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Diese Bürgerwehrmeuten waren ja immer mit Vorsicht zu genießen.
Er stellte seine Ausrüstung zusammen: Gummizeug wie gehabt, Taschenlampe, Thermoskanne, Klappmesser und einen Flachmann, gefüllt mit exklusivem russischen Wodka. Geschenk eines Kollege, der sich öfters in Berichterstattung vom Zarenhof übte. Keine Provinzflasche, die bestenfallls einmal zum Auswärtspiel der C-Klassencracks abkommandiert wurde.
Stefan verdrückte noch ein paar altbackene Wurstsemmeln und machte sich um halb neun auf die Socken. Die Gumistiefel waren bereits zu kurz. Da er keine Lust hatte, mit nassen Füßen durch die Gegend zu latschen, zog er die Strümpfe aus und krempelte die Hose nach oben. Er hatte nicht schlecht geschätzt. Das Wasser reichte ihm an den tiefsten Stellen weit bis über die Knie. Und das auf dem vertrauten Weg zum Schuppen.
Rasant, rasant. Wenn es in dem Stil weiterging, würden bei seiner Rückkehr gerade noch die Wetterhähne aus dem See ragen, der Tosbach bedeckte.
Der gute Golf stand bis unter die Radkästen im Wasser. Ob das durch die Versicherung abgedeckt war? Wenn, dann wahrscheinlich nur falls man Teilkasko hatte. Ein Posten, den er schon vor Jahren gestrichen hatte. Derart Perverse, die auf so einen Schrotthaufen standen, gab's doch gar nicht. Aber der Generalvertreter hatte ihn gewarnt: man weiß nie, was kommt. Hoffentlich Arroganz versichert ...
In Stefan bildete sich so etwas wie klammheimliche Schadenfreude. Endlich bekam die Karre ihr Fett ab. Auch wenn letztendlich wieder alles auf ihn zurückfiel. Der Spaß war die Sache wert.
Aber nun genug räsoniert, auf in den Kampf. Stefan enterte die Ghost und legte ab. Wie der letzte Mohikaner, mit einem Knie am Boden. Ein bißchen wacklig am Anfang, doch dann ging es schnell dahin. Er wiederstand der Versuchung ins Dorf hinein zu rudern, weil die Strömung immer stärker wurde, je näher man dem Bett des Bachs kam. In der Nähe des Damms war so gut wie keine Drift mehr vorhanden. Das Revier, für das die Ghost gebaut war. Stefan hatte vorsorglich eine Fäustling und einen Pfahl mit an Bord genommen, weil am Damm keine Bäume wuchsen, an denen er das Floß hätte befestigen können.
Nachdem er sich ausgetobt und dabei die Vor- und Nachteile der Ghost kennengelernt hatte, vertäute er er sie sorgsam und begann stromabwärts zu marschieren. Außer dem linken Knie war alles knochentrocken geblieben. Ein Erfolg, der begossen werden mußte. Stefan genehmigte sich einen kräftigen Schluck aus dem Flachmann. Diese verfluchten Russen wußten schon, was guttat. Was sollte man auch sonst tun als saufen, in einem Land das meistens unter einen meterdicken Schneedecke begraben lag?
Stefan zündete sich eine Zigarette an. Verdammt, es begann ihm schon wieder zu schmecken. Immer wieder dasselbe. Alles, was gut tat, war schädlich. An der Uni hatte er ein paar Mal gekokst. Seitdem verstand er die Leute, die an der Nadel hingen. Abdrücken und wohlfühlen. Leider konnte man dabei so schlecht maßhalten. Aus einmal in der Woche wurde sehr schnell zweimal am Tag. Und das ging ans Geld und vor allem an die Essenz. Vielleicht fanden die Giftmischer irgendwann mal was, das knallte und verträglich war. Das Bedürfnis wegzutauchen war doch ein ureignes menschliches Bedürfnis. Es unter Kontrolle zu halten, war der Knackpunkt. Stefan hatte des wegen die härteren Sachen schnell wieder aufgegeben. Nicht nur wegen der Kohle. Man rutschte zu schnell ab.
Die reißende Drohm produzierte ein archaisches, bedrohliches Geräusch. Nun, ihr kleinen Menschlein, stellt sich heraus, wie groß ihr wirklich seid. Eure Dämme sind nur Pappmache. Kurz die Muskeln angespannt und eure Maulwurfshaufen verschwinden unter meiner Gischt.
Wenn Flüße sprechen könnten. Die Rache der vergewaltigten Natur.
Stefan blieb immer wieder stehen, um zu horchen und zu schauen. Ein Abend, an dem wohl auch Neptun Landausflug nahm, um sich an der Macht seiner Kinder zu erfreuen.
Wie breit der Fluß nun sein mochte, drei-, vierhundert Meter?
Um halb zehn stieß Stefan auf den ersten Trupp Feuerwehrler. Zwei Mann, die für den Abschnitt bis Tosbach zuständig waren. Stefan bot ihnen den Flachmann an.

"Ah, Fremdheizung. Ist nicht verkehrt bei so einem Wetter. Warum sind Sie denn nicht rechtzeitig geflüchtet? Bei euch muß doch allles unter Wasser stehen", erkundigte sich der ältere Katastrophenspezialist.
"Keine Chance. Ging alles viel zu schnell. Außerdem wollte ich meine Hütte nicht im Stich lassen. Nun klärt mich mal auf. Hält das Ding auch dicht?" fragte Stefan und stampfte abgeklärt mit dem rechten Fuß auf den Boden. Sie sollten nur nicht glauben, daß er Angst hatte.
"Weiter unten gibt's Probleme. Etwa auf der Höhe von Ludendorf. Am Sockel dringt jede Menge Wasser durch. Wahrscheinlich wegen den verdammten Wühlmäusen. Bundeswehr ist vor Ort und hilft, Sandsäcke abzufüllen. Wegen eurem Scheißbach stehen wir bis zu den Knien im Wasser. Ich wohn' nun schon über fünfzig Jahre hier, aber so was hab' ich noch nicht erlebt. Es drückt von beiden Seiten. Und steigt und steigt und steigt ... Sauzeug."
Stefan verabschiedete sich. Wenn sogar so einem alten Haudegen der Kragen platzte, mußte die Scheiße wirklich am Dampfen sein.
Zwei Kilometer weiter sah er die ersten Scheinwerfer. Lastwägen, die auf dem geschotterten Weg neben dem Damm Kies abluden. Und eine habe Kompanie Soldaten, die Sandsäcke einfasste. Den Männern, die im Wasser arbeiteten, stand das Wasser tatsächlich bis über die Knie.
Die Lastwägen, die abgeladen hatten, mußten in den überfluteten Wiesen wenden und kamen noch gerade so durch. Aber ein fünfundzwanzig Meter langer Wall am Sockel des Damms war bereits aufgeschüttet. Kommando zurück, Katastrophe abgewendet?
Stefan interviewte einen Funker, der in einem schräg an der Böschung parkenden Mercedesjeep saß.
"Schönen Abend. Na wie sieht's aus? Ich bin Journalist und würde gerne wissen, wie ihr vorankommt. Wird der Damm halten? "
Der Hauptgefreite empfing gerade neue Meldungen." Sie hören es ja. Es brennt überall. Auf der anderen Seite sieht's noch schlechter aus. Wir können nur beten, daß es bald zu pissen aufhört. Der permanente Wasserdruck weicht den Damm förmlich auf. Das hier ist nur der Anfang. Wenn's so weitergeht, dann gute Nacht. Wen Sie wollen, können Sie bei den Sandsäcken mithelfen. Das ist momentan wichtiger als Zeitungsartikel. Wir sind für jede Hand dankbar."
Stefan nahm die Einladung an. Er rutschte nach unten auf die Sandhaufen und meldete sich bei einem Zugführer. Der Feldwebel drückte ihm eine Schaufel in die Hand und wies ihm einen Platz zu. Die Soldaten waren überwiegend Wehrpflichtige. Blutjunge Milchbärte, die so aussahen, als ob sie noch nicht lange von der Mutterbrust entwöhnt wären. Aber sie legten sich anständig ins Zeug. Stefan mußte sich ordentlich ranhalten. Sack auf, Sand rein, Sack weg, Sack auf ...
Der Feldwebel hatte erst nach zwei Stunden ein Einsehen. Er ließ Stefan ablösen, dessen Hände wundgearbeitet waren. Die anderen hatten mit Handschuhen vorgesorgt. Stefan wurde zum Verpflegungswagen geschickt. Es gab heißen Tee und Eintopf. Er stärkte sich dankbar. Die Kerle mußten gut gedrillt sein. Kein Murren, kein Mucken, nichts. Da konnte man dem nächsten Krieg trotz Flaumbärten mit Zuversicht entgegen blicken. Stefan genehmigte sich noch einen Schluck und kletterte wieder nach oben. Sein Einsatz war beendet. Er marschierte zurück nach Tosbach.
In der Dunkelheit war das Gurgeln und Mahlen des Flußes noch beeindruckender. Man hatte das Gefühl, bei jedem nächsten Schritt abrutschen zu können. Hinabtauchen in den Schlamm, der seit Urzeiten das Leben gebiert. Komm in meinen weichen Schoß und vergiß deine Sorgen. Die Nacht der Nixen und Sirenen. Wer da nicht gewappnet war ...
Stefan zündete sich eine Zigarette an und nippte am Flachmann. Gegenzauber, da mochten sich die Flußweiber anstrengen wie sie wollten. Ihn überredeten sie nicht zum fatalen Bad in der Brühe.
Wenn man nur wüßte, in welche Welt man nach dem Tod einging. Stefan war natürlich Atheist. So einer klammert sich ans Leben. Was auch sonst, wenn nachher höchstwahrscheinlich alles vorbei war. Man hatte nur einen Aufschlag. Den galt es durchzubringen.
Kurz vor Tosbach stolperte er über ein Rudel Schafe. Unten am Waser planschte eine unförmige Gestalt herum. Stefan rief sie an, doch der Schatten blieb die Antwort schuldig.

Stefan ahnte aber, wen er vor sich hatte. Einen der Millbrüder. Nieman hatte ihre Lieblinge abgeholt und nun mußten sie sehen, wie sie sie über die Nacht retteten. Die Erscheinung hangelte sich durch die Herde hindurch nach oben.
"Hallo, ich bin's, Vinsch, der Schreiberling. Kann ich Ihnen helfen? Vielleicht Ihren Bruder verständigen?"
Es war Helmut, der ältere, der sich zu später Stunde um seine Anvertrauten kümmerte. Stefan wollte ihm mit seiner Hilfsbereitschaft den Wind aus den Segeln nehmen. Zuletzt warf ihn dieser Gigant noch ungefragt in die Drohm. Doch Mill blieb friedlich.
"Ach Sie. Ich muß die Schafe wegtreiben. Der Typ, der versprochen hat, die Tiere zu holen, hat uns versetzt. Aber das macht nichts. Stromaufwärts soll es besser werden. Es wird sich schon ein Weg finden. Ich muß wieder. Die Tiere glauben, daß das Gras kurz überm Wasser am besten schmeckt", sprach Helmut Mill und tauchte wieder ab.
Stefan hatte genug für heute. Er machte die Ghost ausfindig und steuerte den Heimathafen an. Das Wasser war noch einmal deutlich gestiegen. Stefan streifte nur die Klamotten ab und legte sich sofort schlafen.

Am nächsten Morgen wurde er von einem undefinierbaren Geräusch aus dem Erdgeschoß geweckt. Kurz nach sechs. Er stand auf um nachzusehen. Doch er kam nicht weit, jedenfalls nicht trockenen Fußes. Das Wasser reichte bereits bis zur dritten Stufe vom Parterre aus. Das Geräusch, das seinen Schlummer unterbrochen hatte, enstand durch hineinschwappendes Wasser. Die Fenster hatten dem Druck nicht standgehalten und waren geborsten. Stefan biß die Zähne zusammen und kämpfte sich bis zum nächsten Fenster durch. Draußen tuckerte plötzlich ein Schlauchboot heran und machte bei den Kornmeiers fest. Im Boot befand sich Anna, Lisas Kind, und ein Soldat. Otto erschien in der schulterhoch überfluteten Haustür und verhandelte kurz mit dem Uniformierten. Die Schmalspurkrieger sahen in ihren gesprenkelten Röcken wieder richtig gefährlich aus. Fast so scharf wie Hitlers Waffen-SS. Aber da fehlte noch eine Ecke, vor allem in praktischer Hinsicht. Gab es doch noch immer keinen aktiven Soldaten, der sich den Totenkopf am Kragenspiegel wirklich verdient hatte. Natürlich, was nicht ist, kann noch werden. Bis dahin beschränkte man sich auf Hilfsdienste wie Wunden versorgen und Sand schaufeln.
Die Kornmeiers hatten eingesehen, daß sie sich mit Sturheit nur ins eigene Fleisch schnitten. Sie trugen die Kinder heraus und setzten sie ins Boot. Der Soldat wendete sofort und verschwand in Richtung Ludendorf, obwohl nach Stefans Einschätzung noch mindestens ein Platz frei gewesen wäre.
Die Königs zum Beispiel, warum hatte die niemand gefragt? Wieder mal typisch Staat: Aktion auftragsgemäß ausgeführt, Aktion beendet.
Stefan watschelte zurück zur Treppe. Eiskalt, die Suppe. Noch etwas stimmte nicht da draußen ... richtig, der Regen. Es nieselte nur noch ein bißchen, kaum der Rede wert. Das war eine Sensation, die auch Stefan mit Erleichterung registrierte. Stufe eins, Überflutung des Erdgeschosses, erreicht;
Stufe zwei, Überflutung des zweiten Stocks ... würde heißen: Überflutung des Computers und des Rests, der für ihn unersetzlich war. Also bitte abblasen, das Ganze!
Er frühstückte ausgiebig und und überschlug die Arbeiten, die notwendig waren, wenn sich das Wasser wieder verdünnisierte. Allein die Wohnung der alten Fink. Alles rausreißen, neu streichen, Parkett neu legen und, und, und. Die Hausmeisterin, Madame Lisa, würde genug mit ihrem eigenen Schlamassel beschäftigt sein. Keine Frage, an wem das alles hängenblieb. Und selbstverständlich unentgeltlich, unter Freunden, ich bitte dich ...
Der Golf war auch erledigt. Oder waren Diesel wasserdicht? Motor komplett zerlegen und wieder instandsetzen. Mindestens ein vierstelliger Betrag. Gestrichen. Bye, bye, my love. Verluste über Verluste. Das einzige, was dabei heraussprang, war eine Livereportage vom Säckchenfüllen. Äußerst interessant.
Besonders weil landauf landab ähnliche Ereignisse über die Bühne gingen, die oftmals bestimmt spektakulärer abliefen wie das Gebrösel hier vor Ort. Allenfalls ein Stephen King hätte da noch was Brauchbares herausfiltrieren können. Angriff der schweinsgroßen Wasserratten etwa. Imaginationskraft war vonnöten, genau, weil die Realität wieder einmal zu banal war.
Stefan war jedoch kein Bestsellerautor, der sich alles so zurechtbiegen konnte, wie er es brauchte. Ein Journalist mußte sich an Fakten, Fakten, Fakten halten. Trotzdem. Allein diese Millbrüder, das bot doch genug Stoff für einen schweren Schinken. Kerle wie Dynamit, die bei der erstbesten Gelegenheit gewaltig detonierten. Und schuf nicht dieses Hochwasser eine reaktionsfördernde Umgebung, fehlte nur noch der zündende Funke?
Es war also noch nicht alles verloren. Stefan schlüpfte in seinen Kampfanzug und setzte Segel. Diesmal mit Seilsicherung. Keine überflüssige Maßnahme, da über der Hauptstraße eine satte Ströhmung vorhanden war.
Er paddelte vor bis zu Lisas Laden, der mindestens einen Meter unter Wasser stand. Lisa schob mit einer riesigen Plastikwanne durch die Suppe, die von allerlei Ingredienzen schaumig rot eingefärbt war. Stefan vertäute das Floß und begab sich halb schwimmend in den Laden.
"Mein Gott, so schlimm hab' ich mir das nicht vorgestellt. Wenn ich dir irgendwie helfen kann, dann sag' es bitte. Meine Bude ist bislang verschont geblieben."
Lisa fuhr ohne Reaktion fort, Kosmetikartikel in den Korb zu werfen. Das untere Drittel der Regale war schon fast überall frei geräumt.
"Tut mir leid. Wir haben die ganze Nacht gearbeitet und alles nach oben in die Wohnung geschafft. Du hast dich also zu früh gefreut", äußerte Lisa abweisend.
"Ich gefreut? Nein, damit tust du mir wirklich unrecht. Die ganze Chose wird mich selbst eine schöne Stange Geld kosten. Nein, das ist nicht wahr. Aber du hast gesagt wir. Du wirst doch nicht die kleine Anna die ganze Nacht durch's Wasser gescheucht haben? Das Kind holt sich ja den Tod. Nur gut, daß sie dieser Bundeswehrler von hier fortgebracht hat. Ich hab' doch tausendmal angeboten, dir zu helfen. Warum seid ihr alle nur so wahnsinnig verbockt hier draußen?"
"Hauptsächlich deswegen, um uns gegen solche Typen wie dich abzugrenzen. Wir sind nicht so bescheuert wie du glaubst. Geholfen hat mir Unteroffizier Steiner. Der ist nicht so lange in seiner Kaserne gehockt, bis man ihn in einer Sänfte vor Ort gebracht hat. Das ist der Unterschied zu dir, mein Lieber. Mal etwas Gutes zu tun, ohne dreimal dazu aufgefordert zu werden."
Stefan schüttelte den Kopf." Dir kann man es aber auch partout nicht recht machen. Wenn ich unaufgefordert komme, heißt es nur: Hau ab, ich brauch dich nicht. Biete ich mich an, ebenfalls kein Echo. Ich steig da einfach nicht durch. Oder hat dich dieser Steiner heute nacht mit seinem Deppenschnauzer zum Jodeln gebracht?"
Lisa warf blitzschnell eine Zahnpaste nach Stefan, der sofort das Weit suchte. Volltreffer, dachte er, sonst hätte sie nicht so heftig reagiert. Er legte bei den Königs an, obwohl er wußte, daß sie weit besser mit dem Hochwasser zurechtkommen würden als alle anderen. Aber immerhin waren es alte Leute, die nicht mehr ganz so gut konnten wie früher. Herr König reagierte sofort auf Stefans Rufe. Sein Kopf erschien grinsend in einem Fenster des ersten Stocks.
"Na, mein Bester, da haben Sie sich was Schönes zusammengebastelt. Fehlt Ihnen irgendwas? Ich meine, sind Sie krank oder verletzt?" erkundigte sich der Rentner hilfsbereit.
"Dasselbe wollte ich eigentlich Sie fragen. Daß Sie dieser Dödel vom Barras nicht mitgenommen hat. Zumindest für Ihre Frau wäre es doch besser gewesen. Wenn Sie etwas brauchen, lassen Sie es mich wissen. Telefon funktioniert ja noch. "
"Danke, Herr Vinsch. Wir haben vorgesorgt und uns mit Fressalien eingedeckt. Außerdem ist der Spuk eh bald vorbei. Es hat doch schon zu regnen aufgehört. Spätestens morgen scheint wieder die Sonne, da können die Wetterfrösche unken, was sie wollen. Gute Fahrt oder besser Mast und Schotbruch. "
Stefan winkte und pullte nach Hause. So war's richtig. Uns kann doch nichts und keiner.
Obwohl die Königs doch bestimmt den gleichen Schaden hatten wie alle anderen.
Ob das Hochwasser schon seinen höchsten Stand erreicht hatte? Stefan telefonierte noch einmal mit seinem Kollegen aus Schwarzheim. Es hatte sich nichts dramatisch geändert. Nur eine kleine Verschnaufpause. Die Pegel stiegen nicht mehr ganz so rasant. Noch kein Anlaß zum Durchatmen.
Stefan fluchte. Er hatte vergessen, etwas aus dem Laden mitzunehmen und erstickte nicht an Vorräten wie der alte König. Eigentlich kein Wunder, wenn man es von Kind auf gewöhnt war, sich jeden Tag in der Woche aus prall gefüllten Geschäften und Märkten bedienen zu können. Jetzt war das Schlamassel dar, herrschte Ebbe in den Vorratsschränken.
Ganz so schlimm war es natürlich auch nicht. Das vorhandene Pfund Spaghetti reichte für mindestens zwei Tage. Außerdem brauchte er ja nur noch einmal seinen Arsch in Bewegung zu setzen. Lisa würde sich schon wieder beruhigt haben. Ob sie wirklich mit diesem Reserverambo im Bett gelegen hatte? Gelegenheit macht Liebe. Zum Zutrauen war's ihr auf alle Fälle. Soldaten waren wieder in.
Stefan kochte die Nudeln und kreierte aus allerlei Resten eine passable Soße. Na also, es ging doch.
Das Rudern wirkte sich positiv auf den Appetit aus. Sich in freier Natur mit den Elementen messen, das war doch ganz etwas anderes als diese Schreibtischzappelei. Wer sich den ganzen Tag vor dem PC fläzte, mußte ja phlegmatisch werden. Bewegung und Abenteuer unter blauem Himmel, das war das richtige Rezept für verweichlichte Schlaffis.
Warum war er da noch nicht früher drauf gekommen? Manch einer mußte eben zu seinem Glück gezwungen werden. Eigentlich konnte er sich auch bei einer Segelzeitschrift bewerben, Grundkenntnisse waren vorhanden. Da würde die Post richtig abgehen. Mal für ein ganzes halbes Jahr ablegen, kein Land mehr sehen, nur noch durch die Weltmeere pflügen. Das ist wahre Freiheit.
Dieser Jack London hatte den Bogen schon raus gehabt. Auf hoher See trennte sich die Spreu vom Weizen, wurden Memmen zu Männern geschmiedet, war das Wort des Kapitäns Gesetz ...
Was vier stümperhaft zusammengepfuschte Balken alles bewirken konnten ... Larsen alias Vinsch hängte seine Sachen zum Trocknen auf, da er vorhatte, sich nachts erneut auf Patrouille zubegeben. Vielleicht brach der Damm ja doch noch. Natürlich nur stromabwärts, alles andere, nein, da durfte man gar nicht daran denken. Gut, daß die Kinder schon weg waren. Um den Rest war es nicht besonders schade. Berufszynismus.
Ob er gestern diesem Mill hätte helfen sollen? Dessen Schafe hatten wie Lemminge ins Wasser gedrängt. Man wußte halt nie, was in diesen Käuzen vorging. Scheißhinterwäldler, die keinem übern Weg trauten, der schon mal was anderes als ihr Kaff gesehen hatte.
Nach dem Essen machte Stefan es sich vor dem Fernseher bequem. Keine Maloche, das gab' schließlich nicht alle Tage. Mal sehen, was die gelangweilte Hausfrau so konsumierte. Natürlich Talkshows, in denen irgendwelche Perverse über ihre Obsessionen berichten durften. Warum nicht, wenn man schon alles andere kannte. Aber es gab auch etwas anderes. Alte Serien, Sport, Videoclips, was das Herz begehrte. Kein Wunder bei dreißig Programmen. Mit ein bißchen Bier im Bauch wurde auch der größte Blödsinn erträglich. Beeindruckend war dieser TV-Betrieb allerdings schon. Wenn man bedachte, daß jedes Jahr etliche neue Sender dazukamen. Und das alle, die was auf sich hielten, rund um die Uhr Programme ausstrahlten. Wenn man das miteinander hochrechnete, ergab es einen ungeheuren Bedarf an Sendematerial. Das war der Markt der Zukunft. Die Intendanten waren doch schon jetzt gezwungen, fast alles, was ihnen angeboten wurde zu nehmen. Ewig Wiederholungen bringen, ging ja auch nicht.
Die Frage, wie weit der Weg vom Kurier zu einem privaten Sender war, konnte Stefan nicht für sich beantworten. Einfach bestimmt nicht. Die Konkurrenz war groß. Medien, das neue Zauberwort. Jeder, der zwei vollständige Sätze über die Lippen brachte, fühlte sich berufen. Man müßte diesen Brüdern etwas auftischen, was sie von den Socken haute. Aber was, wenn sogar schon ein Kampfeinsatz in Bosnien zu abgeschmackt war? Was war jedoch nicht abgeschmackt? Eben, die Leute wollen nur das sehen und lesen, was sie einornden können. Nach dem Prinzip: das habe ich schon immer gesagt.

Zwei Bierchen später entschlummerte Stefan sanft. Unglaublich ermüdend, diese ewigen, absolut nutzlosen Planspielchen.
Um sieben Uhr wärmte er die Spaghettis auf, obwohl so schweres Essen eigentlich Gift war für einen Wassersportler. Falls ihn die Ghost im Stich ließ oder der Damm sich unter seinen Füßen verflüssigte, war ein leistungsfähiger Körper gefragt. Muskeln, die unermüdlich gegen die Strömung ankämpften und ihn immer wieder aus der schäumenden Flut emporhoben. Das hörte sich zwar reichlich theatralisch an, verschaffte aber Selbstvertrauen, wenn man glaubte, für den Fall der Fälle gerüstet zu sein. Oder es zumindest versuchte. Reichte es auch schon, wenn man nur daran dachte?
Es war gegen halb halb elf, als Stefan durch das melodische Piepen des Telefons aufgeschreckt wurde. Er war gerade im Begriff zu gehen und hob gespannt ab. Bestimmt neue Meldungen aus Schwarzheim. Doch es war jemand anderes: Lisa.
"Stefan, schnell! Heinz Mill. Er ist bei mir im Laden und will mich vergewaltigen. Bitte komm ..." Und aufgelegt. So verängstigt hatte er sie noch nie erlebt. Da brannte es lichterloh. Er stürzte die Treppe hinunter und schwang sich auf sein Floß. Ob er diesem Mill überhaupt gewachsen war? Egal. Er paddelte, so schnell er konnte. Allein die Vorstellung wie sich dieser wahrscheinlich sturzbetrunkene Koloß auf Lisa schob und ihr die Kleider vom Leib riß ... einfach widerlich.
Hoffentlich kam er nicht zu spät. Die letzten Meter legte er schwimmend zurück, da er sich zu weit auf die rechte Seite hinausgebeugt hatte und ins Wasser gefallen war. Vor dem Laden parkte das Boot des alten König, mit Außenborder ausgerüstet. Heinz Mill schien wenig daran zu liegen, seinen Besuch zu verheimlichen. Stefan sprang in den Verkaufsraum. Oben in der Wohnung schrie jemand gotterbärmlich. Dann dumpfesPochen. Stefan stürmte mit dem Paddel bewaffnet hinauf. Heinz Mill drosch wie ein Wahnsinniger gegen die verschlossene Badezimmertür. Er bemerkte Stefan nicht, der die Gunst der Stunde nutzte und sich von hinten heranschlich. Als er nahe genug heran war, holte er weit aus und schlug mit dem massiven Brett zu. Kopftreffer. Mill wankte, verdrehte die Augen und stampfte wie ein angeschoßener Wasserbüffel die Treppe hinunter.
Stefan fiel ein Stein vom Herzen. Das es so komplikationslos abging, hatte er nicht erwartet. Hoffentlich war Lisa nichts passiert.
"Lisa? Er ist weg. Du kannst rauskommen."
Lisa hatte zu schreien aufgehört und drehte langsam den Schlüssel herum. Sie sah schlimm aus. Das ganze Gesicht zerkratzt, der Pullover zerrissen und blutig geschlagene Lippen. Stefan nahm sie in den Arm.
"Diese Sau. Den mach' ich fertig. Komm, wir müssen dich erst einmal verarzten."
Lisa faßte sich erstaunlich schnell wieder. Sie spülte ihre Wunden mit kaltem Wasser ab und schnitt Heftpflaster zurecht, die Stefan aufklebte, nachdem ihre Haut getrocknet war. Danach brachte er ihr neue Sachen.
"Danke. Hast du zufällig eine Zigarette? Ich könnte jetzt gut eine vertragen."
Stefan griff seine Taschen ab, wurde aber nicht fündig.
"In der Küche. Wir haben sie Gott sei Dank noch gerettet";sagte Lisa. Stefan holte ein Päckchen, gab Lisa eine und bediente sich selbst.
"Herrlich! Wie lange hat dich dieser Unhold traktiert?"fragte Stefan.
"Etwa zehn Minuten. Es ging alles so schnell. Er kam herein, verlangte Bier und eine Flasche Schnaps. Ich suchte alles zusammen und drückte ihm den Korb in die Hand. Plötzlich fängt er zu tatschen an. Daß er ziemlich besoffen war, hatte ich schon vorher gemerkt. Aber das war nichts Außergewöhnliches und entschuldigte auch nicht sein Verhalten. Dann dieser Blick. Ich wußte sofort, daß es jetzt ernst wurde. Als ob er mich fressen wollte. Und dann begann die Jagd. Ich hieb mit allem auf ihn ein, was ich zu fassen bekam. Aber der spürt ja nichts. Als ich einen Treffer zwischen den Beinen landen konnte, blieb mir soviel Zeit, dich zu verständigen. Das ist in gröben Zügen alles."
Stefan inhalierte tief und klopfte Lisa auf die Schulter, deren Atem wieder etwas schneller ging.
"Du brauchst jetzt viel Ruhe. Ich werde versuchen, jemand aufzuscheuchen, der die Verhaftung dieses Monsters bewerkstelligt. Wenn ich direkt bei der Polizei anrufe, schnappen die nur nach Luft. Katastrophenalarm, Notstand, keine Kapazitäten frei, bla, bla, bla ... Einen Helikopter werden wir ihnen nicht wert sein. Bis ich das geschafft habe, bleibe ich selbstverständlich hier. Dieser Mill kann jederzeit wiederkommen. Ich gehe erst einmal nach unten und peile die Lage. Vielleicht liegt er bewußtlos im Boot und ist gerade am Abschnappen. Du bleibst auf jeden Fall hier und verbarrikadierst dich. Ich bin gleich wieder da."
Mill und das Boot waren weg. Allerdings nicht weit. Die Zille parkte vor dem Haus der Kornmeiers. Mill hatte anscheinend noch nicht genug. Er bildete sich eine Frau ein und war bereit, dafür einen sehr hohen Preis zu bezahlen. Sein neues Zielobjekt hieß wohl Eva. Stefan paddelte sofort los. Mill war nun gefährlicher als waidwunder Keiler. Auf halber Wegstrecke gellte Stefan ein gräßlicher Schrei aus dem schulterhoch überfluteten Hausgang der Kornmeiers entgegen. Stefan legte sich kräftiger ins Zeug und verlor erneut die Balance. Das Wasser war so tief, daß er mit den Zehen keinen Grund spürte. Vorwärts kam man nur mit kräftigen Schwimmbewegungen. Als Stefan einige Moment später das Haus erreichte, war schon alles vorbei.
Heinz Mill driftete mit einem Stemmeisen im Rücken ins Freie. Stefan verfrachtete ihn ohne Umstände in das Boot des alten König. Es würde sich besser machen, wenn der Unhold überlebte. Besonders in Vergewaltigungsprozeßen wurden ja bisweilen die merkwürdigsten Urteile ausgesprochen. Hätten Sie unseren guten x, y doch nicht so angemacht. Er ist schließlich auch nur ein Mensch ...
Jetzt kamen auch Otto und Eva heraus." Gott sei dank. Nun haben wir wenigstens einen Zeugen. Der kam einfach hier rein und wollte sich an Eva heranmachen. Ich sah sofort, daß er sturzbesoffen war.
Aber als er immer zudringlicher wurde und sich nicht abbringen ließ, blieb mir keine andere Wahl. Ich meine, ich kann doch nicht zulassen, wie einer meine Frau ..." , erklärte Otto erregt.
Stefan beruhigte ihn." Er war vorher bei Lisa im Laden. Dieselbe Show. Wir haben also mehrere Zeugen. Sie könnem allem ganz gelassen entgegen sehen. Jeder hätte so gehandelt. Diese Mills sind doch berüchtigt für ihre Eskapaden."
"Glauben Sie, daß er druchkommt?" fragte Eva.
"Ich denke schon. Die Klinge hat das Schulterblatt nicht durchdrungen. Ich werde versuchen, einen Hubschrauber zu organisieren. Solche Typen sind sehr robust", antwortete Stefan und paddelte mit dem Verletzten zum Haus der Mill hinunter. Mills Mutter schien die Geschehnisse zumindest teilweise von ihrem Logenplatz aus im ersten Stock beobachtet zu haben. Sie kam herunter und nahm ihren Sprößling in Empfang.
"Helmut! Sie haben deinen Bruder erledigt, nur weil er Bier organisieren wollte. Helmut, du mußt mir helfen! Allein bring ich ihn nicht rein", plärrte die Alte in den muffigen Flur hinein. Stefan hütete sich davor, das Haus zu betreten. Zuletzt schoben sie ihm noch alles in die Schuhe und fielen über ihn her.
Helmut Mill erschien.
"Ihr Bruder ist ausgerastet und auf die Frauen losgegegangen. Die Kornmeiers haben sich nur verteidigt. Lassen Sie das Stemmeisen am besten stecken, bis der Arzt kommt. Er blutet fast nicht. Ich werde einen Rettungsdienst verständigen", sagte Stefan und trat den Rückzug an. Helmut Mill verfrachtete seinen Bruder behutsam ins Haus.



Epilog


Es setzte kein neuer Regen ein und das Hochwasser ging rasch wieder zurück. Stefan Vinsch verkaufte die Tosbachstory an die Realityshow eines großen Privatsenders. Eine renomierte Illustrierte wurde daraufhin auf ihn aufmerksam und engagierte ihn als freien Mitarbeiter. Stefan zog erleichert nach Berlin um, auf ewig geheilt von den Verlockungen des Provinzlebens.