf. Allerding nur ein kleines, 0, 33l. Das
Gesöff paßte einfach zu den Linsen und würde
helfen, die Eintönigkeit des Tages ein wenig zu vertreiben.
Wieviele Leute kannte er, die sich ausschließlich von Bier
und Wein ernährten, neben ein bißchen Essen
selbstverständlich? Spätestens zur Brotzeit oder ersten
Pause flogen die Kronkorken. Oder der tiefe Schluck aus der
Schnapsbuddel unterm Schreibtisch. Ohne Prozente kam doch so
mancher gar nicht mehr in Fahrt. Kein Wunder eigentlich, wenn man
sah, wie trist der Alltag oft ablief. Der Wunsch nach
Betäubung war nur zu verständlich, bei acht Stunden
Fließbandarbeit zum Beispiel.
Aber auch Berufsschreiber kannten diesen Drang zur Flasche. Im
Kurier gab's einen, dem seine Frau weggelaufen war, der verputzte
schon beim Mittagessen eine Flasche Schampus. Allein. Irgend so
einen italienischen Spumante, zu einer halben Pizza. Nicht
daß der deswegen wie ein Faschingsprinz in die Redaktion
zurückkam, nein, nur das Zittern seiner Hände hatte sich
gelegt. Ein hundertprozentiger Alki. Stefan konnte ihn gut
verstehen. Das Zeug schmeckte einfach verteufelt gut. Und die Welt
verlor eine gute Portion von ihrem Schrecken. Gab es keine Frau
oder Freundin, die einem das Glas wegzog, nahm das Verhängnis
oftmals seinen Lauf.
Stefan baute vor. Er legte pro Woche mindestens drei Tage ein, an
denen er nicht trank. Räusche nur freitags oder samstags,
wenn er nicht arbeiten mußte. Eine gute Regelung. Man
vergaß nie, daß es auch ohne ging.
Er verputzte die Linsen und genoß den Salat. Nichts geht
über Frischkost. Besonders die Saftwürstchen hingen
schlapp über den Tellerrand wie ein Pimmel nach dem vierten
Orgasmus. Wohl dem, der eine gute Portion Hunger mitbrachte.
Nach dem Mahl stellte er das Geschirr in die Spüle und legte
sich wieder auf's Bett. Ohne Radio Alpha. Er hörte sich seine
neuen Heavy Metal Scheiben an. Seiner Meinung nach das Beste, was
dem Rock and Roll hatte passieren können. Die Jungs machten
da weiter, wo Led Zeppelin und Deep Purple aufgehört hatten.
Techno war zu mechanisch. Die Metaller brachten mehr Leben rein,
auch wenn es manchmal sehr morbide angehaucht war.
Stefan beendete seinen Schönheitsschlaf nach einer Stunde und
sah noch einmal nach dem Hochwasser. Keine Frage, es ging
aufwärts. Regen ohne Ende. Der Tosbach schien sich ebenfalls
nicht lumpen lassen zu wollen. Er füllte jetzt sein Bett mehr
als satt aus. Gut, daß im Schuppen noch ein paar Gummitreter
standen. Stefan benutzte sie eigentlich nur bei seinen raren
Pirschgängen in den Gemüsegarten. Daß dort
überhaupt etwas wuchs, war ausschließlich den
Königs zu verdanken. Sie kümmerten sich um die fremden
Beete, als wäre es das Selbstverständlichste auf der
Welt. Gute Menschen halt.
Stefan zog die Stiefel an und testete sie im Altwasserarm, der
unmittlbar an seinen Garten grenzte. Sie hielten dicht. Wieder
vierzig Zentimeter gewonnen. Auch das Altwasser drückte nach
oben. Gefahr von zwei Seiten also. Vorteilhaft, daß der alte
König hier in der Nähe ein Fischerboot parkte. Wenn alle
Stricke rißen, konnte man sich damit bis nach Ludendorf
durchschlagen, das etwas höher als Tosbach lag und nicht ganz
so schlimm heimgesucht werden würde. Stefan sah sich schon
als wagemutiger Retter durch die Gischt steuern, mit Lisa und
ihrer Kleinen an Bord. Ein Held, der durch die Stromschnellen
pflügte wie Neptun selbst. Der Herr der Wellen und Wasser,
dem sein Leben nichts galt und ... danke, genug. Es würde
sich noch früh genug erweisen, aus was für einem Holz er
wirklich geschnitzt war. Aber was hatte er wirklich noch zu
befürchten? Ein Veteran des bosnischen Krieges, der ohne mit
der Wimper zu zucken durch Teufelsgärten gerobbt ist ... ein
Körnchen Wahrheit war dran. Er hatte Blut geleckt in Bosnien.
Der Kitzel der Gefahr, der einen bekanntlich nicht mehr
losläßt, wenn man ihn einmal gespürt hat. Wo
würde es ihn als nächstes hinverschalgen, nach diesen
kleinen Turbulenzen hier? Wieder zurück auf den Balkan, weil
es dort so schön übersichtlich war?
Oder woandershin, nach Afrika oder Asien, wo ein Vermißter
mehr oder weniger so viel zählte wie ein
Fliegenschiß?
Er ging zurück in den Schuppen, verstaute die Stiefel und
setzte sich ins Auto. In Ludendorf gab es gemütlich Kneipen,
die sich vorzüglich dazu eigneten, solch verpißte Tage
rumzubringen. Auf eine sehr angenehme Weise sogar. Man spielte
Karten, genoß das gute Bier und vergaß den ganzen
anderen Mist für ein paar Stunden. Ein Wirtshaus, das war
doch eine der größten Errungenschaften der Menschheit,
machte den homo sapiens zu dem, was er ist. Hier wurde debattiert,
philosophiert, gelacht, gesungen und natürlich gepichelt.
Genau die Tätigkeiten, in denen wir den Stallhasen voraus
waren.
Stefan fuhr los. Die Fußballübertragung begann erst um
vier. Blieb noch genug Zeit, um ein paar ordentliche Runden Skat
zu klopfen. Die Kneipe war randvoll. Dicke Rauchschwaden hingen in
der Luft. Er orderte ein großes Helles und und eine
Schachtel Reval. Bevor er wieder alle anschnorrte. Er lebte ja
sowieso viel zu gesund. Stefan begrüßte seine Bekannten
und ließ sich an einem der Tische nieder, an denen Karten
gespielt wurde. Sein Ruf als solider Skatbruder war derart
gefestigt, daß man ihn durchaus als Springer akzeptierte,
wenn einer auf's Klo mußte.