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Die Flut


Der nächste Tag begann für Stefan mit dem Heulen einer fernen Sirene. Auftakt zum Endspurt. Er duschte, setzte Kaffee auf und peilte die Lage durch die Fenster. Im Westen, auf der Wiese vor dem Altwasser, hatte sich eine riesige Pfütze gebildet. Druckwasser. Der Blick auf den Tosbach wurde ihm von den Anwesen der Kornmeiers und Löfflers verwehrt. Man mußte sich vor Ort ein Bild machen. Narürlich goß es noch. Nun hörte es auf, ein Spaß zu sein. Stefan frühstückte rasch und verpackte sich möglichst wasserdicht. Ein Vorankommen gab's nur noch in Gummistiefeln. Auch im Gemüsegarten stand schon Wasser. Wenigstens würden die Schnecken abnippeln.
Er ging hinunter zum Tosbach, quer durch den vorbildlich gepflegten Garten der Löfflers. Hajo hatte aus der Not eine Tugend gemacht und mehrere Hochbeete angelegt, die er bequem vom Rollstuhl aus bearbeiten konnte. Wirklich ein patenter Mann. Wenn ihm noch die Arme abfielen, nahm er die Harke bestimmt in den Mund. Der Bach war draußen und umspülte bereits den Jägerzaun der Löfflers. Da das Grundstück in einer Senke lag, fehlte tatsächlich nicht mehr viel bis zur Türschwelle. Doch Hajo würde schon vorgesorgt haben. Die Schafe der Kornmeiers weideten friedlich nebenan. Als ob sie der ganze Betrieb nichts anginge. Dabei konnten sie schon fast aus dem Bach saufen. Von den Kornmeiers selbst war noch nichts zu sehen, wie üblich. Eingefleischte Langschläfer, die es gewohnt langsam angehen ließen. Auch bei den Mills war noch nicht viel los. Sie lagen am höchsten und waren noch nicht unmittelbar gefährdet. Die Brüder konnten ungestört ihre in Alkohol eingelegten Körper regenerieren. Stefan besuchte Lisa, die schon eifrig in ihrem Laden hantierte. Die Tür stand offen.
"Halllo, du Sünderin. Wer den Tag des Herrn nicht heiligt, wird im Fegefeuer nachgebraten. Bei mittlerer Hitze nicht unter zehn Jahren. Oder hast du eine Sondergenehmigung? Bei einem anständigen und rechtschafffenen Menschen wie dir könnte ich es mir eigentlich nicht anders vorstellen. Hast du Lust auf eine Segelpartie heute nachmittag? Ich schätze, bis dahin werde ich dich direkt von der Haustür abholen können, mit meinem Dreimaster natürlich. Vielleicht reißt's auch noch auf und die Sonnne bricht durch. Könnte nicht schaden. Schwimmen kannst du doch?"
Lisa reagierte zunächst nicht auf Stefans Ausführungen. Sie war beleidigt wegen seiner Anspielungen, von wegen rechtschaffen und anständig. Eine ledige Mutter bekam's ja nicht oft genug auf's Butterbrot geschmiert, was sie sich Ungeheures geleistet hatte. Dem Männchen, das unüberlegt seinen Samen verteilte, wude auf die Schulter geklopft. Kann passieren, Kamerad. Der hast du's aber schwer gezeigt, Genosse. Ist nicht deine Schuld, wenn die Ziege unbedingt einen Balg will. Setz den Unterhalt von der Steuer ab und vergiß die doofe Schnecke.
So einfach war das. Lisa ging nach draußen und leerte den Putzeimer aus. Der Gute rückte ihr in letzter Zeit verdächtig häufig auf den Pelz." Heute kein Verkauf. Wenn du Hunger hast, geh ins Wirtshaus. Du stehst mir nur im Weg. Wenn du es noch nicht gemerkt haben solltest: Ich lebe von der Sauberkeit in meinem Laden. Und leider gibt es genug solche Büffel wie dich, die nichts Besseres zu tun haben, als den Dreck von der ganzen Umgebung hier herein zu tragen."
Sie hatte recht. Stefan betrachtete schuldbewußt die Abdrücke, die er hinterließ. Daß sie sich daran noch nicht gewöhnt hatte." Ich war gerade unten am Tosbach. Bei Löfflers fehlt nicht mehr viel und man kann im Keller einen Tauchlehrgang abhalten. An deiner Stelle würde ich mich nicht zu sehr auf den Höhenunterschied verlassen. Wenn sich so eine Flutwelle mal losgetreten hat, ist nichts mehr zu wollen. Dann kannst du dich genauso verabschieden wie die Löfflers oder Kornmeiers. Es wird bald so viel Dreck in deinem Allerheiligsten liegen, daß du einem Schwimmbagger zum Entsorgen brauchst."
"Und du würdest daneben stehen und Beifall klatschen. Jedem das Seine. Hat sie doch noch ihr Fett abbekommen, das dumme Stück. Was soll ich deiner Meinung nach denn machen? Den Bundeskanzler anrufen und ihm bestellen, daß er mir ein Frachtschiff schicken soll, weil ein kleiner, sensationsgeiler Schreiberling meint, daß unser Hochwasser heuer besonders zerstörerisch ausfällt? Deine Sorgen möchte ich haben, wirklich! Fahr hoch zur Staustufe und versuch die Leute davon zu überzeugen, daß uns nur noch ein Öffnen aller Tore retten kann.

Die Herren werden bestimmt Verständnis für deine Lage aufbringen. Ein armer Journalist, der unbedingt eine kleine Katastrophe benötigt, um seine Karriere zu beschleunigen. "
Lisa klatschte den Lappen wieder auf den Boden. Stefan verschwand sicherheitshalber hinter einem Grabbeltisch. Wahrscheinlich war Annas Vater wieder mit den Alimenten im Verzug.
"Da könntest du verdammt richtig liegen. Die drehen so lange auf, bis hier nur noch Seerosen wachsen. Räum zumindest den Keller aus. Ich will dir doch nur helfen. Du rennst mit offenen Augen ins Verderben", erklärte Stefan nachdrücklich, obwohl er wußte, daß er sich umsonst bemühte. Wenn sie schlecht drauf war, redete man wie gegen eine Wand.
"Wo soll ich denn das Zeug hinräumen? Du siehst doch, daß hier jeder Quadratmeter belegt ist. Soll ich vielleicht Annas Bett in den Keller stellen und das Bier in ihr Zimmer verfrachten, so lange es bis hier aussieht wie in der Wüste Gobi? Du magst zwar die Schulbank ein paar Jahre länger gedrückt haben wie ich, aber mit Hochwasser kenn' ich mich besser aus, mein Lieber. Wo kämen wir denn hin, wenn ich beim Anblick jeder mittleren Pfütze meine Sachen packen würde? Für dich ist das allen nur ein Spiel, bei dem eine Story abfallen könnte. Aber ich lebe hier und muß hier meinen Lebensunterhalt bestreiten, indem ich sechs Tage pro Woche von morgens um halb sieben bis abends um sechs für meine Kunden da bin. Da sind einfach keine Kinkerlitzchen drin. "
Stefan nickte. Wer sich nicht helfen lassen will, muß in die Scheiße reinrauschen.
"Gut. Wenn du es dir anders überlegst, weißt du wo du mich finden kannst. Arbeit wird morgen für mich flach fallen. Ich habe keinen Bootsführerschein. Schönen Tag noch. "
Stefan ging hinüber zum Damm, dem das Wasser bis zur Gürtellinie stand, halbe Höhe also. Nein, da bestand keinerlei Gefahr. Wenn die Brühe rüberschwappte, stand halb Deutschland unter Wasser. Die unbekannte Größe war nur der Tosbach. Und genau der floß unbewehrt durch's Kaff.
Stefan stattete dem Fischerboot vom alten König einen Besuch ab. Die Kette war lose um einen Baum gewickelt. Kein Schloß. Würde es tatsächlich so weit kommen, daß er mit dieser Nußschale Richtung Ludendorf abdüsen mußte, um seine und die Haut der anderen zu retten? Theoretisch konnte eigentlich nichts passieren, solange der Damm stand. Er führte zwar nicht nach Ludendorf, aber irgendwann würde man auf ihm wieder festes Land erreichen. Wenn er allerdings wieder erwarten doch brach, sah es plötzlich zappenduster aus. Dann konnte höchstens noch aus der Luft Hilfe kommen, per Helikopter. Stefan sah schon alle Tosbacher wie Affen auf den Dächern hocken. Sie versuchten vergeblich, in die Gurte zu steigen. Der Pilot signalisierte Eile, weil ihm der Sprit ausging. Platsch, schon sauste wieder einer ins dunkle Naß. Junge, komm bald wieder ...
Alles nur Spekulationen. Vielleicht strahlte morgen schon wieder die Sonne und das einzige, was ein paar Tage später noch an die Flut erinnerte, war der faulige Geruch in den Auen und der Schalmm auf den Wiesen. Die Wetterfuzzis lebten doch von ihren Irrtümern. Doch Stefan glaubte, etwas Ähnliches wie Hajo Löffler entwickelt zu haben, einen siebten Sinn, dessen Fühler eindeutig Richtung Jahrhundertktastrophe auschlugen. War diese Putzlise denn blind?
Der Tosbach hatte schon wieder etliche Quadratmeter verschlungen. Stefan löste das Boot vom Baum und zog es bis zum Zaun hoch. hoch. Wenn es so weiterging, konnte er noch heute abend durch's Dorf schippern. Inzwischen war auch Eva Kornmeier auf den Plan getreten. Sie füllte die Futterkrippe mit Heu und redete beruhigend auf die Tiere ein. Oder meinte sie ihre Kinder, die sich quengelnd zwischen den naßen Rücken der Schafe jagten? Stefan wünschte ihr einen guten Morgen.
"Ebenfalls. Diesen Regen schickt uns der Himmel. Riechen sie nicht, wie alles aufblüht? Ich komme mir vor wie im Paradies. Im Urwald kann's nicht schöner sein", antwortete Eva. Sie brach einen Zweig in ihrem Kräutergarten und hielt sich ihn unter die Nase.
"Ah, ist das ein Duft. Kommen Sie, das dürfen Sie sich nicht entgehen lassen."
Stefan tat ihr den Gefallen und schnupperte an dem Grünzeug. "In der Tat, ergreifend. Das ist eben der Vorteil vom biologischen Landbau. In einer konventionellen Gärtnerei bekommt man sowas nicht. Aber wollen Sie denn keine Maßnahmen bezüglich des Hochwassers treffen?

Man kann ja förmlich zusehen, wie es steigt. Eine Sturmflut ist ein Dreck dagegen. Ihre Tiere werden bald ersaufen, wenn Sie sie nicht wegbringen. Und Ihre Kinder, sollen die die nächsten Tage auf dem Dach verbringen? Regen und Kälte schutzlos ausgesetzt?"
Eva lächelte. Wie im Paradies. Ihr Gatte konnte sich wirklich glücklich schätzen. So ein Gesicht konnte auch die Polkappen zum Schmelzen bringen.
"Nein, nein, wir lassen die Tiere nicht im Stich. Wir treiben sie rüber auf den Damm und lassen sie dort von einem Bekannten abholen, der auch Schafe hält. Otto hat für alle Fälle vorgesorgt und im letzten Winter einen kleinen Außenborder renoviert. Passend für das Boot, das sie gerade heraufgezogen haben. Wenn es wirklich zum Äußersten kommt, müssen wir uns halt auf dem Speicher einrichten. Aber man muß ja nicht immer vom Schlimmsten ausgehen. Haben Sie Hunger? Ich lade Sie zum Mittagessen ein."
Das kam überraschend. Stefan überlegte kurz und sagte dann zu. Allein schon wegen Eva. So aus der Nähe betrachtet war sie direkt eine Augenweide. Dunkles Haar, volle Lippen, glänzende Augen und ihre Figur schien auch ganz passabel zu sein. Wenn man sich die wallenden Gewänder wegdachte ...
bestimmt knackig. Nur, was würde sie auftischen? Sojabrätlinge und Grünkohlauflauf? Na ja, es würde schon irgendwie gehen. Immer noch besser als Dosenfutter.
"Geht's Ihnen nicht gut?" Eva konnte anscheinend Gedanken lesen. Oder die Brätlinge hatten ihm tatsächlich die Farbe aus dem Gesicht getrieben.
"Nein, nein, alles in Ordnung. Ich mache mir nur Sorgen wegen der Überschwemmung. Ich bin nicht versichert."
"Wer ist das schon? Kommen Sie, wir gehen ins Haus. Sie sind ja völlig durchnäßt."
Die Kornmeiers hatten die alte Bauernkate in ein Schmückstück verwandelt. Überall helles Holz, Steinfließen, Schmiedearbeiten und üppig wuchernde Grünpflanzen. Es hatte schon seine Vorteile, wenn man ein Handwerk beherrschte. Stefan wand sich aus seinem Ölzeug und wurde in die Küche gebeten. Die Kinder saßen artig an einem massiven Tisch, den Otto gerade zu decken im Begriff war. Der Hausherr schüttelte Stefan herzlich die Hand.
"Endlich haben wir Sie mal erwischt. Ich weiß nicht, wie oft wir es schon versucht haben, Sie hier herein zu bekommen. Und erst heute hat es geklappt. Als Journalist ist man wahrscheinlich viel unterwegs, zwangsweise. Die Stories kommen wohl selten zu einem ins Haus." Otto lachte kurz über seinen Ausspruch und wies Stefan einen Platz zu. Es gab Eintopf mit echten Speckwürfeln.
"Ich dachte, ihr wärt Vegetarier. Eine angenehme Enttäuschung", bemerkte Stefan erleichert.
"Wir erfüllen nicht alle Klischees, die man uns zuschreibt. Wir essen allerdings nur selten Fleisch. Sie haben einfach Glück gehabt. Beten Sie vor dem Essen?" fragte Eva. Stefan verneinte.
"Als alleinstehender Junggeselle? Wen sollte ich damit beeindrucken? Wenn es tatsächlich ein Leben nach dem Tod gibt, ziehe ich die Unterwelt vor. Bestimmt interessanter als die ewigen Choräle unter dem Thron seiner Majestät."
Die Kinder kicherten. Ein komischer Onkel. Eva verteilte die Suppe, die nicht einmal schlecht schmeckte.
"Hervorragend, Frau Kornmeier. Zuletzt bin ich beim Barras so gut versorgt worden. Unser Küchenbulle wurde später ins Offizierskasino versetzt." Stefans Lob kam an. Eva verriet ihm das Rezept.
"Hört sich tatsächlich gut an. Aber für einen alleine, ich weiß nicht. Das lohnt nicht."
Eva ließ Stefans Einwand nicht gelten." Eine gesunde Ernährung ist außerordentlich wichtig. Wer sich nur mit Konserven ernährt, muß krank werden. Das heißt am falschen Ende sparen. Ich merke schon, es ist höchste Zeit, daß wir Sie unter unsere Fittiche nehme. Außerdem haben Sie jemand, für den Sie sich an den Herd stelllen können."
"Ach, pfeifen das die Spatzen von den Dächern? Die verdächtigte Dame ist allerdings nicht so erpicht auf meine Gesellschaft wie Sie denken. Nur Dorftratsch", wehrte Stefan ab. Doch Eva hatte Blut geleckt.
"Fräulein Lisa ist doch eine gute Partie. Etwas Besseres müssen Sie erst mal finden. Natürlich will Sie sicher gehen, daß Sie es auch ernst mit ihr meinen. Frauen denken da ein wenig anders. Lisa ist eine Frau mit Stil, die es gelernt hat, sich durchzuboxen. Und ich glaube, Sie brauchen jemand, der Sie ein wenig rannimmt. Sie sind schon so lange allein, das hinterläßt zwangsläufig Spuren."
"Wenn Sie es sagen. Zu einer Beziehung gehören allerdings zwei. Ich bin kein Teenager mehr, der monatelang Briefe schreibt und blind durch die Gegend balzt. Wenn Fräulein Lisa ernsthafte Absichten hätte, hätte sie mich schon längst gepflückt."
Otto lachte über diese Bemerkung lauthals und verschüttete etwas Wein. Schon wieder einen Punkt gutgemacht. Es gab keine Ziegenmilch, sondern einen herzhaften Roten. Deine Nachbarn, die unbekannten Wesen. Otto ließ einen Trinkspruch vom Stapel." Auf unseren Gast und unsere zukünftige Freundschaft. Und auf Tosbach. Prost!"
Stefan stieß zuerst mit Eva an und berührte dabei ihre hübschen Finger. Vielleicht galten hier noch die alten Kommunengesetze, die Frau in der Gastfreundschaft mit inbegriffen.
Sie leerten die Flasche und unterhielten sich angeregt, bis Stefan genug hatte. Das Ehepaar war zwar nett, aber auch anstrengend. Von den ewig kreischenden Kindern ganz abgesehen. Familienleben, nichts für Steppenwölfe.
Draußen standen die Schafe bereits im Wasser. Otto telefonierte sofort mit seinem Bekannten, der die Tiere abholen sollte. Er erfuhr dabei, daß die Straßen nach Ludendorf und Schwarzheim überflutet waren und nicht mehr befahren werden konnten. Stefan begann mit Eva, die Tiere aus dem Garten zu treiben. Otto staffierte die Kinder aus und kam nach.
Um die Straße durch Tosbach unpassierbar zu machen, fehlte ebenfalls nicht mehr viel. Für die Schafe wurde es höchste Zeit.
"Die armen Tiere. Ich dachte nicht, daß es so schnell gehen würde. Die Kaninchenställe werden wir im Haus unterbringen müssen. Die Kinder hängen ja so an ihnen", beklagte sich Eva bei Stefan, der den Treck anführte und ihn zwischen dem überbordenden Altwasserarm und seinem Schuppen hindurch auf den Damm lotste.
"So, das Schlimmste haben wir schon hinter uns. Spätestens morgen kommt man nur noch mit dem Boot voran. Paßen Sie gut darauf auf, damit es nicht weggeschwemmt wird. Leider sitzen wir jetzt in der Falle. Flucht ist nur noch über den Damm möglich. Wollen Sie nicht doch noch gehen? Denken Sie an Ihre Kinder", sagte Stefan zu den Kornmeiers, die fürsorglich die Schafe tätschelten.
"Nein, recht viel höher wird es ja doch nicht steigen. Außerdem wüßte ich nicht wohin. Wer nimmt schon gerne Fremde auf, auch wenn sie Opfer einer Katastrophe sind?" antwortete Eva.
Stefan zündete sich eine Zigarette an." Gut. Das ist eure Entscheidung. Ich bleibe auch hier, allerdings mehr aus beruflichen Gründen. Zudem ist mein Haus höher. Wenn es wirklich hart auf hart kommt, wißt ihr, an wen ihr euch wenden müßt."
"Vielen Dank, wir kommen schon zurecht. Von dem bißchen Wasser lassen wir uns nicht unterkriegen", erklärte Otto trotzig. Stefan verabschiedete sich und ging hinüber zu den Dorns. Vielleicht wußte Peter Näheres über die Dammwache. Doch es war niemand zu Hause. Stefan stapfte zurück in seinen Schuppen. Hier lagen sehr viele Balken und Bretter herum. Da es ganz danach aussah, daß man sehr bald ein seetüchtiges Fahrzeug brauchen würde, machte sich Stefan sofort an die Arbeit. Es sollte nichts Großartiges werden, nur ein kleines Floß, das man mit einem Brett rudern konnte. Werkzeug und Nägel waren vorhanden, er konnte sofort loslegen.
Nach zweieinhalb Stunden war es geschafft. Stefan taufte das Gefährt Ghost. Fehlte nur noch ein Wolf Larsen, der das Höllenschiff durch den Pazifik trieb. Es konnten sich durchaus Parallelen zu Jack Londons Roman ergeben. Eine vom Wasser beherrschte Welt, schutzlos den Elementen ausgeliefert, aufblühende Aggressionen in der Extremsituation. Es war doch denkbar, daß die Millbrüder bereits Vorkehrungen zum Schrumpfkopfkochen trafen. Köchlein Vinsch ...
Beim Basteln hatte Stefan ein schönes kräftiges Seil entdeckt. Länge mindestens fünzig Meter. Wenn er ein Ende an den Betonpfeilern, die den Gartenzaun hielten, festmachte, konnte er mit dem Floß bis hinunter zu Lisa paddeln und lief nie Gefahr, abgetrieben zu werden.

Stefan wartete sehnsüchtig darauf, daß die Ghost vom Stapel laufen konnte. Er würde dann alle mit Lebensmitteln versorgen und natürlich genau festhalten, was in den überfluteten Kemenaten ablief.
Unter deutschen Dächern sozusagen: Gewalt, Skorbut, Cholera. Warum nicht? Man mußte nur die Nerven behalten und am Ball bleiben.
Stefan beschloß, eine Pause einzulegen. Der Dauerregen zermürbte ungemein. Gottverdammtes Wasser von allen Seiten. Er flüchtete sich in seine Wohnung und schlüpfte aus den Klamotten. Was war jetzt genau los? Stefan telefonierte mit einem Kollegen aus Schwarzheim, der über gute Beziehungen zu allen Ämtern und Behörden verfügte. Ergebnis: steigende Pegelstände, Bestätigung der Straßensperren, anlaufende Evakuierungsmaßnahmen, Damm gesperrt, weil an einigen Stellen Unterspülung droht, dank Wühlmäusen und unsachgemäßer Bauausführung.
Auf jeden Fall fiel morgen die Arbeit flach. Stefan trank eine Tasse Kaffee und tippte seine Erlebnisse in den Computer. Tagebuch eines Ertrinkenden. Nicht besonders aufregend bislang, aber ausbaufähig. Man war doch verpflichtet, der Nachwelt etwas zu überliefern, wenn es sein mußte auch mit der Brechstange. Vielleicht fand man in ein paar hundert Jahren die Diskette und konnte daraus Rückschlüsse auf die Lebensweise von Sumpfbewohnern ziehen.
Später schlief Stefan zwei Stunden vor. Er wollte fit sein für die Dammwache. Um halb fünf spähte er wieder nach draußen. Das Wasser lief bereits über die Dorfstraße. Arme Kornmeiers. Sie konnten sich nun Enten im Wohnzimmer halten. Ob er ihnen Hilfe anbieten sollte? Aber sie hatten ja gesagt, daß sie durchaus alleine zurecht kämen. Außerdem würde er sich nur nasse Füße holen. Die Gummistiefel taugten nur noch für den Gang zur Garage. Und auch das nicht mehr lange, weil sich der Altwasserarm immer schneller stieg. Schoner Ghost, Segel setzen.
Auch wenn der Sommer schon fast angefangen hatte, war die Brühe dennoch eiskalt. Ein unfreiwilliges Bad konnte fatale Konsequenzen haben. Unterkühlung, Krankheitskeime, etc.
Plötzlich tat sich etwas bei den Kornmeiers. Die Millbrüder, in hüfthohen Fischerstiefeln, entführten das Boot des alten König. Eva hatte das ebenfalls mitbekommen und redete auf die beiden ein. Die Verhandlungen wurden mit hochgezogenem Rock geführt. Zum ersten Mal in seinem Leben beneidete Stefan die Mills. Allerdings war das auch gefährlich, was die Gute da veranstaltete. Die Kerle waren doch unberechenbar. Man sollte ihnen auf keinen Fall den Mund wässrig machen. Gott sei Dank war die Aufführung schnell vorbei. Die Brüder ließen sich auf keine langen Diskussionen ein und schipperten ihre Beute nach Hause.
Stefan schaltete das Radio ein, den Tröster der Witwen und Weisen. Immerhin, die Jungs waren noch auf Sendung. Ob die Stromversorgung auch gefährdet war? Der Sender spielte die übliche Musik, quer durch die Charts, und Notstandsnachrichten. Kaff A versenkt, Straße B gesperrt, Damm C überflutet und Anweisungen für die Betroffenen. Ruhe bewahren und Radio einschalten, was sonst? Evakuierungsmaßnahmen waren am Anlaufen. Fanden aber wohl kaum nachts statt.
Stefan behielt die Straße im Auge. Etwa eine Stunde nach der Entführung des Kahns tauchten die Millbrüder wieder auf, mit einer biblischen Aktion. Das Boot war randvoll mit Viechern. Einer saß drin und stakte, der andere platschte voran und zog. Reinkaranation der Arche Noah. Der Einsatz dauerte bis sieben Uhr. Und etwa acht Mal war die Fuhre insgesamt unterwegs. Hatten anfangs noch alle Passagiere beim Überqueren der Straße aussteigen müssen, weil zu wenig Wasser unter die Planken kam, flutschten sie später flüssig drüber. Ottos Außenborder konnte sehr bald eingesetzt werden, auch wenn man eine Mindesthöhe von achtzig Zentimeter Wasser voraussetzte.
Das Schönste war, daß die Mills die Arche nach getaner Arbeit fein säuberlich an einer Birke im Garten der Kornmeiers vertäuten. Wahrscheinlich hatten sie auch jemanden gefunden, der ihre Viecher in Sicherheit brachte. Ihr kollegiales Verhalten ließ ebenfalls darauf schließen, daß Eva ihnen das Boot freiwillig überlassen hatte. Tierfreunde unter sich, sozusagen.
Stefan kochte frischen Kaffee. Das einzig richtige Getränk bei so einem Wetter für einen gestandenen Dammwächter. Hoffentlich warfen ihn die anderen nicht ins Wasser, weil er wie ein Saboteur aussah.