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Eine Frau mußte ins Haus.
Die letzte feste Freundin hatte Stefan während des Studiums gehabt. In der Uni traten sich die aufgeschlossenen weiblichen Wesen nur so auf die Füße. Endlich dem Elternhaus und Kleinbürgermief entkommen, drehte manche Kommilitonin auf dem Campus so richtig auf. Man mußte nur zugreifen.
Nach der Abschlußprüfung war in der Richtung nicht mehr viel passiert. Ein paar schnelle Bettgeschichten, nichts mehr fürs Herz. Seine nomadische Lebensweise war auch nicht gerade förderlich für eine stabile Partnerschaft. Wer mit dreißig noch nicht unter der Haube war, sehnte sich auch nach Beständigkeit und Halt. Freilich war ein Vagabund im vierten Lebensjahrzehnt nur noch halb so attraktiv wie im zweiten oder dritten, wo einem noch viel mehr verziehen und nachgesehen wurde.
Die Frauen, die auf den sprunghaften, freiheitsliebenden Typus standen, waren dünn gesät. Lisa schien auch nicht zu ihnen zu gehören. Aber sie war die einzige zur Zeit, mit der er etwas unternehmen wollte, deren Nähe ihm angenehm war. Sie war nett und nicht eingebildet. Der einzige Fehler, den sie hatte, war allerdings von gravierender Art: Sie nahm ihn nicht ernst.
Vielleicht mußte er sie nur hartnäckig genug von seiner Zuneigung überzeugen. Aber wie weit ging diese?
Wenn sie so vor ihm stand mit ihrem grauenhaften Kittel und den Dauerwellen ... nein, das war nicht ganz das Bild, das er sich von seiner Zukünftigen machte. In zehn Jahren war sie schon vierzig. Mit fünzig spielten die Enkel zwischen ihren strammen Waden verstecken. Ihre Drallheit wurde sich in Beleibtheit verwandelt haben. Keine erfreuliche Aussicht. Was wollte er nun von ihr?

Wirklich nur, daß sie zwei bis dreimal pro Woche mit ihm ins Bett stieg und zwischendurch noch ab und an einen abkaute? Nicht zuletzt. Er war geil auf sie. Das war kein Verbrechen. Platonische Liebe gab's nur in billigen Schundromanen.
Lisa war das zu wenig. Daran bestand kein Zweifel. Sie wollte jemand, der sie vor den Altar führte und ihr Geborgenheit schenkte. Keinen Beschäler, der sich nur für sie interessierte, wenn sein Saft zwischen den Gehirnwindungen rotierte. Also wie weiter?
Es war schwer, jemand anderen zu beeinflussen, wenn man selbst nicht genau wußte, was in einem vorging. Vielleicht verkannte er Lisa völlig. Die Biederkeit, die sie so determinierte, existierte womöglich nur in seiner Vorstellung. Alles Berührungsängste, weil er noch nicht reif war für eine dauerhafte Partnerschaft? Vielleicht lebten sie sich auch zusammen und wurden glücklich miteinander.
Aber nicht in Tosbach. Das war der nächste Stolperstein. Lisa war hier aufgewachsen und verwurzelt. Ihre Tochter wurde bald eingeschult, der Laden, die Häuser, nein, sie würde das nie aufgeben. Für Stefan bedeutete lebenslänglich Tosbach lebenslänglich Kurier und das war undenkbar. Eine verzwickte Angelegenheit. Gott sei Dank war er vorläufig nur ein bißchen in sie verliebt. Eine Trennung würde nicht sonderlich schmerzhaft verlaufen. Siegfried, der Unverwundbare.
Stefan stellte sich unter die Dusche. Es dauerte lange bis das Wasser richtig heiß wurde. Eine kostenlose Kneippkur. Etwas ärgerte ihn neuerdings, wenn er die Klamotten abgestreift hatte: ein kleiner Bauchansatz. Seine beiden Jeans begannen wieder zu zwicken. Dabei wog er doch nur achtzig Kilo, bei einsneunundsiebzig Größe. Normalgewicht also. Der Kuchen war schuld. Im Kurier hatte eine neue Sekretärin angefangen, die jeden Nachmittag schwere Geschoße auftischte. Schwarzwälder Kirsch, Sacher, Obstkuchen, etc. Immer mit fettigem Teig und eimerweise Zuckerguß. Besser wie von jedem Konditor. Da konnte man einfach nicht nein sagen. Abends dann noch ein, zwei Bierchen und Salzstangen, das summierte sich.
Stefan wollte sich auf keinen Fall in eine dieser speckbäuchigen Seekühe verwandeln, die das Bild in bundesrepublikanischen FKK-Anlagen so entscheident prägten. Ab dreißig ließen viele die letzten Hemmungen fallen. Man leistete etwas und wollte es sich entsprechend gutgehen lassen. Also ran die Buletten. Hatten nicht erst neulich wieder Wissenschaftler bewiesen, wie schädlich fasten war? Immer rauf und runter, reines Gift für den Körper.
Kann ja auch sein, daß ihn Lisa bislang wegen seiner Schlaksigkeit links liegengelassen hatte. Frauen standen doch auf die wohlbeleibten, ruhigen Vertreter, die wie possierliche Hamster unablässig mit den dicken Backen malmten.
So konnte man sich einlullen. Und irgendwann war es dann zu spät, wenn die Waage zweihundert Pfund anzeigte. Stefan nahm sich vor, Lisa zu konsultieren. Sie würde ihm auf keinen Fall schmeicheln und in falscher Sicherheit wiegen.
Er spülte sich das letzte Shampoo aus den Haaren und begann sich einer ausgiebigen kosmetischen Operation zu unterziehen: Fußnägelschneiden, Deodorant und Parfüm satt auf alle Problemstellen, Zehnszwischenräume mit Fußpilzsalbe behandeln, Maniküre und die schwarzen, garstige Härchen aus den Nasenlöchern zupfen. Wie wohltuend sich allein schon die Aussicht auf weibliche Nähe auswirken konnte. Zum Abschluß noch ein Schluck Mundwasser. Es eilte noch nicht. Erst kurz vor sieben. Schlappi schlappi gab's später beim Italiener. Er konnte also in Ruhe seine Garderobe zusammenstellen. Die schwarze Lederhose kam nicht in Frage. Zu wild und animalisch für ein romantisches Treffen. Die weiteste Jeans hatte er nachmittags versaut. Die beiden restlichen waren deutlich enger. Da half nur noch der alte Trick mit dem Gürtel. Oberster Knopf offen und die Schnalle drüber. Diese Lösung war allerdings nicht mit einem Hemd kombinierbar. Ein langes, weites T-Shirt, das man über dem Bund tragen konnte, war geeigneter. Ein normales Hemd wirkte zwar nobler, aber es half nichts. Wenn er nicht den ganzen Abend lang unter Bauchschmerzen leiden wollte, gab's nur diese Möglichkeit. Sein bestes Stück, eine Nappalederjacke, Typ französischer Kommissar, würde den Nachteil wieder wettmachen. Dazu weiße Sneaker und der lässige, doch nicht unflotte Mann für alle Fälle war komplett. Diese Fatzken mit Kaschmirschals und Seidenjackets konnten da nicht mithalten.
Ein richtig gutes Outfit kann man in keinem Laden kaufen. Man muß es langsam entwickeln, ganz so wie die eigene Persönlichkeit. Hoffentlich besaß Lisa ebenfalls ein Gespür für diese Feinheiten. Nicht daß sie sich schämte, mit ihm an einem Tisch zu sitzen.
Stefan schloß die Außenarbeiten vor einem großen Spiegel ab, der an der Innenseite einer wurmstichigen Schranktür angebracht war. Er hatte nur diesen einen Kleiderkasten behalten nach dem Tod der Witwe und den Rest nach Ludendorf zum Sperrmüll verfrachtet. Lisa sollte nicht sehen, was er mit den alten Familienerbstücken anstellte. Aber jetzt waren die Termitenhochburgen draußen, unwiederbringlich. Falls sie ihm deswegen die Hölle heiß machen sollte, würde er ihr einen Sack Sägespäne zeigen, der im Schuppen stand. Kommentarlos, der Rest vom Schützenfest.
Es wurde Zeit. Stefan schlüpfte in seinen Überwurf. Schade, das Lederteil kam so nicht richtig zur Geltung. Es gab hunderte von Pfützen auf dem Weg, denen es auszuweichen galt, da die Turnschuhe nur wirkten, wenn sie glänzten, wie an den Füßen der Basketballcracks in den Staaten.
Im Laden brannte kein Licht. Wenigstens arbeitete sie nicht mehr. Stefan klopfte ans Küchenfenster, das sich ein paar Meter neben dem Laden hinter Rankgewächsen verbarg.
"Bin gleich fertig. Noch zwei Minuten!"
Eine schöne, volle Stimme. Die konnte einen bestimmt ganz schön zusammenstauchen, wenn sie in Fahrt war. Stefan drückte sich gegen die Wand und wartete geduldig auf seine Begleiterin, die erst kurz vor dreiviertel mit ihrem Punto um die Ecke bog. Ein schönes Bild: die anthrazitfarbene Karosse und Lisas knallrote Kunstlederjacke. Wirklich sehenswert.
Stefan stieg ein. Der Kontrast wurde unter der Gürtellinie durch einen schwarzen Minirock und rote Stöckelschuhe fortgesetzt. Gewagt, gewagt. Sie hatte doch was drauf. Man mußte sie nur aus der Reserve locken.
"Du kennst ja den Weg. Irgendwo in der größten Pampa liegt schmieriger Lehm auf der Straße. Da hilft dir auch dein ABS nicht. Danke noch mal, daß du dich für mich so schön gemacht hast. Ich meine, ich bin das nicht mehr gewohnt ... äh ..." Stefan begann zu stottern. Nur nicht gleich zu dick auftragen. Prompt fing sie an zu kichern.
"Mein Gott, nun brich dir mal keinen ab. Ich seh doch aus wie ein Flittchen in einem Elvis Presley Film. Grell, billig und provinzlerisch. Hoffentlich sind in dem Regen nicht zuviele Leute unterwegs."
"Unter wenigen wirst du umso mehr auffallen. Außerdem ist das alles Quatsch. Einen Schock werden nur die erleiden, die dich nur aus dem Geschäft kennen. Mit Kittel und Gesundheitsschuhen. Das soll uns nicht interessieren heute abend, dieses Spießerdenken. Wir werden es uns gutgehenlassen und nur über schöne, angenehme Sachen sprechen. Musik, zum Beispiel."
Lisa nahm Stefans Anregung auf und setzte den CD-Player in Betrieb. Der erklingende Sound war auch nach seinem Geschmack. Er berichtete ihr von seinen Neuerwerbungen und weinte der guten, alten Vinylzeit nach.
"Akustischer Fortschritt, optischer Rückschritt, und zwar ein doppelter. Ich kann mit diesen kleinen Faltbildchen nichts anfangen. Allein die Covers von Uriah Heep ... auf immer verloren. Ein künstlerischer Sündenfall. So rigoros sind ja nicht einmal die Nazis vorgegegangen. Wieviel PS hat deine Punze gleich wieder? Hundertzehn?"
"Siebzig. Ich denke, wir müssen uns beeilen. Ich bin irgendwie nicht mit meinem Make-up zu Rande gekommen", sagte Lisa.
Stefan schaltete die Innenbeleuchtung ein und verdrehte inspizierend seinen Hals.
"Blödsinn! Du hast alles prima hingekriegt. Dein Kirschmund wirkt sehr erotisch. Tut er übrigens ohne Tünche auch. Und so ein Brummer versteckt sich seit Jahren hinter Haushaltsreinigern.
Wenn wir Glück haben, versäumen wir nichts. Wegen der Werbung."
Stefan behielt recht. Der Film begann ein paar Minuten nach halb neun. Da Lisa außerdem in einer nahegelegen Tiefgarage parkte, trafen sie noch rechtzeitig ein. Stefan löste die Tickets und erstand eine Flasche Pils.

Lisa wollte nichts trinken, auch keine Cola. Stefan wunderte sich, wie wenig Leute den Film sehen wollten. Insgesamt nur zwölf Köpfe. Nicht gerade berauschend fürs Wochenende. Aber das hatte auch Vorteile. Keiner konnte einem die Sicht nehmen und die Logenplätze waren noch frei. Das Stück selbst blieb nur durchschnittlich. Stefan hatte sich mehr versprochen. In allen Kritiken war es von den Kollegen gelobt worden. Wahrscheinlich nur, weil es um eine Gruppe rechtsradikaler Terroristen ging, die den Präsidenten ermorden wolllten. Ein flapsiger Inspektor kommt den Feierabend-umstürzlern auf die Spur und buchtet sie nach diversen Komplikationen ein.
Viele neue Gesichter, aber keine Entdeckungen, die imstande gewesen wären, den Plot entscheidend voranzutreiben. Unterhaltung auf TV-Niveau. Nach der Vostellung, beim Italiener, entschuldigte sich Stefan für seine Wahl.
"Tut mir leid. Der Streifen war nicht besonders. Ich dachte, da kommt mehr rüber als diese Gesinnungsbeschau. Rechts schlecht, links gut. Denen geht's doch nur um die neue Besetzung des bösen Wolfs. Früher war's der Onkel von nebenan, später die Dealer und radikalen Moslems, jetzt die Neonazis. Überhaupt, warum sollten Faschisten draufkommen, den Präsidenten abzuknallen? Der ist doch noch übler als bei uns das Kanzelohr. Die decken das Rechtsaußenlager locker mit ab. Waren deine Spaghetti gut? Sonst wäre der ganze Abend versaut und du bliebst mir ewig beleidigt."
Lisa nahm einen Schluck Lambrusco und lächelte.
"Deine Fürsorge nimmt erschreckende Ausmaße an. Ich lese übrigens auch Zeitung. Wenn ich den Film nicht hätte sehen wollen, wäre ich zu Hause geblieben. So schlecht war er doch gar nicht. Zumindest wurde gezeigt, daß es auch woanders Verrückte gibt, die sich Hakenkreuze auf die Stirn tätowieren und auf Ausländer Jagd machen. Sonst wird doch nur immer Deutschland als Brutstätte des Bösen dargestellt. Apropos Nazis: Vor drei Jahren hab' ich über Weihnachten zwei Wochen Urlaub in Ägypten gemacht. Mit einer Bekannten. Als wir in einem Restaurant saßen und auf's Essen warteten, haben am Nachbartisch vier junge Männer mitgehorcht. Sie merkten, daß wir aus Deutschland kamen und bestellten uns zwei Schnäpse. Einer von ihnen kam kurz an unseren Tisch und sagte'Hitler gut, macht alle Juden kaputt'. Sie wollten sich nicht an uns heranmachen, sondern nur diesen Spruch loswerden. Ich hab' den Schnaps danach tatsächlich gebraucht. "
"In den arabischen Ländern haben wir viele Freunde, nicht nur wegen unserer Vergangenheit. Wir zahlen gut und liefern alles. Bis uns die Herren Kameltreiber eines Tages die Dächer von unseren Hütten wegblasen. Nicht nur ich warte sehnsüchtig darauf. Es wäre nur ausgleichende Gerechtigkeit. Eine logische Konsequenz des extremen Nord-Süd-Gefälles. Wenn ich von Geburt auf dazu verdammt wäre, meinen Lebensunterhalt durch Herumstochern auf einer Müllhalde zu verdienen, konnte ich es mir schon vorstellen, ein Verbrecher zu werden. Ein Dealer, zum Beispiel, der an die Reichen Stoff verscherbelt, mit dem sie aus der übersatten Realität flüchten können.
Oder ich würde ein Diktator werden, der sein Volk zum heiligen Krieg aufruft und die großen Industrienationen mit Bazillen bombardiert. Manche von ihnen bezeichnen uns als Teufel. Und die müssen bekanntermaßen ausgetrieben werden. Mit allen Mitteln. Da kommt noch einiges auf uns zu. Prost", sagte Stefan und stieß mit Lisa an, die seinen Ausführungen etwas befremdet gefolgt war.
"Du wirfst mir zuviel in einen Topf. Ich bin jedenfalls nicht dran schuld, wenn es den Menschen in der dritten Welt schlecht geht. Liefert man ihnen Getreide oder Mehl, vergammelt das Zeug in irgendwelchen Lagerhallen, weil sich niemand für die Verteilung zuständig fühlt. Oder dubiose Geschäftemacher lassen niemand an die Bestände, um die Preise künstlich hochzuhalten. Außerdem soll durch Nahrungsmittellieferungen die ansässige Landwirtschaft geschädigt werden. Wer geht noch auf seinen Acker, wenn ihm der Entwicklungshelfer jede Woche einen Sack Korn vor die Tür stellt? Ich kann doch nicht verhindern, daß die Rüstungsindustrie Schnellfeuergewehre und Minen in Krisengebiete verkauft. Mehr als nicht wählen ist nicht drin. Oder soll ich keine Sreuern mehr zahlen und mich einsperrren lassen, aus Protest? Ihr Intellektuellen spielt euch immer als die Hüter von Moral und Gerechtigkeit auf und vergeßt dabei, daß ihr aus dem gleichen Topf fresst wie wir. Oder hast du schon mal mehr getan, als demonstrieren und zehn Mark für die Welthungelhilfe spenden? Abgesehen davon wird es schon spät. Ich muß morgen früher raus. Laß uns gehen."
Stefan nickte. Sie hatte recht. Der Abend war gelaufen. Wenn sie ihn schon nach dem ersten Glas beschimpfte, konnte es nur noch schlimmer werden. Er lotste den Kellner heran und beglich die Rechnung. Lisa nahm die Einladung anstandslos an. Sie meinte nur, er solle nichts dafür erwarten.
Das tat er spätestens nach ihrem kleinen Disput nicht mehr. Die Braut funkte auf einer gänzlich anderen Welllenlänge.
Die Heimfahrt verlief einsilbig. Warum auch immer reden? Es hatte sich ja gezeigt, wie wenig dabei herauskam. Ob er endlich mal die Hand auf ihren prallen Nylonschenkel legen sollte?
Nein, das war kein guter Einfall, ganz bestimmt nicht. Sie war robust gebaut und würde ihn sicherlich anstandslos hinauswerfen. Dabei trommelten die Tropfen wie Maschinengewehrfeuer gegen das Dach und die Windschutzscheibe. Ein Marsch am Tag durch diese Waschküche reichte dicke. Ob sie sich von einem anderen lieber abtatschen lassen würde? Von einem Schnurrbartträger vielleicht, der BMW fuhr und einen Supermarkt leitete? Er konnte sie auch schlecht fragen. So eine Aktion mußte aus dem Bauch heraus geleitet werden. Eine Gefühlssache, bei der man sich auf seinen Riecher verlassen mußte.
Derselbe gab Stefan kein grünes Licht. Zielperson läßt Zugbrücke nicht herunter, Attacke abblasen.
Dann eben nicht. Ein taktischer Rückzug war allemal vorteilhafter als ein gescheiterter Angriff.
Lisa setzte ihn vor seiner Gartentür ab und wünschte ihm eine gute Nacht. Stefan bedankte sich steif für den netten Abend und lud sie nicht auf einen kleinen Schlummertrunk ein. Sie hätte das sowieso nur in den falschen Rachen bekommen. Der knallharte Stecher, der schon am ersten Abend zum Schuß kommen will, so in der Richtung. Andererseits kannte er die Gute schon lang genug. Sie gab sich immer so zugeknöpft, ganz so als ob es ihr nicht auch guttun würde. Es hieß doch nicht umsonst:
Wer keinen Sex hat, verkümmert. Die Frau, die glücklich verheiratet war und wöchentlich ihre Packung abbekam, stand einfach besser im Saft. Die Hormone zirkulierten ganz anders. Strahlende Augen und glänzende Haare, wie bei den Hunden, die mit Pedigree Pal ernährt wurden.
Wahrscheinlich würde sie ihn erst ranlassen, wenn er ihr einen Verlobungsring überstreifte, mit Diamant und Treueschwur.
Stefan war noch nicht sonderlich müde. Schade, daß es in Tosbach keine Kneipe gab. Er verspürte das Bedürfnis, sich so richtig schön zulaufen zu lassen, nur in Männergesellschaft und mit einem verständnisvollen Wirt, der ihm zuhörte und bei jedem Seufzer einen neuen Cola mit einschenkte.
Die nächste Kaschemme befand sich in Ludendorf. Nur mit dem Auto erreichbar und daher zu gefährlich, denn ohne Führerschein war er mehr als aufgeschmissen. Stefan begnügte sich vernünftigerweise mit ein paar Bierchen vor dem Fernseher. Im Sportkanal gab es Wreslting und Kickboxen. Wenn die Akteure nach einer Weile so richtig sauer aufeinander wurden, ging die Post ganz schön ab, fast so wie im alten Rom bei den Gladiatoren. Panem et circenses. Kam das, wenn alle Kriege beendet waren und ein autoritärer Staat das Verbrechen besiegt hatte? Brutale Spiele, um den Aggressionstrieb zu befriedigen, dosierte Gewalt, um die bevormundeten, in einer Zwangsjacke steckenden Bürger emotional zu entladen?
Verletzungen und der Tod, das war schon immer das Salz in der Suppe bestimmter Großveranstaltungen. Wenn bei der Formel 1 nur fünf von siebenundzwanzig ins Ziel kamen und sich spektakuläre Chrashs ereigneten, sprachen nicht nur die Veranstalter von einem sehenswerten Rennen. Wer vorne mit dabei sein wollte, mußte immer sein Leben riskieren. Nur darauf standen die Leute. Stars, die sich ihre astronomischen Gehälter nicht mit Blut, Schweiß und Tränen verdienten, waren nur gut bezahlte Werbeläufer und standen etwa auf der gleichen Stufe wie Mannequins. Leichtathleten etwa. Ein Sport für Homos. Wer läuft am schnellsten zehn Runden ums Stadion? Am erfolgreichsten war da die Afrikaner, weil sie zu Hause seitdem sie laufen konnten Gazellen jagten. Das Schlimmste, was passieren konnte, waren sich während des Laufs öffnende Schnürsenkel.

Wer im Cockpit eines Rennwagens patzte, bei dreihundert Km/h, brauchte dagegen einen sehr guten Schutzengel. Der Sensenmann war immer mit an Bord.
Stefan gestand sich diese Sensationsgier offen ein. Warum auch nicht? Wer das nich abkonnte, sollte zum Strickzeug greifen oder Bingo spielen. Diese falschen Friedensengel, die sofort aufflatterten, wenn bei einem Boxkampf eine Braue aufplatzte, vergewaltigten doch in der Abgeschiedenheit ihrer Eigenheime regelmäßig die Gattin. Sofern sie überhaupt eine hatten.
Nein, nein, ein paar niedere Triebe mußte man sich schon zugestehen. Engel flatterten nur im Himmel durch die Gegend.
Nachdem Stefan zum zweiten Mal eingenickt war, entledigte er sich seiner Klamotten und stellte die Flimmerkiste ab. Es reichte für heute. Diese kleine Ziege sollte sich ruhig weiterhin mit ihrem Vibrator spielen, der garantiert nur lauwarme Milch ausspie. Bloß weil einmal einer den Gummi vergessen hatte.

Er stand am nächsten Tag zeitig auf. Hauptsächlich, weil ihn der Durst plagte. Er hatte wohl eine Halbe zuviel konsumiert. Dieser verfluchte Alkohol schwemmte immer so furchtbar aus. Von Kopfschmerzen blieb er weitgehend verschont, seit er weniger rauchte. Ab dreißig verzeiht einem der Körper einfach nicht mehr alles. Und da er mit seiner lückenhaften Altersversorgung nicht mit fünfundfünzig in den Vorruhestand eintreten konnte, galt es fit zu bleiben. Mindestens ein Mal pro Woche joggen und sich nicht nur von Fritten und Cola ernähren. Er erwägte sogar die Anschaffung eines Hantelsatzes, allein schon wegen seines Bäuchleins. Wenn es ihm gelang, das durchzuziehen, sah er vielleicht mit vierzig aus wie Arnold Schwarzenegger. Natürlich nur unterhalb des Halses.
Auf diesen Zug hätte man überhaupt früher aufspringen müssen. Denn was verdienten Tennisasse oder Fußballprofis mit ihrem Sport? Derjenige, der den Absprung verschlief und sich auf die Schule konzentrierte, war doch bescheuert. Mit dem Abitur oder einem Berufsabschluß gab es keinen warmen Talerregen. Den steckten die vermeintlichen Kretins vom Übungsplatz ein, die tagtäglich fünf Stunden Bälle durch die Gegend droschen.
Das Denken erledigten heutzutage die Computer. Auf den Körper kam's drauf an.
Leider gab es nur sehr wenige Sportarten, in denen man auch im gesetzteren Alter ganz weit nach vorne kommen konnte. Golf zum Beispiel. Aber da war der Einstieg teuer. Oder die Kneipensportarten Billard und Dart. Da liefen allerdings häufig Schnäpse mit. Nur der Trinkfesteste konnte reüssieren.
Doch Stefan träumte mehr von eisernen Triathleten, die durch reißende Flüße kraulten und sich bei fünzig Grad im Schatten die Sohlen von den Füßen liefen. Hart wie Kruppstahl, zäh wie Leder und
flink wie Windhunde. Diese Führerideale hatten noch nicht im geringsten Staub angesetzt und harmonierten hervorragend mit den Leitbildern der Freizeitgesellschaft. Sehnige Statuen, siegorientiert, erbarmungslos. Der Verlierer konnte schauen, wo er blieb. Vae victis.
Begriffe, die auch heute noch aktuell sind. Rücksichtslose Durchsetzung des Machtmenschen, der Zweck heiligt dabei die Mittel. Eine Laufbahn wird zwar nicht mehr mit einem militärischen Rang, etwa Gruppenführer, gekrönt, doch die Charaktere, die ganz nach oben kommen, bleiben die gleichen. Eiskalte Technokraten, die um den Apparat und ihrem eigenen Fortkommen zu dienen, vor fast nichts zurückschrecken.
Selbstverständlich, ein Vortstandsvorsitzender eines Automobilkonzerns war kein SS-Henker, doch beide hatten eins gemeinsam: Sie funktionierten überdurchschnittlich gut iin ihrem System. Karrieristen, die nur auflebten, wenn sie andere überflügelten und ausstachen. Triumpfiere und herrsche.
Seltsame Gedanken für einen Samstagmorgen. Nachdem er sich gewaschen hatte, schlüpfte er in seinen Jogginganzug und holte Brötchen. In Lisas Laden herrschte starker Andrang. Das ersparte ihm einerseits ein privates Gespräch mit ihr, andererseits verschob sich so das ersehnte Frühstück um eine viertel Stunde.
Die Kaffeemaschine hatte er ebenfalls nicht eingeschaltet. Aber großartig philosophieren auf nüchternen Magen.
Irgendwann war auch diese Sonderprüfung überstanden und er konnte sich um sein leibliches Wohl kümmern. Obwohl er den Tisch ganz für sich alleine hatte, war die Zeitung noch immer zu groß. Ohne Schwierigkeiten ließ sie sich wohl nur auf einem Fußballfeld konsumieren. Jeder Quadratzentimeter mit Druckerschwärze zugepflastert. Die Kollegen waren halt auch nicht auf den Mund gefallen. Neben dem Kurier hielt Stefan noch ein überregionsles Blatt. Angeblich liberal, Mitte links, doch die etablierte Zeitung, die wirklich konstruktive Oppositionspolitik betrieb, mußte erst noch erfunden werden.
Als Stefan fertiggegessen hattte, erledigte er den Abwasch und saugte kurz Staub. Anschließend unternahm er einen erfrischenden Spaziergang, trotz des Schnürsenkelregens.
Die Drohm war draußen. Ihre Wasser umspülten kräftig den Sockel des Damms. Kein allzu außergewöhnliches Bild für diese Jahreszeit, doch immerhin. Schon das zweite Hochwasser in diesem Jahr. Der Wetterbericht versprach keine Besserung. Ein Tiefdruckgebiet jagte das andere. Diesmal konnte es tatsächlich ungemütlich werden. Der Damm würde aller Wahrscheinlichkeit nach halten,
aber wie stand es um den Tosbach? Gerade die unbedeutenden Wasserläufe verursachten immer häufiger große Katastrophen, weil sie ganz zuletzt mit in die Umbaumaßnahmen miteinebzogen wurden.
Das Druckwasser der neuen Staustufe war die unbekannte Größe, die alle Berechnungen der Flußbauer über den Haufen werfen konnteWenn zuviel Oberflächenwasser aus den Flurdränagen dazu kam, dann Gute Nacht.
Nach einer Stunde hatte Stefan genug. Sein Bundeswehrparka hatte sich vollgesogen wie ein Schwamm. Dazu der kalte Westwind, der ihm jetzt frontal ins Gesicht blies, das war nicht mehr schön. Und in ein paar Tagen sollte der Sommer anfangen. Er beschleunigte seine Schritte und senkte den Kopf, um dem Wind weniger Angriffsfläche zu bieten. Viele Rehe wechselten über den Damm auf die andere Seite des Auwalds, der noch nicht überflutet wurde. Ob die neugeborenen Kitze die Rettung aus eigener Kraft schafften? Ihre Eltern konnten sie schlecht huckepack nehmen. Verluste waren vorprogrammiert. Der Nachwuchs, den die Mähmesser verschont hatten, mußte jetzt mit dem wildgewordenen Fluß kämpfen. Vom Regen in die Traufe. Einzig die zahlreichen Enten freuten sich über die veränderte Landschaft. Sie paddelten munter über die Wiesen und begrüßten die Fluten mit eifrig zuckenden Köpfen. Sie schienen zu wissen, wer nach der globalen Klimakatastrophe ganz oben schwamm. Welcome to Waterworld.
Als Stefan zu Hause ankam, lief beim Nachbarn gegenüber auf der anderen Sraßenseite, den Löfflers, eine kleine Räumungsaktion. Die gesamte Familie, einschließlich des querschnitttsgelähmten Oberhaupts Hajo(siebenunddreißig und Fahrzeugbauingenieur), transportierte Hab und Gut in einen VW-Bus. Stefan ahnte, daß die Löfflers vor dem drohenden Hochwasser flüchteten. Ihr Haus baute niedrig und wenn der Tosbach nur um eineinhalb Meter stieg, lief die Brühe über die Schwelle. Stefan rief Hajo an, der gerade im Begriff war, ins Haus zurückzurollen.
"Bekommt ihr kalte Füße wegen dem bißchen Wasser? Ich hab' die Lage gerade gepeilt. Die Drohm streckt nur mal kurz die Fühler aus. Da haben wir noch lange nichts zu befürchten. Und wenn, streif' ich mir einen Schwimmreifen über und dümple durch die ganze Gegend. Das wird doch ein Mordsspaß. Vielleicht wird's so schön wie in Venedig."
Der Ingenieur wendete sein Gefährt." Sie haben gut reden im zweiten Stock. Wir können nicht ausweichen und müssen den ganzen Hausstand auf den Dachboden verfrachten. Spätestens morgen tritt dieser verfluchte Bach übers Ufer. Dann wird es heißen rette sich wer kann. Soll ich mir vielleicht einen Außenbordmotor an meinen Stuhl montieren und damit durchs Dorf schippern? Außerdem hab' ich zwei kleine Töchter, die ich auf keinen Fall gefährden möchte. Wenn Sie klug sind, machen Sie sich ebenfalls auf die Socken. Mein Rücken schmerzt seit Tagen derart heftig, daß das Schlimmste zu befürchten ist. Petrus scheint was ganz Besonderes vorzuhaben. Ahoi, oder wie man da sagt. Wir müssen uns beeilen."
Hajo nahm eine Schachtel von seiner Frau entgegen und verstaute sie im Bus. Stefan begab sich kopfschüttelnd in seine Wohnung. Was glaubten die denn was bevorstand? Der Weltuntergang?
Aber der Löffler hörte das Gras wachsen. Der machte nicht umsonst mobil.
Stefan zog sich um und sortierte schmutzige Wäsche in die Maschine. Dabei sollte das Wochenende doch zur Erholung dienen. Dieses Singledasein konnte einem manchmal schon ganz schön auf die Nerven gehen. Alles mußte man selber machen. Warum das Innenministerium Bedürftigen keine Asylbewerber zuteilte, die bei freier Kost und Logis den Haushalt in Schuß hielten? Sie lernten dabei Deutsch und gewöhnten sich an Sitten und Gebräuche des Gastlandes. Beide Parteien würden profitieren. Noch besser wären natürlich Asylbewerberinnen, möglichst aus Ostasien. Natürlich war da dem Mißbrauch Tür und Tor geöffnet und die exotischen Juwelen sollten nur in die besten Hände gegeben werden. Eine Thaimassage pro Woche würde außerdem die Gesundheitskosten senken, aus mannigfachen Gründen. Denn nichts wirkte doch heilsamer als der direkte Kontakt zu einem verständnisvollen Wesen mit sanften Händen und empfindsdamen kleinen Füßchen.
Die Zeitgenossen, die sich eine Lebensgefährtin per Post schicken ließen, waren weiß Gott nicht auf den Kopf gefallen. Kein Vergleich zu den einheimischen Kratzbürsten, denen man es partout nicht recht machen konnte. Mach dies, mach das, du verdienst zu wenig Geld, du läufst rum wie ein Gammler, ich mach die ganze Arbeit und der Herr sieht fern, deine schmutzigen Socken kannnst du dir selber waschen, ich bin nicht deine Putzfrau ... Und dann diese verklärten Augen, wenn Robert Redford oder Richard Gere in der Glotze auftauchten. Da lag der Hund begraben. Jede Menge Kohle und ein blendendes Aussehen, nur damit brachte man die Herzen der Damenwelt zum Schmelzen.