Die Flut
Der nächste Tag begann für Stefan mit dem Heulen einer
fernen Sirene. Auftakt zum Endspurt. Er duschte, setzte Kaffee auf
und peilte die Lage durch die Fenster. Im Westen, auf der Wiese
vor dem Altwasser, hatte sich eine riesige Pfütze gebildet.
Druckwasser. Der Blick auf den Tosbach wurde ihm von den Anwesen
der Kornmeiers und Löfflers verwehrt. Man mußte sich
vor Ort ein Bild machen. Narürlich goß es noch. Nun
hörte es auf, ein Spaß zu sein. Stefan
frühstückte rasch und verpackte sich möglichst
wasserdicht. Ein Vorankommen gab's nur noch in Gummistiefeln. Auch
im Gemüsegarten stand schon Wasser. Wenigstens würden
die Schnecken abnippeln.
Er ging hinunter zum Tosbach, quer durch den vorbildlich
gepflegten Garten der Löfflers. Hajo hatte aus der Not eine
Tugend gemacht und mehrere Hochbeete angelegt, die er bequem vom
Rollstuhl aus bearbeiten konnte. Wirklich ein patenter Mann. Wenn
ihm noch die Arme abfielen, nahm er die Harke bestimmt in den
Mund. Der Bach war draußen und umspülte bereits den
Jägerzaun der Löfflers. Da das Grundstück in einer
Senke lag, fehlte tatsächlich nicht mehr viel bis zur
Türschwelle. Doch Hajo würde schon vorgesorgt haben. Die
Schafe der Kornmeiers weideten friedlich nebenan. Als ob sie der
ganze Betrieb nichts anginge. Dabei konnten sie schon fast aus dem
Bach saufen. Von den Kornmeiers selbst war noch nichts zu sehen,
wie üblich. Eingefleischte Langschläfer, die es gewohnt
langsam angehen ließen. Auch bei den Mills war noch nicht
viel los. Sie lagen am höchsten und waren noch nicht
unmittelbar gefährdet. Die Brüder konnten ungestört
ihre in Alkohol eingelegten Körper regenerieren. Stefan
besuchte Lisa, die schon eifrig in ihrem Laden hantierte. Die
Tür stand offen.
"Halllo, du Sünderin. Wer den Tag des Herrn nicht heiligt,
wird im Fegefeuer nachgebraten. Bei mittlerer Hitze nicht unter
zehn Jahren. Oder hast du eine Sondergenehmigung? Bei einem
anständigen und rechtschafffenen Menschen wie dir könnte
ich es mir eigentlich nicht anders vorstellen. Hast du Lust auf
eine Segelpartie heute nachmittag? Ich schätze, bis dahin
werde ich dich direkt von der Haustür abholen können,
mit meinem Dreimaster natürlich. Vielleicht reißt's
auch noch auf und die Sonnne bricht durch. Könnte nicht
schaden. Schwimmen kannst du doch?"
Lisa reagierte zunächst nicht auf Stefans Ausführungen.
Sie war beleidigt wegen seiner Anspielungen, von wegen
rechtschaffen und anständig. Eine ledige Mutter bekam's ja
nicht oft genug auf's Butterbrot geschmiert, was sie sich
Ungeheures geleistet hatte. Dem Männchen, das unüberlegt
seinen Samen verteilte, wude auf die Schulter geklopft. Kann
passieren, Kamerad. Der hast du's aber schwer gezeigt, Genosse.
Ist nicht deine Schuld, wenn die Ziege unbedingt einen Balg will.
Setz den Unterhalt von der Steuer ab und vergiß die doofe
Schnecke.
So einfach war das. Lisa ging nach draußen und leerte den
Putzeimer aus. Der Gute rückte ihr in letzter Zeit
verdächtig häufig auf den Pelz." Heute kein Verkauf.
Wenn du Hunger hast, geh ins Wirtshaus. Du stehst mir nur im Weg.
Wenn du es noch nicht gemerkt haben solltest: Ich lebe von der
Sauberkeit in meinem Laden. Und leider gibt es genug solche
Büffel wie dich, die nichts Besseres zu tun haben, als den
Dreck von der ganzen Umgebung hier herein zu tragen."
Sie hatte recht. Stefan betrachtete schuldbewußt die
Abdrücke, die er hinterließ. Daß sie sich daran
noch nicht gewöhnt hatte." Ich war gerade unten am Tosbach.
Bei Löfflers fehlt nicht mehr viel und man kann im Keller
einen Tauchlehrgang abhalten. An deiner Stelle würde ich mich
nicht zu sehr auf den Höhenunterschied verlassen. Wenn sich
so eine Flutwelle mal losgetreten hat, ist nichts mehr zu wollen.
Dann kannst du dich genauso verabschieden wie die Löfflers
oder Kornmeiers. Es wird bald so viel Dreck in deinem
Allerheiligsten liegen, daß du einem Schwimmbagger zum
Entsorgen brauchst."
"Und du würdest daneben stehen und Beifall klatschen. Jedem
das Seine. Hat sie doch noch ihr Fett abbekommen, das dumme
Stück. Was soll ich deiner Meinung nach denn machen? Den
Bundeskanzler anrufen und ihm bestellen, daß er mir ein
Frachtschiff schicken soll, weil ein kleiner, sensationsgeiler
Schreiberling meint, daß unser Hochwasser heuer besonders
zerstörerisch ausfällt? Deine Sorgen möchte ich
haben, wirklich! Fahr hoch zur Staustufe und versuch die Leute
davon zu überzeugen, daß uns nur noch ein Öffnen
aller Tore retten kann.
Die Herren werden bestimmt Verständnis für deine Lage
aufbringen. Ein armer Journalist, der unbedingt eine kleine
Katastrophe benötigt, um seine Karriere zu beschleunigen.
"
Lisa klatschte den Lappen wieder auf den Boden. Stefan verschwand
sicherheitshalber hinter einem Grabbeltisch. Wahrscheinlich war
Annas Vater wieder mit den Alimenten im Verzug.
"Da könntest du verdammt richtig liegen. Die drehen so lange
auf, bis hier nur noch Seerosen wachsen. Räum zumindest den
Keller aus. Ich will dir doch nur helfen. Du rennst mit offenen
Augen ins Verderben", erklärte Stefan nachdrücklich,
obwohl er wußte, daß er sich umsonst bemühte.
Wenn sie schlecht drauf war, redete man wie gegen eine Wand.
"Wo soll ich denn das Zeug hinräumen? Du siehst doch,
daß hier jeder Quadratmeter belegt ist. Soll ich vielleicht
Annas Bett in den Keller stellen und das Bier in ihr Zimmer
verfrachten, so lange es bis hier aussieht wie in der Wüste
Gobi? Du magst zwar die Schulbank ein paar Jahre länger
gedrückt haben wie ich, aber mit Hochwasser kenn' ich mich
besser aus, mein Lieber. Wo kämen wir denn hin, wenn ich beim
Anblick jeder mittleren Pfütze meine Sachen packen
würde? Für dich ist das allen nur ein Spiel, bei dem
eine Story abfallen könnte. Aber ich lebe hier und muß
hier meinen Lebensunterhalt bestreiten, indem ich sechs Tage pro
Woche von morgens um halb sieben bis abends um sechs für
meine Kunden da bin. Da sind einfach keine Kinkerlitzchen drin.
"
Stefan nickte. Wer sich nicht helfen lassen will, muß in die
Scheiße reinrauschen.
"Gut. Wenn du es dir anders überlegst, weißt du wo du
mich finden kannst. Arbeit wird morgen für mich flach fallen.
Ich habe keinen Bootsführerschein. Schönen Tag noch.
"
Stefan ging hinüber zum Damm, dem das Wasser bis zur
Gürtellinie stand, halbe Höhe also. Nein, da bestand
keinerlei Gefahr. Wenn die Brühe rüberschwappte, stand
halb Deutschland unter Wasser. Die unbekannte Größe war
nur der Tosbach. Und genau der floß unbewehrt durch's
Kaff.
Stefan stattete dem Fischerboot vom alten König einen Besuch
ab. Die Kette war lose um einen Baum gewickelt. Kein Schloß.
Würde es tatsächlich so weit kommen, daß er mit
dieser Nußschale Richtung Ludendorf abdüsen
mußte, um seine und die Haut der anderen zu retten?
Theoretisch konnte eigentlich nichts passieren, solange der Damm
stand. Er führte zwar nicht nach Ludendorf, aber irgendwann
würde man auf ihm wieder festes Land erreichen. Wenn er
allerdings wieder erwarten doch brach, sah es plötzlich
zappenduster aus. Dann konnte höchstens noch aus der Luft
Hilfe kommen, per Helikopter. Stefan sah schon alle Tosbacher wie
Affen auf den Dächern hocken. Sie versuchten vergeblich, in
die Gurte zu steigen. Der Pilot signalisierte Eile, weil ihm der
Sprit ausging. Platsch, schon sauste wieder einer ins dunkle
Naß. Junge, komm bald wieder ...
Alles nur Spekulationen. Vielleicht strahlte morgen schon wieder
die Sonne und das einzige, was ein paar Tage später noch an
die Flut erinnerte, war der faulige Geruch in den Auen und der
Schalmm auf den Wiesen. Die Wetterfuzzis lebten doch von ihren
Irrtümern. Doch Stefan glaubte, etwas Ähnliches wie Hajo
Löffler entwickelt zu haben, einen siebten Sinn, dessen
Fühler eindeutig Richtung Jahrhundertktastrophe auschlugen.
War diese Putzlise denn blind?
Der Tosbach hatte schon wieder etliche Quadratmeter verschlungen.
Stefan löste das Boot vom Baum und zog es bis zum Zaun hoch.
hoch. Wenn es so weiterging, konnte er noch heute abend durch's
Dorf schippern. Inzwischen war auch Eva Kornmeier auf den Plan
getreten. Sie füllte die Futterkrippe mit Heu und redete
beruhigend auf die Tiere ein. Oder meinte sie ihre Kinder, die
sich quengelnd zwischen den naßen Rücken der Schafe
jagten? Stefan wünschte ihr einen guten Morgen.
"Ebenfalls. Diesen Regen schickt uns der Himmel. Riechen sie
nicht, wie alles aufblüht? Ich komme mir vor wie im Paradies.
Im Urwald kann's nicht schöner sein", antwortete Eva. Sie
brach einen Zweig in ihrem Kräutergarten und hielt sich ihn
unter die Nase.
"Ah, ist das ein Duft. Kommen Sie, das dürfen Sie sich nicht
entgehen lassen."
Stefan tat ihr den Gefallen und schnupperte an dem Grünzeug.
"In der Tat, ergreifend. Das ist eben der Vorteil vom biologischen
Landbau. In einer konventionellen Gärtnerei bekommt man sowas
nicht. Aber wollen Sie denn keine Maßnahmen bezüglich
des Hochwassers treffen?
Man kann ja förmlich zusehen, wie es steigt. Eine Sturmflut
ist ein Dreck dagegen. Ihre Tiere werden bald ersaufen, wenn Sie
sie nicht wegbringen. Und Ihre Kinder, sollen die die
nächsten Tage auf dem Dach verbringen? Regen und Kälte
schutzlos ausgesetzt?"
Eva lächelte. Wie im Paradies. Ihr Gatte konnte sich wirklich
glücklich schätzen. So ein Gesicht konnte auch die
Polkappen zum Schmelzen bringen.
"Nein, nein, wir lassen die Tiere nicht im Stich. Wir treiben sie
rüber auf den Damm und lassen sie dort von einem Bekannten
abholen, der auch Schafe hält. Otto hat für alle
Fälle vorgesorgt und im letzten Winter einen kleinen
Außenborder renoviert. Passend für das Boot, das sie
gerade heraufgezogen haben. Wenn es wirklich zum
Äußersten kommt, müssen wir uns halt auf dem
Speicher einrichten. Aber man muß ja nicht immer vom
Schlimmsten ausgehen. Haben Sie Hunger? Ich lade Sie zum
Mittagessen ein."
Das kam überraschend. Stefan überlegte kurz und sagte
dann zu. Allein schon wegen Eva. So aus der Nähe betrachtet
war sie direkt eine Augenweide. Dunkles Haar, volle Lippen,
glänzende Augen und ihre Figur schien auch ganz passabel zu
sein. Wenn man sich die wallenden Gewänder wegdachte ...
bestimmt knackig. Nur, was würde sie auftischen?
Sojabrätlinge und Grünkohlauflauf? Na ja, es würde
schon irgendwie gehen. Immer noch besser als Dosenfutter.
"Geht's Ihnen nicht gut?" Eva konnte anscheinend Gedanken lesen.
Oder die Brätlinge hatten ihm tatsächlich die Farbe aus
dem Gesicht getrieben.
"Nein, nein, alles in Ordnung. Ich mache mir nur Sorgen wegen der
Überschwemmung. Ich bin nicht versichert."
"Wer ist das schon? Kommen Sie, wir gehen ins Haus. Sie sind ja
völlig durchnäßt."
Die Kornmeiers hatten die alte Bauernkate in ein
Schmückstück verwandelt. Überall helles Holz,
Steinfließen, Schmiedearbeiten und üppig wuchernde
Grünpflanzen. Es hatte schon seine Vorteile, wenn man ein
Handwerk beherrschte. Stefan wand sich aus seinem Ölzeug und
wurde in die Küche gebeten. Die Kinder saßen artig an
einem massiven Tisch, den Otto gerade zu decken im Begriff war.
Der Hausherr schüttelte Stefan herzlich die Hand.
"Endlich haben wir Sie mal erwischt. Ich weiß nicht, wie oft
wir es schon versucht haben, Sie hier herein zu bekommen. Und erst
heute hat es geklappt. Als Journalist ist man wahrscheinlich viel
unterwegs, zwangsweise. Die Stories kommen wohl selten zu einem
ins Haus." Otto lachte kurz über seinen Ausspruch und wies
Stefan einen Platz zu. Es gab Eintopf mit echten
Speckwürfeln.
"Ich dachte, ihr wärt Vegetarier. Eine angenehme
Enttäuschung", bemerkte Stefan erleichert.
"Wir erfüllen nicht alle Klischees, die man uns zuschreibt.
Wir essen allerdings nur selten Fleisch. Sie haben einfach
Glück gehabt. Beten Sie vor dem Essen?" fragte Eva. Stefan
verneinte.
"Als alleinstehender Junggeselle? Wen sollte ich damit
beeindrucken? Wenn es tatsächlich ein Leben nach dem Tod
gibt, ziehe ich die Unterwelt vor. Bestimmt interessanter als die
ewigen Choräle unter dem Thron seiner Majestät."
Die Kinder kicherten. Ein komischer Onkel. Eva verteilte die
Suppe, die nicht einmal schlecht schmeckte.
"Hervorragend, Frau Kornmeier. Zuletzt bin ich beim Barras so gut
versorgt worden. Unser Küchenbulle wurde später ins
Offizierskasino versetzt." Stefans Lob kam an. Eva verriet ihm das
Rezept.
"Hört sich tatsächlich gut an. Aber für einen
alleine, ich weiß nicht. Das lohnt nicht."
Eva ließ Stefans Einwand nicht gelten." Eine gesunde
Ernährung ist außerordentlich wichtig. Wer sich nur mit
Konserven ernährt, muß krank werden. Das heißt am
falschen Ende sparen. Ich merke schon, es ist höchste Zeit,
daß wir Sie unter unsere Fittiche nehme. Außerdem
haben Sie jemand, für den Sie sich an den Herd stelllen
können."
"Ach, pfeifen das die Spatzen von den Dächern? Die
verdächtigte Dame ist allerdings nicht so erpicht auf meine
Gesellschaft wie Sie denken. Nur Dorftratsch", wehrte Stefan ab.
Doch Eva hatte Blut geleckt.
"Fräulein Lisa ist doch eine gute Partie. Etwas Besseres
müssen Sie erst mal finden. Natürlich will Sie sicher
gehen, daß Sie es auch ernst mit ihr meinen. Frauen denken
da ein wenig anders. Lisa ist eine Frau mit Stil, die es gelernt
hat, sich durchzuboxen. Und ich glaube, Sie brauchen jemand, der
Sie ein wenig rannimmt. Sie sind schon so lange allein, das
hinterläßt zwangsläufig Spuren."
"Wenn Sie es sagen. Zu einer Beziehung gehören allerdings
zwei. Ich bin kein Teenager mehr, der monatelang Briefe schreibt
und blind durch die Gegend balzt. Wenn Fräulein Lisa
ernsthafte Absichten hätte, hätte sie mich schon
längst gepflückt."
Otto lachte über diese Bemerkung lauthals und
verschüttete etwas Wein. Schon wieder einen Punkt gutgemacht.
Es gab keine Ziegenmilch, sondern einen herzhaften Roten. Deine
Nachbarn, die unbekannten Wesen. Otto ließ einen Trinkspruch
vom Stapel." Auf unseren Gast und unsere zukünftige
Freundschaft. Und auf Tosbach. Prost!"
Stefan stieß zuerst mit Eva an und berührte dabei ihre
hübschen Finger. Vielleicht galten hier noch die alten
Kommunengesetze, die Frau in der Gastfreundschaft mit
inbegriffen.
Sie leerten die Flasche und unterhielten sich angeregt, bis Stefan
genug hatte. Das Ehepaar war zwar nett, aber auch anstrengend. Von
den ewig kreischenden Kindern ganz abgesehen. Familienleben,
nichts für Steppenwölfe.
Draußen standen die Schafe bereits im Wasser. Otto
telefonierte sofort mit seinem Bekannten, der die Tiere abholen
sollte. Er erfuhr dabei, daß die Straßen nach
Ludendorf und Schwarzheim überflutet waren und nicht mehr
befahren werden konnten. Stefan begann mit Eva, die Tiere aus dem
Garten zu treiben. Otto staffierte die Kinder aus und kam
nach.
Um die Straße durch Tosbach unpassierbar zu machen, fehlte
ebenfalls nicht mehr viel. Für die Schafe wurde es
höchste Zeit.
"Die armen Tiere. Ich dachte nicht, daß es so schnell gehen
würde. Die Kaninchenställe werden wir im Haus
unterbringen müssen. Die Kinder hängen ja so an ihnen",
beklagte sich Eva bei Stefan, der den Treck anführte und ihn
zwischen dem überbordenden Altwasserarm und seinem Schuppen
hindurch auf den Damm lotste.
"So, das Schlimmste haben wir schon hinter uns. Spätestens
morgen kommt man nur noch mit dem Boot voran. Paßen Sie gut
darauf auf, damit es nicht weggeschwemmt wird. Leider sitzen wir
jetzt in der Falle. Flucht ist nur noch über den Damm
möglich. Wollen Sie nicht doch noch gehen? Denken Sie an Ihre
Kinder", sagte Stefan zu den Kornmeiers, die fürsorglich die
Schafe tätschelten.
"Nein, recht viel höher wird es ja doch nicht steigen.
Außerdem wüßte ich nicht wohin. Wer nimmt schon
gerne Fremde auf, auch wenn sie Opfer einer Katastrophe sind?"
antwortete Eva.
Stefan zündete sich eine Zigarette an." Gut. Das ist eure
Entscheidung. Ich bleibe auch hier, allerdings mehr aus
beruflichen Gründen. Zudem ist mein Haus höher. Wenn es
wirklich hart auf hart kommt, wißt ihr, an wen ihr euch
wenden müßt."
"Vielen Dank, wir kommen schon zurecht. Von dem bißchen
Wasser lassen wir uns nicht unterkriegen", erklärte Otto
trotzig. Stefan verabschiedete sich und ging hinüber zu den
Dorns. Vielleicht wußte Peter Näheres über die
Dammwache. Doch es war niemand zu Hause. Stefan stapfte
zurück in seinen Schuppen. Hier lagen sehr viele Balken und
Bretter herum. Da es ganz danach aussah, daß man sehr bald
ein seetüchtiges Fahrzeug brauchen würde, machte sich
Stefan sofort an die Arbeit. Es sollte nichts Großartiges
werden, nur ein kleines Floß, das man mit einem Brett rudern
konnte. Werkzeug und Nägel waren vorhanden, er konnte sofort
loslegen.
Nach zweieinhalb Stunden war es geschafft. Stefan taufte das
Gefährt Ghost. Fehlte nur noch ein Wolf Larsen, der das
Höllenschiff durch den Pazifik trieb. Es konnten sich
durchaus Parallelen zu Jack Londons Roman ergeben. Eine vom Wasser
beherrschte Welt, schutzlos den Elementen ausgeliefert,
aufblühende Aggressionen in der Extremsituation. Es war doch
denkbar, daß die Millbrüder bereits Vorkehrungen zum
Schrumpfkopfkochen trafen. Köchlein Vinsch ...
Beim Basteln hatte Stefan ein schönes kräftiges Seil
entdeckt. Länge mindestens fünzig Meter. Wenn er ein
Ende an den Betonpfeilern, die den Gartenzaun hielten, festmachte,
konnte er mit dem Floß bis hinunter zu Lisa paddeln und lief
nie Gefahr, abgetrieben zu werden.
Stefan wartete sehnsüchtig darauf, daß die Ghost vom
Stapel laufen konnte. Er würde dann alle mit Lebensmitteln
versorgen und natürlich genau festhalten, was in den
überfluteten Kemenaten ablief.
Unter deutschen Dächern sozusagen: Gewalt, Skorbut, Cholera.
Warum nicht? Man mußte nur die Nerven behalten und am Ball
bleiben.
Stefan beschloß, eine Pause einzulegen. Der Dauerregen
zermürbte ungemein. Gottverdammtes Wasser von allen Seiten.
Er flüchtete sich in seine Wohnung und schlüpfte aus den
Klamotten. Was war jetzt genau los? Stefan telefonierte mit einem
Kollegen aus Schwarzheim, der über gute Beziehungen zu allen
Ämtern und Behörden verfügte. Ergebnis: steigende
Pegelstände, Bestätigung der Straßensperren,
anlaufende Evakuierungsmaßnahmen, Damm gesperrt, weil an
einigen Stellen Unterspülung droht, dank Wühlmäusen
und unsachgemäßer Bauausführung.
Auf jeden Fall fiel morgen die Arbeit flach. Stefan trank eine
Tasse Kaffee und tippte seine Erlebnisse in den Computer. Tagebuch
eines Ertrinkenden. Nicht besonders aufregend bislang, aber
ausbaufähig. Man war doch verpflichtet, der Nachwelt etwas zu
überliefern, wenn es sein mußte auch mit der
Brechstange. Vielleicht fand man in ein paar hundert Jahren die
Diskette und konnte daraus Rückschlüsse auf die
Lebensweise von Sumpfbewohnern ziehen.
Später schlief Stefan zwei Stunden vor. Er wollte fit sein
für die Dammwache. Um halb fünf spähte er wieder
nach draußen. Das Wasser lief bereits über die
Dorfstraße. Arme Kornmeiers. Sie konnten sich nun Enten im
Wohnzimmer halten. Ob er ihnen Hilfe anbieten sollte? Aber sie
hatten ja gesagt, daß sie durchaus alleine zurecht
kämen. Außerdem würde er sich nur nasse
Füße holen. Die Gummistiefel taugten nur noch für
den Gang zur Garage. Und auch das nicht mehr lange, weil sich der
Altwasserarm immer schneller stieg. Schoner Ghost, Segel
setzen.
Auch wenn der Sommer schon fast angefangen hatte, war die
Brühe dennoch eiskalt. Ein unfreiwilliges Bad konnte fatale
Konsequenzen haben. Unterkühlung, Krankheitskeime, etc.
Plötzlich tat sich etwas bei den Kornmeiers. Die
Millbrüder, in hüfthohen Fischerstiefeln,
entführten das Boot des alten König. Eva hatte das
ebenfalls mitbekommen und redete auf die beiden ein. Die
Verhandlungen wurden mit hochgezogenem Rock geführt. Zum
ersten Mal in seinem Leben beneidete Stefan die Mills. Allerdings
war das auch gefährlich, was die Gute da veranstaltete. Die
Kerle waren doch unberechenbar. Man sollte ihnen auf keinen Fall
den Mund wässrig machen. Gott sei Dank war die
Aufführung schnell vorbei. Die Brüder ließen sich
auf keine langen Diskussionen ein und schipperten ihre Beute nach
Hause.
Stefan schaltete das Radio ein, den Tröster der Witwen und
Weisen. Immerhin, die Jungs waren noch auf Sendung. Ob die
Stromversorgung auch gefährdet war? Der Sender spielte die
übliche Musik, quer durch die Charts, und
Notstandsnachrichten. Kaff A versenkt, Straße B gesperrt,
Damm C überflutet und Anweisungen für die Betroffenen.
Ruhe bewahren und Radio einschalten, was sonst?
Evakuierungsmaßnahmen waren am Anlaufen. Fanden aber wohl
kaum nachts statt.
Stefan behielt die Straße im Auge. Etwa eine Stunde nach der
Entführung des Kahns tauchten die Millbrüder wieder auf,
mit einer biblischen Aktion. Das Boot war randvoll mit Viechern.
Einer saß drin und stakte, der andere platschte voran und
zog. Reinkaranation der Arche Noah. Der Einsatz dauerte bis sieben
Uhr. Und etwa acht Mal war die Fuhre insgesamt unterwegs. Hatten
anfangs noch alle Passagiere beim Überqueren der Straße
aussteigen müssen, weil zu wenig Wasser unter die Planken
kam, flutschten sie später flüssig drüber. Ottos
Außenborder konnte sehr bald eingesetzt werden, auch wenn
man eine Mindesthöhe von achtzig Zentimeter Wasser
voraussetzte.
Das Schönste war, daß die Mills die Arche nach getaner
Arbeit fein säuberlich an einer Birke im Garten der
Kornmeiers vertäuten. Wahrscheinlich hatten sie auch jemanden
gefunden, der ihre Viecher in Sicherheit brachte. Ihr kollegiales
Verhalten ließ ebenfalls darauf schließen, daß
Eva ihnen das Boot freiwillig überlassen hatte. Tierfreunde
unter sich, sozusagen.
Stefan kochte frischen Kaffee. Das einzig richtige Getränk
bei so einem Wetter für einen gestandenen Dammwächter.
Hoffentlich warfen ihn die anderen nicht ins Wasser, weil er wie
ein Saboteur aussah.