Die meisten, die hier verkehrten, waren Fabrikarbeiter.
Stefan blieb als Studierter und Journalist bei aller freundlicher
Aufnahme doch nur Außenseiter. Er wurde zwar aufgenommen und
geduldet, nicht nur wegen seiner Kartenkünste, aber es
entwickelten sich keine engeren Beziehungen. Man konsumierte das
Bier zusammen, lachte über denselben Unsinn, war vertraut
miteinander, konnte jedoch die letzten Hürden nie
überwinden. Diese Schreibtischtäter wußten doch
gar nicht, was es hieß, am Fließband zu arbeiten.
Zweischichtsystem, Woche für Woche, Jahr für Jahr,
für ein paar Zerquwetschte und immer zu allem ja und amen
sagen zu müssen. Genau das rieben sie ihm immer unter die
Nase, spätestens nach dem fünften Bier. Als ob er sich
sein Geld mit Bleistiftspitzen verdienen würde.
Stefan wünschte sich öfters einen Job, bei dem er nicht
zu denken brauchte. Wo es reichte, wenn man nur funktionierte und
alle dreißig Sekunden auf einen Knopf drückte.
Insegesamt gesehen waren ihm diese Brüder lieber als die ewig
betroffenen Intelektuellen, die ihn besonders in der Uni schwer
genervt hatten. Selber mit Papis dickem Wagen vor dem Campus
parken und sich hinterher über die imperialistischen
Ausbeuter beschweren, die vom Elend der Entwicklungsländer
lebten. Gott sei Dank kam dieser Menschenschlag gehäuft nur
in bestimmten Territorien vor. Keine Chance, ein Exemplar in
Schwarzheim ausfindig zu machen, auch nicht im Kurier. Einerseits
gut, andererseits auch eigentlich schade, da er selbst ein
bißchen zu dieser verhaßten Spezies gehörte. Er
lebte in einer geistigen Diaspora. Immer nur über die Tabelle
zu quasseln, war ätzend, doch mehr lief in diese Spelunken
selten. Ab einem gewissen Quantum hörte es sich nur nach mehr
an. Das zu dem Philosophischen von oben.
Ohne Alk war es nicht zu ertragen. Wahrscheinlich erwartete er nur
zuviel von seinen Mitmenschen. Man mußte vor allem sich
selber genug sein. Dann konnte man nie mehr auf die Schnauze
fallen.
Nach einer dreiviertel Sunde wurde ein Platz frei. Stefan konnte
endlich richtig einsteigen. Anfangs lief es nicht schlecht, er
konnte ein paar Mark ansparen. Doch die Strähne hielt nicht.
Zum Schluß fungierte er nur noch als Kartenhalter, der die
Trümpfe der Konkurrenten bedienen mußte. Gerade als er
aussteigen wollte, plazierte der Wirt ein Radio auf der Theke.
Fußball. Die ersten Ergebnisse wurden durchgegeben, die
Karten nicht mehr gemischt. Stefan blieben dadurch lange
Erklärungen erspart. Er genehmigte sich noch eine Halbe,
leerte sie zügig und fuhr heim. Mit zwei Liter Bier im Blut.
Er baute auf die Abgelegenheit seiner Route. Außerdem war er
mit einem Polizisten per Du, der in notfalls schon heraushauen
würde.
Das war natürlich Quatsch. Im Zweifelsfall stand einer wie
Dorn immer auf der Seite des Gesetzes und würde keine Sekunde
zögern, ihm die Lizenz zu entziehen.
Ab und an mußte man eben das Schicksal herausfordern, ihm
eine Chance geben sozusagen. Andere dealten oder überfielen
Banken. Nur nicht zu obrigkeitsergeben leben. Wenn sie ihn
wirklich mal erwischten, müßte er halt nach Berlin
ziehen, wo man mit dem Fahrrad sogar schneller war. Wäre
wahrscheinlich sowieso besser als hier ewig weiterzustopseln.
Zuhause legte sich Stefan wieder auf's Bett. Bier machte ihn immer
müde, besonders wenn er es am hellichten Tag genoß. Er
nickte ein und schlief durch, bis Fußball im Fernsehen
begann. Stefan schaltete den Kasten ein und mixte sich eine
große Apfelschorle. Schon ertappt. Die einen öffentlich
in der Kneipe, die anderen klammheimlich im stillen
Kämmerlein. Proletarier aller Fangemeinden vereinigt euch.
Ach, zwei Herzen schlagen in meiner Brust: blasiertes Gesocks oder
primitives Gesindel?
Warum sich darüber den Kopf zerbrechen? Die Geschmäcker
sind verschieden, punktum. Wieviel Akademiker es wohl gab, die
irgendwo in der Toskana Hühner vögelten oder sonstige
Verdrehtheiten pflegten, von denen sich der brave Arbeiter keine
Vorstellungung machte? Alle dekadent und entartet. Warten auf das
nächste Großreinemachen. Abrechnen mit allen
Widerlingen und Luftverpestern.
Wie üblich, saures Aufstoßen und Katererscheinungen.
Man sollte es lassen, wenn man es nicht vertrug. Stefan glotzte
durch bis halb zwei. Auch draußen lief immer derselbe fade
Film ab. Und mit Gewalt wollte er seinen Schein auch nicht
loswerden. Schwarzheim war besonders am Wochenende ein
heißes Pflaster. Kein Vergleich zu Ludendorf.
Bevor er ins Bett ging, raucht er noch eine Zigarette in der
Scheune. Peng, peng, peng, die Tropfen knallen im Technorhythmus
auf's Blechdach. Stefan konnte sich in der Tat nicht daran
erinnern, so was schon einmal erlebt zu haben. Beschuß ohne
Unterlaß. Wenn es etwas nachließ, dann nur um neue
Kräfte zu sammeln. Seit März hatte es vielleicht nur
fünf schöne Tage hinereinander gegeben. Daß es im
Winter und Frühjahr in der Gegend viel goß, war nichts
Neues. Man hatte sich daran gewöhnt und die Landwirtschaft
profitierte davon. Nur das, was sich hier abspielte, spottete
jeder Beschreibung. Im Mai schüttete es so viel wie seit
hundert Jahren nicht mehr. Die Bauern bangten um ihr Getreide,
Fäulnis drohte. Außerdem konnten sie mit ihren
Schleppern die Felder nicht mehr befahren. Schon zu Fuß
versank man bei jedem Tritt bis auf die Knöchel. Das ganze
Oberflächenrelief mußte vollgesogen sein wie ein
Schwamm. Wenn man im Garten ein zwei Fuß tiefes Loch aushob,
kam wahrscheinlich schon Grundwasser. Alles, was jetzt noch
runterklatschte, mußte sich einen neuen Weg bahnen, abseits
der üblichen und von der Natur vorgesehenen Bahnen. Von der
Drohm war der ganze Landkreis, vielleicht sogar der ganze
Regierungsbezirk bedroht. Außerdem goß es in ganz
Deutschland. Viele große Ansiedlungen und Städte lagen
an Flüßen. Allzusehr auf staatliche Hilfe sollte man
deswegen nicht hoffen. Man sah ja immer sehr schön, wie alle
blitzschnell ins Rotieren kamen, wenn es wirklich brannte.
Vielleicht hatten sie schon einen soliden Krisenstab gebildet. Mit
dem Landrat, dem THW, der Polizei, der Bundeswehr, dem
Bundetagsabgeordneten des Wahlkreises gar, wenn er zur Hand war.
Das gab immer diese schönen Bilder: Politiker mit Stahlhelm
und Funkgerät, souverän die Lage überblickend und
meisternd, Tango Foxtrott over. Ob schon Dammwachen unterwegs
waren? Peter Dorn wußte sicherlich Bescheid. Ob er Ihn zu so
nachtschlafender Zeit noch herauspullen sollte? Wahrscheinlich
hatte er aber Dienst und war gar nicht zu Hause. Stefan
verspürte allen guten Vorsätzen zum Trotz wenig Lust,
sich die Nacht bei dem Wetter um die Ohren zu hauen. Wenn, waren
die Jungs eh auf der andren Seite unterwegs. Die nächste
Brücke stand auf der Höhe von Ludendorf. Also geschenkt.
Dann eben morgen.