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1. Kapitel: Die Fahrt


Die Wimpel und Signalflaggen an den Rahen des Vormastes wehten knatternd in der leichten Brise. Die See lag ausnehmend ruhig und glatt da, nur leichter Dunst schränkte die optische Sichtweite etwas ein.
Von den zwei Radargeräten rotierte der eine Reflektor, mit gleichmäßiger Hast sandte er seine Strahlenbündel nach unsichtbaren Objekten aus. Man konnte die Offiziere hinter den Glasscheiben der Kapitänsbrücke erkennen; einer nahm gerade ein Fernglas zur Hand und suchte damit prüfend den Horizont ab. Hier auf dem Vorschiff fand er es einfach herrlich an die Reling gelehnt in die See zu schauen.
Der Bug der "M/S Flamingo" hob und senkte sich leicht und rief vorläufig ein angenehmes Körpergefühl hervor. Überall hatten sich Gruppen von Auswanderern gebildet, noch in Mantel und Schal eingewickelt, denn es war Februar und sie fuhren die italienische Küste entlang.

Im Mittelmeer wird es wohl wärmer werden, dachte Willi und löste die Hände von der Schutzwehr, die er fest umklammert gehalten hatte, da der an der Seitenwand des Schiffes aufgestaute Wind vehement über die Brüstung hinwegtobte. Er wanderte zum Promenadendeck und lachte plötzlich hellauf, als er eine Frau bemerkte, die eine Orangenschale auf der Luvseite ins Wasser werfen wollte. Sie blickte so verdutzt drein, als die Reste in hohen Bogen über sie hinweg im Lee verschwanden.
Höger stieg über die vielen eisernen Treppen in seine Kabine hinunter. Der Dampfer fing nun zu stampfen an und er fand es höchst ungewohnt, über sich neigende Treppen und durch rollende Gänge zu gehen. Ein Glück, daß überall Geländer angebracht sind, dachte schmunzelnd. Numero XII. Aha, der Schlüssel steckte, also war jemand drinnen. Die Jungens hatten ausgemacht, immer für eine versperrte Kabine zu sorgen, wenn niemand anwesend war. Man konnte ja nie wissen, bei den vielen Italienern. Und außerdem machten auch nicht alle Landsleute einen übermäßig vertrauenerweckenden Eindruck.
Wenn mir schon etwas gestohlen würde das Wichtigste trage ich hier, dachte Willi und griff sich an den Bauch, wo er die Leinentasche, die seine Mutter vorsorglich für ihn fabriziert hatte, mit einem langen Band um den Hals gehängt trug. Hier drin befanden sich alle seine Dokumente und Zeugnisse.
Gleich neben der Tür war seine Schlafkoje der untere Teil eines Stockbettes. Die 16 Mann die hier drinnen untergebracht waren, hatten ihre besten Kleidungsstücke fürsorglich zwischen und vor den Bettgestellen aufgehängt. Das Tageslicht drang nur gedämpft durch das einzige kleine Bullauge in den Raum. Manchmal wurde es für Augenblicke ganz dunkel, wenn eine höhere Welle den Schiffskörper entlanglief und das grüne Wasser rauschend und quirlend an dem Glas vorbeizischte.
Die Schiffsbewegungen nahmen jetzt immer mehr zu; ihre Anzüge, mit Kleiderhaken an den Stahlträgern, Ventilationsschächten oder Wasserleitungsrohren aufgehängt, schwankten rhythmisch hin und her. Im Zwielicht der engen Kabine gab dies ein irgendwie makaberes Schauspiel ab. Der junge Mann schaltete das elektrische Licht an, nun erst bemerkte er, daß einige der Schlafstellen belegt waren. Die Burschen aus den oberen Liegeflächen hatten ihre Schuhe ausgezogen und fein säuberlich ausgerichtet am Boden abgestellt. Je zwei Personen teilten sich einen Stahlschrank, und das war's denn auch schon.
Mit Bewegungen mußte man hier drinnen sparsam umgehen, bald hatte jeder herausgefunden, wie er seine Habseligkeiten am besten verstaute ohne den Nachbarn ungebührlich zu belästigen.
Da Karl Holzner, den er vom Auffanglager in Salzburg kannte, denselben Anfangsbuchstaben wie er aufwies, lagen sie mehr oder wenig zufällig in derselben Kabine. Durch den engen Gang zwischen den Betten getrennt lag neben Willi der Koloß eines jungen Mannes, ein 21jähriger Dreher, bei dem manchmal die Barabermanieren durchschlugen. Doch Willi unterhielt sich gerne mit ihm, da er bereits ein schönes Stückchen von der Welt gesehen hatte, so unter anderem Italien und Frankreich. Das ergab viele gemeinsame Berührungspunkte, abgesehen davon waren die Burschen seiner Kabine bald dahinter gekommen, daß Willi Höger einigermaßen Englisch beherrschte, was ihn wegen der Englischlektionen doppelt interessant erscheinen ließ.
Oberhalb von ihm lag Achmed, wie sein Spitzname hier lautete. Der zittrige Mann von etwa 28 Jahren, leicht hysterisch und furchtbar jähzornig, glich einer der ausgemergelten Gestalten, die sie für Ägypter hielten. Als man ihn einmal als "erbarmungswürdiges Opfer der Onanie" bezeichnete, ging er mit gezücktem Messer auf seine Peiniger los. Nur mit Mühe konnte ein größeres Unglück verhindert werden, seit damals hielt man sich mit solch groben Scherzen zurück.
Es befanden sich auch einige Abkömmlinge der wilden, freiheitsliebenden Tiroler in ihrer Menagerie, meist nette und kerngesunde Männer wie Hermann, der öfters auf der Gitarre klimperte, wobei häufig die ganze Kabinenbesatzung mitsang.
Aber es steckten noch mehr musikalische Talenten unter ihnen, wie sie alle bald zu ihrem Leidwesen merkten. Gitarre und Mundharmonikas galten als vergleichsweise harmlose Instrumente, selbst in der Mittagspause, wenn alles erschöpft auf den Matratzen schlummerte, ließ man damit noch ein gedämpftes Üben zu. Aber als es einem Tiroler mit einem vollkommen fehlplazierten Trachtenkäppi einfiel in der Kabine Trompete zu üben, das ging denn doch über die Hutschnur.
"Raus du Idiot, blas am Scheißhaus! Oder mach' das Bullauge auf und steck die Trompete raus! Oder noch besser, laß sie gleich rausplumpsen!" schimpften alle wütend durcheinander. Nun, der junge Mann war hartnäckig: so quollen denn gräßlich langgezogene Trompetenstöße durch die winzige kreisrunde Öffnung aufs Meer hinaus. Allerdings konnte er seine Übungsstunden nur mehr bei ruhigem Seegang abhalten, denn das Bullauge lag kaum eineinhalb Meter von der Wasserlinie entfernt. In einer der vielen Mußestunden schätzte Willi die Wahrscheinlichkeit des Übens mit der Trompete, die ja von vielen Faktoren abhing, welche er mathematisch zu erfassen versuchte.
So stellte das enge Zusammenleben immer neue Belastungsproben an jeden einzelnen, doch noch waren auch die Schwierigkeiten neu und ungewohnt, und jeder fügte sich willig so gut es eben ging.

Willi Höger ruhte am Bett, um diese Zeit dösten immer einige so dahin. Die Betteinsätze, die Kleider und selbst die nackten Stahlwände vibrierten im Takt der Motorenumdrehung. Langsam fiel ihm das auf die Nerven. Bin neugierig, ob ich seekrank werde, überlegte Willi. Einige hatte es bereits erwischt. Gerade beim Englischstudium war Erwin, der Textiltechniker, wortlos aufgestanden und ein Deck tiefer gelaufen. Als man ihn scheinheilig fragte, was denn mit ihm los sei, meinte er nur kurz angebunden: "Gschbiem hab i, was denn sunst?"
Angeblich waren heute Delphine zu sehen gewesen, schade, daß er sie verpaßt hatte. Der Gedankenfluß drohte stille zu stehen, da fiel ihm Lilly ein: Sie ist doch ein recht nettes Mädchen. Aber drei Jahre sind ein langer Zeitraum für eine Trennung. Irgendeiner wird sich finden, der ihr Anlehnungsbedürfnis ausnützen wird... Und nach einer Weile überlegte er pragmatisch: Auf jeden Fall vertreibe ich mir mit diesen Gedanken die Langeweile, wenn sie schon sonst zu nichts Nutze sind.

In der Lautsprecheranlage knackte es und dann ertönten drei Gongschläge: "Attentione! Attentione! Tutti passageri..." Gong."...Sämtliche Passagiere des ersten Abendessens, bitte in die Messe kommen, es wird angerichtet!" Gottseidank, dachte Willi, es ist wieder einmal so weit. Wenn diese Abwechslung nicht wäre! Wie jedesmal vor Essenbeginn erklang auch nun der sentimentale Schlager "Love is a Many-Splendored Thing" laut dröhnend und reichlich verzerrt aus den Bordlautsprechern. Sie hörten ihn mindestens dreimal am Tag offensichtlich die Lieblingsmelodie des Plattenjockeys. Oder sollte die Schnulze nur auf die geheimnisvollen Wanderungen zwischen den Frauenkabinen und den Offizierskajüten hinweisen, die sich jetzt nächtlicherweile ereigneten? Jedenfalls wirkte die Melodie verdächtig animierend, wie sich aus dem steigendem Liebesbedürfnis der Frauen an Bord schließen ließ.
Bei Tisch unterhielt man sich über die bevorstehende Landung in Messina. "Hoffentlich läßt man uns an Land", meinte der Bäckergeselle neben Willi. "Ja freilich, damit ihr möglichst schnell noch einmal ins Puff kommt, nicht wahr?" ertönte ungeniert der Baß des "Gangsterbosses" von vis-à-vis. "Aber Kurti! Sei doch nicht so ordinär!" getraute sich dessen blonde Gattin schüchtern einzuwenden. Über sein ganzes gutmütiges Jungengesicht grinsend, warf "Unser Bäckergeselle", wie ihn die Tischrunde nannte, hinterlistig hin: "Sie verspüren wohl einen ziemlichen Neid, daß Sie da nicht mehr mitmachen dürfen, was?" Karl Holzner, der neben dem Ehepaar saß, versuchte das Gespräch rasch in andere Bahnen zu lenken und animierte zu einer Besichtigung des Maschinenraumes, worauf sich die ganze Gesellschaft eifrig an der Diskussion über die technischen Feinheiten des Schiffes beteiligte. Dazwischen eilten Stewards mit dampfenden Schüsseln herbei, und man versuchte sie zum Austeilen von Extraportionen zu bewegen, die Seeluft regte den Appetit mächtig an. "Scusi, signore, nix extra!" radebrechte der Speisesaal-Steward und eilte wieder davon. Der glatzköpfige "Gangsterboß" Kurti warf ihm einen dreckigen Fluch auf italienisch nach und begann ein röhrendes Gelächter als er merkte, daß der Mann verstanden hatte. So laut und so anmaßend, daß die Leute vom Nebentisch die Köpfe hoben. "Aber Kurti!" Seine Frau blickte ihn nur flehentlich von der Seite her an. Aus Meiers mächtigen Körper bellte es schon wieder heraus: "Wißt ihr, daß das Schiff täglich um die 65 Tonnen an Gewicht verliert? Ganz enorm, was?" Er warf den Kopf in den Nacken zurück, sodaß seine brutale Mundpartie noch besser zur Geltung kam. Technische Daten flossen nur so über seine Lippen, gespickt mit Kraftausdrücken, wie "da sagte der Idiot" oder "Mensch, das ist doch Scheiße" und so weiter. Kurti war nicht mehr zu stoppen, mit weitausholenden Gebärden unterstrich er jede seiner Behauptungen. Er kannte sich auf jedem Gebiet aus, und zwar ganz genau, wie er meinte. Als man ihm später einen Fehler nachwies, verließ das Ehepaar beleidigt und außergewöhnlich früh den Tisch. "Großmaul", brummte einer hinterher, "glaubt, er weiß immer alles am besten!"
Von da an wurde Kurti Meier insgeheim Großmaul genannt, und dabei blieb es.

* * *


"An Bord alles wohl" traf nicht mehr ganz zu. Sie befanden sich zwar erst seit zwei Tagen auf hoher See, aber es gab keinen, der nicht über Kopfschmerzen, Magendrücken oder sonstige Beschwerden klagte. In der Kabine waren alle vollzählig vertreten, äußerst früh herrschte Nachtruhe, denn man wollte für den Landurlaub in Messina gut ausgeruht sein. Den ganzen Tag waren sie unermüdlich auf den Beinen gewesen, die Flamingo von oben bis unten durchstreifend und in der Zwischenzeit lehnten sie an der Reling, um zur italienischen Küste hinüberzublicken, wo kleine Städtchen an ausgetrockneten Flußläufen zu sehen waren, über die sich moderne Betonbrücken spannten.
Der junge Willi Höger hatte schon mehrere Tage nicht mehr auf das Ohrgeräusch geachtet, das ihm so zu schaffen machte, es hatte zuviel zu tun gegeben.
Nun lag er in dem abgedunkelten Raum wach, der nur von einer blauen Lampe notdürftig beleuchtet wurde. Ein Gefühl der Verlassenheit und Verzweiflung über sein chronisches Leiden hielt ihn stundenlang in den Krallen, bis er endlich erschöpft in den Schlaf versank. Nachts wachte er einigemale auf, nichts war zu hören wie das Röcheln und ziehende Schnaufen seiner Schicksalsgefährten, das Glucksen des vorbeirauschenden Kielwassers und das leise Knistern der Stahlwände.
Das Wissen, daß das Niveau ihrer Kabine unter der Wasserlinie lag, beunruhigte sein empfindliches Gemüt im Unterbewußtsein. Es riß ihn entsetzt hoch, als er träumte, daß die See hereinschäumte und ihm, der am Bauch lag, bereits beim Mund hineinfloß. Bis zur Morgendämmerung wälzte er sich unruhig auf seinem Lager herum, kleidete sich dann an und rasierte sich, bevor die anderen erwachten. Er haßte diesen morgendlichen Kampf ums Waschbecken, wenn die bärtigen, unrasierten Männer bereits ungeduldig warteten bevor er den Rasierpinsel einfeuchtete. So waren die Waschräume vor dem Frühstück dauernd besetzt, sperrte man doch später die Wasserabgabe vollständig, da der Kahn über keine Destillationsanlage verfügte.
An Deck stolperte man gegenseitig über die Beine und die Kabinen boten wegen der furchtbaren Enge und Hitze keinen Aufenthalt auf Dauer. Wie lange sollte die Fahrt dauern, dreissig Tage? Entsetzlich, nicht auszudenken, war doch heute erst der dritte Tag.
Und nun kamen weitere 250 Personen aufs Schiff, noch dazu Sizilianer! Nein, über die Triestiner durfte man sich wirklich nicht beklagen, die unterschieden sich von den Österreichern überhaupt nicht, alles nette Kerle. Er trat aus dem Strahl der Dusche und trocknete sich ab, schloß seine Utensilien in einen Schrank und begab sich an Deck.
Die Sonne stieg eben glutrot über den flachen Horizont empor, die Eisenplanken glitzerten vom frischem Tau, vom Osten wehte eine steife Brise. Schäumend hörte er die Bugwellen an den Schiffsrumpf klatschen. Dies verlockte ihn das Back-Deck zu betreten, wo sich der Wind so richtig in der Kleidung verfing, daß ihm das Hemd knatternd am Leibe zerrte. Ein weißgekleideter Offizier nahm gerade das Besteck auf, alles erstrahlte blitzsauber in den Strahlen der Morgensonne. Kein Mensch war ansonsten auf dieser 174 m langen schwimmenden Kleinstadt zu sehen. Wie unmittelbar nach dem Schöpfungsakt bot sich ihm die Welt dar. Ach, für diese wenigen Augenblicke höchsten Wohlbefindens lohnte es sich wohl zu leben! Nichts mehr von der Bedrückung, die er in dem stickigen blauviolett beleuchteten Loch empfunden hatte, lastete noch auf ihn.
Die Spillanker ächzten in ihren Lagern, als die armdicken Seile am Kai befestigt wurden und die Windentrommeln die Trossen spannten. Allmählich drehte sich der Schiffskörper mit dem Heck längsseits zum Uferrand, wo hinter transportablen hölzernen Absperrvorrichtungen die sizilianischen Auswanderer im Kreise ihrer Verwandten auf die Einschiffung warteten.
Karl und Willi gingen mit gemeinsamen Bekannten den schwankenden Steg hinunter an Land, um sogleich von Andenkenhändlern überfallen zu werden. Sie beschlossen auf den Hügel zu steigen, wo eine gewaltige Basilika thronte, deren Kuppel sie schon vom Schiff aus bewundert hatten. Zu viert marschierten die Österreicher über die staubigen Straßen und sonnendurchglühte Gassen, umrandet mit armseligen Steinhütten. Hunderte Augenpaare folgten ihnen, und immer wieder versuchten ihnen malerische Straßenhändler billige Artikel anzudrehen. Vor ihnen spazierten einige Schüler, die sie sofort umringten, als sie deutsche Worte hörten: "Schilling! Schilling!" bettelten sie.
Auf die erstaunte Frage, warum sie denn ausgerechnet österreichische Münzen haben wollten, lautete die überraschende Antwort: Als Andenken an das österreichische Skiass, das in phänomenaler Weise im vergangenen Winter Weltmeister geworden war. Lachend verteilten die Burschen ihre letzten Groschen an die Jugendlichen ob ihrer Schlagfertigkeit.
Ein italienischer Steward ersuchte sie später, für ihn ein paar Pakete mit an Bord zu nehmen: "Per passagieri nix verbotten!" erklärte er ihnen. Sie taten ihm gutmütig den Gefallen und ärgerten sich nur ein klein wenig, als der Mann dann an Bord die Schmuggelware teuer verkaufte. Jeden Tag spürten sie mehr, daß man sie nur als das einschätzte, was sie ja in der Tat waren: abgebrannte Auswanderer, die nicht einmal die Schiffspassage selbst bezahlt hatten.

* * *


Über Bordlautsprecher wurden die Passagiere aufgefordert beim Education Officer vorzusprechen, der Englischunterricht begann. Zwei Hilfslehrerinnen waren gefunden worden, deren eine nun ein sogenanntes Schokoladenmädchen bei den Amis gewesen war. Die australische Beamtin freute sich über die gute Kraft, wenn ihr auch der amerikanische Akzent nicht ganz in den Kram paßte. Aber Hildchen sprach ein passables Englisch, wenn sie sich bemühte.
Am Ende des ereignisreichen Tages traf Willi das Brautpaar, das er bereits im Sammellager als Bekannte Holzners kennen und schätzen gelernt hatte. Rosa und ihr Verlobter wurden ihm immer sympathischer, vor allem weil er bemerkte, wie sehr die beiden aneinander hingen, je mehr Verbindungen in Brüche gingen. "Hast du heute schon die Seekarte betrachtet?" erkundigte sich Hubert Egger und erhob sich mit seiner Braut vom Sessel. "Gehen wir rüber, sehr interessant, sag' ich dir!" Die drei studierten die Reiseroute des Schiffes und lasen dann die Wettermeldung:

Barometerstand: fallende Tendenz
Temperatur: 18 Grad Celsius
Windstärke: Laut Radiodurchsage ist für morgen Windstärke 7-10 zu erwarten.
"Das kann ja heiter werden, gut daß ich noch eine Pulle Kognak besitze!" rief Willi aus. "Kommt, laßt uns auf diesen Schrecken einen heben!" Was sie auch taten, denn die vier hielten bis gegen Mitternacht durch, speziell, als sich ihnen noch Karl beigesellte. Als die beiden Burschen dann die Kabine aufsuchten, lagen fast alle bereits in Morpheus Armen. "Hast du noch nicht bemerkt, daß regelmäßig die gleichen zwei fehlen, Nacht für Nacht?" erkundigte sich Willi bei seinem Kameraden. Karl zögerte etwas: "Was, du willst doch damit nicht ausdrücken...?"
"Nein, so war es nicht gemeint. Der schmächtige Maurer aus Südtirol sitzt dauernd bis in die Morgenstunden oben beim Färbeln. Aber der große, der mit dem Schnauzbart? Möchte nur wissen was der die ganze Zeit über treibt, ist jede Nacht auf den Beinen."
Karl bestätigte ihm: "Das ist vielleicht ein komischer Kauz. Mir ist jedenfalls aufgefallen, daß er in den Vormittagstunden wie ein Murmeltier schlunzt, vermutlich säuft er mit seinen Kumpanen. Beim Mittagessen fangen sie schon an Wein zu sammeln, da wird abgefüllt was immer erreichbar ist. Seine Kumpel wissen, daß er in betrunkenem Zustand eine einmalige Stimmungskanone ist, drum drängen sie ihm das Gesöff solange auf, bis sich die erhoffte Wirkung zu zeigen beginnt, dann wird der Mensch nämlich unheimlich witzig. Du weißt ja vermutlich, daß er die Burschen seine 'Mannschaft' nennt, und die Rowdys ihn 'Käpten' rufen?"
"Ja, weiß ich, trägt auch immer so 'ne ulkige Seeoffiziersmütze. Ist er wirklich mal Offizier gewesen?"
"Ach wo! Er war im Krieg bei der Marine, aber daß er es da weit gebracht hat bezweifle ich..." Aus einer der Fallen ertönte ein leiser Zwischenruf: "Aber blöd ist er nicht, das kann ich euch sagen! Vielleicht spinnt er ein wenig, aber hauptsächlich sind seine Kumpane an dem Dauerrausch schuld. Da muß ja der Verstand draufgehen! Und jetzt gebt Ruhe, meine Herren, wenn ich bitten darf!"
Der Sprecher, der lange Dreher unterhalb der Käptenskoje, wälzte sich brummig auf die Seite, um sogleich zu entschlummern. Ein paar Minuten später hörte Willi nur mehr die wohlvertrauten Schiffsgeräusche und hie und da einen Seufzer von den Schlafenden her. Er selbst konnte keinen Schlaf finden, Stunde um Stunde verrann, wo nur Bilder aus der Heimat vorüberzogen und vage Erinnerungen an den ersten Australien-Filmabend: Die Städte sahen ja ganz passabel aus, eigentlich war kein großer Unterschied gegenüber zuhause festzustellen. Nur der Platypus! Was für ein eigenartiges Tier. Na, wenn alles drüben so komisch ist...
Mit einem harten Knall flog die Kabinentür auf, das gelbe Licht der Gangbeleuchtung ergoß sich breit in den abgedunkelten Raum: Der Käpten, total besoffen, stolperte laut fluchend herein. Regenmantel um, Schirmmütze am Kopf, mit der Linken eine halbvolle Pulle Rotwein umkrampfend. Hinter ihm, wie eine Schar böser Dämonen, drängte heulend seine Begleitung nach, zuerst der lange "Steuermann", hintendrein der kleine verwachsene "Zweite Offizier" und dann das übrige Gekretzel.
"Sauf, Käpten, sauf doch Mensch! Hier hast du noch eine Flasche dazu, und voll bis zum Rand obenhin, wie du!!" Der stockhagel Besoffene brüllte nun los: "Da wollte wohl einer aus meiner Mannschaft aussteigen, was? Hahaaa! Hahahaaaa!" Immer hemmungsloser fielen seine Heiterkeitsausbrüche aus, die den Burschen in der Kabine das Mark in den Knochen erschauern ließen. Immer dröhnender und ausgelassener fielen seine Freunderl mit ein, das Toben nahm kein Ende mehr. Entsetzt, wütend über die gestörte Nachtruhe, belustigt wegen der tollen Bande, schnellten die jungen Männer aus ihren Betten hoch. "Was ist denn los, Menschenskinder? Seid ihr wahnsinnig geworden?" "Verduftet ihr Schweine, bevor ihr rausfliegt!", so hallte es den Getreuen ihres Käpten von allen Seiten entgegen.
Das geistige Oberhaupt dieser Clique lehnte da in seinen Uniformresten, diesem abgeschabten Mantel und der verwitterten Mütze mit der Kokarde, und stützte sich mit den Ellenbogen an den Matratzen auf, ein Bild des Jammers.
"Wollte einer aus meiner Mannschaft aussteigen, das geht doch nicht mitten im Mittelmeer, haha..." Das Gelächter klang nur mehr ganz kläglich, brach schließlich ganz ab. Sein Kopf rutschte nach vorn, sodaß die langen gewellten Haupthaare oberhalb des hochgestellten Kragens sichtbar wurden. "Was meint er damit 'aussteigen'?" fragte einer. "Ach, es wollte bloß ein Betrunkener in seinem Dampf über Bord springen!" stieß einer aus der Mannschaft hervor, und die ganze Blase verschwand ebenso urplötzlich wie sie gekommen waren.
Ein paar warfen sich schnell Klamotten über und eilten auf das Promenadendeck, wo einige Männer und Frauen herumgestikulierten und den Fall besprachen: "Hier ist es gewesen, da wollte er sich über die Reling schwingen!" Der ausgestreckte Arm einer Frau wies auf ein Stück der Brüstung. Willi griff nach einem festen Halt, die Füße drohten die Bodenhaftung zu verlieren. Bedrohlich wuchtete das kochende Wasser hoch, zeigte im matten Schein der Bordlampen weiße Schaumkämme die durcheinander flossen, geifernd, sich verzehrend, als wollten sie nach den Menschen greifen, die dort oben schaudernd hinunterblickten. Inferno, so stell' ich mir das vor, dachte Willi. Was würde wohl geschehen, wenn sie jetzt wirklich aussteigen müßten? Unausdenkbar bei dem hohen Wellengang!
Er schüttelte leicht die Schultern und wandte sich ab, um wiederum in die sichere Hülle des Schiffes hinunterzusteigen. Der starke Seegang verursachte ihm ernste Schwierigkeiten. Wie wird es erst morgen aussehen, wenn tatsächlich Windstärke 10 aufkommt? Ihr Käpten lag halb angezogen am Bett und schnarchte.
Endlich war Ruhe eingetreten in Kabine XII.

* * *


Der folgende Tagesablauf glich nicht den bisherigen, das übliche Gedränge um die Waschbecken fehlte gänzlich. Nur vereinzelt standen Männer breitbeinig nach Halt suchend auf dem glitschigen Boden des Waschraumes, schwankend bemüht die Schiffsbewegungen auszugleichen. Bei jedem Aufholen quirlte Brackwasser an den Schuhsohlen vorbei, die endlosen Reihen der zweiteiligen, unversperrten WC-Türen klapperten und gaben infernalische Geräusche von sich, die stündlich an Intensität zunahmen. Höger erledigte flüchtig seine Rasur und eilte zum Frühstückstisch. Etwa die Hälfte aller Passagiere der "1. Sitzung" glänzten durch Abwesenheit. Karl genoß noch die Bettwärme, das Ehepaar Meier war noch nicht aufgetaucht, die kleine dicke Österreicherin fehlte, nur der Bäckergeselle und die zwei anderen Genossen saßen erwartungsvoll bei Tisch, wo hochgeschobene Leisten verhinderten, daß sich die Speisen auf den Boden ergossen. Willis Nachbar rührte mit gedämpften Optimismus im Haferbrei herum und erläuterte dabei: "Bei dem Wetter sind angeblich trockene Semmeln am besten, die quellen auf, füllen den Magen aus und wiegen nicht viel!" "Na, du als Bäcker mußt es ja wissen", gab Willi gequält zur Antwort, da es ihm langsam übel wurde. Er trollte sich anschließend in die Bar hinter dem Funkerhäuschen, wo die taumelnden Schiffsbewegungen am wenigsten zu spüren waren und begann einen Brief an die Angehörigen, denn übermorgen liefen sie Port Said an und die Post ging ab. Er konnte gerade noch einen der Klubsessel ergattern, richtete den Briefbogen zurecht und setzte den Kugelschreiber an:

Liebe Eltern, liebe Geschwister!
An meine Anverwandten und Bekannten!
Wir sind mitten drin im schönsten Wellengang...

* * *


Vor allem die Mutter hatte bis zum letzten Augenblick gehofft, das Auswanderungsansuchen nach Australien würde noch im letzten Augenblick abgewiesen werden. Doch Willi Högers Gedanken waren in den letzten Wochen nur um einen Wunsch gekreist: hoffentlich gelingt es mir! Er war während dieser Zeit zu nichts anderem mehr fähig gewesen, als wie zu warten. Er wußte, daß es für ihn nur eine Möglichkeit gab sinnvoll weiterleben zu können nämlich woanders wieder neu anzufangen. Er wollte einfach weg aus diesem sicheren, allzu fürsorglichem Daheim, wo man ohne Gegenleistung das zum Leben Notwendige vorfand und erhielt. Er wollte weg von seiner Mutter, die ihn des Abends noch immer zuzudecken versuchte wie einen kleinen Jungen, ihn, mit seinen 23 Jahren.
Weg auch von seinen kleinen Geschwistern, die ihn umtollt hatten wenn er seinen 'weltbewegenden' Erfindungen nachgehangen war, fort aus der Enge und den Verpflichtungen des Familienlebens. Gewiß, er liebte seine Angehörigen nicht wenig, aber er sah nicht ein, warum er weiter den banalen Tischgesprächen folgen sollte, die sich um die kranke Henne im Stall oder dem Begräbnis einer ihm völlig gleichgültigen Person drehten.
Ganz zu Schweigen von den jüngsten Mißerfolgen beim Studium, die ihm den Rest gegeben hatten. Die letzten drei Examina mit 'nichtgenügendem' Erfolg abgelegt, jeden Monat ein paar hundert der sauer ersparten Schillinge seinem Vater abgeknöpft zu haben, verpulvert für nichts und wieder nichts diese Erinnerungen wollte er loswerden.
Und dann die Geschichte mit dem Patent, auf das er jahrelang alle seine Hoffnungen gesetzt hatte alles zusammengebrochen.
Die dauernden Sorgen und quälenden Gewissensbisse hatten schließlich seine Gesundheit untergraben. Leider hatte er von jeher im Leben immer alles ernster genommen als seine Kameraden. Wo sie lachend über ein Problem hinweggegangen waren, hatte er darüber gegrübelt und gegrollt, solange, bis es von allen Seiten ausgeleuchtet war. Seine Handlungsweise schien für sein Alter zu bedachtsam, sein Gemüt zu empfindsam.
Der junge Höger war überschlank, der Körper schien abgemagert, er wirkte richtig jungenhaft. Die randlosen Brillen auf dem eindrucksvollen Kopf verliehen ihm ein ausgesprochen studentisches, ja intellektuelles Gepräge. Aber eingefallene, abgezehrte Wangen gaben ein deutliches äußeres Zeugnis für die Periode unruhiger Kämpfe und Zwiespalte ab, die er durchlaufen.
Sein Vater tat ihm leid, dessen ganzer Stolz der älteste Sohn mit seiner höheren Schulbildung war, die ihm selbst versagt geblieben. Er würde sich nicht an Willis akademischen Erfolgen sonnen können, sein Traum war ausgeträumt. Alle persönliche Aufopferung war vielleicht vergebens gewesen, wenn Willi in dieses ferne Land fuhr. Vater zweifelte an der Lebenstüchtigkeit seines Willi, sah in ihm nur einen besseren Schuljungen, der vorerst nichts anderes als sein Studium im Kopf haben durfte. Verzweifelt hatte er auf die Berufsmöglichkeiten in Österreich hingewiesen: Beamter, Gendarmerieoffizier, technischer Zeichner es gab so vieles, das er mit der Matura allein beginnen konnte. "Oder geh' meinetwegen nach Deutschland oder in die Schweiz, wenn du schon unbedingt hinaus willst. Da verdienst du dein Geld genauso gut! Warum willst du so unendlich weit wegfahren von uns?" hatte Vater ihm vorgeworfen. Es war nutzlos, ihm erklären zu wollen, daß er einfach nicht mehr weiterkonnte, daß ihm die ganze überzüchtete Zivilisation mit den hundert Behörden-Stempel, Bescheinigungen und Ansuchen aufrieben, samt den Polizisten die an jeder Straßenkreuzung herumlungerten. Daß er all das, was ihn noch irgendwie an seine Niederlagen in diesem Milieu erinnern könnte, einfach hinter sich lassen wollte.
Der Vater vermochte die dumpfe Verzweiflung seines Ältesten nicht zu deuten, Willi hatte sie nie offen gezeigt und Vater hätte sie auch nie begriffen. Und vor allem: seit ungefähr einem Jahr rauschte und pfiff es in Willis Ohren entsetzlich, unaufhörlich und paralysierend. Er war in den letzten furchtbaren Monaten nicht mehr fähig gewesen, einer anstrengenden geistigen Tätigkeit nachzugehen.
Er hatte selbstverständlich alles versucht: Spezialisten konsultiert, Quacksalber aufgesucht und Kuren bei Wunderdoktoren absolviert. Sie alle hatten an ihm herumgebastelt sie alle waren dem Leiden machtlos gegenübergestanden.
Nun war ihm alles egal, er würde 'drüben' eben als Arbeiter beim Straßenbau oder sonstwie als Hilfsarbeiter anfangen, und keinem Menschen würde das kümmern. Selbst der Australische Konsul hatte ihn dazu bewegen wollen, zuerst sein Studium zu vollenden, bevor er an eine Auswanderung denke. Sehr lobenswert, fürwahr, aber er ahnte ja nicht, welch zwingenden Gründe ihn zu dem Entschluß bewogen hatten. Nein, er mußte jetzt verschwinden, jetzt gleich, oder es gab kein 'Später' mehr.
Und nun saß er also in der Bar auf der Flamingo, schrieb den ersten Bericht an seine Angehörigen und kreuzte gegen Australien, dem fünften Kontinent, und es herrschte schweres Wetter.

* * *


Willi sah vom Schreiben hoch, denn ein Schatten fiel über das Papier. Ein Italiener stolperte eben über ein Stuhlbein, versuchte eine Orange aufzuheben, die ihm entglitten war. Beim Aufrichten verfärbte sich sein Gesicht leichenblaß, er hielt im Weitergehen inne, würgte kurz und kotzte Willi genau vor die Füße. Das Schiff vollführte eine weit ausholende Rollbewegung, der Boden neigte sich, der Mann verlor das Gleichgewicht, drehte sich mit emporgeworfenen Armen halb um die eigene Achse und erbrach nochmals. Diesmal ging's gegen die Wand. Dann wischte er mit dem Taschentuch erleichtert um die Mundwinkel und trollte sich.
Willi starrte auf den greulichen Fleck am Linoleum, packte rasch seine Schreibutensilien zusammen und eilte ins Freie hinaus, aufs Bootsdeck. Die Rettungsboote hingen da von ihren Schutzhüllen befreit, festgezurrt an den Davits.
Ihn würgte und ekelte es unaussprechlich, stieß ihm auf, als wollte es ihm den Magen selbst herausreißen. Aber konnte nicht erbrechen, nicht das kleinste Stück kam die Speiseröhre hoch. Er eilte wieder in die Kabine, wo wohl zum ersten Male seit dem Auslaufen alle 16 Mann gleichzeitig versammelt waren. Die Burschen waren grün und gelb im Gesicht und stöhnten gotteserbärmlich. Einige lagen schon tagelang wie Leichen in den Fallen, die Kabinenstewards versorgten sie mit Nahrung, die sie häufig verweigerten, weil sie nur von einem Wunsch beseelt waren: das Irdische zu segnen.
Wenn sich das Heck aus dem Wasser hob und die Antriebspropeller sekundenlang frei in der Luft rotierten, stöhnte und rüttelte der alte Kasten beim Wiedereintauchen, daß man jeden Augenblick mit dem Entzweibrechen rechnen mußte. Selbst im Bett war es ratsam sich festzuhalten, um nicht einfach herauszurollen.
Der komische Käpten, ausnahmsweise einmal nüchtern, gab eine Schnurre nach der anderen zum Besten. Willi beugte sich mit dem Oberkörper aus dem Bett und griff tastend unter das Lager.
"Was suchst du denn?" fragte einer.
"Ach, ich gucke nur nach, ob meine Schwimmweste überhaupt vorhanden ist", sagte er verschämt.
"Der hat wohl Schiß?" tönte es sogleich von allen Seiten herbei. "Nein, das nicht, aber ihr wißt ja, bei der Schlamperei der Itaker ist alles möglich. Übrigens fehlt hier eine Schlaufe, wie ich soeben entdecke. Bitte sehr, seht euch das mal an!" Er hob die orangefarbene Weste in die Höhe und zeigte sie den anderen.
"Geh', ist doch vollkommen egal, Willi! Wenn wir bei dem Seegang aussteigen müssen, ersaufen wir hundertprozentig, darauf kannst du Gift nehmen. Mir ist auch das schon Schnuppe Mensch ist mir speiübel! Ooch!!
Wenn das noch lange so weiter geht, geh' ich noch vor die Hunde!"
In dieser Tonart ging es weiter, alle waren gereizter Stimmung, aber manch einer lag vollkommen apathisch und teilnahmslos da. Kurze Stoßgebete stiegen zum Himmel, von dem sie nur durch acht Millimeter Stahlblech, flüchtig übermalen, getrennt waren.
Zum Mittagstisch erschienen nur wenige Passagiere und die kauerten angespannt vor ihren Tellern. Überraschenderweise tauchte die starke Julia auf, wollte sich auf den angeschraubten Drehsessel niederlassen, rutschte ab und fiel lang hin wo sie ohnmächtig liegenblieb. Der rasch herbeigeeilte Steward und der Bäckergeselle bemühten sich mit vereinten Kräften, das Mädchen wieder auf die Beine zu bringen.
Als sie wieder etwas zu Farbe gekommen war, erklärte sie, einen Herzfehler zu haben, deshalb seien ihr auch gleich die Sinne geschwunden. Willis übermütiger Nachbar neigte sich ihm zu und flüsterte vertraulich: "Einen Herzfehler hat sie? Und da fährt sie ihrem Verlobten nach Australien nach? Der wartet in Fremantle schon sehnsüchtig auf seine Kleine.
Aber das hindert sie anscheinend nicht, sich reihenweise hinzugeben..."
"Hör' doch auf!" rief Willi ungläubig aus.
"Was, du glaubst es nicht? Ich habe es selbst gesehen, in einer Nacht fünf verschiedene Buam!" Sein gutmütiges Jungengesicht kam näher, spöttisch meinte er: "Und nebenbei ich habe es schon zweimal mit ihr versucht! Wäre ja schön blöd, wenn ich es nicht täte!" Er grinste ein faunisches Lachen voller Schadenfreude. "Und ihr Verlobter wird sich sicherlich freuen, wenn sie bereits mit Reisegepäck in Australien eintrifft...
Ich habe mich jedenfalls in keiner Weise zurückgehalten!"
Der junge Höger tat sich schwer damit, das eben Gehörte zu verdauen. Ein blutjunges Mädchen kann nicht einmal die wenigen Wochen durchhalten, bis sie ihren Bräutigam trifft. Was wird wohl aus einer solchen Ehe entstehen, vorausgesetzt sie kommt zustande? Was denkt sich dieses Weib, oder denkt sie überhaupt nicht? Heiligkeit der Ehe! Ob diesem Dummchen das jemals ein Begriff werden wird? Es war ja zum Lachen.
Selbst er, Willi, den dieser Klatsch nur am Rande interessierte, hatte einiges von den geheimnisvollen Wechselbeziehungen unter den Paaren, Ehepaaren oder quasi Verlobten hier an Bord mitbekommen. Er bemerkte doch so manches, was ihn stutzig machte.
Da war zum Beispiel der Mann, den er in seinem Stammkino zuhause manchmal gesehen hatte, den er nun auf diesem Seelentränker wiederfinden mußte. Fast regelmäßig sah er ihn mit einer ledigen Landsmännin in dunklen Ecken herumstehen, während seine Frau vermutlich den Buben in der Kabine betreute.
Oder der Wiener mit dem kantigen, dunkelgebräunten Profil, an dessen Halsausschnitt ein kleiner Totenkopf aus Elfenbein baumelte. Was führte der nicht die ganze Zeit auf, selbst schon am hellichten Tag! Er ließ seine schwangere Frau mit den beiden Kleinkindern sitzen, wo sie sich gerade befanden und flirtete ungeniert vor aller Augen mit einer schmalen, strohblonden Italienerin herum. Das alles grenzte schon an einen Skandal, genau genommen.
Solche Fälle gingen über Willi Högers festumrissene Moralbegriffe, dazu war er zu jung und vor allem zu unerfahren. In seinem engeren Bekanntenkreis war soetwas einfach undenkbar gewesen. Natürlich hatte er gelegentlich von solchen Dingen erfahren, die Zeitungen strotzten von Eheskandalen, Romanautoren füllten hunderte von Seiten mit den diversen Details, aber daß es so billig, so undramatisch schmutzig, so in aller Öffentlichkeit ablief, fand er unerklärlich und abstoßend.
Stunden nachher fühlte sich Willi für kurze Zeit körperlich und geistig aktiver, das grandiose Schauspiel der Natur lockte ihn. Mit dem Fotoapparat bewaffnet wagte er sich bis aufs Spieledeck unterhalb der Kommandobrücke. Die Reling war mit schwerem Segeltuch behängt, um Sonnenbadende vor den dauernd wehenden Winden zu schützen. Im geeigneten Augenblick, gerade als die Gischt übers Vorschiff fegte, riß er die Kamera hoch und drückte ab. Ebenso rasch nahm er hinter der Plache Deckung, um dem nachfolgenden Guß zu entgehen. Seine Kollegen empfingen ihn mit einer gewissen Hochachtung, als er die rauhe Außenwelt verlassen hatte: "Du hast vielleicht Nerven!" " Steigt bei dem Wetter an Deck herum um ein verwaschenes Bild zu knipsen." "Mir wird schon schlecht, wenn ich nur die Horizontale verlasse!"
Seinen Kameraden und näheren Bekanntschaften ersetzte Willi Höger ein Lexikon, Band A Z.
Was immer einer wissen wollte hauptsächlich Fragen fotografischer oder naturwissenschaftlicher Art Willi war meist in der Lage, erschöpfend Auskunft zu erteilen. Da man außerdem seine wohlfundierten Englischkenntnisse schätzte und nutzte, um die Hausaufgaben befriedigend bewältigen zu können, war seine Gesellschaft bald sehr gesucht was seinem angeschlagenem Selbstvertrauen unendlich wohl tat.
Während er in den vergangenen Monaten buchstäblich jede Hoffnung aufgegeben hatte, doch irgendwann im Leben wieder etwas leisten zu können, er daran zweifelte überhaupt zu irgend etwas auf der Welt zu taugen, gewann er nun langsam wieder den Eindruck, doch kein absoluter Versager zu sein.
Er war jedoch selbstkritisch genug um zu erkennen, daß diese Wertschätzung hauptsächlich auf seine höhere Schulbildung zurückzuführen war. Der junge Mann bewertete seine erfreuliche Situation ziemlich realistisch, er nannte sich zynisch "A big fish in a small bottle". Aber er war mit diesem sozialen Status vorläufig mehr als zufrieden.

* * *


Das Wüten der Elemente hatte merklich nachgelassen, so wurde für den Abend eine Veranstaltung des "Kangaroo-Club" angesagt. Unter der Leitung der australischen Lehrerin würden Filme über die Schönheiten und Eigenheiten des Lebens "drüben" gezeigt werden. Noch immer bleich und angegriffen von den Strapazen der vergangenen vierundzwanzig Stunden, fanden sich zahlreiche Auswanderer in der großen Lounge am Hinterschiff ein. Willi hatte mit seinen Freunden einen Platz im Türrahmen eingenommen, wo sie den Vorgängen im Saal folgen konnten ohne in der stickigen Atmosphäre ausharren zu müssen. Der Kapitän nahm gerade im Kreise seiner Offiziere Platz, theoretisch konnte der Zauber jetzt beginnen, bloß die Initiatorin und Hauptperson des Spektakels, Miss Green, fehlte noch. Trotz des unruhigen Wetters waren bisher sechs Englisch-Stunden abgehalten worden, somit wären sie, nach der wohlwollenden Annahme der Lehrerin, bereits fähig ihren einfachen Erklärungen zu folgen.
Der aufbrausende Applaus ließ Willi zur Projektionsleinwand blicken, wo Ms. Green nun gleichfalls heftig in die Hände klatschte, um sich Aufmerksamkeit zu verschaffen. Das ganze Persönchen (sie war von kleinerer, zierlicher Statur) machte einen ungemein energiegeladenen und vor allem temperamentvollen Eindruck. Trotzdem man sie nicht gerade hübsch nennen konnte, hatte sie bald die Herzen jedes Auswanderers, auch der anfänglich uninteressierten Sizilianer, gewonnen.
Sie strahlte einen besonderen Charme aus, der sich durchaus mit ihrem bulldoggenartigen Gesicht vertrug. Nun hub sie zu sprechen an:
"Good Evening!
Dear Passengers of the Flamingo!
My dear pupils, I am Ms. Green, your teacher.
We are on the ship 'Flamingo'.
And this is the Kangaroo-Club."
In die eintretende Stille hinein artikulierte sie die Worte langsam und deutlich, jeden Satz wiederholend und durch Gesten unterstrichen. Mit dem Finger auf sich weisend, erklärte sie nun den Begriff "Känguruhklub":
"I am a Kangaroo...", dann zeigte sie auf einen willkürlich herausgegriffenen Mann, der sie wie das achte Weltwunder anstarrte: "Y o u are a Kangaroo...", wandte sich nun an den Kapitän, den es trotz seiner Fülle beinahe vom Sessel schleuderte: "H e is a Kangaroo!" rief sie triumphierend aus, um sogleich die Arme weit auszubreiten, als ob sie die ganze Menschheit umarmen wolle und besänftigend zu sagen: "W e a l l are Kangaroos. We are all in the Kangaroo-Club!"
Eine Augenblick lang herrschte verblüfftes Schweigen, bis plötzlich jedes weitere Wort von ihr in einer verstehenden, donnernden Lachsalve unterging.
Dann wurde es dunkel, der Film lief an und zeigte Straßenszenen aus Perth, Melbourne und Sydney, die von ihr in drastischer und effektvoller Weise erläutert wurden. Als schließlich alles zu Ende war, ging jedermann heiter, zufrieden und über sein zukünftiges Heimatland ein wenig informierter in seine Gemächer. Man hatte sich gut unterhalten und es waren, vielleicht nur im Unterbewußtsein, einige Worte der Fremdsprache haften geblieben. Und das war ja der eigentliche Zweck der Übung.

* * *


Es war eine Rettungsübung angesagt worden: Punkt 17.45 Uhr würden sieben langgezogene Sirenensignale ertönen, worauf jeder Passagier mit angelegtem Rettungsgürtel möglichst rasch seinen speziellen Sammelplatz aufsuchen sollte. Sammelplätze, Signalerläuterungen, Beschreibung des Rettungsgürtels usw. hingen an der Kabinentür leider nur in italienischer Sprache, der einzigen Sprache, die auch die Deckoffiziere beherrschten...
Um die angegebene Zeit lagen alle Insassen der Kabine XII in ihren Fallen und einige erklärten entschieden, sie seien für einen derartigen Blödsinn nicht zu haben. "Im Notfall ist ja so alles für die Katz'!" meinte der lange Dreher unter Käptens Lager abschließend.
Dumpf brummend ertönten nun die Sirenen, durch viele Türen und winkelige Gänge geschwächt, aber immer noch so stark, daß man das Geräusch zweifellos in den entferntesten Schiffsecken wahrnehmen konnte. Unwillkürlich zog jeder das Genick ein und lauschte gebannt. Dann hörte man die ersten trippelnden Schritte, die über die Verbindungsgänge eilten, über Treppenaufgänge hetzten und sich endlich an Deck in ein Scharren und Trampeln verwandelten.
"Vielleicht sollten wir doch mitmachen?" "Man wird uns kontrollieren, habe ich gehört." "Am Ende werden wir bestraft, wenn wir hier liegen bleiben...", ließ zaghaft eine Stimme verlauten, blieb wie ein Fragezeichen in der Luft hängen. Willi Höger fischte entschlossen seine orangerote Korkweste unter dem Bett hervor, die, wie er wußte, in nicht mehr einwandfreiem Zustand war. Laut verkündete er: "Los, kommt schon, Spaß muß sein! Oder seid ihr vom Sturm her noch so fertig?"
Wie auf Kommando legten nun alle hastig ihre Rettungswesten um, banden sich gegenseitig die Bänder fest und belachten dabei den grotesken Anblick. Es fiel nun sehr schwierig, sich in der engen Kabine nicht selbst den Weg zu verbarrikadieren.
An den Knotenpunkten wachten Deckoffiziere über die reibungslose Abwicklung des Geschehens, erteilten in ihrer Muttersprache aufgeregt Befehle und rangen gestikulierend in scheinbar tragikomischer Verzweiflung die Hände. Die weiteren Aktivitäten verliefen äußerst langweilig, viele begannen bereits ärgerlich ihre Schwimmwesten aufzuknüpfen, da sich die Körperwärme staute. Sukzessive verschwanden die Passagiere, um sich möglichst schnell dieses Kostüms zu entledigen.
Enttäuscht von dem Gebotenen trottete Willi Höger weg, öffnete sein Tagebuch und notierte: "Nun haben wir die Rettungsübung hinter uns. Meiner Meinung nach war es ein Theater ohne praktischen Wert." Penibel führte er dafür die Gründe auf, wobei er fünf Punkte herausschälte, die er sorgsam vermerkte, so zum Beispiel:
"Viertens: sind nicht alle Schwimmwesten in Ordnung.
Fünftens: würden die Rettungsboote nicht ausreichen."
Als Willi sein Büchlein befriedigt zuklappte, konnte er nicht ahnen, wie sehr auch die letzte Bemerkung zutraf...

* * *


Die Dämmerung war noch nicht vollständig der Nacht gewichen, da glühten farbige Girlanden über dem Sonnendeck auf. Sämtliche Bordbeleuchtung war angeschaltet, jedes verfügbare Lichtlein leuchtete an den Laternenmasten, die Tag und Nacht im gleichförmigen Tuck-tuck der Maschine an ihren Befestigungen rüttelten. Selbst der Schornstein wurde von der Seite angestrahlt, deutlich konnte man das Logo der Reederei erkennen. Giftige Dieselabgase entquollen ihm, wurden manchmal durch einen heftigen Windstoß bis auf Deck heruntergestoßen, was den Aufenthalt in den hinteren Schiffsregionen oft unerträglich machte. Die Lautsprecher fingen zu schnarren an, Männlein und Weiblein ließen Coca-Cola, Limonade oder das lauwarme Bier im Stich und schwangen sich aufs Parkett. Die wenigen Frauen an Bord reichten nicht aus, um jedem Mann eine Partnerin zu sichern, und sicherlich waren die gereiften Jahrgänge unter den Damen seit Jahren nicht mehr so begehrt wie hier und heute. Sie zeigten sich dieser Ehre würdig und tanzten unermüdlich bis zur Erschöpfung, da sich immer neue junge Burschen an sie herandrängten, viele angetan mit ihren besten Anzügen in Sakko und Krawatte, trotz der schwülen Nacht. Andere wiederum tauchten in Hemdsärmeln, offenem Kragen und saloppen Lederwesten auf. Der kleine, massige Kapitän amüsierte sich sichtlich über die Vielfalt sonderbar bunter Gestalten, die da im Rhythmus der Musik über die Planken schlurften.
So ziemlich der Höhepunkt der Stimmung wurde jedoch erreicht, als sich auch die Männer zu Tanzpaaren vereinten. Den Vogel schossen zwei kleingewachsene dickliche Sizilianer mit dunklem Teint, gelocktem schwarzen Haar und überdimensionalen, gezwirbelten Schnurrbärten ab, die sich zierlich an den Händen hielten und mit feierlichen Mienen einen Reigen drehten. Unsere Freunde, die sich beim Treppenaufgang postiert hatten, brachen unwillkürlich in ein Gelächter aus, der Anblick war doch zu drollig.
Etwas bitter stieg Willi aufs Promenadedeck hinunter. Wieviele Chancen beim weiblichen Geschlecht hatte er sich nicht schon vergeben, weil er seine Schüchternheit auch auf dem Tanzboden nicht ablegen konnte. Gottseidank gab es noch einige Nichttänzer, die aus der Not eine Tugend machten und einsam zwischen den Aufbauten herumlungerten. Er gesellte sich einem Salzburger zu, der wegen seines gedrungenen Wuchses und der scharfen Zunge gewöhnlich "Giftzwerg" gerufen wurde. Willi unterhielt sich gerne mit ihm, denn er war ein witziger Knabe und in guter Laune imitierte er prachtvoll die englische Sprache. Doch heute fand er ihn in nachdenklicher Stimmung vor. Er starrte unverwandt auf das brodelnde Kielwasser, das aus den Propellern hervorschoß und noch für lange Zeit die Fahrspur im Schein des zunehmenden Mondes silbrig glänzend erkennen ließ. Bedächtig schaukelnd bewegte sich das Heck auf und nieder, um gelegentlich in ein heftiges Rütteln zu verfallen.
"Wie tief wird das Meer hier sein, Willi? Was schätzt du?" fragte er plötzlich.
"Zumindest ein paar hundert Meter, genau weiß ich es nicht. Warum?"
"Ich frage mich nur, was sich unter dieser dunklen Oberfläche alles verbergen mag. Stell' dir vor, du tauchst Meter um Meter tiefer runter. Was für Lebewesen dir da begegnen würden! Wie es da drinnen gleich so wimmeln wird von Tieren, die sich gegenseitig bekämpfen und verschlingen. Und ganz unten ragen vielleicht Gebirge auf, Berge wie bei uns in Salzburg.
Man sieht nichts, nichts als eine leicht bewegte Wasseroberfläche, außer ein paar Quallen habe ich noch keine Meeresbewohner entdeckt...
Dort oben tanzen sie, besaufen sich und werden später herumhuren... Statt daß sich einer überlegen würde, in welcher Nußschale wir über diese Tiefen gleiten... Wie schnell alles vorbei sein würde in wenigen Minuten wäre dieser ganze Zauber verschwunden!" Mit weitausholender Gebärde wies er über das Schiff.
"Deswegen tanzen sie ja so fröhlich", erwiderte Willi spöttisch. "Ich wäre jedenfalls froh, wenn ich so sein könnte wie sie." Und ernster werdend fügte er hinzu: "Aber solche Gedanken sind mir auch schon gekommen. Die meisten hier an Bord tun so, als ob sich in unserem Leben momentan nichts ändern würde, die Zeit für uns stille steht. Aber dem ist nicht so.
Zumindest eines verändert sich stetig: die Anzahl der Kilometer von unserer Heimat, die Anzahl der Meilen, die uns noch von Australien trennen. Die ändern sich mit jeder Drehung der Schiffsschrauben. Unaufhaltsam, ganz ungeachtet der Gebirgszüge die vielleicht unter uns dahinziehen, ganz ungeachtet dessen, was immer hier an Bord vor sich geht."
Und sachlicher werdend fügte er in leicht dozierendem Ton, wie es so seine Art war, noch hinzu: "Jetzt fällt mir ein der Meeresboden ist an dieser Stelle flach, das Mittelmeer ist ein Einsturzbecken." Er wandte sich zum Gehen. "Ich haue mich noch ein wenig aufs Ohr, wir erreichen ja gegen drei Uhr früh Port Said. Gute Nacht!"
So endete für Willi Höger das erste große gesellschaftliche Ereignis an Bord der Flamingo.

* * *


Als der Uhrzeiger gegen drei Uhr rückte, wachte Willi durch eine steigende Unruhe an Bord auf. Über die Decks trampelten Schritte, Rufe hallten und die Motoren arbeiteten langsamer, das Rauschen der Wellen hatte fast gänzlich aufgehört. Alle Kabinen waren hell erleuchtet, überall regten sich die Menschen, suchten nach Kleidungsstücken, kramten im Gepäck.
Karl trat zu ihm, komplett zum Ausgehen gerüstet und fuhr ihn an: "Los raus, Willi! Wir nähern uns schon dem Hafen. Ich bin vorhin an Deck gewesen, ein phantastischer Anblick, sage ich dir! Aus allen Himmelrichtungen ziehen Schiffe daher, man sieht bereits die Lichter der Stadt. Kommst du mit rauf?"
Oben standen Menschengruppen und betrachteten bei flüsternder Unterhaltung das Lichtermeer, das nun langsam aus dem Dunkel emportauchte. Steuerbord und Backbord glitten hellerleuchtete Frachter mit abgedrosselten Motoren der Fahrstraße zu, die deutlich gekennzeichnet war. Von weit her konnte man den Lärm einer großen Stadt vernehmen, Autohupen und kurze Signale von Barkassen, die wohl im Hafenbecken herumzischten. Die Passagiere wurden aufgefordert, die Bullaugenfenster zu schließen und die am Vorderschiff zum Trocknen aufgehängte Wäsche abzunehmen. Die Anordnungen wurden befolgt, wenn sich auch niemand genau vorstellen konnte, was sich hier bei Tagesanbruch abspielen mochte. Das Auswandererschiff zog an einem Frachter vorbei, auf dem sich trotz der Morgenfrühe die Mannschaft tätig regte, am Bug prangte der Name "Main": "Hurra! Ahoiii!" brüllten hunderte österreichische Kehlen, winkten mit Schals und hüpften vor Freude auf und nieder. "Hallooo! Ahoiii!" echote es von der anderen Seite zurück, als die deutschen Matrosen zwischen den Aufbauten herumliefen und ihre Nachtgläser auf die Flamingo richteten. Dann war dieses Ereignis vorüber, doch schon zogen neue Vorgänge die Aufmerksamkeit der Menschen an Bord auf sich.
Wie auf Kommando schossen aus allen Himmelsrichtungen schwerbeladene, tief im Wasser liegende Kähne auf die Flamingo zu. Verwegen aussehende, gestikulierende Gestalten hockten darin oder standen breitbeinig in lange Kaftane gehüllt, mit kurzen oder langen Hosen bekleidet, die ihnen über die dürren Leiber herunterrutschten, den Kopf mit einem Turban bedeckt und Betel kauend auf den schwankenden Booten. Spindeldürre Arme reckten sich zum Himmel und zeigten im Schein der Petroleumlampen die Schätze, mit denen die Boote vollbeladen waren.
"Heh! Machen Schacher? What money?" brüllten sie durcheinander, die Hände zu Schalltrichtern geformt, vor Anstrengung keuchend, den Schädel in den Nacken geworfen, um jede Reaktion sofort beobachten zu können.
Die Stunden verrannen wie im Fluge, niemand merkte wie sich der Himmel grau färbte und auf einmal helles Tageslicht die genauen Konturen des nächtlichen Spuks hervortreten ließ. Sobald die Dschunken am Rumpf der Flamingo festgebunden lagen, warfen die Ägypter lange Seile an Bord, und in Basttaschen hievte man all den Kram an Deck, war der Handel erfolgreich abgeschlossen.
Inzwischen bauten fette Geldhändler in europäischer Kleidung ihre Wechselstuben im Schreibzimmer auf, hielten Bündel von Banknoten in den Händen, an deren Finger wulstige Goldringe glitzerten. Uhrenhändler mit stechenden Blicken fuchtelten mit rotlackierten Fingernägeln in der Luft herum und boten echt "waterproof swiss watches" zum Verkauf an.
Gegen sieben Uhr blubberten große, gedeckte Barkassen daher, bald stauten sich Massen auf der schwimmenden Plattform, die mittlerweile ans Fallreep gebracht worden war. Man wartete ungeduldig auf das Einsteigen, denn es galt ja jede Minute in der Stadt zu nützen.
Die beiden Verlobten, Rosa Egger und Hubert Finze waren mit von der Partie. Zufolge einer kleinen Verzögerung bei der Paßkontrolle waren sie gezwungen, etwas länger auf das Ablegen zu warten. Eben bestieg ein junger Österreicher mit seiner hellblonden Frau die Barkasse: die Wirkung auf die Ägypter, die sich in unmittelbarer Nähe vor Handelseifer schier die Lungen aus dem Leibe brüllten, war ungeheuer. Mit einem Schlag verloren sie allen Geschäftsgeist, jeder einzelne der einfachen, braunen Burschen starrte das blonde Weib aus dem fernen Europa mit brennenden Augen an.
Einer, der Besitzer der nächstgelegenen Dschunke, raffte sich endlich auf: Wieviel sie koste, erkundigte er sich ernsthaft beim Ehemann. Wahrscheinlich hatte er sein Gespons gegen drei kostbare Ziegen eingetauscht und war sicherlich bereit, die gesamte Ladung des Kahns für das fremde Wunder hinzugeben. Der junge Mann bewies Humor und handelte lebhaft, zog dabei seine Frau fürchterlich auf, sodaß sich auf der Fähre alle vor Lachen die Seiten hielten.
Monate danach, in Australien, erinnerte sich Willi oft dieser Szene und fragte sich im Stillen, wie dieser Landsmann mit seiner hübschen Ehefrau wohl jetzt zu Rande kam wo ihr Wert doch inzwischen immens gestiegen war. Aber momentan lagen diese Probleme noch in weiter Ferne und man verstand, daß dem Österreicher der Gedanke, für seine Frau einen äquivalenten Pfundbetrag geboten zu bekommen, ergötzte.
Nachdem unsere kleine Gruppe an Land die aufdringlichen, frechen und übelriechenden Dragomane einige Zeit abgewehrt hatte, die ihnen unbedingt Spanish flies oder French pictures andrehen wollten, mieteten sie einen "Reiseführer" durch die schmutzigen Straßen voll menschlichen Elends, wo die Hühner und Ziegen den fetten alten Frauen und den ausgemergelten Greisen zwischen den Beinen herumliefen. Der ägyptische Begleiter machte für sich und seine Qualitäten ziemliche Propaganda, um den Job zu erhalten. "Und ich liebe Germans!" bekräftigte er zum Abschluß ihres Handels. Vielfach wurden sie auf offener Straße mit dem "Deutschen Gruß" einer verflossenen Epoche, nämlich mit freundlich ausgestreckter rechter Hand begrüßt. Regelrecht peinlich war es ihnen, wenn zerlumpte Gestalten auf Stöcken, halb blind oder verkrüppelt daherhumpelten und ein "Ich Nazi!" hervorkrächzten. Was sollten sie dazu sagen, wie reagieren?
Willi schob sich neben ihren Ägypter und befragte ihn unauffällig über Nasser. "Nasser stark wie Hitler", meinte der, um dann erläuternd fortzufahren: "Sehen Sie dort die weißgekleideten Kinder? Sie befinden sich auf dem Weg zur Schule. Sie erhalten Bekleidung und täglich am Ende des Unterrichtes eine warme Mahlzeit. Nasser baut Schulen und Krankenhäuser, ohne die unsere Bevölkerung wirklich ganz arm dastünde.
Was soll ich Ihnen noch berichten? Die Engländer haben daran natürlich kein Interesse."
Ihr Reiseführer geleitete sie nun geradewegs in ein Einkaufszentrum, dessen Läden wirklich gute, solide Ware anboten und schon fanden sich die Vier wiederum mitten im Handeln. Seufzend entnahm Hubert seiner Brieftasche einige Scheine und hing Rosa einen herrlichen Seidenschal mit orientalischen Motiven um die schmalen Schultern.
Nach bedachtsamen Suchen erstand der junge Mann Willi Höger ein wundervoll ziseliertes Damenarmband aus Silber. Unter den eingravierten Figuren erkannte er die Sphinx und den Kopf der Nofretete, die für wenige Augenblicke ein Clairvoyance-Erlebnis hervorriefen, ihm die dunkle Ahnung eines bevorstehenden Ereignisses bescherte, das in diesem Augenblick in der Gegenwart Wurzel schlug und zu keimen begann.
"Für Ihre Verlobte? For your fiancee?" erkundigte sich der übergewichtige Kaufmann, als er das prachtvolle Schmuckstück in Seidenpapier einwickelte und sich anschließend genießerisch die Handflächen rieb.
"Ja", antwortete Willi, "für mein Mädchen."
Er dachte eigentlich an niemand Bestimmten beim Kauf, aber irgendwie leitete ihn der vage Gedanke: Wer immer es sein wird ich möchte es dem Mädchen schenken, das ich einmal als wunderbarstes Wesen auf dieser Welt ansehen werde.
Sorgsam verstaute er das Ding in der eleganten Ledertasche, die er sich ebenfalls als Souvenir zugelegt hatte.
Dort sollte es lange ruhen...

Um 14 Uhr oder 2 p.m., wie es hier an Bord lautete, knarrten die Ankerketten, und langsam zog die Silhouette der Küste vorbei, bis auch das letzte Geschrei der Händler verstummte, Port Said nur mehr Episode war. Kabine XII lag im Mittagsschlaf. Jede zweite Nacht wurde nun die Bordszeit um eine Stunde vorgestellt, noch war der Unterschied zur Ortszeit nicht sehr groß, doch das Bedürfnis nach einem Nickerchen stieg. Außerdem kam langsam Langeweile auf, und das Schlafen enthob sie alle des Nachdenkens.
Am späten Nachmittag stand Willi im Kreise seiner Kameraden auf dem Sonnendeck. In langsamer Fahrt glitt die Flamingo durch den Suezkanal. Das Landschaftsbild bot im Westen die Einförmigkeit der Arabischen Wüste, im Osten so ziemlich denselben Anblick. Gelegentlich durchbrach eine Oase diese Eintönigkeit. Polizeistationen, kleine Hospitäler und verlassen wirkende Fellachendörfer, eingesäumt von einigen grünen Palmen und Horden spielender Kinder, boten dem Auge gelegentlich Abwechslung. Die Sonne hing tief am Horizont, verfärbte sich zunehmend rot, schien zu wachsen und sich abzuplatten, sah aus wie ein verrunzelter Erdapfel.
Am südlichen Horizont tauchte ein Punkt auf, der sich beim Näherkommen als britischer Militärlastwagen entpuppte. Allein auf weiter Flur brauste das Fahrzeug daher, verlangsamte in der Höhe des Schiffes seine Geschwindigkeit und stoppte schließlich. Ein Tommy kletterte aus dem Führerhaus und winkte sich die Arme aus, winkte bis die Flamingo wieder weit weg war.
Ich kann vollkommen verstehen, daß der Fahrer sich hier einsam und verlassen fühlen muß, dachte Willi. Umgeben von ungeheuren Mengen von Sand und wenigen, dunkelhäutigen Orientalen. Wenn der hier eine Panne hat, so am Abend... in dieser Zeit der politischen Hochspannung... Und dann sieht er auf einmal ein Schiff mit lachenden und winkenden Europäern! Kein Wunder, daß er anhält.

In der Nacht passierten sie die Stadt Suez, die Morgensonne strahlte bereits hell über dem Roten Meer. Überall lagen sonnenhungrige Menschen, sorglos hingegossen, die das ungeschützte Haupt den stechenden Strahlen aussetzten. Manche Gesichter unterschieden sich kaum von dem Tiefbraun eines Sudannegers.
Auf dem Spieldeck vor der Brücke war ein Kindergarten eingerichtet worden, Rosa hatte sich nach einem Aufruf der Schiffsführung für die Beaufsichtigung der kleinen Rangen gemeldet und ruhte nun in einem Liegestuhl, ihr Englischbuch geöffnet, und trichterte ihrem Verlobten das Vokabularium der vergangenen Lehrstunde ein.
Sie lernte fleißig und regelmäßig und machte deshalb trotz ihrer geringen Vorbildung rasche Fortschritte. Willi zog sie manchmal scherzend auf, indem er sie fragte, ob sie wohl nicht ihre "Bibel" in der Kabine vergessen habe.
Eben wurde eine Warnung vor den gefährliche Strahlen der Tropensonne durchgegeben, man hatte die Kopflosigkeit also doch bemerkt. Leider kümmerte sich niemand darum die Folgen sollten sich bald einstellen. Viele Bekannte Willis klagten schon den ganzen Tag über Kopfweh und leichten Bauchschmerzen. Nach dem Abendessen wurden an die zwanzig Personen von heftigen Leibeskrämpfen befallen, konnten sich kaum bewegen und lagen stöhnend auf den Betten. Während die betroffenen Österreicher allein und verbissen die Treppen zum Ambulatorium hochstiegen, trugen die Italiener ihre lautwimmernden Kameraden ausnahmslos aus den Kabinen bis ins Spital. Huckepack genommen stöhnten die Kranken qualvoll auf, sodaß sich Willi unwillkürlich fragte, ob denn gerade die Itaker um soviel schwerer betroffen waren.
Auf erregte Anfragen der österreichischen Auswanderer erklärte der junge staatliche Reiseleiter, die Erkrankungen seien durch den raschen Temperaturwechsel der letzten Tage hervorgerufen worden. Um weiteren Anfragen zu entgehen, sperrte er sich in seiner Einzelkabine einfach ein. Mittlerweile war die Gruppe vor seiner Tür auf etwa 80 Personen angewachsen und nahm eine zunehmend drohende Haltung ein. Man rüttelte und klopfte, bis sich der Jüngling endlich bequemte, eine klare Stellungnahme abzugeben.
"Wir glauben nicht, daß der Temperaturwechsel allein schuld ist! Das Essen ist miserabel zubereitet, gebt uns endlich etwas Anständiges zum Fressen!" brüllten nun die erbosten Männer.
"Die Kleinkinder haben zuwenig Abwechslung nichts wie Kartoffelpüree und Möhren!" schimpften die Frauen empört. "Das Grieskoch bringen sie überhaupt nicht hinunter!"
"Und außerdem steht nicht genug am Tisch!"
Die kleine Revolte war von den Italienern ausgegangen, die sich nicht so leicht abspeisen ließen wie die Landsleute Willis. Zweifellos gab ihnen das Bewußtsein, auf einem italienischen Schiff zu reisen, ein stärkeres Gefühl der Berechtigung, Klagen vorzubringen.
"Was wollt Ihr denn", riefen einige Österreicher in typisch masochistischer Manier, "für 780 Schilling, die wir für die Überfahrt bezahlt haben, können wir nicht gut mehr verlangen!" "Das ist uns egal, wir sind ja keine Rindviecher, sondern Menschen!" bellte einer dazwischen. "Seid vernünftig, so kommen wir nicht weiter" grollte eine laute tiefe Stimme. Höger, der den ganzen Tumult mit gespanntem Interesse verfolgte, erkannte in dem Redner seinen Tischkollegen Meier, der jetzt seinen mächtigen Körper vor den leicht zitternden Reiseleiter schob, mit den Armen ruderte und den Softie mit vorgerecktem Nacken fixierte, so, wie wohl ein Schwergewichts-Boxer seinen Gegner kurz vor dem K.O. messen mochte.
Nach kurzer Verhandlung beschwichtigte der nun zu allem bereite Auswanderer-Capo die erregten Gemüter mit der Versicherung, erstens einen Küchenberater aus ihren Reihen beizuziehen, und zweitens die Speisekarte auch mit deutschem Text zu versehen, sodaß man nachbestellen konnte was immer dem individuellem Geschmack zusagte.
Damit löste sich die Versammlung auf, und für den Zeitpunkt war die Ruhe wiederhergestellt.

* * *


Die bundesdeutsche, vom österreichischen Staat angestellte Englischlehrerin, eine blonde, mollige, gemütliche junge Frau öffnete mit einer kleinen Verspätung die Glasvitrinen der Bibliothek, und Willi suchte unter den zahlreichen Büchern in Englisch, bis er schließlich einen Kriminalroman fand: "Chapman & Cole wird ausgerottet". Lächelnd meinte die Lehrerin, er sei einer der besten Schüler. "Warum, weil ich mir jeden Tag ein anderes Buch hole?" Er begriff im Augenblick nicht.
"Nein, das nicht. Aber Miss Green hat dies festgestellt."
"Nun, das stellt für mich weiter keine Überraschung dar, schließlich habe ich doch ein Gymnasium absolviert", gab er ihr zur Antwort. Immerhin freute ihn diese Feststellung.
Wäre er im Umgang mit Frauen etwas erfahrener gewesen, hätte ihm eingeleuchtet, daß ihr Interesse sich keineswegs auf seine Englischkenntnisse beschränkte. So aber kam er nie auf den Gedanken, in den Äußerungen des Fräulein Doktor, die zudem eine geachtete Stellung an Bord einnahm, etwas anderes herauszuhören als sie eben sagte. Auf Grund der mangelnden Erfahrung auf diesem Gebiet fehlte ihm jener feine Instinkt, die tieferen Regungen der weiblichen Seele zu erahnen.
Hier auf dem Seelentränker änderte sich auch diese Situation, denn durch die erzwungene Untätigkeit begann er auch die Weiblichkeit in stärkerem Ausmaß als bisher zu beachten und aus ihrem Verhalten zu lernen.
Rosa hatte für ihn gewiß viel übrig, was sich auch dahingehend äußerte, daß sie ihm zumindest das Bügeln der von ihm selbst gewaschenen Hemden abnahm. Obwohl sie das ja auch für Karl und einige andere Junggesellen tat. Es war also natürliche Hilfsbereitschaft und nichts weiter. Obendrein war sie verlobt, kam daher für Willi von vorneherein nicht für einen Flirt in Frage.
Sein Freund Karl lachte nur über derartig veraltete Anschauungen. "Du kennst die Weiber wirklich noch nicht, ist doch eine wie die andere schau' dich doch um! Oder bist du blind?" fragte er höhnisch. "Siehst du denn nicht, wie sich die Ehefrauen garnicht genieren mit jungen Burschen herumzutändeln, ganz zu schweigen von den sogenannten Verlobten, die ihren Haberern nach Australien nachfahren!
Sieh' dir doch die Kleine an unserem Tisch an ein schöner Idiot, der das nicht ausnützt."
Er konnte dem einfach nicht so zustimmen, dachte aber resigniert: Ich muß wohl um hundert Jahre zu spät geboren sein. Ich passe wirklich nicht in diese Gesellschaft hinein, in diesen Pöbel, der sich da ungeniert und nach Herzenslust jede Nacht einen anderen Partner aufreißt...
Es gab auch auf dieser schwimmenden Kleinstadt Ausnahmen, und er wollte zu ihnen gehören. Das ganze Getriebe kotzte ihn an.
Seine Freunde bekamen natürlich bald spitz, daß er in Punkto Liebe schweigsamer war als die meisten, aber es zog ihn deshalb niemand auf, doch versuchte man ihm freundschaftlich gute Ratschläge zu erteilen.
Da gab es einen Dietrich Lemmel, seines Zeichens Verkäufer, man mochte ihn leicht für dreissig halten, obwohl er gleich alt war wie Willi. Meist ramponierten ihn die Frauen schwer, ließ er doch kaum eine Gelegenheit ungenützt verstreichen. Lemmels Tagebuch enthielt die unter fortlaufender Numerierung festgehaltenen Angaben über Ort, Zeit, Alter, Gewicht, Größe, Nation und besondere Qualitäten der Damen, die er bisher beglückt hatte. Willi staunte ehrlich über diesen Casanova der Neuzeit und erkundigte sich dann doch neugierig, wie Dietrich solch' enorme Erfolge erzielen könne.
"Schau, ich bin jetzt bei Nummer 48 angelangt, das bedeutet einmal Erfahrung, 'experience' in Englisch, nicht wahr?" Willi nickte beifällig. "Dann habe ich natürlich meine speziellen Methoden entwickelt, die den Triebmechanismus der Frau direkt ansprechen. Reden, reden und wieder reden am Anfang, das ist die Hauptsache bei den meisten ..."
In diesem Ton ging es eine Viertelstunde so weiter, während sie im Schatten der Aufbauten saßen und aus Strohhalmen eisgekühlte Limonade inhalierten.
"Aber", Lemmel neigte sich Willi vertrauensvoll zu, "mein großer Traum ist noch nicht in Erfüllung gegangen." Er hielt die Luft an und blickte vorsichtig um sich: "Vielleicht gelingt es mir in Australien ich möchte einmal im Leben eine Chinesin pudern!"

An diesem Abend fühlte sich Willi um einige bedeutende Erkenntnisse bereichert, eine davon war: Der Herrgott hat einen großen Tiergarten auf Erden. Und auf dieser Arche Noah liefen ganz gewiß einige Sonderexemplare herum.

* * *


Wieder lag eine Nacht hinter ihnen, weitaus schwüler und unangenehmer als die vorhergehende. Strenge Tropendiät wurde angeordnet, das bedeutete fett- und fleischarme Kost für mehrere Tage. Eine erfreuliche Abwechslung brachte das Einlassen des Schwimmbeckens, zum Leidwesen aller gab es nur streng nach Geschlechtern getrennte Badefreuden, nach italienischen Sittenkodex, der auf dem Auswandererschiff noch weitere Verschärfung erfuhr. Offensichtlich wollte man sich nicht auf die Wirkung des Brom verlassen, das den Suppen beigemischt wurde. Mit leichtem Grausen beobachtete Willi, wie die Pumpen nicht nur Seewasser, sondern auch allerlei Unrat, der offensichtlich aus den Toilettenanlagen stammte, hochförderten. So schwammen auch Streichhölzer, Zigarettenstummel und weitere undefinierbare Objekte in dem trüben Wässerchen.
Für den italienischen Deckoffizier, einem jovialen älteren Herren mit großer roter Knollennase, die nicht vollständig im Bereich des Schlagschattens seiner Schirmmütze lag er blickte gerne tiefer ins Gläschen wurde die Planscherei zu einer steten Quelle des Ärgernisses. Nasenferdl, so hatten ihn die Burschen bald getauft, mochte es nicht leiden, wenn die Badenden das schön geschruppte Deck und die Vorübergehenden durch Kopfsprünge bespritzten. War doch in großen roten Lettern auf die grüne Bassinwand gepinselt:
D I V I N G   V O R B I D D E N !
Trotz des deutlichen Verbotes, und gerade wenn er in der Nähe war, sprang immer ein junger Mann hinein. Jedesmal versuchte er sie davon abzubringen, mit Bitten, im Befehlston, mit Drohungen alles vergebens. Eben hatte er sich wieder einen Sünder vorgeknöpft und hielt ihm empört diese Disziplinlosigkeit vor, da stürzten sich unmittelbar neben ihm sechs Burschen hohnlachend gleichzeitig ins Schwimmbecken. Da verstummte er, gab es auf und wankte wimmernd davon. Niemals wieder schritt er dagegen ein, damit hatte auch das Spiel seinen Reiz verloren und hörte ganz von selbst auf.
Der "Kanadier", Erwin, Norbert und Dietrich gaben sich eben eifrig dem Kartenspiel hin, während Willi, Karl, der Giftzwerg und einige andere gelangweilt zusahen oder ins Blaue starrten. Plötzlich wurden sie durch laute Schreie aus ihren Betrachtungen gerissen: "Dort! Dort drüben!" hörten sie rufen, reckten witternd die Hälse und sprangen dann auf, alles im Stiche lassend. Aufgeregt wiesen Passagiere auf das offene Meer hinaus. Delphine!
Fünf, sechs, eine ganze Schule schossen aus der blauen See heraus, glitten elegant durch die Luft, um dann wie Torpedos lautlos wieder einzutauchen. Atemlos starrte alles auf die nun wieder ruhig daliegende Meeresoberfläche, bloß Giftzwerg meinte gelassen: "Und ich hab' schon geglaubt, mir san irrtümlich ins Tote Meer g'fahrn, weil ma nia an anzigen Fisch net g'sehn hoben!"
Die Freunderl brüllten los, der Kerl hatte recht, bis jetzt war das Meer wirklich wie ausgestorben dagelegen.
Nach dem Abendessen füllte sich das Vorschiff, Burschen und Mädchen, Kind und Kegel fand sich ein, blickte staunend zur Bugwelle hinunter, die jetzt durch Tausende kleinster Leuchtbakterien phosphoreszierend aufleuchtete. Oben am Himmel glänzten die Sterne, deren Zeichen ihnen fremdartig anmuteten. Leise Wehmut um die verlorene Heimat griff so manchen ans Herz, der da gedankenverloren an der Reling lehnte. Eine Mundharmonika intonierte wie selbstverständlich "Heimat Deine Sterne...", und leise summend fielen die vielen Landsleute ein, bis es laut und voll aufbrauste...
Als Willi spät in der Nacht die Kabine betrat, schlug ihm ein Gestank entgegen, der ihm den Atem raubte. Sein Freund Karl stand mit gegrätschten Beinen über zwei Stockbetten und bemühte sich eine Verschalung der Klimaanlage abzumontieren, damit mehr Frischluft hereinströmte. Als es mit fachmännischer Unterstützung endlich gelungen war, bemerkte man zwar eine gesteigerte Luftzufuhr, aber in der Nebenkabine erhob sich auf einmal wüstes Gebrüll, da nun dort die Lüftung total aussetzte.
Der Drahtkorb, der da unter dem Bullauge stand, brachte Willi auf eine, wie er meinte, geniale Idee. Zusammen mit Karl organisierte er in der Bar einen Pappkarton und einen langen Draht, dann steckte er den Korb beim Bullauge raus, befestige ihn und legte schließlich ein Stück Karton so hinein, daß durch den Fahrtwind ein herrlich kühler Strom in den Raum geleitet wurde. Kabine XII fand keine Ausdruck für die Begeisterung, endlich konnten die jungen Männer in einen erquickenden Schlaf fallen.
Die Freude fand aber bald ein vorzeitiges Ende, als ihr Käpten gegen zwei Uhr Morgens stark angeheitert auftauchte: "Da wollte wohl einer ein Luftfilter bauen!" rief er aus und ein langgezogenes "Hahaaa!" entrang sich seinem Brustkasten. Mit einem Ruck riß er die Vorrichtung heraus, schleuderte sie zu Boden, drehte das Licht ab und legte sich, angekleidet wie er war, aufs Lager. Kurze Zeit später verkündeten Schnarchtöne von seinem seligen Entschlummern. Schlaflos, ohne einen Laut von sich zu geben, hatte Willi die Zerstörung seines Werkes mitangesehen. Er befestigte den Windfänger nochmals und schlief dann zufrieden ein.

Nasenferdl lehnte sich nach dem Frühstück selbstgefällig gegen die Brüstung des Promenadendecks, als er den Korb aus dem Schiffsrumpf hervorragen sah. Wütend stürzte er in die Kabine und zog eine Show ab, die keiner der Anwesenden vergessen würde. Zornstampfend trug er seine Leibesfülle wieder nach oben, kühlte ab und blickte beruhigt die Reihen der Bullaugen entlang, nichts vermochte sein Behagen nunmehr zu stören.
Von einer Sekunde auf die andere weiteten sich jedoch seine Augen, das Gesicht lief knallrot an, der Kragenknopf drohte ihm zu platzen. Einen gerade vorübereilenden Steward hielt er mit eisernem Griff fest, zerrte den sich sträubenden an die Brüstung und deutete erregt nach unten: Eben schob sich aus der Nachbarkabine von Nummer XII ein gleichartiges Geflecht ins Freie und ragte frech über den Schiffsrumpf hinaus.
Der Offizier umklammerte den Arm des Kabinenstewards, tobte auf ihn ein, doch dem gelang es, sich loszureißen. Er entfernte sich eilig einige Schritte, tippte dann mit dem Finger bedeutsam gegen die Stirn und haute schleunigst ab.
Mit zunehmender Temperatur war das Auftauchen jener nicht ungefährlichen Windfänger einfach nicht mehr aufzuhalten.
Ihr Nasenferdl hatte eine zweite Runde verloren.

* * *


Im Laufe desselben Tages näherte sich die Flamingo "Bab el Mandeb", dem "Tor der Tränen", der Meeresenge, die das Schiff in den Golf von Aden leitete. Je aufflammende Unruhe ließ Willi mit schußbereiter Kamera an Deck stürmen: sämtliche Passagiere strömten nach Backbord, um dort in begeisterte Rufe auszubrechen: "Phantastisch! Wunderbar! Herrlich!"
Pralle Sonne, schon tief im Westen stehend, beleuchtete das nackte, rötliche Gestein eines kegelförmigen Eilands. Auf der Kuppe des einen, der beiden knapp nebeneinander liegenden Inseln, ragte ein kleiner Leuchtturm ins Blaßblau des Himmels, ringsumher umgeben von tiefblauer See, die wie mit Ultramarin gefärbt in der angenehmen Brise wogte. Niemals hätte er sich träumen lassen, daß Wasser so blau, so intensiv blau wirken konnte.

Wenige Stunden später, eben tauchten die Gebirgsketten von Eritrea hinter den Dunstschleiern auf, schob sich mit hoch gehender Bugwelle ein offensichtlich großer Passagierdampfer in nächster Nähe vorbei. Begeistert von dem majestätisch lautlosen Anblick des Liners, stürzte wieder alles nach Steuerbord, stieg auf Geländer, erkletterte Rettungsboote und die großen Boxen für die Seilwinden der Davits, blickte angestrengt zu den dicht gedrängt stehenden Menschen hinüber, die sich genauso an der Begegnung weideten.
Mit freiem Auge ließ sich der Schiffsname nicht entziffern.
"Wie heißt der Pott denn, kannst du es erkennen?" wandte sich Karl neugierig an Rosa, die an ihren Gespons gelehnt durch das Fernglas lugte, das sie in Port Said spottbillig erstanden hatte.
"Ja, ich sehe es deutlich, 'F a i r s e a' steht am Bug. Und das Zeichen am Schornstein ist ein 'V'." "Ja, dem Symbol für die Sitmar Linie!" ergänzte Willi.
"Wie sie alle winken und jubeln! Scheinen ausgesprochen viele Mädchen drauf zu sein!" urteilte Rosa sachlich und überreichte ihrem Hubert das Glas, der es nach einem kurzen Blick grinsend an seine Freunde weitergab. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich auf der Flamingo das Gerücht, die Fairsea sei mit 800 Mädchen aus Deutschland bis oben hin vollbeladen: Hauptsächlich natürlich unbemannten Damen, wie die erhitzte Phantasie den männlichen Passagieren vorgaukelte, mit der Destination Australien.
"Da fahren sie ja schon voraus, unsere zukünftigen Bräute!"
"Meine steht dort neben dem zweiten Rettungsboot, die mit der knallroten Bluse! Die, die jetzt zu winken beginnt!" rief einer der Burschen, der vor Enthusiasmus am liebsten mit einen Kopfsprung ins Wasser gehechtet wäre. Der Rest der Boys gab saftige Kommentare ab, wie etwa: "Weiße Fracht für Australien! Königinnen mit Reißverschluß! Nieder mit der Flamingo! Es lebe die Fairsea!"

Wie herrlich doch das Leben war!
Da befand man sich auf dem Weg in ein fremdes Land, einem fremden Kontinent, sprühend voller Ideen über Projekte und unbegrenzten Zukunftsaussichten, wie es hieß, mit Möglichkeiten, die einem die kleine enge Heimat niemals bieten konnte.
Ein wenig arbeiten, und schon besaß man Haus und Auto, ein bißchen schuften, und man mußte es doch zum Millionär bringen!
Was konnte man in jenem Land der Verheißung nicht alles anfangen!
War man nicht Maurer? Eine Tankstelle würde man bauen.
Man war doch Inhaber eines Führerscheines, man hatte doch Fahrpraxis wer sollte einen hindern, Fernlaster über tausende Kilometer zu hetzen?
Warum sollte ein Taschner nicht bald einen eigenen Betrieb aufmachen können?
Sie alle hatten so manches Interessante aufgeschnappt über jenes fast unbekannte Land, das in irgendeinem Bezug zum eigenen Beruf stand. Wenn man dann in fünf oder längstens zehn Jahren die Karre aus dem Dreck gezogen hatte (und daran war ja gar kein Zweifel), würde man der ehemaligen Heimat einen kurzen Besuch abstatten und bei der Gelegenheit kräftig auf den Putz hauen. Die werden vielleicht Augen machen!
Na, und jetzt schicken sie uns auch schon Frauen nach, die uns "drüben" mit offenen Armen empfangen werden. Es klappt alles wunderbar, man durfte zufrieden sein, vorläufig...
So oder ähnlich waren die Gedanken, die den Passagieren der Flamingo in diesen Minuten durch die Gehirnwindungen schossen.

Der junge Höger knipste die Szene, nicht ahnend, daß dieses Schiff für ihn einmal mehr bedeuten würde als eine chemische Umsetzung in den Schichten des Farbfilms. Er trug in sein Notizbuch ein: Nr.19, Gegenlicht, 1/120, Blende 8: Auswandererschiff Fairsea, Küstengebirge von Eritrea.

* * *


Aden, ein britisches Protektorat am Südzipfel Arabiens, nahm sie auf. "Diese Saukerle von Engländern haben aber auch an jedem strategisch wichtigem Ort der Erde ihre Stützpunkte. Wo du hinkommst, findest du die britische Flagge aufgepflanzt! Unsere Leute waren zu blöd, um auch nur ihre wichtigsten Kolonien zu halten, oder vielleicht haben's überhaupt g'schlafen. Die Idioten am alten Kontinent streiten lieber!" Karl wetterte wiedereinmal drauflos, im keifenden Tonfall eines alten Waschweibes. So kam es immer, wenn er sich in Rage redete. Willi zog es vor, ihn noch ein wenig zu hänseln, statt auf die Argumente einzugehen: "Vergiß nicht, wir werden in Australien unter britischer Herrschaft stehen! Du wirst vermutlich ein ganz guter Bürger der Commonwealth werden." Und er legte noch ein Schäufchen nach: "Schon deine äußere Erscheinung ist dazu angetan möglicherweise hält man dich für einen Inder, einen Anhänger Mahatma Ghandis!"
Zornig richtete sich der spindeldürre Karl auf, sodaß Willi sofort besänftigend meinte: "Na, beruhige dich! Indien war ja einmal eine Kronkolonie. So oder so, die Sympathien der Australier sind dir sicher." Karl antwortete: "Ich werde mir gründlich überlegen, ob ich die Staatsbürgerschaft annehme. Vermutlich fahre ich doch in einigen Jahren wieder nach Europa zurück."
"Das schlägt dem Faß den Boden aus: wir sind noch nicht mal drüben, denkt der Mensch bereits an die Rückkehr!" tat Willi entrüstet. "Da stehe ich aber nicht allein auf weiter Flur, verlaß' dich drauf!" gab ihm Karl zu bedenken.
Mit dem heller werdenden Morgenlicht schälten sich aus dem Dunkel der Küste Öltanks, Palastbauten und moderne Etagenwohnungen heraus. Ganz oben, an den Steilhängen der Berge, holten die Ferngläser das Leben um die Wohnhöhlen der Araber vor die Augen der Europäer, die sich bei dem "Lebensstandard" der Einheimischen eines leichten Gruselns nicht erwehren konnten. Der krasse Gegensatz zum feudalen Westen erschien vor allem den jungen Menschen alarmierend.
Aus der Stadt Zurückkehrende berichteten von unvorstellbarem Elend in den Eingeborenenvierteln, von Krankheiten wie Aussatz und körperlichen Entstellungen, schmutzigen Haustieren und chromglitzernden Opelwagen, die von bloßfüßigen Arabern gesteuert wurden.
"Überall wurden wir freundlich begrüßt", erzählte einer der Jungen. "Aber der Haß gegen die Engländer ist enorm. Ein Taxifahrer erzählte uns während der Fahrt: 'Ich bin in Italienisch- Somaliland aufgewachsen, mußte in Nordafrika gegen Rommel kämpfen, den ganzen Afrikakrieg hindurch. Später haben mich die Engländer in Korea eingesetzt, dort wurde ich verwundet und anschließend in die Heimat entlassen.
Bei der Verabschiedung meinte der Offizier, ich sei ein braver, ein tapferer Soldat gewesen und wenn wir dich brauchen, dann holen wir dich wieder. Dann überreichte er mir als Abfertigung 75 Cent ich muß Euch sicherlich nicht klarmachen, wie ich darüber denke...' So hat der Braungebrannte seinen Geschichte erzählt, und dabei ingrimmig mit den Fäusten das Lenkrad umklammert."

"Wenn die Story wahr ist, wäre das eine ungeheure Sauerei!" platzte einer aus dem Zuhörerkreis hervor. "Oba zuatraun tu i dös denan scho! Mia hobn schließlich ah a britische Besotzung g'hobt, und dö Kecksgestaltn hoben uns, u n s Kartner 'Nigger' gnonnt! Wann i auf dös denk, möcht i am liabst'n glei wieda umdrahn!"
Eine erste, leichte Verstimmung über das zukünftige Heimat- beziehungsweise Gastland Australien war über die nachdenklichen, jugendlich-idealistisch denkenden Burschen gefallen. Gewiß, man kannte die näheren Umstände nicht, nicht die politischen Verhältnisse in diesem extrem situiertem Landstrich, aber mancher erinnerte sich dabei der Demütigungen, die ihre Heimat auch unter britischen Marschstiefeln 10 Jahre lang ausgesetzt gewesen war. Nun behagte es ihnen auf einmal nicht mehr sonderlich, ihre Kraft für ein Land einsetzen zu müssen, dessen Bewohner England als Mutterland betrachteten. Aber die Überlegung, daß sie letzten Endes ja zum eigenen Nutzen arbeiten würden, ließ sie diese unangenehmen und unerfreulichen Gedanken wieder vergessen. Und außerdem, frohlockte jeder in seinem innersten Herzen, kann die da drüben von mir aus der Teufel holen, wenn ich erst mal zu materiellem Wohlstand gelangt bin!
Derartige Verallgemeinerungen paßten Willi nicht ganz in den Kram, schließ war nationale Machtpolitik etwas anderes als die Begegnung mit dem Einzelindividuum. Er hatte schließlich während der Okkupation einige Engländer als durchaus annehmbare Burschen kennen und schätzen gelernt. Und umgekehrt wußte er von einigen Fällen, wo ehemalige englische Kriegsgefangene später ihren Urlaub regelmäßig auf den Bauernhöfen verbrachten, die ihnen menschliche Arbeitsbedingungen geboten hatten, froh, ihre Ferientage unter gemütlichen Menschen zubringen zu können.
Die 1045 Auswanderer auf diesem Schiff sollten jedenfalls noch genügend Gelegenheit bekommen, Anschauungsunterricht im Zusammenleben mit Vertretern verschiedenster Nationen zu nehmen. Ein Kennenlernen, das zwar hart und unendlich langsam verlief, dessen Ergebnisse aber den Betroffenen tiefe Einblicke in die Beweggründe menschlichen Handelns brachte, die sie in ihren ursprünglichen Heimatländern nie hätten erwerben können.

Manch einem packte das Schicksal auch in dieser relativen Geborgenheit des Lebens am Schiff hart an, so brachte man die Frau eines Bergbauernsohnes wegen eines Abortus in Aden an Land und in ein Krankenhaus. Zurück blieb Klein-Heinzi im Alter von vier Jahren, ein Kleinkind mit 16 Monaten sowie ein verzweifelter junger Vater, der nun die Windeln selber wusch. Um ihn zu entlasten, nahmen sich einige der Tiroler Junggesellen aus Kabine XII des Heinz an, führten ihn in ihrer Mitte an Deck umher und trieben ihre Späße mit ihm. Die junge Mutter sollte nach ihrer Gesundung mit dem Flugzeug nach Australien transportiert werden tatsächlich erreichte sie den fünften Kontinent noch vor ihrem Gatten.
Seit der ersten Protestversammlung bemühte man sich in der Schiffsküche wirklich, den Wünschen der Auswanderer gerecht zu werden. Die Speisen gelangten besser zubereitet und nicht mehr nahezu kalt auf den Tisch. Am Abend der Abreise aus Aden gab es sogar Huhn, da die Italiener mit einem Telegramm an ihre Regierung gedroht hatten, würde die Verköstigung nicht unversehens besser. Das hatte gewirkt.
Wie wirkungsvoll die "Buschleten", wie die Süditaliener von den Österreichern nun bereits genannt wurden, zusammenhielten, merkten sie bei der anschließenden Kinoveranstaltung, die ausdrücklich als "deutschsprachiger Film für unsere österreichischen Passagiere" angekündigt worden war. Nichtsdestotrotz okkupierten die Buschleten fast alle Klappsessel, und als die Offiziere in die Menge hineinbrüllten, stellten sie sich einfach taub.
"Das kapier' ich einfach nicht. Wenn ich sehe, daß ich unwillkommen bin, haue ich doch ab. Ich glaube, jeder von uns würde soviel Anstand aufbringen", wandte sich Willi entrüstet an seinen Freund Karl. "Ja, die unseren. Aber schau' sie doch an, wie sie alle drängeln und schummeln, die Italiener! Unsere Leute fressen lieber einen Dreck, bevor sie es 'ihrer' würdig finden einen kleinen Krawall zu inszenieren! Und zusammenhalten tun's auch: Unsere Leute helfen im allgemeinen den Landsleuten nicht, wenn einer irgendwie ins Out gerutscht ist! Diese Schlawiner schon." Karl fuchtelte mit seinen langen Händen in der Luft herum:
"Weißt du, wie das genannt wird? O b j e k t i v i t ä t der österreichischen Volksseele! Stimmt, ja aber bis zur Charakterlosigkeit! In diesem Punkt verstehe ich die Buschleten besser als meine eigenen Leute."
Zum Glück lief jetzt der Film an und zwang Holzner mit dem Lamentieren aufzuhören. Willi sollte später des öfteren an diese Szene zurückdenken, wenn er sich über das Verhalten seiner Landsleute in Dingen, die ihre ureigenen Interessen berührten, Rechenschaft abzulegen versuchte. Allerdings, so überlegte Willi Höger, ist es gerade diese Eigenschaft der Objektivität des Charakters, Lebensrechte und Leistungen anderer Völker anzuerkennen, die uns zu Höchstleistungen befähigt, weil wir neidlos von anderen zu lernen versuchen...
Später kramte er noch in seinen Habseligkeiten und griff in die Sakkotasche des besten Anzuges, den er wegen der Hitze noch nie angezogen hatte. Er fand zu seiner Überraschung eine an ihn gerichtete Karte, in der aufrechten, steifen Handschrift seines Vaters. An den Schlußsätzen des ihm heimlich vor der Abreise zugesteckten Grußes blieben seine Gedanken tief ergriffen hängen: "... und werde ein fleißiger und braver Mensch in der Ferne. Dein Vater." Doch je mehr er darüber nachdachte, um so mehr steigerte er sich in eine Wut hinein. Fleißig und ehrlich! Das war alles, was sich Vater wünschte, als ob er das nicht von jeher gewesen wäre! So hatte der Alte ja immer sein eigenes Leben eingerichtet und geführt: fleißig und ehrlich. Er ballte die Fäuste er wollte aber auch ein erfolgreicher Mensch werden! Und glücklich!
Vater meinte wohl, es wäre mit dem Fleißigsein abgetan, deshalb würde er, Willi, noch nicht glücklich sein.
Der vehement aufgestiegene Unwille glättete sich bald wieder, und er schwor sich: Das, was Du von mit verlangst, lieber alter Papa, werde ich so halten, das kann ich Dir ruhig versprechen. Alles weitere, den Erfolg, der mir bis jetzt versagt geblieben ist, werde ich mit aller Macht anstreben.
Unruhig wälzte er sich auf der Matratze hin und her, es fiel ihm eben "Miss Flamingo" ein, die rothaarige Italienerin. In ganz engen Röhrlhosen und straff sitzender weißer Bluse, die sich um ein paar herrlich und frech hervorragenden Hügeln spannte die oberen aufreizend geöffneten Knöpfe gaben den Busenansatz freigiebig allen Gaffern preis stolzierte sie tagtäglich unter den gierig herumsuchenden Männeraugen das Deck entlang.
Mit mokantem Lächeln streifte sie manchmal absichtlich den Arm eines Mannes, der sich dann kaum beherrschen konnte.
Für sie war das Ganze nur ein unterhaltsames, wenn auch leicht perverses Vergnügen, für den Großteil der männlichen Passagiere aber eine Qual. Auch dem ewig an seinen Fingernägeln kauenden Kurti Meier, der offenbar ein ausgeprägtes soziales Gewissen in sich vereinte, war das aufgefallen. So nahm er sich dieses Problems denn hingebungsvoll an. Da er ein wenig Italienisch radebrechte, vertrat er Miss Flamingo dieser Tage kurzerhand den Weg und erklärte ihr in tönenden und unmißverständlichen Worten, sie möge gefälligst ihre Bluse zuknöpfen, da sie sonst Gefahr laufe hier an Bord vergewaltigt zu werden. Die umstehenden Männer hatten Beifall geklatscht, und Kurti zog mit geblähten Nüstern ab, mehr denn je seiner Mission als Manager in Australien gewiß. Daß ihm diese Laufbahn vorschwebte, war sich Willi in der letzten Unterrichtsstunde bei Miss Green klargeworden. Von seinem imponierendem Körperbau, den tatkräftig aussehenden, etwas brutalen Zügen und der befehlsgewaltigen Stimme beeindruckt, hatte sie scherzhaft erklärt, er werde es ganz bestimmt zum "Boss" bringen, drunten, "down under", das nach Überschreiten der Äquatorlinie bald nicht mehr so bezeichnet werden konnte. Unnachahmlich, wie er da die Nüstern gebläht hatte, bewundert von seiner kleinen Frau, die ihn von der Seite her verstohlen betrachtete. In der Heimat hatte er simplerweise schwere Lebensmittelpakete in Delikatessenläden abgeliefert, nun standen ihm in Australien große Aufgaben bevor, das war für ihn jedenfalls ausgemachte Sache...
Wir werden ja sehen, Kurti, was die Zukunft bringt... Ein ironisches Schmunzeln lag um Willis Mund, als Morpheus ihn in seine Arme nahm.

* * *


Die letzten Inselchen und Kap Quardafui lagen hinter ihnen, die endlose Wasserwüste des Indischen Ozeans nahm sie auf.
Nichts als Wasser, in der Farbe wechselnd von Tiefblau bis Algengrün, ließ den Menschen die ungeheuren Entfernungen zwischen den Kontinenten erahnen, lagen doch vierzehn Tage und Nächte vor ihnen, bevor sie Westaustralien erreichen würden.
Deutlich spürbar traten einige Faktoren im Bordleben immer stärker hervor: Langeweile machte sich breit, und eine gewisse Ungeduld, das gelobte Land endlich betreten zu können, sich an Ort und Stelle endlich selbst von dem Gehörten überzeugen zu können.
Wilde Gerüchte breiteten sich unter den Österreichern aus so sei die österreichische Regierung zurückgetreten. Monatelang später erfuhren sie, daß damals der amtierende Bundespräsident verschieden war. Andere Meldungen, die von Australien per Radio durchkamen, sprachen von einer Teuerungswelle dortselbst. Die Bierpreise seien gestiegen, das Brot teurer geworden. Als Student hatte sich Willi sehr selten den Luxus einer Flasche Bier geleistet, daher ließ ihn diese Meldung ziemlich kalt. Und das tägliche Brot? Kein Problem, soferne man Arbeit hatte. Und Arbeit gab es genug, Angebote lagen in Hülle und Fülle vor, wie er sich an Hand australischer Tageszeitungen, die Miss Green zur Verfügung gestellt, selbst überzeugen konnte. Rund 20 000 freie Arbeitsplätze warten auf die Neuankömmlinge, hatte man ihnen mitgeteilt, ein beruhigendes Gefühl.
Und dann robotet man in diesem Paradies nur mehr vierzig Stunden in der Woche. Höchstens! Diese Versicherung schien alle trotz der mittlerweile aufsteigenden Skepsis mit neuen Impulsen der Freude und Begeisterung zu erfüllen. Jeden Samstag frei zu haben, jedenfalls in den meisten Berufen, ergab zwei volle Tage Weekend in der Woche! Was konnte man da nicht alles anfangen!
Miss Green schilderte ihnen in mitreißenden Worten den tollen Einfall der Australier, einen Feiertag, so er auf einen Dienstag oder Donnerstag fiel, einfach zum Wochenende hin zu verschieben und damit in den Genuß von drei freien Tagen hintereinander zu gelangen. Es wurde den Auswanderern auch klar gemacht, daß der australische Durchschnittsbürger die Arbeit keineswegs so tierisch ernst nahm, wie gewisse andere Völker. "Wir erledigen das tägliche Quantum gewissermaßen so nebenbei, quasi im Spiel. Und Sie werden sich überzeugen können, daß wir trotzdem einen der höchsten Lebensstandards erreicht haben", hieß es.
All dies steigerte ihre Erwartungen ins Unermeßliche, zumal diese Schilderungen in krassem Gegensatz zu den bisher als unverrückbar angenommenen ethischen Grundsätzen eines Mitteleuropäers standen. Freudig ließen die zusammengepferchten Menschen ihrem Vorstellungsvermögen freien Lauf und malten sich die Tage, die zur Erholung von den Mühen des ohnehin leicht zu bewältigenden Arbeitspensums anfielen, in rosaroten Farben aus.
Geringere Begeisterungsausbrüche rief das englische Währungssystem mit seinen Pfunden, Shilling und Pennies hervor, aus war es mit dem leicht zu handhabenden Dezimalsystem der übrigen zivilisierten Staaten. Schwachköpfe erklärten nach dem ersten Schock, sie würden nie in der Lage sein, etwa drei Pfund fünf Shilling und neun Penny ohne Papier und Bleistift auch nur durch zwei dividieren zu können.
Aber schon wurde hier an Bord fleißig für den "Tag X" der Landung in Fremantle Geldzählen geübt. Die Erfolge nahmen sich jedoch vergleichsweise bescheiden aus, nicht zuletzt, weil jedermann mit einer Verkühlung herumlief, über rasende Kopfschmerzen oder einem Druck im Schädel klagte, der die Augenballen aus den Höhlen trieb.
Alle, einschließlich der australischen Lehrerin, hingen ermattet in den Stühlen und versuchten vergeblich sich zu konzentrieren. Die Schmutzwäsche blieb unberührt und die ungewaschenen Hemdenbündel wuchsen in den winzigen Abteilen der Stahlschränke rasch an.

Die einzige, die Willis Sorgen um dieses Problem gemildert hatte, lag mit einer Drüsenentzündung im Spital und mußte sich an einer heiklen Stelle zwischen den Oberschenkeln einer kleinen Operation unterziehen. Keine leichte Sache hier auf hoher See, wie der Arzt erwähnte, den er wegen Ohrenschmerzen konsultierte. Dazu tat ihm auch noch ein Backenzahn weh. Ob er ihn extrahieren könne, fragte er den Schiffsarzt, der jedoch entschieden abriet: Höger solle sich lieber gedulden, bis sie an Land gehen konnten. "Auf diesem verdammten Pott fehlen die wichtigsten ärztlichen Instrumente", erklärte er wütend. Er besaß keine geeignete Zange, eine Röntgenanlage sei natürlich nicht vorhanden und selbst Gummihandschuhe wären einfach nicht aufzutreiben. Nachdem er das taube Ohr untersucht hatte, spritzte er ein Antiseptikum in den Gehörgang. "Nein, ein zweites Mal mache ich eine solche Seereise nicht mehr mit, nicht ohne ausreichende Spitalseinrichtung. Der Kahn kann mir gestohlen werden!" meinte der Arzt abschließend, wobei er wahrscheinlich nicht ahnte, daß sich dieser Äußerung mindestens dreiviertel der Passagiere angeschlossen hätten.
Eine wachsende Unzufriedenheit breitete sich über den ganzen Seelentränker aus, die sich in markigen Sprüchen, begleitet von fürchterlichen Flüchen kundtat. Die Enge und Überfüllung des Schiffes, die lange Reisezeit, das miserable Essen, das faulig-brackige Trinkwasser, die ungewohnt hohen Temperaturen, der Frauenmangel und die vielen kleinen Reibereien, die sich aus dem Zusammenleben der verschiedenen Nationen auf engstem Raum ergaben die sich zudem bereits in diesem Stadium als Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt betrachteten, zerrten an den physischen und psychischen Kräften der Menschen auf diesem modernen Sklaventransporter.
Man lechzte nach Abwechslung und Zerstreuung, und für kurze Zeit fanden sich auch immer wieder kleine Möglichkeiten zur Ablenkung. So waren dem Promenadedeck entlang Trinkwasserfontänen installiert, deren Wasserzufuhr verschiedene Tanks speisten. Herauszufinden, wo wohl der Strahl am kühlsten hervorschoß, lag einer neuen Spielidee zugrunde, auf die regelrechte Wetten abgeschlossen wurden.
Scharen fliegender Fische, die mit grünlich schimmernden durchsichtigen Flügeln in sekundenlangen Schwirren über die Schaumkämme glitten und durch leichtes Schwänzeln neuen Antrieb erhielten, lockten immer wieder Neugierige an die Reling. Doch sobald die Sonne heiß vom Himmel strahlte, verkrochen sich die Menschen in den weiß gestrichenen strahlenreflektierenden Schiffskörper, dösten auf den Betten oder vertrieben sich die Zeit beim Kartenspiel oder mit Lesen, warteten buchstäblich von einer Mahlzeit auf die andere.
Des Nachts hatten es sich viele zur Gewohnheit gemacht, mit Decken und Polster auf den Planken oder auf Bänken liegend, im Freien zu übernachten. Obwohl dies streng verboten war, kümmerte sich kein Mensch darum, man wollte und konnte nicht in den dampfenden Kabinen schlafen. Vielleicht gab es auch einen anderen, noch zwingenderen Grund, die Nacht in den dunklen Ecken der Schiffsaufbauten zu verbringen. Rundgänge der Offiziere, ja Kontrollgänge durch den Kapitän persönlich, auch die barschen Aufforderungen an die in Tuchfühlung liegenden Männlein und Weiblein, ihre Eheringe vorzuzeigen, oder die urplötzlich aufleuchtenden Taschenlampen, in deren Schein zuckende Leiber und schlagende Schenkel auftauchten, vermochten es nicht, der Massenbefriedigung auf Deck Einhalt zu gebieten. Lachte man doch über die feingeschniegelten, goldbetressten italienischen Offiziere und ärgerte sich über die achtzehnjährigen Mädchen, die da im Schutze der Nacht mehr begierig als verstohlen der Offizierslogis hinter der Brücke zustrebten, stolz, von den höchsten Kommandostellen in die Arme genommen zu werden. Gleiches Recht für alle!
Einem Ereignis blickte man schon tagelang in freudiger Erwartung entgegen: Freitag punkt 12.00 Uhr würde die Flamingo die Äquatorlinie überschreiten. Ein festlicher Einzug seiner Majestät Neptun war im Programm vorgesehen, selbstverständlich befand sich Großmaul Meier unter seinem Gefolge und auch seine Frau bildete eine Figur im Kreise der Meerjungfrauen. Willi entdeckte seinen Freund Erwin, der frech an einem Fockmast hochgeklettert war, um aus der Vogelperspektive einige Schnappschüsse zu tätigen. Wie üblich trug Erwin selbstverfertigte Sandalen, deren rund zwei Zentimeter dicke Gummisohlen schon zu den Sehenswürdigkeiten auf diesem Schiff gehörten, genauso wie etwa Miss Flamingo oder die Kommandobrücke, die sie kürzlich inspizieren durften. Die Festlichkeiten gingen mit unverminderter Derbheit weiter, doch Willi spürte schon den ganzen Tag ein unangenehmes Drücken in der Magengegend, sodaß er beschloß sich ein wenig hinzulegen. Zufolge der Festlichkeit an Bord fand er die Kabine leer vor, nein, Käpten lag ruhig auf seinem Bett, mit offenen Augen an die Decke starrend. "Tag Käpten, wie geht's?" grüßte Willi den Ruhenden und haute sich lang hin.
Seit geraumer Zeit hegte er den Verdacht, die Schrulligkeit ihres Käpten müsse auf eine Schockwirkung zurückzuführen sein, kannte er diesen Sonderling doch als ansonsten vernünftigen Menschen. Da er nicht antwortete, Willi aber den geeigneten Augenblick gekommen sah, wo er endlich dessen Geheimnis lüften werde können, begann er unverfänglich, aber mit einer gewissen Eindringlichkeit bohrende Fragen zu stellen, denen sich der Mann kaum entziehen konnte.
"Interessiert dich das Theater an Deck garnicht?" erkundigte er sich leichthin.
"Nein, ich hab' das oft genug erlebt, du weißt ja, ich war bei der Marine."
"Bei der Kriegsmarine?" fragte Willi interessiert.
"Nein, ich diente im Krieg in der Handelsschiffahrt. Doch auch dabei bin ich ziemlich weit herumgekommen", gab der Fünfunddreißigjährige leicht mürrisch zur Antwort.
"Das muß ja sehr interessant gewesen sein! Hast du dem Verein sehr lange angehört?"
"Na, mir hat's jedenfalls gereicht. Es dauerte immerhin drei Jahre." Etwas lauernd entkam Willi die nächste Frage: "Hast du dabei eine Charge erreicht? Ich meine, bist du Offizier gewesen?" Der olle Käpten ließ ein kurzes, dröhnendes Lachen vom Stapel, dann brach er mit einem Male ernüchtert ab. "Warum fragst du?" kam es mißtrauisch von oben. "Ach, ich hab' nur so gedacht, nichts weiter", antwortete der junge Mann hastig und ein wenig ängstlich. "Ich hatte eine Charge, eine höhere" sagte der Ältere, und mit einem kurzen, ironischen Auflachen: "Aber ich merke, worauf du hinauswillst, mein Kleiner." Er machte eine kurze Pause.
"Du willst herausbekommen, warum ich in der Maskerade herumlaufe und mich 'Käpt'n' rufen lasse, nicht wahr?" Willi nickte schuldbewußt.
"Du bist ja ein intelligenter Mensch, dir kann ich das anvertrauen", begann er. "Ist doch ganz einfach: Allein kann ich nicht immer trinken, das bringt mich noch weiter herunter so versammle ich eben einige der größten Saufbrüder um mich, nenne sie meine 'Mannschaft', erhebe mich zum Spaß eben zu ihrem Kapitän angesichts der Tatsache, daß ich viele Jahre zur See verbrachte, während die Burschen noch grün hinter den Ohren sind.
Ganz einfach, nicht?" Der starke Schnurrbart des Liegenden verzog sich zu einem mißglücktem Grinsen. Willi war entschlossen, den ganzen tragischen Kern dieses Individuums aufzudecken, so impertinent dies immer schien: "Und aus welchem plausiblen Grund, entschuldige die indiskrete Frage, ertränkst du dich vierundzwanzig Stunden am Tag in Alkohol? Es muß dir doch klar sein, daß du dich damit an den Rand des Abgrunds bringst! Oder glaubst du, daß sich mit deinem Aufenthalt in Australien da etwas ändern wird?" Der andere schwieg peinlich betreten, stockend stieß er die ersten Sätze hervor. "Ich weiß, es wird sich an meiner Lebensführung grundsätzlich nichts ändern. Es sei denn, Alkohol wäre überhaupt unerreichbar, so wie jetzt, wo man uns einfach keinen Wein mehr auf den Tisch stellt und das Geld für die Bar nicht mehr reicht. Aber die Schwierigkeit liegt ganz woanders."
Seine Stimme war zu einem kaum noch vernehmbaren Flüstern abgesunken.
"Ich kann einfach nicht aufhören, weil ich nicht vergessen kann und die Erinnerung betäuben möchte. Ein Vorfall während meiner Tätigkeit bei der Marine sitzt mir noch in den Knochen, jede Nacht erlebe ich alles wieder mit einer Deutlichkeit, daß ich oft schreiend aus dem Schlaf hochschrecke... Deswegen lege ich mich nie vor Morgengrauen nieder, um euch, meine Kameraden, nicht zu stören." Auch jetzt packten ihn die Bilder der Erinnerung so stark, daß er nur keuchend vor Anstrengung die Erregung zu unterdrücken, zu erzählen begann:
"Ich saß damals in der Radiokabine, zusammen mit dem zweiten Funker einem alten Kumpel von mir. Wir waren gut bei Laune, er schwärmte mir gerade von seiner jungen Frau vor, zeigte mir stolz ein Foto von ihr und der kleinen Tochter, die er noch nie in den Armen gehalten hatte. Überglücklich las er mir einen Funkspruch vor, der ihm eine Woche Heimaturlaub in Kiel ermöglichte. Freudentränen kugelten über seine Wangen, ich fühlte mit ihm, gönnte es ihm von Herzen.
Und in der nächsten Sekunde brach urplötzlich ein Tieffliegerangriff über uns herein... Die Geschosse krachten durch die dünnen Wände, die Einschläge zogen eine rauchende Spur am Boden entlang, Glasscheiben zerbrachen klirrend. Wir hauten uns natürlich sofort in eine Ecke, wahnsinnig verkrampft unter der Schockeinwirkung. Beim nächsten Anflug mußte ich dann mitansehen, wie eine Garbe der Bordkanonen meinen Freund in Bruchteilen einer Sekunde in tausend Stücke dampfenden Fleisches zerhackte...
Immer wieder flogen sie an, rechts und links von mir schlugen die Geschosse ein, rissen handtellergroße Löcher in den Aufbau. Es waren entsetzliche Augenblicke.
Mir passierte körperlich nichts, psychisch habe ich mich bis heute nicht davon erholen können. Die Sinnlosigkeit, der Wahnsinn des Lebens im Krieg... du kannst mich einen Schwächling nennen, wenn du willst. Deshalb saufe ich eben weiter, ich will nicht mehr dar..."
Die Kabinentür flog auf, laut lachend ergossen sich Gruppen junger Männer in den Raum, begutachteten ihre Äquatortaufscheine, blödelten über die komischen lateinischen Fischnamen darauf. "Seht euch diese beiden Nummern hier an!", rief einer forsch aus, "das sind vielleicht zwei langweilige Brüder!
Wieso seid ihr nicht bei der Gaudi dabeigewesen? Gehst du dir nicht deinen Schein holen, Willi?"
"Ach, das hat noch Zeit", antwortete der zerstreut.

* * *


Noch einmal unterbrach ein Hungerstreik die Eintönigkeit des Tagesablaufes. Leider stellte sich heraus, daß ein äußerst ungünstiger Zeitpunkt gewählt worden war waren doch für den besagten Abend Brathühnchen angesagt. Der Chefkoch sei aus Gram über die Gummiadler, die er den Orkus hinunterschicken mußte, in Tränen ausgebrochen, hieß es. Recht geschieht ihm, dachte Willi, der noch bei jeder Abfütterung das Greinen der Kleinkinder mitanhören mußte: zur Abwechslung weint nun mal der Koch, nicht immer nur die Gäste!
Ihm persönlich tat es um das viele gute Fleisch leid, er hatte sich seinen guten Appetit wahren können unabhängig von Wind und Wetter schlang er in sich hinein, was er kriegen konnte. Von seinen Tischgenossen über seinen augenscheinlichen Fatalismus bewundert, klärte er sie über die näheren Hintergründe seiner Freßlust auf: "Erstens ruft die Seeluft bei mir einen anständigen Hunger hervor, zweitens: Wissen wir, was die uns drüben alles vorsetzen werden? Euch schlottern doch auch bereits die Knie vor Schwäche? Ich will ja nicht behaupten, daß das einzig und allein auf die Ernährung zurückzuführen ist, aber es spielt sicherlich eine große Rolle, stimmt's oder habe ich recht?"
In der Tat zeigten sich bei den Auswanderern zum Teil erschreckende Mangelerscheinungen, die als Erschöpfung, Apathie und Abmagerung zu Tage traten. Besonders Achmed schrumpfte fürchterlich ein, ähnelte mehr denn je einem Skelett. Man konnte sich ausmalen, daß er die Strapazen, die in den nächsten Monaten zweifellos vor ihnen allen lagen, kaum überstehen würde. Aber auch kräftiger Gebaute meinten resigniert, falls der Kahn nun absaufen würde, wäre es ihnen egal, sie seien zu müde um auch nur einen Finger zur Rettung zu rühren. Erst unmittelbar vor der Landung in Fremantle sollten sich die Lebensgeister wieder erholen.

Die halben Nächte hockten Männerrunden beisammen und pokerten, daß es nur so rauchte, obwohl das Spiel auf der Verbotsliste stand. Der berühmte Nasenferdl kassierte Nacht für Nacht hohe Strafgelder, man schlug ihm daraufhin freundlich aber bestimmt vor, er möge sein besonderes Augenmerk auf die Besatzung dieses Luxushotels werfen: Hie und da verschwänden Kleidungsstücke aus ihren Schlafräumen! Einem Österreicher fehlten auf einmal drei Hemden, und, hol's der Teufel, fand er dieselben nicht am Leib eines Stewards wieder? Der Landsmann konnte seinen Eigentumsanspruch leicht nachweisen, der Steward wurde des Dienstes enthoben und wanderte für drei Tage ins Kittchen. Als nächstes ertappte man einen Sizilianer in flagranti beim Stehlen, und die Erbitterung der Österreicher über die Zustände an Bord wuchs erheblich, säugten doch die Mamas der Nation ihre Bambinos gänzlich ungeniert und vor aller Augen an Deck.
Kurz darauf verstummten die teilweise berechtigten Klagen der Alpenrepublikaner, als nämlich zwei Tage vor Fremantle eine junge "Dame" aus ihrer Mitte schamlos Landsleute bestahl und dabei erwischt wurde. Zufällig überraschte Rosa Egger das Fräulein, als sie fünf Paar Schuhe, darunter Pantoffel, die sie in Port Said erstanden, in einen Karton verpacken wollte.
Aber damit nicht genug!
Ein blutjunges Früchtchen gab sich in einer Kabine gleich 15 italienischen Männern hin und kassierte geschäftstüchtig 1000 Lire pro Mann und Nase. Die Schweinerei wurde aufgedeckt.

Nun hockten die zwei ehrbaren Damen in einem finsteren Loch des Deckhauses am Hinterschiff und hatten genügend Muße darüber nachzudenken, was sie den Angehörigen in der Heimat über ihren kurzen Australienaufenthalt Wissenswertes berichten konnten.
Ihre sofortige Rückführung war beschlossene Sache.
Diese Fälle mußten als Einzelfälle bewertet werden, das war allen klar, aber eine leichte Niedergeschlagenheit ließ sich bei allen Landsleuten Willis nach diesen Vorfällen feststellen. Der hätte für seine näheren Bekannten und Freunde die Hand ins Feuer gelegt.
Etwa für Fritz, dem Schlosser aus Kärnten, einem kernigen Burschen durch und durch, ein Spaßvogel wie er im Buche stand.
Die scharf auf Moral ausgerichtete Ordnung an Bord reizte ihn zu einem tollen Einfall, der tagelang später noch für Gelächter sorgte:
Eines nachts besorgte er sich Damenstrümpfe, stopfte die Fersen vorsichtig mit Klopapier aus, knüllte dann einige weiblichen Bekleidungsstücke so zu einem Dummy zusammen, daß man leicht der Täuschung unterliegen konnte, eine Frau läge unter der Decke. In gebrochenem Italienisch rüpelte ein Mitspieler Nasenferdl an und teilte ihm aufstoßend mit: "Heh! Signore! Huup... Wenn es dich interessiert in der Kabine XII liegen eine Signora...viele Signoras drinnen...!" Ohne weitere Erklärungen abzuwarten lief Nasenferdl zum Reiseleiter, und gemeinsam stürmten die beiden Kabine XII, rissen mit wütendem Griff vor versammelter Mannschaft die Decke herunter und verzogen sich beschämt in dem orkanartig ausbrechendem Gelächter. Ja, so war'ns, die Österreicher.

* * *


Die jungen Europäer, deren Zusammenleben hier episodenartig seinen Niederschlag findet, standen nun häufiger denn je beisammen, um vergangene oder zu erwartende Ereignisse ausführlich zu debattieren. Momentan ereiferten sie sich wiederum über die ungeschliffenen Manieren der Sizilianer, ein scheinbar unerschöpfliches Gesprächsthema.
"Ich bin nur gespannt, was uns in Australien erwartet. Hier sind wir nur gezwungen mit Italienern und Sizilianern zusammenzuleben. Und das fällt schon allen Parteien schwer genug!" meinte Karl, wobei er wieder sein keifendes Organ hören ließ. "Na, ist das vielleicht zum verwundern", warf Fritz in die Debatte, "das ist doch zum am Radarmast Hochklettern: Jetzt kann ich mir erst vorstellen, wie wir Europäer mit unseren Kulturdünkel, dem die spezifisch materiellen Grundlagen fehlen, in den Augen der Amis dastehen lächerlich und komisch kauzig nämlich!
Die Schweine, ihr entschuldigt schon den harten Ausdruck, aber das ist zweifellos das richtige Wort dafür, haben keine Ahnung von ein bißchen Zivilisation.
Ständig lassen sie die Klosettüren offen, ihr wißt ja wie das Schiff bei den leeren Wassertanks schlingert, und die Türen rattern so, daß ich die ganze Nacht kein Auge zubringe. Und muß mal einer von den Kerlen in das ominöse Kabinett rein alles vollgeschissen! Glaubst du, einer von diesen Primitivlingen würde die Wasserspülung wenigstens von einer Beschreibung her kennen? Da hat man bei uns nach der Befreiung über die Mongolen gezetert, die da aus tausenden Kilometer entfernten Steppengebieten hervorbrachen: Nix Kultura!
Ja Dreck! In Europa, das sich rühmt, kulturell auf der höchsten Stufe der Entwicklung zu stehen, da existieren Leute, die nicht einmal die einfachsten Errungenschaften der Zivilisation benutzen können!
Da pfeif ich auf die Kultur! Hoffentlich finden wir das in Australien anders vor."
Noch oft sollten die Einwanderer auf die Unterschiede zwischen den beiden Kontinenten Europa und Australien zu sprechen kommen, das Für und Wider in endlosen Gesprächen abwägen, bis ihnen endlich aufdämmerte, daß sich hier zwei Welten gegenüberstehen, wohingegen die Unterschiede zwischen den einzelnen europäischen Staaten nur Variationen einer großen, gemeinsamen Lebensform darstellen. Daß trotz der Verschiedenartigkeit von Sprache, Kultur und Zivilisationsstufe allen Völkern des Alten Erdteils etwas Gemeinsames zugrundeliegt, etwas, das zu entdecken jeder einzelne von ihnen gezwungen sein würde...