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7. Kapitel: Sydney


Zwei Tage später entschied sich Willis Schicksal in Australien, ohne daß er davon die blasseste Ahnung haben konnte.
Es geschah an einem Freitag, eine Woche vor dem Heiligen Abend. Für den Abend vereinbarten Danica und Willi ihr erstes Rendezvous. Danica hatte angekündigt, daß sie zusammen mit ihrer Freundin auftauchen würde. Nun gut, soll sie ihre Vertraute mitbringen, wahrscheinlich wollten die beiden Frauen ihre Meinung über ihn austauschen. Warum ihnen den Spaß verderben? Schließlich kannte er ihre Freundin nur vom Hörensagen. Die Karten für den Kinobesuch bestellte er telefonisch.
Dank Mrs. Egers Kochkünsten hatte er beträchtlichen Leibesspeck angesetzt und wegen der relativen Bewegungslosigkeit am Reißbrett schlug ihm die Kost gut an. Er sah wohlgenährt aus – war beinahe stark zu nennen. Eine Eigenschaft, die den ausgemergelten Australiern anscheinend ins Auge stach. Flugs versuchte man eine allen einleuchtende Erklärung zu finden, und es gelang ihnen auch tatsächlich.
Am Nachmittag stand ein wichtiger Abguß bevor. Der junge Techniker begab sich in die Gießerei hinaus, um sich vom Gelingen persönlich zu überzeugen und neue Erfahrungen zu sammeln. In Gedanken über das eben Gesehene versunken, lenkte er seine Schritte wieder in Richtung Büro und kam an einer Ecke vorbei, wo einige Arbeiter mit dem Sandstrahlen beschäftigt waren. Eine der grauverstaubten Gestalten rief ihm etwas zu, das er wegen des Lärms in der Halle nicht verstand. Man bedeutete ihm, er möge doch nähertreten. Willi grinste freundschaftlich fragend hinüber. Vielleicht gelang es ihm unter der Arbeiterschaft einige Freunde zu machen, wenn ihm dies unter den Büroangestellten schon nicht gelingen wollte.
"Ja, was ist los?"
"Heh!" rief der dreckverschmierte Kumpel aus und verzog dabei seine ganze Visage vor Vergnügen über den kommenden Gag: "Heh! Geh' mal raus auf die Toilette und mach' deinen Arsch frei! Komme dann nach. Habe in der Firma hier gehört, es kostet bei dir nur zwei Bob!" Die Mob heulte teuflisch auf.
Der junge Österreicher hatte nicht alles mitbekommen, drückte sich der Mann doch im ärgsten Slang aus. Nur soviel war ihm klar: Man hatte sich irgendeinen Ulk erlaubt.
Mit einigen wenigen raschen Schritten gelangte er bis zum Tor, erst dort ging ihm der Sinn des Gesagten voll auf. Urplötzlich hätte er toben und schreien mögen vor Wut und Scham.
"Nein, nein! Das sollen sie nicht erleben, darauf warten sie ja, die gottverdammten Hunde, die Säue, die verfluchten!
Den Gefallen tue ich euch nicht und verliere meine Beherrschung, i c h lasse mich nicht auf dieses primitive Niveau hinunterzerren! Wenn ihr den 'Germanischen Herrenmenschen' eurer Einbildung in den Kot ziehen wollt, dann werde ich euch diesen Menschen erst einmal zeigen!!! Es ist aus mit dem geduldigen Ertragen, dem Darüberhinwegsehen. Aus mit dem Einfach-nicht-Hinhören! Ein schiefes Wort noch und ich hole die Polizei her!"
Voll wahnsinniger Empörung kehrte er wie im Trance ins Büro zurück und setzte sich mit hochrotem Gesicht an seinen Arbeitsplatz. Er benötigte eine Stunde, um seine wildwuchernde Erregung niederzukämpfen. Natürlich, es war ihm alles sonnenklar. Die ehemaligen Ostarbeiter im Nazi-Deutschland, die Polen, Tschechen und so weiter ließen ihr haßverzerrtes Deutschlandbild einfach an ihm aus. Sie waren gezwungen bei 45 Grad im Schatten im Dreck und Staub der Gießerei zu schuften, und der "Herr Deutsche", der bloody fucken German, spazierte im weißen Hemdkragen stolz wie ein Spanier an ihnen vorbei! Letztendlich würde er es noch zu einer leitenden Position bringen, dann hätten sie wieder einen verfluchten German auf dem Hals... Um diese tristen Zukunftsaussichten zu verhindern, war jedes Mittel recht und billig...
Als Willi an diesem Abend vor dem Century-Theater ruhelos auf und niederging, merkte er erst, wie überreizt seine Nerven reagierten. Keine Minute vermochte er stille zu stehen. Nur in Bewegung halten, laufen, laufen!
Knapp vor Vorstellungsbeginn stoppte er ein Taxi auf der Fahrbahn und Danica samt Freundin eilten auf ihn zu. Sie sah terrific aus, just terrific! In ihrer weißen langen Hose mit dem blauen Pulli und den um das bleiche Gesicht flatternden Haaren wirkte sie wie eine stolze Amazone. Die flanierenden Männer um sie herum ließen unmißverständliche "Ah's" und "Oh's" fallen, einige anerkennende Pfiffe gellten durch die Nacht. Ihre Begleiterin fiel im Vergleich dazu völlig ab, war klein und stark gebaut und nicht der Rede wert.
"Entschuldige bitte unsere Verspätung, aber wir besuchten Nachmittags eine Christmas Party und konnten kein Taxi bekommen."
Im Halbdunkel des Kinosaales ergriff Danica seine Hand und drückte sie lange unter ihr Kinn. Ihr lädiertes Bein streckte sie ungeniert über den Schoß ihrer Freundin, ebenso ungeniert fielen ihre Kommentare zum laufenden Film. Etwas verwundert hörte Willi zu, war ihm doch so gut wie nichts über die Mentalität slawischer Menschen bekannt. Die zwanglose Natürlichkeit und Triebhaftigkeit seiner Danica erfüllte ihn immer wieder aufs Neue mit Erstaunen.
Nach der Vorstellung bemühte er sich lange um ein Taxi, eines nach dem anderen rollte vollbesetzt an ihm vorbei. Endlich gelang es ihm, einem Matrosen mit Girlfriend einen Wagen knapp vor der Nase wegzufischen. Seine Niedergeschlagenheit fiel den beiden Frauen auf. "Du fährst doch mit uns mit?" fragte Danica erstaunt. Er versuchte ihr zu erklären, daß er so abgespannt sei, daß er am liebsten gleich ins Bett fallen würde – an diesem Tag hatte er bereits sein Soll hinter sich gebracht.
Sie kommentierte nur kurz: "Aber schlechter wie ich wirst du wohl nicht beisammen sein, oder?" Er verzichtete auf jede Erwiderung.
Sie schmiegte sich an ihn, lehnte sich nach hinten und sah ihn mit erwartungsvollen Augen an. Er küsste sie etwas widerwillig, sofort erkannte sie, daß er nicht ganz bei der Sache war und gab auf. Dann eröffnete sie ihm, daß sie nicht mehr bei ihrer Freundin wohne, sondern ein eigenes Zimmer gemietet habe. Ihr Wohnraum sei in der Zwischenzeit, während ihres langen Krankenhausaufenthaltes, an Fremde weitergegeben worden. Willis Mißtrauen gegen die ganze Menschheit, verursacht durch die infame Diskriminierung seiner Person, machte auch vor Danica nicht mehr Halt. Die Sache kam ihm abgekartet und ordinär vor. Vielleicht hatte er sich doch nur eine von den vielen Schlampen, den massenweise herumstreunenden Nutten, die sich in dem frauenarmen Land herumtrieben, angelacht?
Es hieß auf der Hut sein! Absichern nach allen Seiten, das war die Devise!
Ein polnisches Künstlerehepaar, eine Zufallsbekanntschaft, hatte vor einiger Zeit den ersten Keim eines Verdachtes in sein Gehirn gepflanzt, indem sie ausführten: "Die jugoslawischen Mädchen, die ins Land strömen, sind alle nichts wert. Gleich nach der Landung machen sie sich meistens auf den Weg nach Newcastle, dem Industrieort im Norden, um dort auf zweifelhafte Weise schnell zu Geld zu gelangen. Wir kennen einen Geistlichen, der die Mädchen zu betreuen versucht...er erzählt fürchterliche Geschichten..."
War Danica eine von diesen Dingern?
Vielleicht in abgeschwächter, verfeinerter Form?
Die Mißachtung seiner eigenen Menschenwürde ließ ihn langsam aber sicher an jedem menschlichen Wert zweifeln.
Sie fuhren nun durch den Vorort Sydneys, wo die beiden wohnten. "Gestern, als ich vom Spital nach Hause kam, war ich im Kino", flüsterte sie ihm zu. "Ich wollte dich in der Pause anrufen."
"Und warum hast du es unterlassen?" Kalt und unpersönlich stieß er die Frage hervor. Sie schwieg, begriff er denn nicht, was sie damit sagen wollte? Weil ich mir nicht sicher bin, ob du mich wirklich liebst, und ich mir nicht zuviel vergeben möchte, dachte sie, aber es bleib unausgesprochen, wie so vieles.
Ihre Busenfreundin stieg aus dem Wagen: "Kommt uns morgen in der Früh besuchen. Gute Nacht." Die Türe knallte zu, sie waren allein, zumindest im Fond des Wagens. "Wie weit ist es noch bis zu dir?" tönte es in die Stille hinein. "Gleich sind wir da."
In dem niedrigen Hause brannte noch Licht, da zögerte sie kurz und schlug dann vor, in den nahegelegenen Park zu gehen. Erwartungsvoll hielt sie inne, erwartete eine Liebkosung von ihm. Er blieb bei seiner abweisenden Haltung. "Warum bist du überhaupt mitgekommen?" entfuhr es ihr heftig. Willi gab keine Antwort. Bei einer Bank angelangt, entledigte sie sich gewandt ihrer Jacke und küsste ihn mit ungestümer Heftigkeit. Seine Reaktion blieb träge und ohne Leidenschaft. Sanft strichen ihre Finger seinen Hinterkopf entlang, bis sie sich mit einem Male seiner Zurückhaltung bewußt wurde und verlegen trällernd innehielt.
Von der nahen Küste trug der Wind das Rauschen des Meeres herüber. "Wieviele Männer hast du schon gehabt, Danica?"
Dieses schreckliche Mißtrauen erwachte wieder, die fürchterlichsten Vermutungen wurden in ihm wach. Er mußte die Wahrheit aus ihr herausquetschen.
"Spielt es eine Rolle, ob es einer gewesen ist oder zehn?"
Seine Gedanken arbeiteten fieberhaft: Wenn das eine Antwort sein soll, dann weiß ich genug, mehr als genug. Liebte er sie wirklich so innig, um dies schlucken zu können? Andererseits, wenn sie ihn wollte, ihn wirklich, ehrlich zu lieben bereit war? War es dann nicht gleichgültig, wie ihr Vorleben aussah? Spielte es eine Rolle, wenn sie nur ihm allein auf der ganzen Welt ihr Herz schenkte? Er mußte, er wollte es mit Danica versuchen. Aus dem Blitzblauen heraus stellte er die folgenschwere, ungenau formulierte Frage: "Würdest du mich heiraten?"
Ihre Antwort darauf kam rasch und sicher: "Nein."
Seine Gedanken wirbelten um und um, vergeblich schnaufte er nach Luft. Tonlos stieß er dann hervor: "Und warum nicht?"
Lange zögerte sie die Beantwortung hinaus. Er sah, wie sie sich abquälte, um eine passende Formulierung mit sich kämpfte.
"Du Willi, ich muß dir etwas sagen..." "Ja, bitte?" Er schreckte aus dem Dahinbrüten hoch.
"Ich möchte dir keine Schwierigkeiten verursachen – verstehst du? Ich...Kein Bursch ist mit mir öfter als einmal ausgegangen. Alle haben mich dann stehen gelassen, niemand hat es lange bei mir ausgehalten. Bin jedem auf die Nerven gegangen. Meine Mama wäre so froh gewesen, wenn ich einmal längere Zeit mit einem Mann gegangen wäre. Aber ich habe bereits mit Vierzehn gewußt, daß ich anders bin als die anderen Frauen. Ein Arzt hat es einmal so ausgedrückt: ich habe das Brain eines Mannes im Körper einer Frau...
Deshalb finden mich alle komisch. Meine Freundin lacht nur immer wenn ich ihr erzähle, daß ich wieder einen jungen Mann kennengelernt habe... Sie weiß genau, daß auch diese Bekanntschaft nicht von langer Dauer sein wird.
Jetzt wirst du vielleicht auch begreifen, was ich dir in meinem Brief mitteilen wollte.
Aber das kann ja kein Mensch verstehen...
Niemand, kein Mensch versteht mich darin..." Traurig senkte sie ihr Haupt, ihre Augen brachen trübe. Sie erweckte den Eindruck eines angeschossenen Rehes, das der Willkür seiner Verfolger ausgeliefert ist.
Zärtlich fasste sie der junge Mann um die Schulter, ganz leise raunte er ihr zu: " Danica, ich glaube ich kann dich verstehen. Auch ich fand selten eine Frau – eigentlich nie – der ich mich vorbehaltlos hingeben konnte. Ich bin irgendwie..., ich glaube...zu stolz dazu, verstehst du? Bei dir ist es vermutlich ähnlich wie bei mir: entweder Alles oder Nichts. Eigentlich typisch deutsch, so komisch das klingt...Und wenn du das Gefühl hast, der Partner ist nicht bereit für dich alles zu tun, alles hinzugeben, dann reichst du ihm nichteinmal den kleinen Finger. Ist es nicht so?"
Verzweifelt brach es aus ihr hervor: "Bitte laß mich gehen - genauso wie die anderen. Ich möchte dir keine Schwierigkeiten bereiten. Du wirst mich bald vergessen haben..."
"Aber ich möchte dir doch helfen! Bitte glaub mir!" Im tiefsten Grunde seines Herzens beherrschte ihn der Drang, hier nicht aufgeben zu dürfen. Zögernd machte er sich auf die Heimreise, die ja noch mindestens eine Stunde beanspruchen würde.
Verlassen und hilflos blieb sie allein auf der Straße zurück, blickte ihm nach, bis er um den nächsten Straßenzug verschwunden war.
Traurig klagte er dem Taxifahrer sein Leid mit dem Mädchen, er mußte sich einfach die Last von der Seele reden. "Oh, die Girls wollen oder trauen sich manchmal nicht recht...", meinte der Mann am Steuer und spähte scharf auf die regennasse Fahrbahn. "Aber da hilft nur eins – ein wenig Gewalt anwenden!"
Und dann ist womöglich alles und für ewig verpatzt. Nein, bei Danica durfte er das nicht wagen! Er beneidete den Regen, der unbehindert herabfließen durfte. Der junge Mann dagegen konnte dem überwältigenden Eindruck von Einsamkeit und Verlassenheit in seinem Leben keinen freien Lauf gewähren lassen.

* * *


In einem tranceähnlichen Zustand der Beglückung, der Euphorie, selig auf Wolken schwebend, verlebte Willi Höger die folgenden Tage. Seine Bürokollegen nahmen mit Erstaunen die Gelassenheit, ja beinahe Entrücktheit wahr, mit der er ihnen locker entgegentrat.
Pünktlich um zehn Uhr hob Warran tagtäglich den Hörer ab und rief: "Willy, a call for you!" Danica hing dann an der Strippe.
Selbstverständlich unterhielten sich die beiden in deutscher Sprache. "Bist aber happy, nicht englisch parlieren zu müssen, was?" höhnte Ted. "Ihr könnt ganz beruhigt sein, M a t e s, über's Büro erzähle ich garnichts. Rein private Dinge."
Es war ihm natürlich bekannt, wie argwöhnisch man die Einwanderer betrachtete, die sich zeitweilig ihrer Muttersprache bedienten. "Warum redet ihr denn nicht Englisch untereinander?" war er einmal gefragt worden. Man starrte ihn ungläubig an, als er wahrheitsgemäß mitteilte, daß er sich in einer Fremdsprache niemals so vielfältig und einwandfrei ausdrücken könne. "Jetzt behaupte bloß noch, Englisch ist eine schlechtere Sprache wie das fucken German!" bekam er darauf zu hören. Es war zwecklos, ihnen das klarmachen zu wollen.
Samstag in aller Frühe besuchte er ein Kaufhaus und wählte für seine Danica ein Kleid als Geschenk aus. Silbergrau, mit eleganten Taschen an den Seiten. In seinem gegenwärtigen Optimismus hoffte er, es würde schon passen. Oh, es wird ihr sicherlich herrlich stehen. Auf dem Packpapier prangten Rentierschlitten und Gesichter von Santa Claus – und auf der Straße wischte er den Schweiß von der Stirn. Ungeduldig auf seinem Sitz im Zug hin und herrutschend, flog Station um Station vorbei. Die Lokomotivschuppen vor der Central Station tauchten auf, durch den Rauch und Staub der Luft leuchteten Parolen herüber, mit Kalk an die grauen Mauern gepinselt: "EINWANDERER! Bewirbt Euch um die Australische Staatsbürgerschaft!"
Zeit lassen und Billy-Tea trinken, dachte er ironisch. Auf den Terrassen vor Mark Foy's Großkaufhaus rannte er unruhig die Schaufenster entlang. Da, punkt zehn Uhr tauchte sie auf.
Sie durchwanderten den Park und nahmen schließlich auf einer Bank Platz. Ihre Begeisterung über das unverhoffte Geschenk fiel eher mäßig aus. Es fehlte nicht viel und sie hätten zu streiten angefangen. Um die Gemüter zu beruhigen, führte er sie in ein Restaurant zum Imbiß, dann ging es wieder in den Hyde Park hinaus. Endlich fanden sie ein ruhiges Plätzchen für sich allein.
Unendlich lange küssten und kosten sie dort in relativer Ungestörtheit. Es bedurfte seiner ganzen Selbstbeherrschung, um sie nicht in aller Öffentlichkeit wild zu umschlingen. Ihr Sex-Appeal wirkte unheimlich stark auf ihn, und auch Danica stöhnte leise. "Weißt du, was ich mir so vorgestellt habe, Willilein?" gestand sie: "Ich habe mir gedacht, wie ich nicht schlafen konnte, wir sind zusammen in einer Kabine auf See und fahren nach Europa zurück." Er strich den Linien ihres langen weißen Nackens entlang, als er flüsterte: "Dasselbe habe auch ich geträumt, liebe Danica. Wir haben anscheinend eine Form der Telepathie entwickelt, die uns die Wünsche des anderen überträgt..." Glücklich lachte er auf: Ganz unabhängig von einander, durch Meilen körperlichen Raumes getrennt, hatten ihre Seelen widerstrebend zueinander gefunden.
Es gab immer Kampf zwischen ihnen, wo sie gingen und standen. Jeder Augenaufschlag von ihr und jede Handbewegung von ihm drückte dies deutlich aus. Einer von ihnen, den beiden stolzen Menschenkindern, würde schließlich nachgeben oder...aufgeben?
Noch nie vorher war den beiden dieses zitternde Glück, dieses geheime Wissen um das endgültige Zueinanderfinden zweier sehr unterschiedlicher Menschen, so bewußt geworden. Noch nie hatten sie ähnliches mit einer solchen Intensität erlebt.
Stockend wagte er eine Frage, die ihm seit langem auf der Zunge lag. "Danica, ich habe mir überlegt – ich weiß nicht, wie du das auffassen wirst – ich möchte mit dir zusammen eine Wohnung nehmen!" Ihre Reaktion drauf war nicht negativer Natur, sie stellte nur eine praktische Gegenfrage: "Wirst du nicht sehr weit zur Arbeit fahren müssen?"
Ihn ärgerte jetzt schon, daß er heute Abend wiederum ihr ständiges Anhängsel am Hals haben würde.
"Nichts gegen deine Freundin", hatte er ihr nach der Eröffnung, daß diese mit ins Kino gehen würde, ruhig mitgeteilt, "aber wenn ich mit dir ausgehe, möchte ich mit dir allein ausgehen und mit sonst niemandem. Ist das klar?" Sie hatte darauf nur geheimnisvoll gelächelt.
In der Dämmerung kauerten sie knapp nebeneinander und betrachteten wortlos den vorbeiflutenden Verkehr. Neonzeichen flammten irrlichternd auf, Autoscheinwerfer huschten die Straßen entlang, Tramways klingelten nervös durch die Gegend. Ihr Haupt ruhte an seiner Schulter. "Willst du nicht zur Bushaltestelle rüberschauen?" erinnerte er sie an ihre Pflicht. "Deine Freundin muß doch jede Minute eintreffen!"
"Bitte nicht sprechen, nicht jetzt!" Sanft verschloß sie mit ihren Fingerspitzen seinen Mund und schmiegte sich noch enger an ihn. Ihre Vertraute tauchte nicht auf, scheinbar hatte sie ihn nur auf die Probe stellen wollen, ob er diese Zumutung aus Liebe tolerieren oder ob er einen Wutanfall bekommen würde... Oder vermeinte sie am Ende gar, es würde ihm ums Geld leid tun?
Der Film lief an: An Affair to Remember.
"Die große Liebe meines Lebens" oder wie immer man den Titel übersetzen mochte, flimmerte über die Leinwand: Playboy Nickie lernt die attraktive Nachtklubsängerin Terry kennen. Bevor er seine neue Liebe heiratet, will er aber erst beweisen, daß er auch Geld verdienen kann. Doch seine Zukünftige verunglückt inzwischen schwer, und das Happy-End läßt auf sich warten...
Knapp vor dem Ende dieses Streifens mit gut dosierter Komik, ein bißchen Sentiment und viel Schicksal, ergriff Danica seine Hand und flüsterte ihm mit gebrochener Stimme zu:" Bist du dir bewußt, daß das u n s e r e Geschichte ist - nahezu bis ins letzte Detail?"
Er konnte nur stumm nicken. Ihre Lebenssituation, in eine andere sozialen Schicht verlegt – aber ansonsten I h r gemeinsames Erlebnis. Inmitten der Masse der Kinogänger wanderten die beiden Verliebten stumm auf die lärmenden Straßen hinaus, Hand in Hand.
Danica, die Wilde, die Unbeherrschte, hielt ihr Antlitz von ihm abgewandt, rückte von ihm ab, so weit dies möglich war.
Es würgte sie zum Weinen, und sie versuchte ihm diesen Anblick zu ersparen. Spät in der Nacht langte er in Banston an. All alone and blue.
Und seine letzten Gedankengänge vor dem Einschlafen kreisten um das ewige Problem: "Weiß nicht, was los ist. Jedesmal, wenn ich mit ihr beisammen bin, bereitet sie mir Kummer und Leid...
Aber ich liebe sie, ich l i e b e sie... Ich sollte es ihr mal gestehen, laut und deutlich. Vielleicht merkt sie es von selber garnicht..."

* * *


Die Weihnachtsfeier fand bei Mrs. Eger statt. Das Imitat eines heimatlichen Tannenbaumes stand spärlich aufgeputzt im Wohnzimmer, das Radio spielte englische Christmas Songs und anschließend die schönsten Weihnachtslieder aller europäischen Nationen. Ihre Wirtin ließ den Tränen freien Lauf, und alle schluchzten rührselig mit.
Am Boxing Day besuchten sie eine befreundete ungarische Familie, die guterhaltene, rüstige und temperamentvolle Magyarin tischte auf, daß sich die Balken bogen. Unweigerlich kam man auf die Schwierigkeiten der Assimilierung in die australische Lebensweise zu sprechen. Alles sei so fremd, so anders als in Europa, meinte die fesche Frau: "Wir schimpfen gelegentlich daheim über diese Aussies. Und dann kommt mein zehnjähriger Junge daher und sagt ruhig: 'Mama, wenn du über die Australier herziehst, beleidigst du auch meine Freunde!' Und er hat ja recht, er wächst in der Schule ja mitten unter ihnen auf. Er will mit uns auch nicht mehr ungarisch sprechen. 'Ich bin Australier', sagt er. 'Und die sprechen Englisch!'
Ja, das Leben wirft für uns Erwachsene Probleme auf, das kann man wohl sagen."

Die folgende Nacht schien kein Ende nehmen zu wollen. Schlaflos wälzten sich die Bewohner dieser Millionenstadt von einer Seite auf die andere. Ein entsetzlich heißer Gluthauch, aus der Wüste blasend, schwebte über dem Land. The Voice of Australia – Die Stimme Australiens – der Todeshauch, wehte aus dem Westen über sie hinweg...
Mehrmals erhob sich Willi vom Nachtlager und öffnete den Kühlschrank, wo er eine Flasche Whisky aufbewahrte. Mit einem Schuß Sodawasser und Eiswürfeln darin verschaffte ihm der Drink eine kurze Erleichterung, brachte ihm wieder eine Stunde Schlaf. Man lebte um diese Jahreszeit wie in einem Backofen.
Schweißnaß griff er in der Frühe zum Hörer, als ihn Danica anrief. Sie sei erst um fünf Uhr morgens nach Hause gekommen, sei von einer Party zur anderen gewandert. Was sie getrunken habe? Sie wisse es nicht. "Ich liebe die Männer nicht, nur weil ich muß...", eröffnete sie ihm auf nüchternem Magen. "Nur meine Mama liebe ich." Er griff sich an den Kopf, versuchte den Ausspruch zu enträtseln. Doch wie er es auch drehte und wendete – er verstand überhaupt nichts mehr. Die verfluchte Hitze beraubte ihn so und so allmählich seines Denkvermögens.
Er kündigte ihr seinen Besuch für zwei Uhr an. Natürlich fuhr er, nach dieser eigentümlichen Eröffnung am frühen Morgen, mit recht gemischten Gefühlen in Richtung des kleinen Vorortes an der Küste ab. Vergeblich suchte er nach der angegebenen Hausnummer, strich forschend zwischen den Häuserzeilen herum, als sie ihm aus einem der niedrigen Wohnblocks entgegenkam. Ihr ganzes Gehabe konnte nur abweisend genannt werden. Noch immer trug sie lange Hosen, diesmal aus einem graugrünen Stoff, der an der Seite Schmutzflecken aufwies, dazu eine weiße Nylonbluse und an den Füßen Slacks. Sie führte ihn an der Hand wortlos zur Beach hinunter, an eine Stelle, die von allen Seiten Einblick gewährte.
Wortkarg taxierte er ihre niederschmetternde Aufmachung.
"Wenn du nicht reden willst, drehe ich mich um und laß dich stehen!" rief sie in drohender Verzweiflung aus. Ohne mit der Wimper zu zucken packte er seinen Fotoapparat aus und ersuchte sie, sich auf einen der wildromantischen Felsen zu postieren.
"Ich will nicht, daß du Bilder von mir hast. Ich sehe so schlecht aus!" Ohne auf ihre Proteste weiter einzugehen, knipste er eine Serie von Aufnahmen. Schließlich bequemte sie sich zu kooperieren, nahm eine lockere Pose an und warf ihm sogar eine Kußhand zu.
"Komm, laß uns dorthin aufsteigen, unter die überhängenden Felsen", lockte der junge Mann beharrlich. Mit ihrem lädierten Bein turnte sie auf den Steinbrocken herum, sodaß er sie einmal nur knapp vor einem Sturz bewahren konnte.
"Ich muß nachsichtig mit ihr sein, reiß dich zusammen, Willi", sagte er sich. "Sei betont lustig, auch wenn dir nicht danach zumute ist. Denk doch daran, wie dreckig es dir zeitweilig ergangen ist. Warum hast du dir die kotigen Schuhe damals nicht gereinigt, bist mit zerknitterter Wäsche herumgelaufen? Denk doch zurück, wie du dich damals in deiner Haut gefühlt hast!"
"Du siehst aus wie ein richtiges Partisanenmädchen", versuchte er zu scherzen. Sie grollte nur: "Meine Mama hat zu mir gesagt, ich werde einmal mit den Schuhen an den Füßen sterben. Du verstehst doch?"
In einer vom Meer ausgehöhlten Nische ließen sie sich nieder. Er breitete ein Handtuch, das er in der Absicht Baden zu gehen, mitgebracht hatte, auf dem nackten Felsen aus. "Warum hast du das dabei?" Flammende Wildheit lag in ihren Zügen.
Er besänftigte sie mit den Erklärung "Damit du dich drauflegen kannst."
Dann strich er ihr die Locken aus dem breiten Gesicht, knöpfelte langsam die Bluse auf und ließ seine Hand zärtlich über ihre Brust gleiten. Ihre eben noch bleiche Farbe wich aus dem Antlitz und wechselte in einen feinen Hauch von Rot über. Wie zufällig verirrte er sich auf die Innenseite ihrer Schenkel, sie zuckte zusammen und preßte ihren Busen gegen seinen Oberkörper.
Wortlos ließ sie dies alles mit sich geschehen. "Ich bin nicht die richtige Frau für dich, Willi", entfuhr es ihr plötzlich. Verwundert fragte er zurück: "Aber warum denn nicht?"
"Es ist ja selbstverständlich, daß die Frau dem Mann beim Aufbau der gemeinsamen Existenz hilft. Aber ich werde nicht mehr arbeiten können, wegen meines Fußes. Auch meine Karriere mußte ich deshalb aufgeben... Schau, ich suche einen alten Mann, der für mich sorgt, damit ich mich nur mehr der Schriftstellerei widmen kann."
Das hat sie schon damals im Spital erwähnt, erinnerte er sich. Mädchen, das sind doch alles nur Ausflüchte, du drückst dich vor einer Entscheidung vor der du Angst hast.
"Ist das dein voller Ernst?" Keine Antwort.
Eine momentane, abrupte Regung der Empfindungslosigkeit umfing ihn. Eine Spur kälter erwähnte er, daß ihm der Fall einer Hollywood-Schauspielerin bekannt sei, die trotz einer Fußprothese ihren Beruf weiter ausübte. "Und da willst du aufgeben? Bloß weil bei dir eine vielleicht auffallende Narbe zu sehen ist?"
Er dachte an sein persönliches Martyrium mit dem Ohrgeräusch, wie er jahrelang dagegen angekämpft und das Leiden zumindest "kompensiert" hatte, wie die Ärzte sich ausdrückten. War sie so schwach? Sein Blick fiel auf ihre nackten Füße, die in Sandalen steckten. Es waren wohlgeformte, rassige Fesseln, die da unter der groben Hose hervorlugten. Er mußte versuchen, ihr die Scheu, ihm die Blessur zu zeigen, zu nehmen. Innig bettelte er: "Liebling, laß mich einmal dein Bein ansehen, bitte!" Langsam griff er nach dem Fuß und streifte die Hosenbeine etwas höher hinauf. Da schnellte sie empor wie von einer Tarantel gestochen, fuchsteufelswild. Wahnsinnig vor Empörung schleuderte sie ihm ins Gesicht:" Du bist genauso wie die anderen Männer – du willst mich auch nur im Bett haben!!"
Er erfasste den Ernst der Situation nicht sogleich und versuchte sie nochmehr auf die Palme zu bringen. Während er noch mit ihren Abwehrbewegungen kämpfte, gab er mit lächelnder Ironie grinsend von sich: "Vergiß nicht – ich habe dir fünf Pfund geliehen!"
Der verhängnisvolle Satz war gefallen, von seiner Warte aus sollte es ein Scherz sein, um sie zum Lachen zu bringen. Denn wenn sie ihn als Mensch und Charakter auch nur einigermaßen richtig eingeschätzt hatte, mußte ihr klar sein, daß es sich nur um eine seiner paradoxen Herausforderungen handeln konnte. Sie schnappte auch sofort nach dem Happen, nur nicht so, wie er es erwartet hatte – nämlich mit etwas Humor: "Du bist auch wie die anderen Deutschen alle – nur aufs Geld sehend!" Und dann, in einem bitteren Nachsatz: "Nicht umsonst hat Hitler einen Krieg angefangen!!"
Nun waren sie also offengelegt, ihre geheimsten und hintersten Gedanken. Nun warf ihm Danica, seine Danica mit allen ihren Launen und kleinen Bosheiten – das wilde Biest, das anscheinend nicht genau wußte, was sie vom Leben erwarten durfte – nun spielte sie als "nationalstolze Jugoslawin" diesselbe Walze ab wie die ärgsten Aussiebrüder. Jetzt lief er auch bei ihr nur mehr unter "bloody German"...
"Die Österreicher und die Deutschen sind ja ein und dasselbe!" betonte sie bitterböse. Regungslos verharrte Willi in der Rückenlage. Danica hatte sich aufgesetzt und starrte auf die rauschenden Wellen unter ihnen. Er versuchte ihren Kopf zu ihm herumzudrehen: "Was ist los mit dir? Warum guckst du mich nicht mehr an?"
Sie erhob sich nun vollends und schickte sich an wegzugehen, er machte keinen Versuch mehr, sie daran zu hindern. Vor dem letzten Felsbrocken, der ihm endgültig die Sicht auf ihre grollende Gestalt nahm, wandte sie sich nocheinmal um und fragte schmerzlich: "Was glaubst du wohl, warum Gott das Meer und die Felsen erschaffen hat?"
Dann fand sich Willi allein und verlassen auf den Klippen wieder. Die Brandung donnerte gegen die Küste wie eh und je, seit ewigen Zeiten. Später raffte er seine paar Klamotten zusammen und verließ diesen Ort mit langsamen, schleppenden Schritten. Nachdenklich wartete er an der Bushaltestelle und zermarterte sich den Kopf, wie ein solches Auseinandergehen nach einem derartig tiefen beiderseitigem Verstehen möglich war. Warum hat uns der Schöpfer dieser Welt in ein Paradies mit all den Naturschönheiten hineingepflanzt, uns Menschen, Ebenbilder Gottes? Mitten hinein zwischen die wildschäumenden Wogen, die ehernen Felsen, die herrlich bunte Vogelwelt? In die Sonnenuntergänge, die über den ganzen Horizont flammen, und die grünen, langen, wiegenden Gräser, den duftenden Wäldern und dem Todeshauch unendlicher Wüsten. Warum nur?

* * *


"Was trinkst du denn so unmäßig? Du schaust überhaupt ganz verändert aus!" Der vom Schicksal hartgeprüfte Neue in ihrer Mitte, Eduard, dem die Frau mit den zwei Kindern davongelaufen war, setzte sich zu Willi aufs Kanapee und stellte die Flasche Bier an der Seite ab. "Was ist los? Ist dir dein Mädchen durch die Lappen gegangen?? Na, red' schon!"
Willi nickte betrübt. "Ja, es ist aus. Ich denke, nun ist es endgültig vorbei. Eigentlich möchte ich heulen...aber es funktioniert nicht. Aber auch das ist mir schon schnuppe. Da, sieh' selbst", rief er verzweifelt aus und kramte aus der Brusttasche ein Bild Danicas hervor. "Ist sie nicht rassig? Du kennst dich doch aus bei den Weibern, was meinst du, was für ein Frauentyp ist sie?"
Eduard warf einen langen, prüfenden Blick auf die schlanke Gestalt, überlegte noch ein paar Sekunden und stellte dann sehr sicher eine präzise Diagnose: "...Typisch eine Lebedame, die aufs ..., na du weißt schon, nicht so steht. Die besucht gerne Parties und liebt es, Mittelpunkt des Geschehens zu sein... Wart ein bißchen, ich muß noch weiter nachdenken!" Eduard sah einmal kurz und sinnend an die Zimmerdecke, um dann fortzufahren: "Solche Mädchen haben eine Vorliebe für Männer zwischen Fünfzig und Sechzig – in gesicherten, angesehnen Positionen – was sich in diesem Alter meist von selbst versteht... Das ist keine Frau für dich!"
Willi Höger war einfach platt über dieses Urteil seines Landsmannes, das ihm durchaus zutreffend und einleuchtend erschien. "Wie unerfahren ich dem Leben im Grunde noch gegenüberstehe", dachte Willi verzweifelt. "Der um zehn lächerliche Jahre ältere Mann sagt mir genau das, was Danica von sich selbst behauptet. Ein schöner Idiot bist du", schalt er sich. "Schlag dir das Weib aus den Schädel! Zahlt sich nicht aus, an diese Zigeunerin, an dieses Flittchen zu denken..."
Der Franzose wankte angesäuselt ins Zimmer: "Hah! Sieh' mal an! Unser kleiner Verliebter tut uns wiedereinmal die Ehre an, gestattet sich Zuhause aufzuhalten...Hahahaaa! Ganz traurig und am Boden zerstört. Geht dir dein Danicajandl-jandl-jandl auf die Nerven?" Erstaunlich, sogar der Refrain einer österreichischen Schnulze fiel Jean in diesem Augenblick ein, dessen Augen krankhaft fiebrig glänzten, der mit hektischen Bewegungen im Raum umherschoss.
"Hör' auf, sag ich!!" fuhr Willi wütend in dessen Johlen und Singen, "Hör schon auf!"
"Nana, keine Aufregung, mein Lieber!" maulte der kleine Franzose leicht ernüchtert. "Glaubst du vielleicht, du allein kommst ohne Trouble mit den Frauen von hier fort? Laß dir einmal von Eduard erzählen, was wir kürzlich erlebt haben! Es war ja zum – na, wie drückt ihr euch aus? Zum Kotzen schön!
Da sitzen wir, das heißt einige Österreicher, Deutsche und ich beschissener Franzose in einem Pub beisammen. Auch Eduard befand sich auch in unseren Reihen...Die Reihen diiiicht geschlossen!! Hahaaa!.."
"Halt's Maul, besoffener Kerl!" fuhr Eduard wütend hoch. "Der bringt die Story ja doch nicht mehr raus... Also, die Geschichte war so.
Wir sitzen alle so gemütlich beisammen, da berichtet einer in seiner Bierseligkeit, die eben ins Traurige umschlug: 'Meine Frau hat mich kurzerhand verlassen!' Die Reaktion der übrigen? Meine auch, meinte ein anderer. Meine Alte ist auch abgehauen, ein dritter. Darauf der gesteht ein vierter: Bin in derselben Lage! Und so fort... Stell dir vor Willi! Alle acht, die wir da hockten wie uns der Zufall zusammengeführt hat – alle acht Männer haben das gleiche Schicksal erlitten – allen sind die Frauen stiften gegangen!
Und da willst du der kleinen Schlampe nachtrauern?
Sei doch froh, daß du sie losgeworden bist!"
Die drei so grundverschiedenen Schicksalsgenossen lachten bis ihnen die Bäuche zu zerplatzen drohten. Ein verzweifeltes, gefährliches, hysterisches Lachen.
Jean lauerte noch immer seiner Gattin vor dem Kino auf. Eduard hoffte noch immer auf die Rückkehr seiner Frau, seiner zwei Kinder. Und Willi?
Sie hofften alle drei, weil sie liebten, sich nach ihren weiblichen Partnern sehnten, noch immer, trotz alledem.

* * *


Nach dem Pferderennen verabschiedeten sich Willi und sein Jugendfreund Anton von Peter, dem Gambler. Der große schlanke junge Mann mit dem dichtem Haarwuchs, der auffälligen Künstlermähne, schlich mit seinen Kumpanen in der Affenhitze dieses Nachmittages davon.
Drei Pfund gewonnen! Nicht schlecht, Willi! Zufrieden grinste er vor sich hin. Aber der Clou des Tages, den Willi ansonsten nicht sehr genossen hatte – die Temperatur war in die Höhe geschnellt – er hatte sich kaum auf die einzelnen Rennen konzentrieren können, waren doch die beiden alten Australier gewesen, deren Zwiegespräch er zufällig belauscht hatte. Peter, ihr Spezialist auf der Trabrennbahn, war vor ihnen gestanden, vor Erregung von einem Fuß auf den anderen tretend, und hatte mit der ganzen Leidenschaft seiner Spielernatur die Ereignisse auf der Rennbahn verfolgt.
"Look at him", hatte da der eine Aussie dem anderen zugeflüstert. "Look at this bloody long hairs of him. One of these fucken migrants." "You are right, matey", hatte die andere Gestalt mit düsterer Miene erwidert, "sie drücken sogar die Preise für die Haarschnitte in die Höhe! Die Bastards!"
Es war zu köstlich gewesen.
"Paß auf, jetzt besuchen wir nochmals die Crown Street. Ich glaube, du bist nach dem Krach mit deiner Danica gerade in der richtigen Verfassung. Die Rothaarige hat dir letztes Mal doch gefallen...?" forderte ihn Anton auf. Er wollte seinem Freund etwas Gutes tun, etwas für seine geistige und körperliche Gesundheit, wollte ihn aus der trübseligen Niedergeschlagenheit herausreißen.
Willi erklärte sich gleichgültig mit allem einverstanden, und sie brachen gemeinsam auf. Vor dem unscheinbaren Haus lungerte eine Rotte von etwa zwanzig Männern, hauptsächlich junge unverheiratete Italiener und Griechen. Die verschlossene Pforte zum Paradies tat sich auf, und eine Frau blickte forschend herum – die Rotblonde. Sie ließ eben einen Jüngling heraus und rief dann fordernd in die Reihen der ungeduldig Wartenden: "Wer ist der Nächste? Nun, wer ist der nächste Mann? Meldet sich niemand?" Eine Sekunde noch zögerten die Männer, dann drängten die Gestalten nach vorne.
"Du da scheinst nüchtern zu sein, du da hinten! Los, komm schon rein!" Die Hure deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger auf Willi, der in der hintersten Reihe nahe des Straßenrandes mehr oder minder belustigt dem Treiben zugesehen hatte.
"Ich? Warum gerade ich? Warum nicht?" überlegte er. Du bist genauso wie die anderen Deutschen, siehst auch nur aufs Geld! Ist doch eins wie's andere – Österreicher und Deutsche!
"Da, halt meine Tasche. Ich pfeife auf Danicas 'Liebe'!" Der gedrungene, stämmige Anton schaute einigermaßen perplex drein, als sein Freund entschlossen auf die Türe zusteuerte. Ob es richtig war, was er da angestiftet hatte?
"First the money!" Zynisch lächelnd reichte er der Nutte die dreissig Shilling hin, Geschäft ist Geschäft. Als er hinter ihr die knarrende Treppe hochstieg und die weichen Kniekehlen des jungen Weibes vor sich sah, stieg es heiß in ihm hoch.
"Ich verzichte auf deine Liebe, Danica!" dachte er trotzig.

"Wie dein Magen knurrt. Hast du heute noch nichts inhaliert?" stieß sie ungerührt hervor, als er sie umarmte. Ihr dünner Fetzen von Kleid roch billig und abgeschmackt.
"Doch, Schweinebraten. Hast d u vielleicht Hunger?"
"Nein, schon gegessen."
Wie banal das alles ablief. Nach zehn Minuten stand er wieder auf dem Gehsteig: "Laß uns in einen Pub saufen gehen... Ich hätte genausogut ein Stück Holz umarmen können."
Sein Freund musterte ihn mit geheimer Besorgnis. "Du darfst nie wieder da rein!" Wenigstens einer der ihn verstand, auf den er sich blindlings verlassen durfte.

* * *


Die Sylvesternacht verbrachte Willi Höger im Kreise von wohlsituierten Australiern. Nicht nur finanziell begütert, verfügten die einzelnen Mitglieder der Familie auch über Geist, Kultur und Esprit. Die Söhne des alten Briten bekleideten sämtlich hervorragende Positionen im Staatsdienst. Jean gehörte als deren langjähriger Nachbar zum Bekanntenkreis, gelegentlich fuhren sie sogar gemeinsam zum Angeln aus. Der Österreicher war einfach uneingeladen mit Jean mitmarschiert. Seine anfängliche Zurückhaltung legte sich bald, als der Brite mit einem Glas Wein in der Hand auf ihn zutrat und mit ihm anstieß. Die lustige Gesellschaft spielte Schallplatten ab und sang auch gelegentlich mit. Zwanglos kauten die Männer an den Sandwiches, während sich die Frauen nach althergebrachter Weise absonderten und im Wohnzimmer plauderten.
Die eingefrorenen Saiten seines Gemütes tauten ein wenig auf, als ihn der Alte mit brother anredete.
"Wir sind alle Brüder, wir Menschen, und so sollten wir uns auch benehmen. Ganz gleich, woher einer stammt und welche Position er in der Society einnimmt." Und Willi spürte erneut die warme, sympathische Menschlichkeit des weitgereisten Mannes, als der ihm zum Abschied diskret zuraunte: "Paß auf dich auf! Sieh zu, daß du nicht absinkst und zugrunde gehst wie soviele deiner Mitmenschen! Keep an eye on yourself!"

* * *


Eines Tages hielt er es einfach nicht mehr aus, die Sehnsucht nach "Ihr" wuchs ins Unerträgliche, er vermochte ihr einfach nicht mehr Herr zu werden. Drei Tage nachdem er angenommen hatte, daß zwischen ihnen alles zu Ende sei, hatte sie wieder angerufen, geradeso, als ob es niemals auch nur die kleinste Unstimmigkeit gegeben hätte. "Wie ich so schnell wieder nach Hause gekommen bin, hat mich der Gatte meiner Freundin gefragt: 'Danica, wo hast du Willi gelassen?' Ich habe geantwortet: 'Der ist mir davongelaufen.' Um weiteren Fragen zu entgehen, habe ich mich dann ins Badezimmer gesperrt. Dort habe ich geweint!"
Konnte man diesem Mädchen böse sein, das sich benahm wie ein kleines, launisches Kind?
An diesem Tag machte er einfach blau, ließ die Firma Firma sein und setzte sich in den Bus nach P. Sie eilte ihm so gut es ging die Treppe herunter entgegen und strahlte ihn glückselig lächelnd an. Willi benutzte einige Minuten des Alleinseins mit ihrer Freundin dazu, diese über Danica ein wenig auszuholen. Leider radebrechte die kleine Mollige nur schwer in Deutsch, und Englisch zu sprechen fiel ihr anscheinend nicht viel leichter.
"Du mußt sie zu verstehen versuchen – ein wenig Philosophie, meine ich!" Das sollte wohl "Psychologie" heißen, aber er sah großzügig über den Fehler hinweg. Danica platzte mitten in das vertrauliche Gespräch hinein: "Glaub ihr nicht, sie erzählt nur Gutes über mich. Daß ich gut kochen kann, daß ich ein braves Mädchen bin, und so weiter."
Werden hier auf dem Fünften Kontinent alle Begriffe, Dogmen und Verhaltensmaßregeln auf den Kopf gestellt, verkehrt herum angewendet? Unsicher fuhr er sich über die Augen. Wenn ein Mädel einen jungen Mann gerne sieht – dann versucht sie doch, sich ihm im bestem Licht zu präsentieren, warum nicht auch Danica?
Das schlanke Girl in dem langen engen Kleid ergriff nun eine Zeitung, las aufmerksam die Spalten mit den Wohnungsanzeigen durch. "Hier steht: Kleines Zimmer-Küche Flat an m.c. abzugeben. Was heißt das, Willi – m.c.?"
"M.c.? Denke 'married couple', verheiratetes Paar."
Ein wenig vernagelt war er schon, um diesen Wink mit dem Zaunpfahl nicht wahrzunehmen. Sie warf die Truth mit einem Schwung in die Ecke. Die kleine Mollige hantierte laut hörbar in der Küche herum. "Ich sollte eigentlich Wäschewaschen - kommst du ins Badezimmer mit und hilfst mir?" Nur allzugerne nahm er den Vorschlag an.
In verführerischer Pose beugte sie sich über die Wanne und gab sich den Anschein ernsthafter Betätigung, warf ihm aber aus den Augenwinkeln rasche, schelmische Blicke zu, weil ihr auffiel, wie Willi sie mit den Augen nahezu verschlang. Sein männlicher Instinkt trieb ihn an, er zerrte sie hoch, preßte sie ungestüm gegen die Wand, um sie leidenschaftlich zu umschlingen.
Der lange Ausschnitt über ihrem Busen öffnete sich leicht, er begrub seine Lippen darin, und verhalten keuchten die beiden vor Anstrengung ihre Gefühle im Zaum zu halten. "Du, ich halte das nicht länger aus!" raunte er ihr stürmisch ins Ohr. "Nehmen wir uns ein Zimmer, ja?" Ihre Antwort ging in seinen schweren Atemzügen unter.
"Willilein – ich muß dir sagen: Ich kann dich jetzt nicht lieben, ich..." "Was hast du schon wieder? Warum nicht? Bitte! Sag es mir doch, oder ich werde noch verrückt!" Stereotyp kam ihre Antwort wieder: "Verzeihe – ich kann dich jetzt nicht lieben... Vielleicht in ein, zwei Jahren fahre ich mit dir nach, nach Europa. Aber jetzt kann..."
"Wenn du mir nicht augenblicklich verrätst, was das alles zu bedeuten hat, verlasse ich dich, um nie wiederzukehren! Hast du Angst vor mir? Los, bitte sag mir: Fürchtest du dich vor mir??"
Er ließ sie los, trat einen Schritt zurück, geradeso, als wollte er ihre ganze Erscheinung, ihre Reaktion beobachten, wenn sie ihm jetzt Rede und Antwort stand.
"Willi, ich habe keine Angst vor dir. Ich fürchte mich nur davor, daß..., mich so in dich zu verlieben, daß ich mich nicht mehr lösen kann..."
"Aber willst ...?" "Psst, Willi, jetzt laß mich sprechen:
Ich bin keine Frau für dich. Du würdest eines Abends vom Büro nach Hause kommen...und ich hätte dich verlassen, wäre weit fortgegangen. Ich habe eine solche Natur...Möchtest du das erleben?"
Und da kam es wieder: eine dunkle Wolke legte sich um sein Bewußtsein. Die vielen Huren, denen er in diesem Land schon begegnet war! Die hinterlistigen, meuchelmörderischen Berufskollegen, die alles darauf anlegten, sich den unbequemen Konkurrenten vom Hals zu schaffen, falls nötig, aus dem Weg zu räumen. Schüttet ihm doch Gift in den Tee! Der einfachste Weg um ihn loszuwerden! Die höhnischen Worte des infantilen Dicken aus dem Verkaufsbüro klangen noch in ihm nach.
Wenn sie es nun auf sein Geld abgesehen hatte? Irgend jemand muß ihr die Spitalskosten bezahlen, sie selbst wird in naher Zukunft kaum dazu in der Lage sein. Noch Wochen wird ihre Rekonvaleszenz beanspruchen. Bis dato hatte er ihr an die zwanzig Pfund gegeben, jeden Penny den er besaß, hätte er ihr mit Freuden geschenkt. Aber was hatte s i e mit ihm vor? Was waren ihre wirklichen Absichten? Nein, bevor sie sich nicht mit mir ins Bett legt, bevor ich ihr den Ehering über den Finger streife, werde i c h nicht für ihre Schulden blechen. Und – konnte er sie denn ehelichen?
Nach all dem, was sie ihm so vorgegauckelt hatte, was er bis heute an Zuneigung und Hingebung von ihr erfahren hatte? Mit Geduld und Verständnis war er über die meisten ihrer Launen hinweggegangen, aber irgendwo mußte ein Schlußpunkt gesetzt werden. Wo, wo würde er einen Ruhepol finden. Bei ihr?
Sein Denken verlief im Kreis, er sah keinen Ausweg mehr. Alles was ihm zu tun übrig blieb, war abzuwarten wie sich die Dinge weiter entwickeln würden, sich einfach treiben lassen.
Die Freundin und Wohnungsinhaberin hatte mit dem Bügeln Schluß gemacht. "Willi hat mich geküsst!" rief Danica ganz stolz aus.

"Wie hoch belaufen sich deine Schulden?" erkundigte er sich später so nebenbei. "An die 150 Pfund. Sehr viel Geld, nicht wahr?"
"Ach wo, das geht schon." Im Geist überschlug er, was eine Heiratsausstattung für sie kosten würde, viel konnte sie ja nicht ihr eigen nennen. Ob sie zufrieden sein würde mit dem, was er ihr an materiellen Gütern bieten konnte – als Ehegemahl? Hier in Australien war es doch eine Selbstverständlichkeit, daß die Ehemänner für die Frauen schufteten, um ihnen das Dolce Vita so angenehm wie möglich zu machen. Sicher hatte auch Danica schon Lunte gerochen, vermutlich war sie garnicht so versessen drauf, nach Europa zurückzukehren, aus diesem Paradies für Frauen, hierzulande.
Nun sprach er den Gedanken aus, ohne ihn näher zu erläutern: "Meine Freunde haben gemeint, wenn ich dich heirate, kann ich gleich in Australien bleiben." Eine unglückselige Formulierung, auf die sie kleinlaut erwiderte: "Nein, so ist das nicht." Und vorwurfsvoll, nach einer Weile: "Geld ist dir wichtiger wie Liebe!"
So also schätzte sie ihn ein, auch gut.
Sie ließ sich auf seine Knie nieder: "Und wann wirst du mir geben – einen Ring oder das Armband?" "Wenn ich es für richtig halte, früh genug", dachte er ingrimmig. Später umarmte er sie zärtlich ungezwungen in Gegenwart ihrer Freundin. "Soll ich den Willi heiraten?" warf Danica ihr neckisch zu.
Er war bereits soweit in seiner Gemütsverfassung, daß er aus jeder noch so harmlosen Bemerkung eine Anfeindung, ja eine tödliche Beleidigung heraushörte: Falls sie nicht selbst weiß, ob ja oder nein, soll sie es bloß bleiben lassen. Ich jedenfalls werde es mir gründlich überlegen.
Danica eilte auf einen Sprung außer Haus, um in einen nahegelegenen Laden eine Besorgung zu erledigen. Die kleine Mollige legte die Hausarbeit ad acta und nahm sich des jungen Mannes an, der sichtbar angeschlagen herumsaß.
"In Danica ist die Liebe zum Mann noch nicht wachgeworden, noch nicht erweckt worden, verstehst du! Viele Männer haben sie ausgeführt, aber keiner hat etwas erreicht bei ihr. Sie ist zu stolz, verstehst du?" Zweifelnd blickte Willi die dralle Vertraute Danicas an, eine wichtige Frage im Zusammenhang damit lag ihm auf der Zunge. Mit abgewandtem Gesicht fügte ihre Freundin schnell hinzu: "Nur Pässe bekommt man eben so schwer."
Aha, die Stolze, die Spröde. Von vielen Männern ausgeführt. Selbstverständlich, d a s ist ja was ganz anderes – PÄSSE ERHÄLT MAN SO SCHWER! Einen Willi Höger wird sie noch immer finden – bloß Pässe bekommt man so schwer! Er glaubte nicht richtig gehört zu haben. In die so entstandene, betretene Pause fielen die letzten, bedeutsamen Worte von Danicas Freundin wie ein Donnerschlag: "Ist es nicht besser für dich, wenn sie dir sagt, daß sie dich nicht liebt?"
Das war beinahe zuviel auf einmal. Es widerstrebte ihn, diese nüchterne Aussage zur Kenntnis zu nehmen. Zweifellos hatte ihr Danica manches über sie beide anvertraut, unter anderem auch, daß sie ihn nicht lieben konnte...Aber er wollte es einfach nicht glauben, noch nicht.
Am späten Nachmittag schlug Danica nochmals die Karten auf, um die Zukunft vorauszusagen. Einmal für Willi, einmal für sich persönlich. Ein helles, breites Band hielt die Fülle ihrer schwarzen Lockenpracht zusammen, die Zaubermacht ihrer Erscheinung umnebelte noch einmal seine Sinne. "Du bist wunderschön, Danica", flüsterte er ihr zu. "Du findest alles an mir hübsch und schön, sogar meinen Namen Danica Petrovic", meinte sie geschmeichelt. Noch einmal zählte sie die Karten ab und berührte jede siebente: "Du wirst ein anderes Mädchen lieben. Von zwei Leuten wirst du sehr viel, sehr große Geld erhalten. Dann wirst du endlich glücklich sein... Aber", ein beredtes Schweigen, " wir zwei werden getrennt werden. Es besteht die Möglichkeit, wie die Karten zeigen, daß wir in sehr viel späteren Jahren wieder zusammenkommen...Das ist alles, was über dich darinnen steht."
Beklommen fragte er sie leise:" Glaubst du daran?"
"Du kannst es glauben oder nicht. Jetzt werde ich für mich die Karten legen." Wiederum hob sie ab, breitete die Schicksalsboten vor sich aus, sah aufmerksam die Reihen durch.
"Ich...,nein, besser ich sage nicht." Mit düsterer Miene raffte sie die Spielkarten zusammen.
Am Abend führte Willi die beiden ins nahegelegene Kino, wo ein Science-Fiction-Streifen über das Thema Weltraumabenteuer lief. An physikalische Gesetze hielten sich die Hollywood-Produzenten nicht allzugenau, und als die Astronauten mit den grellgelb bemalten Plastikhelmen die Aktionen im Kosmos allzu bunt trieben, entkam Willi ein verärgerter Ausruf. "Was hast du denn?" erkundigte sich das Geschöpf an seiner rechten Seite. Er erklärte ihr kurz den Grund für seinen Unmut. "You are silly!" rief sie nur aus und lugte sogleich wieder angespannt zur Leinwand.
"So, ich bin dumm, bloß weil ich mich über den offensichtlichen Kohl ärgere?" "Du verstehst doch nichts von diesen Dingen. Das ist doch nicht dein Fachgebiet!"
"Ach nee. Habe mich bloß seit meinem sechzehnten Lebensjahr intensiv mit Raketentechnik befasst", höhnte er. "Wenn du da vorne dauernd einen Blödsinn sehen würdest, käme dir da nicht die Galle hoch?" Aber so war es nun mal, tiefes Mißtrauen ihm gegenüber, Unverständnis, was seine Ausbildung und sein Know-how betraf – das sprach deutlich aus ihr. "Höchstwahrscheinlich hat sie auch ihr Architekturstudium nur erfunden", dachte er. "Auch dabei erfährt man manches über die Grundlagen der Physik, wenn auch nicht allzuviel... Ob sie je eine Hochschule von innen gesehen hat?"

Hastig erledigte er die Verabschiedungszeremonie von ihrer Freundin, die sich auf dem Weg nach Hause machte. Danica begleitete er in Richtung ihres Untermietzimmers, das sie angeblich nur die Nacht über benützte. Ganz fein rieselte Regen herunter, wortlos schritt er neben ihr her. Vor der Straßenkreuzung, wo sie sich trennen würden, blieb er im Halbdunkel einer Mauernische stehen.
"Hier! Habe dir etwas mitgebracht – was ich dir versprochen habe." Das herrliche Armband, das er aus Port Said mitgebracht hatte, glitzerte im Schein der Straßenlaternen. Stumm wickelte er es aus dem Seidenpapier und reichte es ihr mit einer gleichgültigen Geste hin. Sie griff hastig zu und legte es an, dann warf sie ihm rasch hintereinander zwei Kußhände zu: "Das ist für dich!" meinte sie, und das war's dann auch schon. Er drängte Danica tiefer in die Wandecke, umarmte sie und drückte einige zärtliche Küsse auf die schlanke Linie ihres Halses. "Hast du mich nicht ein wenig gern, Danica? Ein klein wenig?"
In diesen Momenten gab er die Hoffnung auf ein glückliches Ende ihrer Affaire unbewußt auf, die Flamme der Leidenschaft brannte langsam herunter, er war im Begriffe zu resignieren. Dicht hielt er sie an sich gepreßt, machte einen letzten verzweifelten Versuch, sie zu halten. Er drückte sie so fest an seinen Körper, daß er sie ein wenig hochhob. "Laß mich auf den Beinen stehen!" rügte sie ihn sehr ruhig und nüchtern.
An der Bushaltestelle ließen sie sich auf eine Bank nieder. Sie fror in ihrer dünnen Kleidung, eine Gänsehaut überlief sie. Er merkte es, zog seinen Regenmantel aus und hing ihn fürsorglich um ihre Schulter. Scheu blickte sie zu ihm auf: "Du würdest nie eine Frau schlagen, nicht wahr?"
"Nein, wie kommst du darauf?" Ihre Reaktion drauf hatte soetwas Rührendes an sich, daß er peinlich betroffen zusammenschauerte: Ihre Lippen berührten seine Fingerspitzen.
Von der Ferne hörte man das Heranrattern des Omnibus, das leise Rauschen des Regens verstärkte sich.
"Die letzten Jahre ist es mit mir bergabwärts gegangen, Danica. Wenn du zu mir halten würdest, meine Liebe, ich verspreche dir – ich erreiche alles, was ich nur will!" Ein fanatischer Wille zum Erfolg sprach aus seiner Äusserung, gespannt wartete er auf eine Erwiderung.
"Dein Bus kommt daher, der letzte. Beeile dich!" Aus den Rinnsal planschte der Dreck hoch, dann sah er durch die beschlagenen Scheiben ihre Gestalt nur mehr schemenhaft verschwommen im Dunkel der Nacht verschwinden.

* * *


Sein Verstand, so verwirrt und konfus er durch die pausenlose seelische Qual und den Stress des Psychoterrors im Betrieb auch sein mochte, sagte ihm dennoch, daß er keine reelle Chance mehr besaß, die Frau die er liebte oder zu lieben glaubte, für sich zu erobern. Der Gefühlsüberschwang mit dem er sich, davon unabhängig, an die seligen Bilder seiner Fantasie klammerte, glich einem rettenden Strohhalm. In seiner Freizeit ging er daran, einen Bungalow für Danica und sich zu suchen. Seine zahlreichen Bekannten und Freunde halfen ihm dabei nach besten Kräften. Schließlich war es Anton Melzer, der ihn auf eine Einwandererfamilie aufmerksam machte: "Haben droben auf dem Berg ihr Haus, schön, und im Grünen. Und gleich davor steht der Bungalow. Frag einmal an, vielleicht ist er noch frei, war es jedenfalls vor drei Wochen noch."
Und der junge Mann hatte Glück, zusammen mit dem Eigentümer besichtigte er das Objekt: "Bloß die elektrischen Leitungen müssen ausgebessert werden, dann ist alles in Ordnung." "Das werden wir gleich haben!" Mit Feuereifer ging Willi ans Werk, den Schaden auszubessern. Elektrisches Licht, Wasser, Waschgelegenheit – alles fand er vor. Selbst das schöne Panorama kam ihm nicht teurer zu stehen.
"Du siehst dich wohl schon vor der Hütte an der Seite deiner Danica im Liegestuhl ruhen, den Sonnenuntergang bewundernd. Die letzten Strahlen des Himmelsgestirns und deine Finger spielen im weichen Haar der Geliebten – oder so. So denkst du doch, nicht wahr?" Hämisch grinsend nahm ihn Anton auf den Arm. "Die ist sich ja garnicht bewußt, was sie mit dir angestellt hat, du bist ja rein verrückt nach ihr! Wenn das nur gut ausgeht..."
Systematisch und sorgsam wie es seinem Naturell entsprach, erstellte Willi Listen mit den benötigten Haushaltsgeräten. Während der Mittagspausen telefonierte er mit verschiedenen Firmen rund um Banston, versuchte er vorerst vergeblich, für Danica eine Stelle zu finden. So verging auch diese Arbeitswoche wie im Fluge.
Als er seine Vorbereitungen im wesentlichen abgeschlossen hatte, rief er das Mädchen an und jubelte vor Freude: "Danica, ich habe ein nettes Haus, unweit vom Zentrum Banstons entdeckt. Es wird am besten sein, du kommst morgen heraus und wir besichtigen es gemeinsam."
"Morgen geht es nicht. Da muß ich mich bei Rotary Ltd vorstellen, haben mir einen Job versprochen."
"Aber das dauert doch nicht den ganzen Tag?"
"Doch, es ist sehr weit draussen. Und gegen Abend führt mich ein Bekannter mit dem Auto noch zu einer anderen Firma." Die Ausdruckslosigkeit ihres Tones war erschreckend.
"Ach so, ich verstehe. Du willst also nicht."
"Nein." "Aha", ein paar belanglose Worthülsen noch und er legte den Hörer in die Gabel. In der Telefonzelle herrschte drückende Schwüle, ein paar alte Tanten blickten neugierig herein. Der Schweiß lief ihm in kleinen Rinnsalen den Nacken hinunter, er wischte geistesabwesend mit der Hand darüber.

Wie üblich und zur Gewohnheit geworden, trafen sich die beiden von leichter Tragik umhüllten Figuren dieser Story wiederum unter den Arkaden von Mark Foy's. Falls er sie während der Badezimmer-Szene richtig verstanden hatte, war auch ihre Bereitschaft zu intimeren Beziehungen erwacht, für den Anfang tat es seiner Meinung nach auch ein Hotelzimmer. Seine Raserei und Verblendung reichte soweit, daß ihm nicht die Spur eines Gedankens gekommen war, damit vielleicht einen höchst unpassenden Anfang gefunden zu haben. Aber was sollte er sonst tun? Keine fremde Frauensperson durfte das geheiligte Domizil von Mrs. Eger betreten. Längst schon wäre Willi aus diesem Grunde woanders zur Miete gegangen, aber die circensischen Kochkünste seiner Wirtin hielten ihn fest. Am Anfang ihrer Beziehung hatte Danica einigemale vorgeschlagen, er möge doch in die City ziehen. "Wir können uns dann jeden Abend treffen!" lockte sie ihn.
Heute traf sie, entgegen ihrer sonstigen Art, verspätet ein. Willi überraschte sie, wie sie sich gerade vor einem Schaufenster die Lippen nachzog, sie wirkte sprunghaft, zerfahren und unausgeschlafen. Er fand sie an diesem Morgen noch um eine Spur blasser als sonst. Weisse lange Hosen bedeckten ihre Beine, am Oberkörper hing eine schäbige helle Bluse, die um ihre zarte Gestalt schlotterte. In einem Netz trug sie offensichtlich Toilettengegenstände mit sich – hatte sie vielleicht "sonstwo" übernachtet?
"Nein, ich möchte nicht im Park sitzen, gehen wir in die Ladies Lounge." Gut, es war nur vernünftig ihr nicht zu widersprechen. Beim Betreten des Hotel beging er einen kleinen Fauxpas, worauf sie ihn zornig anpfauchte: "Du kannst mich ruhig als Frau behandeln, auch wenn ich Hosen trage!"
Einige wenige Damen saßen im Saal verteilt umher. Nachdem die Getränke serviert worden waren, erkundigte er sich beiläufig, ob sie bereits einen Job gefunden habe. Sie verneinte, da es in den Fabriken zwar Frauenarbeit gäbe, aber nur hochqualifizierte. Er knüpfte vorsichtig vortastend das Thema 'Zimmer als Liebeslaube' an, und sie begriff, daß er von ihr quasi eine ad hoc Entscheidung verlangte. Ihre Haut verlor innerhalb einiger Herzschläge jede Farbe, wurde kalkweiß, weißer als die Mauer hinter ihr. Totenbleich saß sie hochaufgericht vor ihm, öffnete mit fahrigen Bewegungen das Netz, entnahm ihm das Silber-Armband und streifte es über das Gelenk: "Siehst du, wie ich mich beeilte, um rechtzeitig zu dir zu kommen?" Ein geringschätziges Lächeln stahl sich um seine Mundwinkel, für wie töricht hielt sie ihn eigentlich? Die weghängende Bluse störte ihn mächtig, sie gab ihr das Aussehen – nun, von etwas Billigem. "Sag, hast keine – andere – engere Bluse zum Anziehen?"
"Was paßt dir daran nicht? Ist es nicht Sommer? Ist es nicht Sommer??" Wütend und zugleich in höchster Verzweiflung sprühte sie ihn an: "Ich kann doch tragen was ich will! Sollen die Leute sehen, was ich habe!!" Wie von Sinnen zog sie am Kragen und zerrte ihn soweit herunter, daß der Busen freilag...
Mit einer schnellen Drehung vergewisserte sich Willi, daß dieser – Temperamentsausbruch – von niemandem bemerkt worden war.
Soll ich wirklich mit dieser – aufregenden – Frau zusammenleben, fragte er sich. Es war schön, ausschließlich an ein weibliches Wesen denken zu müssen, aber schließlich hegte er für die Zukunft noch andere Pläne. "Was hast du mit dem Zeugs da vor?" Er wies auf das vollgepackte Tragnetz. "Ich muß auf eine Besuch fahren zu eine Familie in M. Die waren im Hospital immer so nett zu mir und haben mir immer soviel mitgebracht."
Aha, folgerte er, ich habe ihr also nicht genug geschenkt, zumindest klingt es so. Wie dem auch sei, das Erste und Wichtigste ist nun, daß sie eine Beschäftigung findet, womit sie sich ihr täglich Brot verdienen kann, überlegte der junge Mann und handelte danach: "Ich glaube, das Herumsitzen in der Lounge hat wenig Sinn! Ich werde das Special Employment Office aufsuchen, vielleicht ist da was zu machen."
Er erhob sich brüsk, entnahm seiner Brieftasche eine Fünf-Pfundnote und legte sie ihr lässig hin: "Hier, verwende sie für dich! Ich gehe jetzt." Mit wenigen Schritten gelangte er zum Treppenabgang. In den Augen die ihm nachblickten, lag eine Verstörtheit und ein Schrecken, wie sie nur himmelhohe Bangigkeit hervorrufen konnte.

* * *


Nach dem letzten "Rendezvous" war Willi zu ernüchtert, man kann ruhig sagen apathisch, um auf die zwei folgenden Anrufe von "Ihr" anders als mit knapper Einsilbigkeit zu reagieren. Drei Wochen lang hörte er darauf hin nichts mehr von Danica, bis ihm ein Briefchen ins Haus flatterte, das nahezu wortwörtlich lautete:
"Lieber Willi,
Ich fühle, daß Du mich vergessen hast, nachdem Du dich schon lange nicht mehr gemeldet hast.
Das ist schön, und ich freue mich. Aber das eine muß ich Dir noch sagen: Ich habe versucht, Dich zu lieben (glaube mir bitte) und ich bin soweit gekommen, daß ich mich entschlossen habe, mit Dir zusammen zu leben.
Aber noch hier habe ich gesehen, daß es nicht gut ausgehen würde. Ich weiß, daß ich nie wieder eine Person wie Dich treffen werde, aber ich werde nie jemand glücklich machen und werde wohl immer ein 'Mädchen' bleiben. Alles Gute durch Dein ganzes Leben
Deine Freundin
Danica

P.S: Ich habe einen längeren Brief schreiben wollen, bin aber zu unruhig dazu. Ich wohne noch immer in P.
Wenn Du mir etwas sagen willst, meine Tür ist immer offen für Dich. Danica."

Die Zeilen lagen einfach, ehrlich und ergreifend vor ihm.

Wenn ich Dir etwas sagen möchte, dann, liebe dumme kleine Danica, ist es folgendes: Ich habe es Dir nie zugeflüstert - aber ich liebe Dich!
Das ist eigentlich schon alles. Noch etwas: Ich bin nahezu am Ende mit meinen Kräften, ich kann nicht mehr um Dich kämpfen, werde Dich nie mehr erreichen. Alles, was mir zu tun übrig bleibt, ist Dir einige Ratschläge zu erteilen, wie Du Dir das Leben ein wenig vernünftiger einteilen könntest. Würde nicht schaden. Bleiben wir Freunde, gute Bekannte, nicht wahr? Auf Wiedersehen, und sieh' zu, daß Du bald wieder ganz auf der Höhe bist.
Das war der Inhalt eines sechs Seiten langen Schreibens, das er an sie richtete. Vor dem verschlossenen Kuvert verharrte er noch eine Weile nachdenklich und wehmütig. Wenn ich es so richtig bedenke, ist sie viel vernünftiger als ich. Ich muß ihr für diese Ehrlichkeit und Entschlossenheit, diese Standhaftigkeit, dankbar sein. Es wäre mit uns beiden wirklich nicht gut ausgegangen.
Ich werde Dich nie vergessen, Danica Petrovic.

* * *


Tapetenwechsel war das Vernünftigste. Willi Höger sagte nun auch Mrs. Eger die Liebe auf und übersiedelte in ein Zimmer, das Anton vorher bewohnt hatte. Melzer rückte ein Stück weiter, in einen Raum, der Peter dem Gambler als Unterkunft gedient hatte. Das Karussell geht immer rundherum...und die Welt dreht sich im Kreis...
Sturmfreie Bude mit dem einzigen Nachteil, daß er sich nun die Mahlzeiten selbst zubereiten mußte. Nun gut, die Küche war modern eingerichtet.
Seine vormalige relative Ausgeglichenheit, ja Fröhlichkeit, die Willi im Kreise seiner Bekannten – meist Junggesellen, die sorglos in den Tag hineinlebten – aufgewiesen hatte, war einer gereizten, in sich zurückgezogenen, gefährlichen Ruhe gewichen. Gleichmütig begleitete er seine Bekannten überall mit, nahm sogar an deren Vergnügungen und Ausflügen teil, ohne aber jemals aus sich herauszugehen.
"Du mit deinem Liebeskoller! Schlag dir die Henne aus dem Kopf! Wer weiß – vielleicht triffst du sie einmal in einer City Bar, am Kings Cross oder im Hafenviertel!"
Das waren noch die gefühlvollsten und verständnisvollsten Äußerungen der in ihrem moralischen Standpunkt leicht angeschlagenen Freunde. Alles nette Kerle – aber mit höheren Idealen zum Thema Nummer Eins durfte man ihnen nicht kommen. Ein Zynismus sondergleichen, aus der praktischen Erfahrung in diesem Lande entstanden, hatte ihnen jeden Glauben an die Weiblichkeit genommen.
"Wahrscheinlich verkauft sie sich für 20 Pfund pro Nacht an ältere Lustmolche. Schlag sie dir aus dem Kopf. Am besten, du siehst dich so schnell wie möglich nach einem anderen Mädchen um, das wirkt immer!"
Die Bemühungen seiner Kumpel um sein seelisches Wohlbefinden waren herzhaft, das konnte man wohl sagen. Der rauhe, beinahe gemeine Ton dabei störte Willi nicht sonderlich, er wußte, wie es gemeint war.
Der Freundschaftsbesuch eines schweren Schlachtschiffes der US-Marine lockte die beiden Jugendfreunde Anton und Willi zum Hafen hinaus. Stundenlang bestaunten sie die komplizierten technischen Anlagen und Einrichtungen, den ungeheuren Aufwand an Material, Kapital und nicht zuletzt Menschen, die der Verteidigung, notfalls aber auch dem Angriff dienen sollten.
Sie krochen durch enge Gänge, sahen in die drohenden Mündungen überdimensionaler Schiffsgeschütze, nahmen in der Kantine einen herzhaften Imbiß zu sich und strichen dann weiter auf dem Schiff umher, bis sie rechtschaffen müde auf einen weiteren Einblick in die moderne Kriegstechnik verzichteten und wieder an Land gingen.
Gleich nach der Town Hall entstiegen sie der Stadtbahn und gerieten vor einem Pub in einen mittelschweren Aufruhr.
Ein Mann um die Dreissig schlug seiner Frau, beide waren stark angeheitert, gerade mit den Fäusten aufs Haupt. Sie fiel hin, lag nun zwischen seinen Beinen, den Rock bis über den Nabel hochgeschoben. Er drosch noch immer unter wüsten Beschimpfungen auf sie ein, als da eine zittrige, mickrige Stimme aus der gaffenden Menge ringsumher, ausrief: "Niemand da, der Lady beisteht?"
Die Situation war so grotesk – warum schritt der Kerl nicht selbst ein -, daß die Umstehenden zu kichern begannen. Hunderte Menschen genossen in vollen Zügen dieses entwürdigende Schauspiel da auf der Straße. Nun hatte sich die betrunkene Lady wieder in eine menschenwürdige Position gebracht und bearbeitete nun ihrerseits mit dem Stöckelschuh den Lover-boy.
"Na weißt du! Alles was recht ist, aber...", hatte sich der hartgesottene Toni nur geäußert, um sich dann schockiert abzuwenden.
Die Stadt wimmelte nur so von Amis. Den wohlgenährten Burschen aus Kansas, Wiscounsin oder von wo sie auch immer herstammen mochten, flogen die Damenherzen weitgeöffnet zu. Direkt Gefühlswellen wurden von den stark gepuderten Girls abgelassen – lockte vielleicht die Möglichkeit einer Heirat in die Vereinigten Staaten von Nordamerika?
Im Gegensatz zu ihren begünstigten weißen Waffenbrüdern, hatten die Farbigen kein leichtes Manöverfeld vor sich, und Ansätze zu leichten Siegen auf dem Schlachtfeld der Liebe, Treue und Tugend schienen selten. Selbst im Hurenviertel der Palmer Street, jenem Gäßchen, wo Charakterstudien an Hand reichlich vorhandenen Anschauungsmaterials betrieben werden konnten, nützte den ausgehungerten Schwarzen ihre Zugehörigkeit zur drittbedeutensten Nation unserer Erde, den USA, nichts.
Ein Gefängniswagen der Polizei bahnte sich hupend eine Bahn durch die Massen der Männer in dem schmalen, verfallenen, lichtlosen Gäßchen.
Eine fette, schwabbelige Alte, auf einer Steinstufe kauernd, krächzte dem Grünen Heinrich ein "Police is giving us plenty of protection tonight!" nach. Aus dem vergitterten Rückfenster des Wagens grinsten zwei nachtdunkle Köpfe mit blitzenden weißem Gebiß...
Aus einem Pub drangen die Töne einer Jazzband, die Trommel klopfte rhythmisch die Synkopen, der Jazzbesen kratzte übers Fell. Vier Mann klopften da drinnen Musik herunter. Eine fürchterlich heruntergekommene Alte von etwa sechzig Jahren, vorsichtig geschätzt, lehnte an der Theke. Der Mund grellrot bemalt, die Haut grobporig – versoffene Äuglein und eine rote Nase wiesen auf den verflossenen Lebenswandel hin. Die Haare verfilzten sich zu einem wüsten Gestrüpp, grüngelbe Streifen durchziehen das Grau. Ein riesiger Negersoldat kauerte, sie halb umschlingend, neben ihr, flüsterte ihr beschwörende Worte zu.
"Muß in einer entsetzlichen Notlage sein – sonst würde er sich nicht an der Megäre vergreifen", raunte Willi seinem Freund zu. Er konnte seine Blicke nicht von den beiden Gestalten abwenden, es war zu unwahrscheinlich, was seine Pupillen hier aufnahmen.
"Auch das nennt sich 'Liebe'", dachte er rein mechanisch. Wofür der Begriff nicht alles mißbraucht wird.
Ein schrecklicher Zynismus bemächtigte sich seiner: Alle sind sie nichts wert, eine wie die andere...

* * *


Wiedereinmal traf Willi den deutschen Optiker im Morgenzug, der ihm auch diesmal von seinen Anstrengungen, in Australien Fuß zu fassen, ausführlich berichtete. Der Mann bemühte sich derzeit, die Werkstätte von seinem australischen Chef zu pachten, da dieser vor hatte, den Fünften Kontinent zu verlassen, um sich im fernen England weiter ausbilden zu lassen. "Für Sie bedeutet das Zustandekommen des Vertrages zweifellos die Zukunft hierzulande", pflichtete ihm Willi bei.
"Ja, wenn es nur schon so weit wäre!" seufzte sein Gegenüber.
"Ich habe angenommen, alles sei bereits fix und fertig unter Dach und Fach, auf einmal redet er wieder so kariert daher, als wenn wir die ganze Angelegenheit nicht schon x-mal durchbesprochen hätten. Der Kerl dreht mir buchstäblich das Wort im Mund um. Was mir durchaus nicht gefällt ist, daß man nur dann freundlich behandelt wird, wenn man bei dir etwas erreichen will.
Oft habe ich mich schon gefragt, wer von uns beiden eigentlich so dumm ist, er oder ich."
Wenn der wüßte, wie häufig ich mir diese Frage, in Bezug auf meine Kollegen, schon vorgelegt habe, schmunzelte Willi.
"Ich möchte nur wissen, haben die Aussiebrüder wirklich ein so schlechtes Gedächtnis – oder sind sie so hinterlistig und grundfalsch?"
Das war die Kernfrage, des Pudels Kern sozusagen in ihren Beziehungen zu den Einheimischen dieses Kontinents. Sie selbst merkten nur zu deutlich am Schwinden des eigenen Erinnerungsvermögens, daß das Klima dieses Landes tatsächlich einen leichten Schleier des Vergessens über die Gehirne der Bewohner herabsinken ließ. Aber durfte und konnte dies soweit führen, daß man wichtige Abmachungen einfach unter den Tisch fallen ließ, sie einfach "vergaß"? Oder war der eben demonstrierte Fall nur ein weiterer "Leg-Pull", ein gut aufgelegter Trick, für den die Australier sehr viel übrig zu haben schienen, und für welche Charaktereigenschaft sie ebenso weltbekannt sind wie etwa für den Diggerhut und die Merino-Schafzucht?
"Was macht übrigens Ihre Freundin?" erkundigte sich der Deutsche teilnahmsvoll. Gelegentlich hatte ihm Willi von den Schwierigkeiten mit Danica berichtet, wenn er ihren diversen Aussprüchen wiedereinmal verständnislos gegenüberstand.
"Nun darf ich Ihnen ja sagen, wie ich darüber denke", begann der Mann, nachdem ihm Willi vom Ende der Romanze erzählt hatte.
"Höchstwahrscheinlich haben Sie nicht genug Geld. Wenn Sie Haus und Bankkonto Ihr eigen nennen könnten, würde die Angelegenheit höchst verschieden aussehen. Wo doch gar verheiratete Frauen mit Kindern ihre Ehemänner verlassen – um sich einem Freier mit mehr Mammon an den Hals zu werfen.
Ein Mädel in Europa wäre abwechselnd blaß und rot geworden, wenn Sie ihr das Geld gegeben hätten!"
Es widerstrebte dem jungen Mann, so über seine Angebetene sprechen zu hören, hätte er Danica doch noch vor kurzem gegen alle derartigen Unterstellungen entschlossen verteidigt. Aber wegen der restlosen und furchtbaren Enttäuschung mit der seine Wahngebilde zerplatzt waren, brauchte er eine leicht faßliche Erklärung für ihr Verhalten, wollte er nicht an sich selber verzweifeln. Und zwar eine Erklärung, die möglichst abschreckend auf sein Gemüt einwirkte - damit er sie leichter zu vergessen vermochte, also eine Art der seelischen Selbsthygiene mit einem stark wirkenden Antiseptikum...

Sein Reisegefährte hub wieder zu sprechen an: "Am Sonntag habe ich mit meiner Frau ein Lokal besucht, das viele Deutsche kennen. Konnte dort eine Diskussion dreier deutscher Mädchen am Nebentisch hören. Es war furchtbar... Wie von abgefeimten Geschäfsleuten oder durchtriebenen Huren klangen ihre Worte: 'Was glaubst du, wofür ich die Freunde in der Heimat verlassen habe, zwei Jahre hier im Haushalt schuftete – um dann vielleicht aus Liebe zu heiraten? Und dann weitere fünf Jahre nichts vom Leben zu haben? Für die Liebe, die ich mir hier jeden Abend holen kann, wenn ich will?'
Das waren die Äusserungen einer der drei Damen, die auf den Hinweis, der Tänzer am Parkett sei ein netter Kerl, und ob er ihr denn nicht gefalle – über die zwei anderen mit diesen Verweisen hergefallen ist.
Was sagen Sie nun?"
Der junge Österreicher räusperte sich erst kurz, bevor er zu sprechen begann: "Nun, das ist natürlich nicht sehr erhebend. Mir ist diese Einstellung so mancher Einwandererfrau bekannt, ich kann sie bis zu einem gewissen Grad sogar verstehen."
Er zögerte merklich, bis er sich überwandt und einen insgeheimen Gedanken aussprach. "Ich selbst, ich gebe es zu, habe ähnliche Vermutungen bei Danica angestellt. Sie hat zweifellos eine harte, vielleicht sogar ärmliche Jugendzeit hinter sich. Viel Hunger während und nach dem Krieg – sie hat einmal eine derartige Bemerkung fallen gelassen – und fürchtet nun wahrscheinlich, nochmals ähnliche Schwierigkeiten, diesmal an meiner Seite, durchmachen zu müssen...
Vielleicht besitzt sie einfach nicht mehr die Kraft, die Zuversicht, bringt den Mut nicht auf mit mir durch dick und dünn zu gehen. Sie sehnt sich nach Geborgenheit und Ruhe, glaubt sie aber bei m i r nicht finden zu können. Ein gerade heiteres Naturell besitze ich auch nicht – und gerade Lustigkeit schafft Zuneigung und Vertrauen.
Vielleicht ist es so...ich weiß es nicht!" Der junge Mann lachte gequält auf.

* * *


Eines Sonntags lieh sich Anton ein Motorrad aus, Willi schwang sich auf den Soziussitz und die beiden brausten los, um Paul zu besuchen. Kurz vor Pauls Auswanderung nach Australien, war Paul dem um einige Jährchen jüngeren Willi über den Weg gelaufen und, über die Beweggründe für diesen Schritt befragt, hatte er erklärt, es sei in Österreich für ein mittelloses junges Ehepaar fast unmöglich einen eigenen Hausstand zu gründen. Er hoffe zuversichtlich, in diesem riesigen Einwanderungsland bald ein eigenes Heim errichten zu können.
Nun näherten sich die Burschen diesem Haus, das in einer trostlosen, einsamen Buschgegend stand: nur alle drei Stunden ratterte dort ein klappernder Bus auf der Landstraße vorbei.
Durch eine Lücke in einem verrosteten Drahtzaun gelangten sie in den Hof, wo ein herziger, pausbäckiger dreijähriger Bengel in einer waschechten Lederhose zwischen den Überresten einer uralten Benzinkarosse spielte, die Paul für kurze Zeit zum Leben erweckt hatte. Ein primitiver Holzschuppen, aus Latten zusammengezimmert, diente zur Aufnahme des Gerümpels – und es lag viel davon umher.
Das Haus war zu etwa einem Drittel fertiggestellt, und ragte am Ende eines Betonfundamentes als Provisorium in die Höhe. Selbstgestrickt natürlich, aber trotzdem... Zwischen dem halberrichtetem Mauerwerk flatterte Wäsche zum Trocknen aufgehängt, über die Wiese verstreut lag Plastikspielzeug.
"Sieht aus wie ein Armenhäusler in Österreich. Aber, um Gottes Willen, laß dir ja nichts anmerken!" raunte Anton seinem Freund zu, der schweigend die Szenerie betrachtete.
Innen war es zwar eng, aber das Wohnzimmer relativ behaglich eingerichtet. Kühlschrank, Radio und der unvermeidliche Ventilator erweckten den Eindruck von bescheidenem Luxus. Vom Bett im Vorraum her greinte ein Baby.
"Um da durchzuhalten gehört ein großer Mut her, den ich nicht aufbringen würde", dachte Willi beschämt. Gar nicht auszudenken, wenn Paul für längere Zeit stempeln gehen müßte...
Paul hatte etwas Hektisches, Eckig-Nervöses an sich, das den beiden Junggesellen völlig ungewohnt an ihm dünkte. Wenn er sich nur ein wenig aufregte, schoß im schnell das Blut in den Kopf.
Wie sich herausstellte, verdiente er als der gute Handwerker der er war, nicht viel mehr als Willi – und lange nicht soviel wie der bauernschlaue Anton, der angelernte ehemalige Hilfsarbeiter.
"Früher hat meine Frau mitgearbeitet, aber seit das Jüngste bei uns ist, geht das nicht mehr. Jetzt muß ich eben allein die ganze Gesellschaft erhalten – und der Hausbau muß ruhen!" lachte Paul etwas gezwungen.
Der schafft das alles mit ungefähr demselben Mammon wie ich. Meine vollste Hochachtung, sagte sich Willi, der dies alles mit Verwunderung zur Kenntnis nahm.
Zwei lange Jahre hatten sie im Villawood Hostel ausgehalten, gespart, geknausert – bis sie endlich in der Lage gewesen waren, das Stück Land zu kaufen und mit dem Bau zu beginnen.
Eine etwas taktlose Frage einer seiner Freunde ließ Paul sogleich aufbrausen – und, sosehr sich Anton und Willi bemühten darüber hinwegzusehen – sie fanden ihren langjährigen Freund und Gefährten ihrer tollen Jugendstreiche nun dem Weinen nahe. Und da war es einzig und allein Pauls Frau, die mit einigen sanften, einfühlsamen Worten den Armen wieder ins seelische Gleichgewicht zurückversetzte. Und es war diese Ehefrau und die kleinen Gesten, die Willi immens bewunderte. Wenn es nicht tausende, nein hunderttausende solcher weiblicher Wesen gegeben hätte, die sanft und stark zugleich, ihre männlichen Partner in schweren Stunden wiederaufrichteten, niemals wäre der Wilde Westen Nordamerikas besiedelt worden, niemals würde ein modernes Australien existieren.
Die junge Frau und Mutter ließ nun in Gegenwart der beiden Junggesellen so manche schwere Stunde in ihrem Berufsleben in Australien Revue passieren. Sie hatte zwar die Sprachbarriere bald überwunden – nicht aber den Wesensunterschied zu den Einheimischen. "Ja, und wie ich so in der Arbeitspause meine belegten Brötchen auspackte – es waren Butterbrot mit Tomatenscheiben, grünen Paprika oder Radieschen – da haben sie alle höhnisch losgemeckert: Seht doch die Z i e g e an, die frißt Grünzeug!" Die Einundzwanzigjährige wurde von Erregung geschüttelt, bei der Erinnerung an die Erniedrigungen, denen sie ausgesetzt gewesen war.
Es wird wohl keinen einzigen Einwanderer geben, der nicht durch das Höllenfeuer der Unverständnis und der Dummheit gegangen ist: wo immer eine Minorität, egal welcher Art, der Masse auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ist, sind solche Übergriffe und Angriffe auf die Persönlichkeit des Einzelnen an der Tagesordnung.
Denn die Verschwörung der dummen, hartherzigen Menschen ist weltweit, und sie fordert tagtäglich Opfer, unheimlich viele...
Sie werden Folterungen unterworfen oder physisch vernichtet – wie die Häftlinge in den Konzentrationslagern von Hitler, Stalin oder anderen Menschheitsbeglückern – oder als Flüchtlinge und Auswanderer langsam seelisch zu Tode gemartert, durch Unwissenheit, Ignoranz und Gleichgültigkeit ihrer Umwelt.
Es gehört ungeheurer Mut und große Tapferkeit dazu, trotzdem auszuharren, immer wieder die Freundeshand auszustrecken – die immer aufs Neue übersehen oder zurückgewiesen wird – und dem Land und seinen Bewohnern doch nicht den Rücken zu kehren. Der Mut der Verzweiflung, wie ihn dieses verlassene, einsame junge Paar aus Österreich besaß...

* * *


Im Speisesaal neben dem Konstruktionsbüros trampelten die schweren Schritte der Gießereiarbeiter. Unter lautem Gepolter wurden die Tische und Bänke zurechtgerückt, die Jausenbrote ausgewickelt – und geschwatzt. Im gleichen Zuge, wie die Papierreste auf dem Boden landeten und das Schmatzen der Männer seinen Anfang nahm, entwickelten die verschiedenen Mitglieder dieser geschlossenen Gesellschaft die neuesten Theorien und Ansichten über die "bloody Germans" und ihre verdammte, höchst lächerliche Lebensweise, ihr "way of living".
"Die Schwachköpfe schuften 48 Stunden in der Woche und mehr für etwa den halben Lohn, den wir in Australien für nur 40 Stunden Arbeitszeit beziehen. Aber sobald sie in unserem Paradies eingetroffen sind, schimpfen und meutern sie drauflos, wie verflucht besser bei ihnen in Deutschland alles ist!"
"My word! Vom ersten Tag an stellen sie eine Arroganz und Überheblichkeit zur Schau, daß es ein Graus ist, ziehen über Premierminister Menzies los – und dabei ist es in ganz Scheiß-Europa bis heute nicht gelungen die Ordnung und den Standard of Living herzustellen, wie wir es in Australien gewohnt sind."
"Ob sie überhaupt genug zum Fressen haben, die Habenichtse? So eine Menge und Auswahl an Waren wie in unseren Shops werden sie daheim wohl kaum finden!"
"Gosh, bei uns hungert keiner, that's right, Matey! We got plenty of all!"
"Nicht umsonst hat sich der Kerl da im Konstruktionsbüro so herausgefressen – zuhause wird es nichteinmal..."
"Ach, die fucken Germans sind alle viel stärker gebaut als wie wir. Die sind schon so!"
Schmatzen, Gurgeln aus den Bierflaschen, Knistern von Papier. "Heh, Jack! Ist es wahr, habe gehört, daß sie in vielen Ortschaften nicht einmal elektrisches Licht kennen?"
"Ja, und auch höchst selten Kühlschränke..."
"Ruhe, Mates! Mir ist eben etwas eingefallen! Da geht meine Alte zum Fleischhauer, und wie sie so dasteht und wartet bis sie an die Reihe kommt, fragt der Butcher eine Lady, die es kaum erwarten konnte bis er im Nebenzimmer mit dem Rasieren fertig war, was denn los sei? Nun, ihr wißt ja, die Migrants drängeln immerzu. Sie wolle eine Leber, hat die Lady drauf geantwortet. Für den Hund, hat sich der Meister erkundigt und den Schaum vom Kinn gestrichen. Und stellt euch vor, Mates! Stellt euch das mal plastisch vor, da gibt sie zur Antwort: 'Nein, für mich, ich habe keinen Hund.'
Meiner Frau sind gleich kalte Schauer die Schulter hinunter gelaufen. 'Which Country?' wollte der Fleischer natürlich nur mehr wissen. Von wo stammte die feine Lady wohl her? Natürlich aus dem bloody, fucken Germany! Nur dort frißt man solches Zeugs zusammen, ihr wißt ja selbst aus eigener Anschauung, was das für Barbaren sind!
Haben sie nicht ihre alten Leute abgeschlachtet und Seife draus fabriziert? Alles Schweine – hab' ich nicht recht?"
Das Gegröhle, Gestampfe und die Beifallsrufe auf den Gag des Kumpels drangen Willi nur mehr gedämpft ans Trommelfell, denn verzweifelt hielt er die Hände über die Ohrmuscheln gepresst, um die unsinnigen, hirnlosen Tratschereien nicht mehr länger anhören zu müssen.
Es kotzte ihn an!
Es eckelte ihn vor jeder Fratze, die da ein und ausging. Nur nicht mehr diesem Stumpfsinn ausgeliefert sein zu müssen, den Primitivlingen, die da umherliefen. Aber dann horchte er wiederum gespannt auf. Ungeniert unterhielt man sich jetzt über sein Privatleben in Barston. Nicht, daß er etwas zu verheimlichen gehabt hätte, aber die niederträchtigen Vermutungen, die an die harmlosesten Ereignisse geknüpft wurden, konnte er nicht so ohne weiteres hinnehmen, das waren ja die reinsten Ehrabschneider! Woher, zum Teufel, bezogen diese Männner bloß ihr Wissen? Woher, verflucht nochmal, wußten sie Bescheid, was er an den letzten Weekends getrieben hatte?
Das ging doch nicht mit rechten Dingen zu!
Entschlossen sprang er auf die Beine, lehnte sich dann bewußt lässig an den Türrahmen, kaute an seinem Apfel und blickte sich ruhig in der Männerrunde um: "Wer hat sich da eben über mein Privatleben ausgelassen? Los, wer war es?" Niemand ließ auch nur einen Ton verlauten, alle Gespräche verstummten mit einem Schlag. Nur das Schmatzen der Mäuler war noch zu hören.
Der Österreicher hielt sich keine Sekunde länger mit sinnlosen Diskussionen auf, sondern lief schnurstracks zum Personalchef und schilderte ihm wütend die Geschehnisse der letzten Minuten.
Der ältere, sympathische Australier mit dem norwegischen Familiennamen wand sich in Verlegenheit als ihn der junge Mann anfuhr und ihm mitteilte, daß das Maß nun voll und er entschlossen sei, mit dem Unfug aufzuräumen der hier mit seiner Person getrieben werde, ein für allemal Schluß zu machen: "Woher wissen die Leute hier, was ich in meiner Freizeit tue? Spitzelt man mir vielleicht nach?"
Der Australier bequemte sich schließlich zu eine Erklärung, die den Österreicher in höchstes Erstaunen versetzte. "Es besteht eine australische Organisation zur Überwachung der Einwanderer", erklärte der Mann zögernd. "Wahrscheinlich pflegt einer der Kumpel Kontakt mit einem dieser Beamten. Ich selbst bin ein Mitglied... Vornehmlich ältere Herren, oft Pensionisten, werden üblicherweise für diese Aufgabe herangezogen." Bereitwillig und nicht ohne Stolz zeigte er Willi seinen Ausweis. "Aber wir mögen die Germans sehr", fuhr er fort. "Mir persönlich wäre es nur recht, wenn alle Deutschen zu uns nach Australien auswandern würden. Ich bewundere ihre Kultur und ihre Bildung. And we need brains over here", schloß der Alte sehr sachlich.
Welche Feststellung: "Wir brauchen hier noch viele gute Köpfe."
Der junge Mann starrte ihn entgeistert an und legte dann wütend los:
"Ihr braucht also die starken Arme der Einwanderer, ihre Muskeln, ihre Geschicklichkeit, wollt ihre neuen Ideen ausschöpfen, ihre gute Ausbildung nützen... Was aber geschieht mit den Herzen, die unweigerlich dabei sind? Die weist ihr tagtäglich zurück! Wir sind doch keine gut funktionierenden Maschinen, die man einfach an- und abschalten kann nach Belieben, die man von einem Ort zum anderen transportieren und neu einfundamentieren kann...
Was bildet ihr euch denn ein, ihr Australier! Ihr glaubt wohl, wir müssen euch auf den Knien danken, daß ihr uns die Gnade und das Privileg erweist, uns in eurer 'Paradies' eintreten zu lassen! Was meint ihr wohl, wohin das führen wird? Habt ihr euch jemals darüber den Kopf zerbrochen? Ich glaube nicht!"
Die wilde Empörung ließ die Stimme des jungen Mannes anschwellen, seine Arme beschrieben weitausholende Kreise, als er drohend ausrief: "Aber ich kann es Ihnen verraten, Mr. Johnson: alle werden euch wieder verlassen!
Einer wie der andere! In überfüllten Schiffen werden sie zurück in ihre Heimatländer, nach Europa flüchten. Ihr werdet auf eurer Robinsoninsel verrotten bis ein asiatischer, totalitärer Staat mit einer einzigen Geste diese ganze lächerliche, versnobte Gesellschaft hinwegwischen wird, so gründlich, daß kein Stein mehr auf dem anderen stehen bleiben wird!
Und niemand wird euch in dieser Not beistehen können. Niemals werdet ihr ein Zwanzig-Millionenvolk werden, wenn ihr eure kleinlichen Interessen weiterhin dem Fortschritt in den Weg stellt, der Zukunft euren Landes. Der einzigen, die möglich ist – mit einer verstärkten, unbegrenzten Einwanderungspolitik, wo jeder Bewohner dieses Kontinents jeden Neuankömmling mit offenen Armen aufnimmt!"
Mit steigender Verlegenheit hatte der alte Australier dem Ausbruch des zornigen jungen Mannes gelauscht. Ohne eine Entgegnung abzuwarten, stürmte der Österreicher zum Fabrikstor hinaus, um seine Wut abklingen zu lassen. Im nahegelegenen Park verzehrte er, nun etwas ruhiger, eine kleine Erfrischung. Kinder tollten um ihn herum und der zehnjährige Sohn des Shop-Inhabers von nebenan sprach ihn vertraut mit seinem Vornamen an. Ein kleiner Bengel klemmte einen Fuß zwischen den Planken der Bank ein und Willi half ihm, wieder davon loszukommen. Es tat wohl, jemandem harmlos Vertrauenden etwas Gutes tun.
Mit neu gestärkter Zuversicht begab er sich wieder an seinen Zeichentisch, ergriff Zirkel und Bleistift und trieb seine Entwürfe voran. Der halbe Nachmittag war schon verflossen, als einzelne Rufe und Schreie aus der Werkshalle herüberhallten. Er schenkte ihnen vorerst keine Beachtung, bis sie anschwollen und er einzelne Worte verstehen konnte.
"You b l o o d y bastard!"
"You fucken German!!! Get lost!! Get away!" Schaurig drangen die wütenden Schreie aus verschiedensten Richtungen an sein Ohr. Willi erinnerte sich der Bemerkung des Personalchefs mit dem er auf gutem Fuß stand, einen verheirateten deutschen Schlosser eingestellt zu haben. Vermutlich hatte er sich wie gewohnt in die Arbeit gestürzt, konnte sich mit seinen englischsprachigen Kollegen nicht unterhalten und war nun hilflos der Meute ausgeliefert, immer dasselbe Lied.
Der junge Mann legte die Arbeitsrequisiten aus der Hand und straffte seinen Körper. Die vier Bürokollegen blickten verstohlen zu ihm herüber, was er jetzt tun wohl würde? Offene Schadenfreude stand in ihren Gesichtern geschrieben.
"Verschwinde, verfluchter Kerl! Weißt du nicht, daß wir in einem Engpaß stecken, daß wir nicht genug Aufträge haben? Und da haust du noch so hin? Bleib uns mit deinen Großdeutschland-Manieren vom Leibe!!"
Die riesige Halle befand sich in wildem, unkontrollierten Tumult, ja offenem Aufruhr. Männer in schmutziger Kluft standen in Gruppen beisammen und schüttelten drohend die Fäuste gegen den Mann, der einsam und verbissen an einem Werkstück feilte, der nicht begriff, warum sich die Volkswut an ihm entzündete. Und mitten im Profil des weitgeöffneten Tores, draussen im gleißendem Glanz des Sonnenlichtes, pflanzte sich die Gestalt Willi Högers auf, des jungen Mannes, der als einziger die Zivilcourage aufgebrachte, gegen diese Willkür einzuschreiten. Die Gestalt, hochaufgerichtet, aus dem Halbdunkel der Halle nur in Umrissen zu erkennen, allein auf sich gestellt – strömte kalte Drohung und Entschlossenheit aus, eine Entschlossenheit, die auch die erhitzten Gemüter der Kumpels da drinnen fast augenblicklich abkühlte. Mit einem Schlag verstummte der Tumult. Ohne die Figuren entlang der Montagestrecke auch nur eines Blickes zu würdigen, schritt er auf den Newcomer zu, mit dem ihm die gleiche Sprache verband: "Regen Sie sich nicht auf, versuchen Sie einfach nicht auf die Kerle zu hören. Aber machen Sie um Gottes willen langsamer weiter – oder man wirft Sie kurzerhand hinaus! Mir ergeht es genauso... Wenn die es mit Ihnen zu bunt treiben sollten, verständige ich die Polizei."
"Danke", stieß der gehetzte Mann im rauhen Ton hervor. Beim Hinausgehen blickte Willi den Arbeitern geringschätzig herausfordernd in die Augen, und kein weiterer übler Ausdruck fiel. In der lautlosen Stille vernahm Höger das Knirschen des Sandes unter seinen Sohlen. Draussen angelangt, fühlte er wie schwer sein Herz gegen die Rippen pochte.

Einige Tage lang herrschte Ruhe, relative Stille um ihn herum. Man versuchte ihn andersherum zu boykottieren. Wenn er abends zur Bahn ging, fehlte nun der junge Australier aus dem Büro, der ihn früher häufig begleitet hatte. "Los, bleib hinten, Johnny!"
"Er ist ein Spion! Du darfst dich nicht mit ihm unterhalten. Laß ihn sausen!" zischten die Kollegen dem gutmütigen Burschen zu.
Und wenn sich Willi in der Frühe an der Stechuhr anstellte, raunten die Stimmen um ihn her: "Bloody spy! Bloody spy! Bloody ..." Er reagierte nicht mehr darauf, stellte sich taub und blöde. Und trotzdem überlegte er natürlich krampfhaft, wie er dem grausamen Spiel ein Ende machen könnte, wie er die Brüder dazu bringen konnte, ihm eine Atempause zu gewähren...
Er beging den Fehler, mit der Vernunft der Menschen zu rechnen, schloß aus seinem doch sehr kühl abwägenden Verstand auf die Einsicht der anderen. Man mußte doch einmal kapieren, daß die ganzen Quertreibereien – falls die Aussies wirklich an das glaubten, was sie da verzapften – unsinnig waren.
Durch Zufall entdeckte er in einem US-Magazin eine Art Karikatur, mit deren Hilfe er seinen australischen Kollegen die Augen zu öffnen hoffte, ihnen verständlich machen wollte, wie er und Hunderttausende über die Einwanderungspolitik dieses Landes dachten.
Ein sowjetrussischer General mit Tellermütze, die Brust übersät mit Orden, starrte mit verschränkten Armen in abwartender Pose dem Betrachter entgegen. Darunter schrien Balkenlettern:
I V A N I S W A T C H I N G Y O U !
Der Russe beobachtet Euch, lauert geduldig, bis Ihr reif seid - für den Kommunismus: das war der Sinn des Cartoons.
Den übrigen Text trennte Willi sorgsam ab und klebte den Ausschnitt deutlich sichtbar an eine Wand in der Kantine.
Die idiotischen Mutmaßungen und üblen Verleumdungen der Germans im allgemeinen und unseres Helden im besonderen verstummten in den folgenden Tagen fast vollständig. Mit Genugtuung hörte Willi die Stimmen aus dem Nebenraum nun in gemäßigteren Tönen weiterquatschen. Selbst der ärgste Hetzer entschuldigte sich nahezu bei seinen Kameraden – Willi erkannte ihn nur an dem krächzendem Organ: "Ich habe ja nicht viel gegen die Germans gesagt. Wir müssen uns ja im klaren sein, daß hier alle Nationen friedlich nebeneinander leben müssen..." Und so weiter auf der weichen Welle...
Seine Bürokollegen tuschelten untereinander: "Jaja, Experiance, Erfahrung. Wie elegant er das gemacht hat ... Ohne ein einziges Wort fallen zu lassen, hat er die ganze Diskussion gestoppt!" "Erfahrung", dachte Willi, "Erfahrung habe ich genug gewonnen in Australien, auch Umgang mit Menschen, zumindest gewisser Spezies, und nicht a la Knigge. Aber das? Das mit dem russischen General? Das war eindeutig eines meiner Genieblitze, dear boys", lachte er still in sich hinein.

* * *


Ganz überraschend erhielt Willi einen Anruf von "Ihr", von der er seit zwei Monaten weder etwas gesehen noch gehört hatte. Obwohl er versuchte sie zu vergessen, immer wieder ertappte er sich dabei wie er in seiner Bude abends Mutmaßungen über ihre Person aufstellte, immer neue Theorien durchhäkelte und am Ende verwirrter denn je dastand. Statt sich mit der simpelsten Erklärung zufriedenzugeben, nämlich daß sie ihn einfach nicht liebte, oder zumindest nicht genügend liebte – besaß er nun deren zehn oder mehr.
Er war auf die skurrile Idee verfallen, ihr brieflich von seiner Abreise nach Europa Anfang April mitzuteilen. Lag Danica trotz allen gegenteiligen Anscheins etwas an ihm, würde sie seiner Meinung nach versuchen mit ihm in Kontakt zu kommen, anderenfalls war es eben eine "one sided love", versuchte er sich einzureden.
Daß diesen Überlegungen ein fataler Fehlschluß zugrunde lag, war ihm nicht zu Bewußtsein gekommen. Auf einen der üblichen Kartenbriefe an sie war keine Reaktion erfolgt. Auf einem Anruf bei den Nachbarn hin hatte er zur Kenntnis nehmen müssen, daß Danica gemeinsam mit dem befreundeten Ehepaar verzogen war – unbekannten Aufenthaltes.
Und nun dieser Anruf von "Ihr", den er insgeheim mit einer gewissen Bangigkeit erwartet hatte. "Hast du meinen Kartengruß erhalten?" erkundigte er sich stoisch. "Ja", antwortete sie schlicht.
"Wo wohnst du jetzt eigentlich?"
"Warum willst du das wissen?" Blöde Frage, dachte er verbittert.
"So weißt du also, daß ich Montag Sydney verlassen werde, um nach Europa zurückzukehren?" Stumm wartete er auf ihre Reaktion, die eine endgültige Entscheidung über sein unmittelbares Schicksal formen würde.
"Ich kann es nicht glauben – Willi!" "Wenn du mir nicht glauben willst oder magst, weiter auf meine Zuneigung baust, warum gibst du mir dann dauernd solche Antworten?" dachte er wütend.
"Doch, es ist so. Am Montag um 22 p.m., mit der Fairsea."
Er spielte seine Rolle zu Ende und wußte selbst nicht, warum. Doch er wollte eine Entscheidung erzwingen, und zwar augenblicklich. Im Hintergrund hörte er Warran kichern, sonst lauschte er nur absolute Stille.
Endlich raffte sie sich auf: "Ich hoffe, du wirst sehr glücklich..." Eine ganze Welt lag in diesen einfachen Worten, eine verlorene Welt. Der Wunsch, ihn wirklich zufrieden zu sehen. Er brachte es nicht über sich, ihr einfach zu gestehen, daß er sich nach ihr sehnte, seit Monaten, nein, seit vielen Jahren nach einer Frau sehnte wie sie eine war. So kleidete er diesen Wunsch in Worte die ihm lagen, Worte die ausdrücken sollten, was er ihr auf andere Weise nicht mitteilen konnte: "Ich möchte dich noch einmal treffen, Danica. Beim alten Meeting Point, du weißt schon – bei Mark Foy's. Wirst du kommen?" Er fieberte vor Spannung, und da kam auch schon die Antwort: "Nein. Ich werde dich nicht mehr treffen. Habe keine Zeit. Samstag Vormittag arbeite ich für meinen Chef, Nachmittag mache ich Dienst in seiner Filiale bei Chelsea – ich muß arbeiten, um meine Schulden abzahlen zu können. Samstag Nacht muß ich schlafen, und Sonn..."
Sie hat sich also einen aufgegabelt, wollte ihn nicht mehr zu Gesicht bekommen! Im sachlichsten Ton der Welt unterbrach er sie und fragte, verrückt vor Eifersucht: "Schläfst du allein?"
Ein Knacken in der Leitung ließ ihn wissen, daß sie aufgelegt hatte, nun hatte er sie endgültig verloren, unwiderruflich. Nächste Woche wähnte sie ihn bereits auf hoher See. Ihre Anschrift war ihm unbekannt, er wußte niemandes Adresse aus ihrem Bekanntenkreis und keine Behörde Australiens würde ihm ihren Wohnsitz verraten, das verstieß gegen das Gesetz. Was bleibt mir noch zu tun übrig, was habe ich in diesem gottverdammten Australien noch verloren?
Müde kehrte er zu seinem Reißbrett zurück. Seine Arbeit war das einzige, was ihn nun noch aufrecht halten konnte, ihm Rückgrat verlieh.

* * *


Bei nächster Gelegenheit begab sich Willi Höger in die City, suchte ein Reisebüro auf und belegte eine Passage auf der "Fairsea", dem Liner, der die "Flamingo" vor Bab el Mandeb bei seiner Auswanderung überholt hatte. Versonnen blickte er auf die Zahlungsbestätigung in seiner Hand, wer hätte das je gedacht? Gebucht hatte er für Mitte Juni, es blieben ihm also knapp zwei Monate, die er hier noch ausharren galt.
Irgend ein Firmenangehöriger von Williamstown Foundry Pty mußte ihn auf dem Reisebüro gesehen haben, denn der infantile Dicke, der ihnen eben die Konstruktionunterlagen von "draussen" brachte, legte beinahe philosophische Töne an den Tag, deren Aussagen sich nur auf Willi beziehen konnten. "Das Leben ist schon spaßig, wenn man es so betrachtet", verlautbarte er mit resignierender Stimme. "Der eine wartet auf eine Gehaltserhöhung – und der andere auf den Zeitpunkt bis sein Schiff ausläuft. So wartet eben jeder zu jeder Zeit auf irgendetwas in seinem Leben."
Also war man bereits über seine Abreisepläne informiert, vielleicht vom Secret Service? Umso besser, war ja auch vollkommen egal. Nun konnte er das Visir in Kampfstellung bringen, durfte die Maske des still Duldenden fallen lassen...
Selbst wenn sie ihn entlassen würden – bis zur Abreise konnte er sich mit Gelegenheitsarbeiten durchschlagen. Denn das ersparte Kapital wollte er unangetastet hinüberretten – nach Europa. So laut, daß alle erstaunt aufsahen, sagte er: "Well, Sie haben vollkommen recht mein Freund mit ihrer Bemerkung, daß jedermann sich mit Warten die Zeit vertreibt.
Ich spreche aus eigener Erfahrung – im Busch zum Beispiel war ich manchmal fest davon überzeugt, die Leute dort warten nur auf den Tod, so langweilig lief alles ab. Und in eurer geschätzten Mitte, meine Herren, beschleicht mich das unangenehme Gefühl – speziell wenn ich Warran betrachte, wie er bei der Hitze im Sessel hängt und den Fliegen an der Wand bei ihren neckischen Spielchen zusieht – ihr wartet alle darauf, bis euch die Sonne den letzten Rest Verstand aus dem Hirn saugt... Von den Einwanderern warten viele wiederum nur auf den Tag, wo sie ihre 1000 Pfund zusammengekratzt haben, um dann frohlockend in ihre heimatlichen Gefilde zu entschwinden – damit sie dort ein n o r m a l e s Leben als gleichberechtigte Bürger führen können!"
Mit beispielloser Ruhe hatte Willi Höger diese provozierenden Äusserungen in wohlgesetztem Sätzen hingeworfen.
Die fünf Personen hingen wie erstarrt in ihren Sesseln, halb umgewandt, im Begriffe aufzuspringen. Der rotblonde Engländer legte die Zigarette bedächtig in den Aschenbecher, lehnte den Oberkörper nach hinten und grinste unverschämt in Richtung Warren. Ray hatte dies schon lange kommen sehen, nun wollte der Pommy die heraufziehende Szene voll genießen.
Oh, Willi wußte genau, wo er die Burschen am tiefsten treffen konnte, lange genug hatte er Gelegenheit und Anlaß gefunden, die Volksseele hierzulande intensiv zu studieren. Aber noch niemals hatte in seinem Benehmen eine derart unverblümte Herausforderung gelegen.
"Was willst du damit ausdrücken, Willy?" formulierte Warran langsam jede Silbe. Ted nahm die Augengläser von der Nase, wie immer wenn ihn etwas aufrührte. Gleich würde der Austrian wieder spuren, bisher hatte es noch immer geklappt, doch der riß den Mund wieder weit auf:
"Nun, erstens einmal, daß ihr Aussies stinklangweilige Burschen seid, insbesondere was euer Arbeitstempo anbelangt. Daß zum Beispiel ohne Hilfe der Einwanderer heutzutage keine einzige Bahnlinie gebaut worden wäre..." Warran unterbrach ihn kalt: "Es sind im letzten Jahrzehnt überhaupt keine neuen Linien verlegt worden – also dazu hätten wir die bloody Migrants nie gebraucht!" Höhnisch verzog Ted seine Visage in tausend Falten.
"Zugegeben, keine größeren.
Aber wie steht es denn mit den Ausbesserungsarbeiten, heh? Mir ist bekannt, daß in einzelnen Gebieten Australiens der gesamte Eisenbahnverkehr ausschließlich durch Einwanderer aufrechterhalten werden kann!" Und Willi gönnte sich noch einen kleinen Triumph dazu:
"Mir selbst hat die Australische Regierung ja auch in großzügigster Weise Krampen und Schaufel in die Hand gedrückt. Habe bei dieser Gelegenheit im Busch ebenfalls ein paar tausend Yards an Schienen verlegt. Na, was sagt ihr dazu?" Der junge Mann blickte sich herausfordernd im Kreise seiner australischen Zuhörer um.
"Das ist nur recht und billig von unserem Government. Schließlich haben sich unsere Vorfahren ja auch jeden Square Inch des Landes erst erobern müssen, als sie vor Jahrzehnten oder Jahrhunderten hier gelandet sind. Warum soll es euch Europäern in dieser Hinsicht besser gehen? Erarbeitet euch erst mal das Paradies, das ihr hier vorfindet!" rief der Ingenieur unwillig aus. Es war ihm also ernst mit seinem Kommentar, niemals zuvor hatte er sich aus der Reserve locken lassen.
"Verdammt nochmal! Was für ein Paradies meint ihr eigentlich?" brach es nun aus Willi heraus. "Glaubt ihr denn wirklich, daß mir diese sandige, verstaubte Robinsoninsel mit den wenigen spärlichen Gebüschen und den dazwischen herum hüpfenden Kangaroos als der Garten Eden erscheint?
Ist doch lächerlich.
So kann nur ein Mensch reden, der noch nie einen Schritt vor die Schwelle seiner Tür gemacht hat!" Johnny, der blutjunge Kerl, spielte nervös mit einem Bleistift und richtete seine weitgeöffneten Kinderaugen auf die erhitzte Gruppe.
Warran griff nun in die Mottenkiste der Argumente, die in der Öffentlichkeit immer wieder aufgetischt wurden.
"Aber unser Klima ist doch healthy, gesund. Es gibt fast keine Lungenkranken, wir sind doch das Land mit der längsten Sonnenscheindauer der Welt! Bei uns wachsen keine rachitischen Kinder auf wie am Kontinent – oder im neblichen, fucken England..." Ein schräger Seitenblick auf den Pommy, auch dem hatte er es nun gegeben. Warum griff der übrigens nicht in die Debatte ein und stellte sich auf die Seite der Aussies? Konnte er den überheblichen Austrian am Ende gut leiden?
"Allerdings, das stimmt. Du hast vollkommen recht. Bei euch scheint die Sonne am längsten. Aber..." Willis Mundwinkel zogen sich zynisch herab. Die vielen, mit Geduld und Nachsicht ertragenen Demütigungen zogen an seinem geistigen Auge vorbei, drängten ihm Worte auf die Zunge, die nur entfernt seine Bitterkeit erahnen ließen. Genußvoll zerkaute er die nächsten Silben: "Aber..., es gibt da im deutschen Sprachschatz eine Menge guter alter Volksweisheiten und Sprichwörter, so zum Beispiel: Wo viel Licht ist, gibt es auch viel Schatten. Auf euer Scheiß-Country übertragen bedeutet das, daß ihr zwar keine rachitischen Kinder habt ... dafür aber umso mehr Geisteskranke unter euch weilen... Wer weiß, vielleicht hat es auch Warran schon gepackt? Er stiert mir schon zu lange die weißgetünchte Wand vor seinem Schreibtisch an!"
"Bloody bastard!" zischte Ted wütend. Hastig rückte er seine kreisrunden Brillen zurecht, seine Blicke begannen unsicher zu flackern, wanderten emsig suchend im Raum umher. Der Jüngere des Zweigespanns, Warran, hing plötzlich weich durch, als ob ihm jemand unvermutet eine Axt ins Rückgrat gehauen hätte.
"Das war stark, Willy", stieß er matt hervor. Ein unheimlich satanisches Gefühl der Genugtuung erfüllte den bloody Migrant, der Schlag in die verwundbare Kerbe hatte haargenau getroffen. Lächelnd trieb er die Angriffe weiter: "Oder willst du das Gegenteil behaupten, M i s t e r Warran? Willst du leugnen, daß sich die ganze Bevölkerung, die Einwanderer miteingeschlossen, gegenseitig bespitzelt - ängstlich nach jedem Anzeichen von Madness, von Verrücktheit beim Mitmenschen Aussschau hält?
Warum wohl? Ich kann dir auch das verraten: Weil er um sein eigenes Seelenheil fürchtet, weil die ganze Lebensweise, diese puritanisch strenge, altmodische, jeder lauten Freudensäusserung abholde Einstellung zum Leben euch zu notorischen Spießern heranwachsen läßt, die an ihrer eigenen Einfalt und Introvertiertheit schließlich zu ersticken drohen. Depressionen, Neurosen – alles gang und gäbe. Jede emotionelle Regung wird unterdrückt, bloß weil es nicht als fein gilt, aus sich herauszugehen.
Warum sind die Italiener trotz ihrer materiellen Armut ein so lebenslustiges Völkchen? Bei der Arbeit im Busch platzte mal eine Ölleitung im Tunnel, mit mehreren Atmosphären Überdruck ergoss sich das schmierige Zeugs über die Kumpel. Alles drohte binnen Sekunden überflutet zu werden, alle waren bereits mit einem Ölfilm überzogen. Wie war die Reaktion der Leute? Die Aussies haben einige halblaute Flüche von sich gegeben, daß die Steine vor Scham erröteten. Die Italiener haben wild gestikuliert und wie Ochsen am Spieß geschrien, haben Zeter und Mordio gebrüllt – vor Vergnügen über den großen Spaß. Abgedreht hat die Flut dann ein bloody German. Man sollte also versuchen, allen Lebenslagen eine heitere Seite abzugewinnen, meine Herren Australier. Das würde die seelische Ausgeglichenheit fördern, die euch fehlt..."
"Ich rede wie ein Buch", dachte Willi, "als ob ich mich selbst an diese Erkenntnisse halten würde."
"Aber die Australier sind doch ein humorvolles Volk!" ließ Warran nun verlauten. "Ja, das stimmt auffallend. Ihr witzelt immer dann und speziell über solche Angelegenheiten, wenn Menschen anderer Nationen ernst zu werden beginnen. Für euch Australier ist sogar das Fehlen jeglicher Ernsthaftigkeit und Seriosität im Gespräch bezeichnend – möchte ich behaupten. Schon wieder etwas, das euch von den Amis unterscheidet, denen ihr so nacheifert oder es wenigstens versucht..."
"You are right, Willy! Wir lieben es sogar sehr, den Leuten mit denen wir es zu tun haben, ein Bein zu stellen – besonders wenn es sich dabei um Einwanderer handelt." Ted war nun in seinem Element, die scharfe Spitze, mit der die Diskussion begonnen hatte, begann stumpf zu werden und machte einem leicht ironischen, neckendem Ton Platz. "Aber wir sind durchaus nicht abgeneigt, die Ansichten von Menschen anderer Nationen ernstlich anzuhören!"
"In der Theorie – ja. Aber gewöhnlich versucht ihr dann mit euren eigenen Ansichten aufzutrumpfen und alles niederzuhauen, mit Meinungen, die ebenso pathetisch wie fürchterlich präpotent vorgebracht werden..."
"Na, was denn zum Beispiel? Another Crack at the Australians. Go on!" Ungeduldig drängten ihn die Männer, sahen Willi halb belustigt, halb verärgert an. Willis Miene verhärtete sich, ein spezielles Thema lag ihm auf dem Herzen, war es wert, aufs Tapet gebracht zu werden: "Nun, zum Beispiel dies: In euren Zeitungen tauchen laufend Titelüberschriften auf, wie 'Man schickt uns immer mehr Mörder, Gangster und Verrückte aus Europa herüber! Laßt euch das nicht mehr länger von der Regierung gefallen!' – und so weiter." Unwillig starrte Warran herüber: "Ist dir denn nicht bekannt, wer diese Schlagzeilen verfasst? Das sind doch kommunistische Schmierblätter!!"
"Doch, das weiß ich. Aber ich weiß auch, daß ein Großteil der Bevölkerung solche Behauptungen schluckt - ihr doch auch! Gebt es doch zu!!" rief Höger wütend aus. "Jedenfalls berichten die Blätter immer wieder: Der Täter, ein Einwanderer aus so und so, erstach Mr. XY...und so weiter. Das ist bestimmt nicht erfunden, oder?" warf Ted nun seine Einwände in die Waagschale.
"Nein, durchaus nicht, nehme ich an. Aber abgesehen davon, daß ich mit der Diskriminierung aller Einwanderer einer Nationalität wegen der Fehltritte einzelner nicht einverstanden bin, nützt man der von der Regierung angestrebten und durchgeführten Migration-Politik sicherlich nicht – was ja unter anderem Zweck der Übung ist. Überdies hat eine staatliche Untersuchung kürzlich ergeben, daß der anteilige Prozentsatz der von Einwanderern begangenen Strafdelikte geringer ist als der von den Einheimischen!" Willi legte eine wirkungsvolle Pause ein.
"Wenn ihr wollt, kann ich die Zeitungsausschnitte morgen mit ins Büro nehmen. Ich habe sie mir gut aufbewahrt – für alle Fälle...", grinste der Österreicher mit gespielt freundschaftlicher Miene.
"Bastard", knurrte Ted, der erzpatriotische Chauvinist, verlegen.
Als habe er diesen Beschimpfung überhört, fuhr Willi fort seine Kollegen in lockerer, freundschaftlich-sachlicher Art aufzuziehen. Jetzt fuhr er eines der schwersten Geschütze auf, die ihm zur Verfügung standen: "Das ist mir persönlich leicht verständlich – stammen doch die meisten eurer Vorfahren von Verbrechern ab, die aus England strafweise in dieses gräßliche Land deportiert worden waren."
Der unpersönliche, verständnisvolle Ausdruck in der Stimmme des Einwanderers reizte seine Widersacher bis zur Weißglut. Als hätte er in ein Hornissennest gestochen, attackierten ihn die 'Kollegen' nun mit Schmährufen sonder Zahl: Der Europäer hatte sehr gezielt die Archillesferse der Alteingesessenen verletzt. Warran schnappte nur mehr nach Luft: "Aber ..., aber das waren doch nur ganz kleine, unbedeutende Diebstähle, eine Henne, ein Shilling – oder dergleichen. Kein Mensch würde sich heute darum kümmern!"
"Ja heute! Aber gebt es doch zu: Es war eine negative Auslese, die da die entlegene Kolonie zuerst besiedelt hat!!"
Der australische Ingenieur hing bekümmert über der Schreibtischplatte, beinahe hätte Willi Mitleid mit ihm empfunden. Die beiden jungen Burschen in ihrer Mitte waren die längste Zeit einfach sprachlos dagesessen, nur der rothaarige Engländer hatte einzelne schlagfertige Einwände Willis mit kurzem Auflachen quittiert. Der Newcomer gewann nun zweifellos an Terrain, verzweifelt suchten die erwachsenen Australier nach neuen Argumenten, mit denen sie Willi mundtot machen konnten. Jetzt trumpfte Ted wieder auf, der gegenseitigen Beschuldigungen schien es kein Ende nehmen: "Wenigstens keine degenerierten Österreicher sind damals ins Land geströmt, so wie heutzutage..."
"Inwieferne degeneriert? Ich verstehe nicht ganz...?"
"Well, die Österreicher leben in ihrem kleinen Land ja nur mehr von der 'Eisernen Ration', Kulturration, meine ich. Hochöfen glühen auch in China, im Schwarzen Afrika. Auch dort werden vermutlich Seidenstrümpfe erzeugt und Radios - drauf braucht ihr Österreicher nicht sonderlich stolz zu sein. Ansonsten träumt ihr scheinbar nur mehr vom ehemaligen Hapsburger-Empire, oder wie immer das geheißen hat. Von der einstigen Größe ist doch nicht mehr viel übrig geblieben, oder?
Könnt ihr heute noch den Anspruch erheben, eine der führenden Kulturnationen der Erde zu sein – ganz abgesehen von den bescheidenen materiellen Wohlstand, den eure Zivilisation erreicht hat, den sich jeder Negerstaat im Kongo schaffen kann, wenn er nur genügend Zeit und Kapital zur Verfügung hat?"
"Lieber Ted", gab Willi Höger bedächtig zurück, "ich weiß von deiner letzten lächerlichen Behauptung schon lange – gewisse Interessengruppen hier in Australien wollen damit das sogenannte Wirtschaftwunder Deutschlands und auch Österreichs schmälern. Aber ich muß zugeben, daß du das Kernproblem unserer Generation in Europa erfasst hast. Mich wundert deine genaue Sachkenntnis.
Aber glaube mir, intellektuelle Kreise bei uns zuhause setzen sich sehr intensiv mit diesem Problem auseinander. Wie, das zu erörtern würde zu weit führen. Eben deshalb glaube ich ernstlich, kann man uns nicht für degeneriert halten. Wir leben in einer Übergangsphase – man schnuppert nach langen entbehrungsreichen Jahren endlich Wohlstand, aber diese vorwiegend materielle Einstellung zum Leben wird nicht ewig dauern. Neue schöpferische Kräfte sind am Werk. Das ist es doch, was du ausdrücken wolltest, nicht wahr?"
Eigenartigerweise erwuchs in ihm eine starke Sympathie für seine Gegner, seine beruflichen Konkurrenten und weltanschaulichen Widersacher. Diese seine Einstellung den Australiern gegenüber hatte sich trotz der heftigen, persönlichen Auseinandersetzung nur noch verstärkt. In den wenigen Sekunden, die ihm zum Sammeln der Gegenargumente zur Verfügung standen, grübelte er kurz über dieses Phänomen nach, konnte aber keine einleuchtende Erklärung für sein paradoxes Verhalten finden. Hätte der junge Österreicher psychologische Studien betrieben, wäre ihm mit erschreckender Klarheit bewußt geworden, daß seine nun wachsend wohlwollende Einstellung den australischen Brüdern gegenüber nichts anderes bedeutete, als daß er zwei Phasen der Reaktion unter langandauerndem Streß stehender Individuen durchlaufen hatte, und nun die letzte, die ultra-paradoxe Phase durchlief: Eine Verhaltensweise, die der Schöpfer dieser Welt den höherentwickelten Lebewesen zu ihrem Schutz, zur Verhinderung der Selbstvernichtung einzelner Geschöpfe, eingepflanzt hat. Einer Phase, in der sich alteingelebte Gewohnheiten, Ansichten und Verhaltensweisen gerade umkehren: Vom Positiven zum Negativen und umgekehrt...
"Aber bitte, meine Herren, ich muß euch zum Teil recht geben... Das angeschnittene Thema ist ein grundlegendes, ich glaube man könnte dies den Unterschied zwischen Zivilisation und Kultur betiteln. Wenn ich eine Zahnbürste besitze, Freunde, nennt sich das Zivilisation. Wenn sich jemand überhaupt der Mühe unterzieht und seine Zähne reinigt, eventuell sogar mit dem Zeigefinger, dann nennt sich das Kultur!
Also ist es mit unserer Zivilisation, das was ihr so stolz Standard of Living nennt, nicht sehr weit her in Europa, denn ein hoher Prozentsatz der Bevölkerung besitzt zum Beispiel kein Bad. In den Altstädten keine Spur davon, in den älteren Zinskasernen kaum und in den Neubauten nicht immer. Zehn Quadratmeter im Durchschnitt bleiben einem Menschen zum Wohnen in einer weltbekannten Großstadt wie Wien zum Beispiel. Wo bleibt da unsere vielgepriesene Kultur? Mit Schnadahüpferl-Singen und den weinseligen Grinzinger Liedern werden wir uns in Österreich kaum einen Platz in der vorwärtsdrängenden Welt sichern. Erst wenn wir behaupten können: Wir haben fast keine sozialen Probleme mehr, es leidet niemand Hunger, jeder hat ein Dach über dem Kopf, wir komponieren – nicht allein dirigieren – beste Musik, schnitzen kunstvolle Skulpturen, stellen herrliche Glasmalereien her, unsere besten Ingenieure und Wissenschaftler müssen nicht erst ins Ausland abwandern, um sich dort entwickeln zu können, erst dann dürfen wir zu Recht behaupten, unser Land gehört zur Weltspitze."
Ted fuhr triumphierend hoch. Wiederum gruben sich tausend feine Fältchen in seine Haut, die ihn alt und verlebt wirken ließen: "Du gibst also selbst zu, daß ihr in eurem bloody Europe nur von der Vergangenheit lebt?
Warum schimpft ihr dann auf Australien? Warum wandern soviele Menschen nach Australien aus? Weil es das Land der Zukunft ist! 'Australien – Land der Zukunft!!' "
"Mensch, gib nicht so an! Überleg' dir genau, was du vorbringst. Das ist der Slogan, mit dem Hunderttausende aus Europa an eure Gestade gelockt werden. Hier wird er verbreitet und in Europa von den zahlreichen australischen Missionsstellen, die irgendetwas unternehmen müssen, um ihre Existenzberechtigung nachzuweisen.
Ich will dir mal was erzählen, Ted: Kannst du dich vielleicht an den ominösen Mr. Muggeridge erinnern, der, aus England kommend Australien ein wenig unter die Lupe genommen hat?"
Willi sprach ernst und gelassen, seine Wut, sein Verlangen es den Brüdern heimzuzahlen, war verschwunden. Er wollte nur eines, eines bevor er diesen Kontinent für immer verließ: Die Wahrheit über Australien herauszufinden.
"Well, der arrogante Pommy vom T.V.?"
"Genau derselbe. Der hat sich an ein entferntes, verlassenes, staubiges Plätzchen eures Kontinents begeben, ganz allein. Und hat sich dort ruhig, zufrieden auf seltsame Art, wiedergefunden. Warum wohl? Nach seiner eigenen Aussage: Weil er sich bewußt wurde, daß an dieser Stelle, in dieser Einsamkeit wohl noch kein Mensch vor ihm jemals gesessen hat, keine Aspirintablette jemals geschluckt worden war, keine Konservenbüchse geöffnet, keine Musik gemacht und kein Krieg geführt worden war.
Mit einem Wort: Dieses Fleckchen unberührter Landschaft hat weder Vergangenheit noch Zukunft. Und dasselbe gilt im weiteren Sinne für ganz Australien, beinahe uneingeschränkt. So hat sich ein unabhängiger Pommy geäußert.
Ihr Australier sprecht vom 'Land der Zukunft'. Und ich, ein bloody Newaustralian, ich sage euch jetzt meinen Standpunkt: Australien birgt in sich vielleicht eine große Zukunft – aber keine Gegenwart. Jedenfalls nicht für uns Migrants..."
Es war stille geworden, nachdenklich ließ Warran mit unruhiger Miene vernehmen: " Also du gibst wenigstens zu, daß wir in Australien, wenn auch nur mit Einschränkungen, einer großen Zukunft entgegensehen können? Ich muß sagen, das ist wirklich großzügig von dir! Und was ist mit unserer Vergangenheit?"
"Oh, aus meinen Worten geht nicht hervor, daß die Australier keine Vergangenheit kennen – sie versuchen zumindest eine zu erfinden! Leider ist vielleicht nirgendwo auf der Erde die Vergangenheit so hinderlich für die Zukunft des Landes wie..."
"The Hell!! Was willst du damit andeuten?"
"Nicht viel – aber ihr werdet mich gleich verstehen..."
"...Zum Teufel," unterbrach ihn Warran wütend, "er fängt schon wieder zu stänkern an!"
"Relax, Mr. Warran. Just relax gently!" beruhigte ihn Willi spöttisch. "Ich möchte euch nur auseinandersetzen, wie ich die Situation sehe... Also, diese Sträflingsansiedlungen in der Pionierzeit Australiens, der frühesten Vergangenheit eurer Geschichte, haben eine tiefe Narbe in allen von euch hinterlassen – das beweist doch die Heftigkeit, die ihr beim Anklingen des Themas entwickelt... Eine unauslöschliche Narbe – das Kennzeichen aggressiver Gleichheit aller Bürger, die Mißachtung von Autorität und allen 'feinen' Leuten!"
"Beweis' uns doch diese Behauptungen!!" schrien die paar Aussies herum. "Los! Wie kommst du darauf?"
"Nur gemach, meine Herren! Ich erlebe das tagtäglich, selbst hier in eurer Mitte.
Was glaubt ihr, würde wohl wo anders eurem netten Johnny widerfahren, wenn er vom Manager gebeten wird schnellstens eine Zeichnungspause herzustellen, und Klein-Johnny, als echter Nachkomme der einsam über Busch und Weite dahinreitenden Pioniere eures Landes, als Abkömmling der sich jeder Anordnung nur murrend fügenden Sträflinge, die alle im gleichen Boot saßen – im wahrsten Sinne des Wortes – wenn also dieser sympathische Johnny dann erst mal ruhig seine Jause verzehrt, dann gemächlich den Kopierapparat einschaltet, lässig das Papier zurechtschneidet, vom Chef gefragt wird, ob er die Rollen schon bereitgestellt hat und drauf ebenso lässig zur Antwort gibt: Na, wenn's Ihnen nicht schnell genug geht, müssen Sie's eben selber machen!
Das ist nur ein kleines Beispiel, aber bezeichnend für eure Einstellung zur Arbeit und zur Autorität. Viel lieber besucht ihr Rennplätze – die ganze Nation hat eine Spielernatur, gegen die eure Kirche wettert – oder spielt Cricket oder Tennis."
"Das ist nicht wahr!" fuhr der junge Ingenieur empört auf.
"Doch, das ist sogar sehr wahr. Nicht umsonst ist euch die unablässige Geschäftigkeit der neuen Siedler ein Dorn im Auge, ist d i e Quelle der Störungen und Reibereien zwischen Alt- und Neuaustraliern..."
"...und im übrigen laß unsere Kirche aus dem Spiel, wenn's recht ist!" rief Ted dazwischen. "Der Katholizismus, dem die Massen der Einwanderer angehören, ist in erster Linie für den dekadenten, gefühlsbetonten, korrupten und ärmlichen Zustand der Länder wie Italien, Frankreich und Spanien verantwortlich!
Es kann bei Gott nicht Sektierertum genannt werden, wenn wir uns in einem protestantischen Land von den Massen römisch-katholischer Menschen in unserer Eigenart bedroht fühlen. Nicht umsonst passen sich die Einwanderer aus dem Norden Europas besser an unsere Gesellschaft an, die Norddeutschen, die Skandinavier – eben weil sie vornehmlich evangelischen Glaubens sind."
"Ich glaube, wir lassen die Kirche wirklich aus dem Spiel, lieber Ted, deinem eigenen Wunsch gemäß.
Du beklagst dich, daß die Lebensgewohnheiten der Australier langsam verschwinden und durch Sitten und Gebräuche der Einwanderer ersetzt werden... Dazu kann ich nur sagen – und hunderttausende Migrants würden da zustimmen – die einzigen lebenswerten Conditions sind die, die von den Einwanderern geschaffen wurden! Die Gemüseläden, die auch euch mit Vitaminen, l e b e n s w i c h t i g e n Vitaminen versorgen, die Espressos, welche die Bierhallen abzulösen anfangen, die Vereine der Einwanderer, die sich am Wochenende, n a c h einer arbeitsreichen Woche am Samstag oder Sonntag bei Spiel und Sport erholen wollen, die Nationalitätenrestaurants, die ausländischen Bücher und Zeitschriften, bisher hier unbekannte handwerkliche Tätigkeiten, die von den Einwanderern ausgeübt werden, die Liedergruppen, die Gesangsvereine, die..."
"...Die zur Bildung nationaler Gruppen führen! Lebt lieber die australische Lebensart!!" fuhr Ted dazwischen. Sie transpirierten am ganzen Körper von der Anstrengung ihres Wortgefechtes und den sommerlichen Temperaturen. Jegliche berufliche Tätigkeit ruhte seit Stunden, keiner dachte daran, seiner Arbeit nachzugehen. Seit Monaten hatten sich auf beiden Seiten Fragen und Spannungen aufgestaut, die zu einer Lösung drängten. In diesem Zustand hochgespannter Erregung fielen die Worte hart und meist ohne den üblichen spöttischen oder beleidigenden Beigeschmack. Man fühlte, irgendetwas mußte aus dieser Diskussion resultieren, irgend ein Ergebnis wand sich unter Qualen an die Oberfläche ihres Bewußtseins.
"So, ihr Aussies wollt uns also dessen berauben, was uns überhaupt zu Menschen, zu Persönlichkeiten geformt hat: der Kultur unserer Heimatländer, der Großen der Literatur, der Musik unserer Vorfahren. Dem einzigen, was uns in dieser manchmal mehr als tristen Umgebung unsere Lebensfreude erhalten kann, uns für den Alltagskampf stärkt..."
Schlagfertig parierte Warran: "Und gerade uns wollt ihr die Wahrung unserer Eigenart übelnehmen? Uns, die wir..."
"Niemand beabsichtigt das. Aber für euch, wo doch das Verhältnis Einwanderer zu Australier eins zu neun steht, kann dieses unser Bestreben, eigene kulturelle und sportliche Vereinigungen zu gründen, doch keine Bedrohung, höchstens eine Erweiterung, eine Ergänzung eures eigenen Lebensinhaltes bedeuten!
Es sei denn, ihr seid wirklich, nach euren eigenen gebräuchlichen Ausdrücken 'No-Hopers' und 'Red-Bags'.
Mir ist genau bekannt, welche Ziele die Migration-Politik eurer Regierung verfolgt, es sind im wesentlichen deren drei:
Die Einwanderer sollen eine kulturelle Injektionsspritze darstellen, sie sollen das Land auffüllen, um eure Angst vor den Japs zu vermindern – und sie sollen als Arbeitskräfte-Pool dienen, der euch zu höheren Leistungen antreibt, weil wir die Löhne drücken und immer da sind, wann und wo es immer etwas zu schaffen gibt..."
"Mit einem Wort, ihr seid das reinste Cattle-Vieh, das man drüben einfängt und hier wieder ausladet. Ein Geschäft, das dem australischen Steuerzahler allerdings teuer zu stehen kommt." Ted kostete seinen Gag mit dem Rindvieh deutlich aus. "Ein Einwanderer kostet dem Land etwa 200 bis 3000 Pfund von dem Zeitpunkt an, wo er für die Auswanderung ausgewählt wird bis zu dem Zeitpunkt, wo er sich hier niederläßt. Wir müssen also für eure Vergnügungsreise teuer bezahlen – schon lange, bevor mit euch der Krampf beginnt.
Nun, was hast du dazu zu bemerken?"
Der Österreicher grinste nur überlegen: "Mir ist zufällig bekannt, was dem italienischen Staat seine 460 000 Auswanderer jährlich kosten: Diese Völkerwanderung kommt einem Transfer von 650 Milliarden Lire in die Auswanderungsländer gleich, das sind etwa 6 bis 7 Prozent des gesamten Volkseinkommens von Italien. Das bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als daß die Auswanderung kein Allheilmittel für Bevölkerungs- und Ernährunsprobleme darstellt.
Ihr glaubt also, wir Einwanderer, im allgemeinen ausgesuchte und tüchtige Fachkräfte, müßten euch dankbar sein für die Chance die ihr uns bietet. Meinen Erfahrungen nach verhält es sich genau umgekehrt. W i r tun euch Australiern einen Gefallen, wenn wir in euer Land kommen. Allerdings unwissentlich. Leider, möchte ich behaupten. Denn es wäre sehr gut, wenn man den Menschen bevor sie auswandern, mehr über die Dinge erzählen würde, die sie hier erwarten... Denn was passiert mit den Leuten, die man überredet wegen der Zukunft ihrer Kinder ihre Heimatländer, ihre Freunde und Bekannten, ihren angestammten Lebenskreis zu verlassen? Werden sie nicht noch einsamer sein?
Was geschieht, wenn die Asiaten einmal diesen vorgeschobenen Brückenkopf der Weißen Rasse übernehmen?
Ihr lacht, ihr Tröpfe.
Wißt ihr, daß die Bevölkerung von China Jahr für Jahr um 10 Millionen zunimmt? Eine Wachstumsrate, die der gesamten Bevölkerung Australiens entspricht? Ganze Groß-Familien ernähren sich da auf Erdfleckchen, wo bei euch nicht einmal ein Schaf weidet! Hier wird die Bevölkerungszahl in zehn, fünfzehn Jahren bestenfalls 14 Millionen betragen, falls die Einwanderung so weitergeht wie bisher, was ich ernstlich bezweifle. Und all diese Menschen werden am Rande dieses Kontinents in Städten zusammengepfercht leben.
Sechs Millionen Auswanderer verließen in den Jahren zwischen 1964 und 1955 ihre Heimatländer in Europa. Sie fuhren nach den Vereinigten Staaten von Amerika, nach Kanada, nach Australien, Argentinien, Brasilien, Südafrika und Neuseeland. Das ist eine nicht allzugroße Zahl, eingedenk der Möglichkeiten des sogenannten Raketenzeitalters, eingedenk der Menschenmassen, die vor drei Generationen den Alten Kontinent hinter sich ließen...
Ihr seid am Holzweg, meine Herren, wenn ihr glaubt, daß Menschen allein wegen ungünstiger ökonomischer Zustände ihre Heimat verlassen, ganz abgesehen davon, daß auch in Osteuropa eine gewisse Verbesserung der wirtschaftlichen Verhältnisse zu erkennen ist. Einen Gefallen erweist ihr wirklich jenen, die aus diktatorischen Regimen in die Freiheit flüchten, die hier ohne politische Unterdrückung weiterexistieren wollen. Ich betone ausdrücklich das Attribut 'politisch'.
Für euch Australier kann daher nur jeder Einwanderer von Nutzen sein, denn die Briten können euch im Falle eines Angriffes nicht verteidigen. Die haben genug zu tun, wenn sie ihre letzten Vorposten halten wollen. Zuviele Positionen sind ihnen schon verlustigt gegangen: Der Suezkanal, Burma, Singapur, Ceylon – ein Stückchen nach dem anderen bröckelt ab. Die Australien klammern sich jedoch krampfhaft an Illusionen, haben einen Queen-Mother-Komplex entwickelt, glauben, daß noch immer die alten Beziehungen zum Mutterland fortbestehen.
Australien muß daher seine Vorstellung, zum nicht mehr existierenden Britischen Empire zu gehören, energisch beiseite schieben und den nackten Tatsachen ins Auge sehen: Nämlich in dem Teil der Welt zu leben, der von Asiaten umgeben ist, am Rande Asiens zu leben. Hunderten von Millionen. Die nächsten 15 Jahre werden die Entscheidung bringen, nicht ob die Nation ihren Lebensstandard halten kann, sondern ob sie überhaupt überleben wird...
Es ist daher sinnlos, dauernd Stimmungsmache gegen die 'non-british Subjects' zu machen. Seid froh und glücklich über jeden Menschen, der sich entschließt sein Leben mit euch gemeinsam zu führen, ganz egal woher er kommt, was er ist.
Besiedelt vor allem den Norden, der eure Front-Seite darstellt, nicht den Hinterhof, gründet Siedlungen und laßt die Einwanderer dort so leben wie sie es von zuhause gewöhnt sind – und sie werden gute Australier abgeben. Es ist höchst unrealistisch, auf die Hoffnung zu bauen, die kommunistischen Staaten in eurem Umfeld würden sich selbst zerschlagen, von Innen heraus zerfallen.
Was hat es weiterhin für einen Sinn die Volksrepublik China nicht anzuerkennen? Eine Regierung nicht anzuerkennen, die Korruption, unhygienischen Zustände, Hunger und Überschwemmungen im Lande erstmals bekämpft. Es ist unrealistisch anzunehmen, daß die Bevölkerung Chinas im nächsten halben Jahrhundert ihre Regierung stürzen wird!"
Die Stunden verrannen wie im Fluge, nur langsam rückte der Zeiger der Wanduhr gegen Fünf p.m. Ende eines Arbeitstages, Ende eines Tages ohne Arbeitsleistung, Ende eines Tages, an dem sich Willi Höger mit seinen engeren Kollegen erstmals ausgesprochen hatte, an dem beide Seiten ihre Standpunkte klar und ungeschminkt auf den Tisch legten. Der Österreicher war weit davon entfernt irgend eine Genugtuung zu empfinden, als ihn die Kollegen zum Abschluß noch fragten, ob die Australier denn nur lammfromm zusehen sollten, wie sie in ihrem eigenen Land in die Defensive gedrängt wurden?
" Nein", gab er ihnen ernst zur Antwort. "Wir können mit gutem Recht keine Ansprüche an die Australier stellen. Denn zwischen Uns und Euch liegt nicht nur der halbe Globus – es liegt eine ganze Welt dazwischen. Wir können nur wiederholen: Ihr habt uns gerufen, jetzt sind wir hier, und nun findet euch damit ab!"

* * *


Durch die halboffene Tür drang das Geräusch der Haushaltsgeräte, Bestecke klirrten, Teller klangen gegeneinander. Er zog die sechste Zigarette aus dem Päckchen, legte sich flach auf den Rücken und starrte an die weiße Decke des Raumes.
Unruhig warf er sich hin und her, sein Blick fiel auf das halbe Dutzend Bierflaschen in der Ecke. Verdammt, alle leer. Nochmals aufstehen, zum Grocer rüber? Nein, dazu war er zu abgekämpft. Willi knipste das Radiogerät an, das Bex-Programm rollte ab, eine Werbesendung für Kopfwehpulver. Hätte momentan eines nötig, stellte er nüchtern fest. Sein Schädel brummte, zum wiederholten Male rekonstruierte er Szene für Szene, die er mit Danica erlebt hatte. Er mochte es drehen und wenden wie er wollte – er wurde sich weder klar, ob sie ihn liebte oder je geliebt hatte, noch ob sie als Mensch etwas taugte. Verzweifelt vergrub er sich in seine Überlegungen, er würde über diese Ungewißheit noch vor die Hunde gehen...
War er so schwach, oder war er so maßlos in sie verknallt?
Eine Ansage, die aus dem Apparat auf dem Nachtkästchen drang, lenkte seine Aufmerksamkeit auf das Radioprogramm. "Well, und jetzt noch ein Briefchen von einem gewissen Teddy Blacke aus Melbourne. Er berichtet uns darin, wie herrlich ihm unser Bex-Pulver bei seiner Krankheit geholfen hat. 'Liege hier im M.-Hospital', schreibt er, 'mit nervösen Beschwerden. Das einzige, was meine oft unerträglichen Schmerzen lindern kann, ist Bex-Powder...'"
Willi brach in ein kurzes, abruptes Lachen aus. Der gute, tüchtige Teddy Blacke. Nun lag er also wirklich im Krankenhaus, vermutlich nach einem nervlichem Zusammenbruch, wie er es ihm vor nahezu einem Jahr prophezeit hatte. Jetzt war seiner Frau vermutlich leichter... Aber was ihn, Willi, dabei so berührte: Teddy ließ sich trotz alledem nicht unterkriegen – selbst seinen Zusammenbruch setzte er noch in gute Pfundnoten um. Teddy hatte anscheinend trotz allem nicht verzweifelt, sondern gehandelt.
Action! Er mußte sich aufmachen und Danica suchen, suchen, suchen...
Gleich kommendes Wochenende. Systematisch würde er die Stadt durchstreifen, irgendwo, irgendwann würde er sie wiederfinden. Notfalls spanne ich meine Freunde ein, verteile sie über die ganze City, denn dorthin wird sie wohl verzogen sein, nachdem sie immer davon geschwärmt hat...
Der junge Mann ging zum Eisschrank hinaus, entnahm ihm einige Eiswürfel, tat sie in ein Glas, goß Brandy pure darüber und ließ das Gesöff seine Kehle runterrinnen. Diese Nacht würde er trotz der abscheulichen Hitze schlafen können.
Im Dunkel des Zimmers vergaß er seine Sorgen, die Müdigkeit übermannte ihn, bald atmete er ruhig und tief und die Außenwelt versank um ihn.
Gegen Mitternacht klopfte es an seiner Tür, Anton Melzer stand als grauer Umriß auf der Schwelle. "Was ist los?" fuhr Willi hoch. "Weiter nichts. Hast du Bier zuhause? Nein? Verflucht! Habe eine Polin bei mir, ist nur mitgegangen, weil ich ihr von herrlich gekühltem Alkohol vorgeschwärmt habe... Na, die wird sich auch so nehmen lassen!" Die Tür fiel ins Schloß.
Die dünnen Wände ließen das Gekicher der Frau durch, Toni hatte wiedereinmal sein Ziel erreicht.
Du Narr! Du Narr! schalt sich Willi. Warum treibst du es nicht so wie Anton? Warum nicht?
Weil, ...weil ich Danica liebe, vermutlich deshalb.

* * *


Das steinerne Meer der Innenstadt strahlte betäubende Hitze aus, die Straßen kochten und brodelten buchstäblich. Willi Höger lief sich die Sohlen wund, rannte Kilometer um Kilometer das harte Pflaster entlang, erkundigte sich bei Delikatessenhändlern, zeigte Danicas Foto vor, klapperte sämtliche Firmen der Innenstadt ab, blickte in die Espressos und kleinen Restaurants, erledigte zwischendurch Einkäufe, nahm eine Erfrischung zu sich und suchte dann weiter. Weiter in der wahnsinnigen Hoffnung, ein Zufall oder eine gnädige Fügung möge ihm Danica über den Weg laufen lassen.
Sein erster Weg hatte ihn hinaus in den stillen Vorort an der Küste geführt, dorthin, wo er für einige Stunden mit ihr glücklich gewesen war, wo sie mit ihrer Freundin und deren Mann gewohnt hatte. Die ehemaligen Nachbarn konnten oder wollten nichts über den Verbleib der Verschollenen sagen, aber der flotte Verkäufer in der nahegelegenen Milkbar und eine Kellnerin in einem Saloon, drei Häuser weiter, vermochten sogar ihr Äußeres zu beschreiben. Mit riesengroßer Freude vernahm er die Kunde, sie seien irgendwo in die Nähe der Harbour Bridge übersiedelt. Voll Mut und neuer Zuversicht machte sich Willi auf die eben aussichtslos erscheinende Suche.
Gegen Abend, als die Dämmerung einfiel, und er noch immer keine Spur entdeckt hatte, umrundete er mehrmals den Wohnblock, wo sie der vagen Beschreibung nach logieren konnte. Beim dritten oder vierten Male fiel er zwei stämmigen Bullen von Polizisten auf, die ihm nun offensichtlich gemächlich folgten. Er bemerkte dies rechtzeitig, betrat im geeigneten Augenblick eine Stadtbahnstation und verließ die City.
Vom Büro aus rief er die folgende Woche sämtliche Unternehmen an, die sie seiner Meinung nach angestellt haben mochten.
"Entschuldigen Sie bitte – kann ich Miss Danica Petrovic sprechen? Sie ist bei ihnen beschäftigt."
"Danica Petrovic?"
"That's right. A Yugoslav girl. Sie kann noch nicht lange bei Ihnen sein..."
"I am very sorry, aber wir kennen keine Miss dieses Namens!"
Ein Dutzendmal dieselbe Frage, derselbe Bluff. Und ebensooft die gleiche Antwort.
Eine letzte schwache Hoffnung war ihm geblieben, da er die Behörden aus bekannten Gründen nicht einspannen konnte: das Krankenhaus.
Der Mann am Informationsschalter blickte verwundert auf: "Danica Petrovic? Yes, I remember. Sie wollen wissen, wo sie sich aufhält? Tut mir leid, kann ich Ihnen leider nicht verraten..."
"Aber das gibt es doch garnicht. Sie muß doch ihre Schulden abzahlen, ihre Adresse muß Ihnen bekannt sein!"
"Nein, das muß sie nicht. Jemand hat garantiert, die Kosten des Aufenthaltes für sie zu tragen."
"Wer? Wer ist dieser 'Jemand'?" "Ein Gentleman..."
Fluchtartig verließ der junge Mann das Foyer. Draussen auf der Steintreppe lehnte er sich gegen die Mauer. Er wankte, die Knie drohten ihm einzuschnappen, ein Schwächeanfall durchzog seinen Körper, erfüllte ihn mit einem Schwindel.
Minutenlang stand er so an der Wand, versuchte seine Fassung wiederzugewinnen. Irgendjemand, ein Mann, vielleicht i h r Mann? Wahrscheinlich aber garantierte ein australischer Boyfriend, ein ältere Gentleman mit genügend Cash für Danica! Nur zerrissene, sinnlose Gedankenfetzen drangen in sein Bewußtsein, wie in Trance gelangte er nach Hause.
Nach Hause? Ja, war es das?
Was hatte er noch in dieser Stadt, in diesem Land verloren? Was konnte ihn auch nur eine Stunde länger halten? Nichts.
Und dann, knapp drei Wochen vor dem Auslaufen des Schiffes, geschah das Ungeheuerliche, trat der einmalige Zufall ein.
Er hatte vor, sein polnisches Künstlerehepaar zu besuchen und betrat den Fahrkorb zum Aussichtsturm der Harbour Bridge mit der Absicht, sich auf das Brückenniveau hochfahren zu lassen, um dann zu Fuß die Bucht zu überqueren. Der Liftboy wartete noch ein paar Augenblicke, denn eben betraten drei Gestalten das Halbdunkel des Vorraumes. Als sie das Licht im Lift notdürftig erhellte, erlebte Willi die Szene, die er sich hunderte Male in seiner Fantasie ausgemalt hatte: Danica trat ein. Flankiert von zwei Männern, deren eine der Gatte ihrer Freundin war.
Sie fuhr zusammen: "Willilein – du bist noch hier?"
Vor Überraschung stockte ihm der Atem, er registrierte ihre Erscheinung, so gut dies bei der matten Beleuchtung möglich war: Karierte Hose, knallrote Bluse.
"Ja, ich habe mich entschlossen bis knapp vor Weihnachten zu bleiben. Habe eine Gehaltserhöhung durchgesetzt, weißt du. Verdiene jetzt 25 Pfund in der Woche..."
"Muß ihr irgendeine plausible Erklärung bieten", dachte er nervös zerfahren. Das schluckt sie bestimmt. Die zwei Begleiter musterten ihn durchdringend, Danica stellte sie nun Willi vor: "Das ist der Mann meiner Freundin, das ist ein Bekannter von uns, der vor kurzem aus Europa eingelangt ist." Sie sprach sehr hastig, als wolle sie sich entschuldigen.
"Wo wohnst du jetzt?" erkundigte sich Willi rasch, er durfte keine Sekunde verlieren, der Lift würde jeden Augenblick halten.
"In der Nähe des Circular Quay. Wieder mit meinen Freunden zusammen." Die verbleibenden Zeit verrann ungenützt, mit einem Ruck hielt der Aufzug, die Türen öffneten sich, das Tageslicht flutete unbarmherzig grell herein. Nun sah er es, nun sah er es deutlich.
Sie wirkte so mager, so eingefallen, so schrecklich ausgezehrt, körperlich heruntergekommen, daß er sich scheute, sie voll anzusehen. Ihr ehedem breites Antlitz wirkte blaß wie Pergament, die Backenknochen traten spitz hervor, rotumrandete Augen blickten ihn trübe an.
Was war in der Zwischenzeit vorgefallen? Was trieb sie, um Gottes Willen, was trieb sie eigentlich? Welches Leben führte sie?
Die beiden Männer entfernten sich langsam, bald waren sie außer Sicht. Danica erschien ihm wie ein gefangener, ängstlicher Vogel, der nicht wußte, wie er einer drohenden Gefahr entkommen sollte. Sie wollte den beiden anscheinend nacheilen, doch er vertrat ihr stumm den Weg.
"Willst du nicht ein Foto von mir machen?" schlug sie hastig vor, um das quälende Schweigen zu überbrücken. "Nein, ich habe keine Lust." Stur, mit einem entsetzten, unverwandten Blick starrte er sie an, versuchte er krampfhaft Klarheit zu gewinnen. Wie war das möglich? Hatte sie so unter der Trennung gelitten? Lächerlich.
War sie vielleicht krank, trieb sie sich herum? Alles sprach dafür.
"Du bist sehr mager geworden, Willilein, warum?"
Ach nein, er sei mager geworden. Ein Witz, wenn sie es sagte.
"Habe sehr viel gearbeitet in den letzten Wochen, Überstunden und so. Das nimmt her." Habe nie gedacht, daß mir das Lügen so leicht fällt, und so selbstverständlich klingen kann. Sein Entschluß war gefaßt, vor ihm stand nicht mehr seine Danica. Das war ein Schatten, ein Zerrbild von ihr.
Seine Benommenheit, sein Entsetzen über ihr Aussehen wich, das konnte nicht sein Mädchen sein, seine Danica: "Ich möchte mich verabschieden. Auf Wiedersehen!" Kaltlächelnd reichte er ihr die Hand zum Abschied. Ohne sich noch einmal umzuwenden, setzte er zum Marsch über die lange Brücke an.

Die letzten Abende verbrachte Willi apathisch im Kreise seiner Kumpel. Selten lächelte er über ihre manchmal rohen Scherze, über die Worte der Aufmunterung, die man an ihn richtete. Gelegentlich sprach er in gleichgültigem Ton von Danica, von den Widersprüchen in ihren Aussagen und ihrem Verhalten. Und Anton, sein alter Freund, sprach ihm aus der Seele, als er das Resümee aus diesen gelegentlichen Schilderungen zog:
"Willi, ich vermag nur das eine zu sagen – aber es wird dich nicht trösten: Entweder war deine Danica der boshafteste, hinterlistigste Teufel in Person – oder sie war das tapferste, standhafteste Mädchen, das es je gegeben hat. Gib dich endlich damit zufrieden, grüble nicht länger nach. Es macht keinen Sinn, du wirst es nie mehr erfahren, was davon richtig ist..."

Der letzte Tag in der Williamstown Foundry Pty brach an.
"Nun kehrt er zurück nach Europa. Das ist alles, was ihr bloody Australians erreicht habt. Nun wird er seine ganze Erfahrung drüben einsetzen..." Resigniert besprach sich Ray mit Johnny. "Well, such is life!" zuckte der nur mit der Schulter.
Der junge Österreicher kam sich wie ein Verräter vor, wie einer, der eine gute Sache um des persönlichen Vorteils wegen fallen ließ. Nun ließ er sie alle zurück, zurück mit den quälenden Zweifeln um die Zukunft des Landes, allein in ihrem unbewältigten Kampf mit der Natur dieses Kontinents, allein mit den Sandstürmen, Hitzewellen, allein mit dem drohenden Gespenst einer Überwältigung durch die Asiaten.
Der alte Herr vom Zimmer nebenan, der ihm so freundschaftlich in dem Kampf gegen die Intrigen um ihn her beizustehen versucht hatte, murmelte: "I am very sorry, really sorry. Sie sind gerade der Typ von Migrant, den wir hierzulande brauchen!" Ein fester Händedruck, und auch das war überstanden. Der Verkaufsdirektor erkundigte sich zweifelnd: "Erwartet Sie jemand drüben?", und Willi nickte vage mit dem Kopf.
Der Engländer in der Modelltischlerei bemerkte wütend zu seinem australischen Kollegen: "Hättet ihr ihm eine Chance gegeben, er wäre aufgestiegen wie eine Rakete – nun haut er ab. Wieder ein tüchtiger Bursche weg, läßt uns allein mit all dem Quatsch!"
Schließlich riß sich Willi noch einmal zusammen, reichte Warran und Ted in kollegialer Weise die Hand und meinte abschließend mit lächelnder Ironie: "Wenn ihr einige Monate früher mit den Tuschezeichnungen angefangen hättet, wäre ich bereits damals gegangen. Kann ich nämlich nicht ausstehen... Ihr hättet euch so das ganze nette Theater, die Komödien und die weniger netten Verleumdungen erspart." Die beiden blickten ohne jede Erwiderung verlegen zu Boden. So, als ob nichts geschehen wäre, als ob er sich auf einen kurzen Wochenendurlaub begeben würde, verließ er die Firma.

Die restlichen Tage bis zur Abreise sammelte er Andenken, wählte Schallplatten und Bücher aus, packte seine wenigen Habseligkeiten zusammen und absolvierte eine Verabschiedungstour bei seinen zahlreichen Freunden und Bekannten.
Man warnte ihn allgemein vor einer Rückkehr nach Europa und äußerte, er würde es noch bereuen, versuchte damit das eigene Verbleiben zu rechtfertigen. Aber Willi Höger ließ sich nicht beirren, hörte sich gleichmütig alle Einwände und gutgemeinten Ratschläge an.
"Ich glaube nun endlich zu wissen, was ich zu tun habe, wie meine Zukunft aussehen wird. Und der Weg führt nach Europa", lächelte er nur gezwungen, wenn man ihn bedrängte.
Er wirkte mit seinen knapp 26 Jahren nun wesentlich gereifter, entschlossener, wie ein Mensch, der ein Ziel in sich trägt. Ein Ziel, ein Wollen, das ihm niemand mehr auf dieser Welt nehmen konnte, das ihn in stiller Zuversicht lächeln und mit Gelassenheit dem Morgen entgegenblicken ließ.
Der letzte Tag in Australien, ein Samstag. Ein Abschiedsessen bei Mrs. Eger, die sich verstohlen die Tränen mit dem Schürzenzipfel aus den Augen wischte. "Vergessen's uns halt nicht ganz, uns arme Einwanderer herüben", versuchte sie zu scherzen. "Aber vergessen's ihre Danica, wenn's glücklich werden wollen – und wenn's können!" Das Wasser schoß ihr jetzt in kleinen Sturzbächen aus den Augenwinkeln. Auf der Straße vor dem Haus lärmte ihr Gatte mit dem Wagen herum, der Motor sprang an, heulte im Probelauf auf vollen Touren. Wieder senkte sich ein herrlicher Abend über die Landschaft, mit stimmungsvollen Wolken, die sich langsam in glühende Farben wandelten.
Das Ehepaar Eger transportierte ihn schließlich mit dem Auto zum Hafen. Schweigend, verlegen drückte ihm die Frau während der Fahrt einmal die Hand. Bei völliger Dunkelheit langten sie an der Pier an. Enttäuscht sah sich Willi nach allen Seiten um, wo blieben seine Freunde, alles Landsleute, die versprochen hatten beim Abschied da zu sein? Wo blieb Anton, sein Jugendfreund? War ihnen die Rennbahn auch heute wichtiger?
Er reihte sich ein in die lange Schlange der Wartenden, um die Formalitäten zu erledigen, gab mit gemischten Gefühlen seinen Einwandererpaß ab, ließ die Koffer aufs Schiff bringen, das da mit tausend Lichtern beleuchtet, vor Menschen überquoll. In allen Sprachen, allen Lauten, allen Tonlagen schwirrten Gesprächsfetzen durch die Luft. Es herrschte ein Gedränge, Geschiebe und Durcheinander, daß er nicht wußte wohin er zuerst seine Schritte lenken sollte.
"Hier! Willi! Wir sind da!!" Rufend, winkend, gestikulierend warteten ein halbes Dutzend seiner Freunde auf ihn. Eben stellte noch einer den Motor seines VW ab und ging auf die Gruppe zu. "Schreib bald, Willi!" rief Mr. Eger noch, bevor er in der Finsternis untertauchte.
"Komm, laßt uns das Schiff besichtigen!" forderte Peter der Gambler die Burschen auf. Über die schwankenden Laufstege gelangten sie an Bord, schlängelten das A-Deck entlang und fanden am Vorschiff ein ruhiges Plätzchen. Mit gemachter Fröhlichkeit umringten sie alle Willi, zauberten auf einmal Biergläser aus den Sakkotaschen hervor, Champagnerpfropfen knallten und die Gruppe der Burschen feierte feuchtfröhlich, bis sie alles doppelt zu sehen begannen. Bis auf den letzten Tropfen geleert, flogen die Flaschen und Gläser in weitem Bogen in das nachtschwarze Gewässer unter ihnen, klatschten auf die Oberfläche und versanken mit leisem Gurgeln.
Eine Welle riesiger Wehmut über kam Willi in diesen Minuten, die Sehnsucht nach Danica und das Bewußtsein, diese Stadt in wenigen Viertelstunden auf immer zu verlassen, wo er soviel erlebt und erlitten hatte, wo er so viele Freunde gefunden – und so vielen Widersachern die Stirn geboten, überwältigte ihn. Ohne Scham ließ er seinen Tränen freien Lauf. Und Peter der Spieler, der große Glücksritter, der ahnte, was in Willi vorging, nahm ihn unauffällig beiseite und versuchte ihn mit ruhigen Worten zu trösten: "Willi – du mußt nur denken, die Menschen hier haben nicht verstanden, was du gewollt hast...Denk nicht mehr in Haß daran zurück, vergiß die Demütigungen, die Heuchelei, die Infamie vieler dieser Leute. Es war nicht umsonst, was du mitgemacht hast. Es wird hoffentlich nicht vergebens sein, was wir alle, wir, die Million Einwanderer, tagaus tagein erdulden müssen...
Denk nicht mehr daran, aber denk an die herrlichen Sonnenuntergänge, wenn der Himmel in allen Farben des Regenbogens zu leuchten beginnt. Denk auch manchmal an das Meer, das tiefblaue, das gegen die Klippen donnert.
Alles andere, alles andere ist unwesentlich..."
"Du hast recht", erwiderte Willi tonlos. "Aber da ist noch..."
"Ich weiß, Danica. Aber die Zeit heilt alle Wunden, heißt es. Nur die Narben sind dann noch zu sehen."
"Lassen wir das, reden wir nicht mehr drüber."
Jetzt zog Peter der Große, wie ihn die Junggesellengemeinde auch nannte, einen Pfundschein aus den Taschen, die immer voller Geld und zugleich immer leer waren. "Hier, den schenke ich dir als Andenken. Und damit du keinen von uns vergißt, keinen aus der ganzen Blase, werden sich jetzt alle mit Namenszug darauf verewigen. Los Boys, macht schon!" Die jungen Männer drängten lachend heran und kritzelten ihre Unterschriften auf den grünen Schein des Commonwealth of Australia.
"Solange du kannst, Willi, trag die Note bei dir. Sie soll dir Glück bringen... Erst wenn es dir ganz, aber auch schon ganz dreckig gehen sollte, tausch' sie bei der Bank um!" Feierlich überreichte ihm Peter die Banknote.
Die Schiffsglocke schlug bereits zum zweiten Mal an, mahnte die Besucher von Bord zu gehen. "Und wenn wir unseren ganz großen Coup beim Rennen machen, dann schicken wir dir tausend Pfund nach! Verlaß' dich drauf, Willi!!" rief ihm sein alter Freund und Gefährte aus sorglosen Jugendtagen noch zu, als er als letzter der Runde die Planken verließ. Dann verstummte er, hob die Hand und winkte nochmal herauf, bevor ihn die Menge am Kai endgültig verschluckte.
Schleppenden Schrittes stieg der junge Mann zur Höhe des Schornsteins hinauf, wo das Lärmen und Schreien nur mehr gedämpft zu hören war. Tief unter ihm drängte sich Kopf an Kopf, wirbelten Girlanden durch die Luft, stimmte eine Kapelle Abschiedsmärsche an.
Unmerklich langsam schob sich der Schiffsrumpf unter dem Heulen der Sirenen weiter von der Menschenmenge am Kai ab, die bald zu einer homogenen Masse verschmolz, deren Geschrei sich bereits in der Ferne verlor. Die Girlanden hingen zerrissen über Bord, die letzten Taschentücher winkten aus der Stummheit der Nacht herüber. Gleichmäßig begannen die vieltausendpferdigen Motoren zu stampfen, ein Zittern lief durch den stählernen Aufbau an dem Willi Höger lehnte und das Schauspiel bewegungslos verfolgte. Von den sanften Hügeln der Hafenfront grüßten die Lichter der Wohnblocks herab, schimmerten wie tausend Sterne auf der Meeresoberfläche.
"Dort drüben, irgendwo dort drüben schaust du jetzt vielleicht gerade aus dem Fenster zu mir herüber, Danica", dachte er.

"Hallo Willi!" hörte er da jemand halblaut aus nächster Nähe rufen. Eine verrückte Hoffnung durchzuckte ihn, ließ seine Fäuste die Reling umklammern, doch dann lief ein verzerrtes Lächeln über seine Züge. Karl Holzner, sein Gefährte und Leidensgenosse aus Kabine XII der Flamingo unseligen Angedenkens, der Auswanderer, den er vor einem Jahr aus den Augen verloren hatte, stand vor ihm. Lang, hager, schwankend wie eh und je.
"Wo kommst d u denn her?" stieß Willi fassungslos hervor.
"Na, habe die ganze Zeit über in Sydney gelebt, na, und jetzt geht es wieder heim zu Muttern. Aber nicht für allzulange. Weißt du, habe mich schon für eine Auswanderung nach Südafrika beworben. Wird ungefähr ein Jahr dauern, bis ich das Permit bekomme. Aber ich rede immer nur von mir. Wie geht es dir, alter Kumpel?"
"Danke, man lebt...", lautete die karge Antwort, und nach einer Pause: "Eine Frage, die sich mir aufdrängt: Sag einmal, hast du gefunden was du gesucht hast? Ich meine, hast du außer den paar hundert Pfund am Bankkonto sonst noch was Nennenswertes erworben für die Heimkehr nach Europa?" Ruhig wartete er die Antwort seines Schicksalgenossen ab, der jetzt den Kopf senkte und auf das rauschende Meer hinunterblickte: "Wenn ich ehrlich bin, nein." Und leiser werdend: "Nein, ich habe nichts gefunden, weder mich selbst noch ein Lebensziel. Auch den anderen, den Mitmenschen, bin ich nicht nähergekommen. Deshalb haue ich nochmals ab, in ein anderes fernes Land. Vielleicht finde ich dort, wonach ich suche: Ruhe, Zufriedenheit, ein bißchen Glück, die eigene Persönlichkeit."
Sie lehnten nebeneinander, halb über die Brüstung gebeugt, und vermieden es, sich direkt anzusehen.
"Und wie ist es bei dir?" erkundigte sich Holzner. "Hast du etwas profitiert von dem Aufenthalt in der Fremde – außer Geld?"
Willi schwieg eine Weile nachdenklich und äußerte dann zögernd: "Ich denke, ja. Ich denke, ich bin ein Mensch geworden, einer der andere Menschen zu verstehen vermag, der Sitten und Gebräuche Fremder respektieren wird, der Toleranz erworben hat und auch an geistigem Horizont gewonnen hat... Gefunden habe ich hier in Australien die Einsicht und Gewißheit, daß e i n Europa existiert, ein einziges, alle Völker und Staaten umfassender Begriff.
Und das ist das Ziel, das ich mir gesetzt habe: Meine ganze Kraft für die Verständigung der Menschen untereinander, für ein einiges, ein 'Vereintes Europa' einzusetzen.
Aber ich habe etwas verloren, einen Menschen, der mir teurer ist als all die hochtrabenden Visionen. Karl, alter Freund, ich habe ein Mädchen in Sydney zurückgelassen, deren Namen ich nie vergessen werde, der ich wahrscheinlich nie mehr im Leben begegnen werde: Danica Petrovic..."
"Was, Danica Petrovic? Die Leichtfüßige, die Rassige mit den langen schwarzen Haaren? Mensch, die habe ich doch auf einer Ballveranstaltung kennengelernt. Ein nettes, liebes Wesen, aber..."
"Was aber! Sag mir! Was aber?" fuhr ihn Willi so heftig an, daß Karl erschrack: "Verzeihe, ich wollte nur sagen: 'aber ein wenig melancholisch'. Übrigens kein Wunder...ich weiß nicht, ob es dir bekannt ist, ...sie, sie hat Leukämie. Sie,... soll angeblich nur...noch wenige Monate ... Habe ich jedenfalls gehört...
Hast du, hast du das nicht... gewußt?" Stammelnd brach der Bote dieser Schreckensmeldung für Höger ab, dem alle Farbe aus dem Gesicht gewichen war, der taumelnd versuchte, seiner tiefen Bewegung Herr zu werden.
Kreidebleich lehnte er mit dem Rücken gegen den hellerleuchteten Schornstein, krampfhaft unterdrückte er den Schrei, der sich seiner Brust entreißen wollte: Danica hatte ihn geliebt, unmenschlich geliebt. Und: Sie hatte, im Bewußtsein ihres baldigen Endes, machtvoll versucht, dieses Gefühl zu unterdrücken, seine Liebe zu ihr zu zerstören – um ihn nicht an sich zu binden.
Manchmal war ihr dies gelungen, manchmal hatte der Versuch ihre Kräfte überstiegen, hatte ihr eigener Wunsch, mit ihm vereint zu sein, die Oberhand gewonnen...

In der Ferne blinkten die roten Warnlichter auf der Sydney Harbour Bridge, vom Wasser stiegen Nebelschwaden hoch. Von weit her, wie von einem anderen Stern, schimmerte das Lichtermeer der City durch. In diesem Augenblick begriff der junge Mann voll und ganz, worauf es in dieser Welt von Heute ankam:
Obwohl Riesenschiffe über die Meere eilen, Ingenieure Brücken und Wolkenkratzer bauen, Automobile produzieren und Raketen ins All entsenden, Ärzte tagtäglich erfolgreich den Tod bekämpfen und es dem kleinen Mann von der Straße materiell besser ging denn je – bedeuten all diese Errungenschaften und Fortschritte des Menschen letztendlich nicht viel, ja nichts im Vergleich zum Wichtigsten – dem Glauben an das Gute in der Menschheit, ohne den die ganze moderne Welt in Trümmer gehen, im Chaos versinken würde, dem Glauben an die Liebe, ohne die selbst die geschäftigste Millionenstadt einer Wüste gleicht...
Solange sich diese Überzeugung nicht im Herzen jedes Einzelnen festsetzt, solange kann man nicht von einem Fortschritt der Menschheit sprechen.
Nicht die Zahl der Einfamilienhäuser oder Autos, auch nicht die Stärke der Bombengeschwader oder das Bruttosozialprodukt sind ein Maßstab für den Lebensstandard einer Nation.
Nein, einzig und allein die Zahl der Herzen, die Gutes tätig ausüben, die in diesem unseren Leben geistige und moralische Werte hochhalten, bestimmen die Höhe der Entwicklung der menschlichen Spezies. Alles andere ist vergängliches Blendwerk...

"Laß uns gehen, wir haben noch einen weiten Weg vor uns!" forderte der junge Mann seinen Reisegefährten auf; und sie stiegen hinunter in ihre Kabinen, die knapp über der Wasserlinie lagen.