7. Kapitel: Sydney
Zwei Tage später entschied sich Willis Schicksal in
Australien, ohne daß er davon die blasseste Ahnung haben
konnte.
Es geschah an einem Freitag, eine Woche vor dem Heiligen Abend.
Für den Abend vereinbarten Danica und Willi ihr erstes
Rendezvous. Danica hatte angekündigt, daß sie zusammen
mit ihrer Freundin auftauchen würde. Nun gut, soll sie ihre
Vertraute mitbringen, wahrscheinlich wollten die beiden Frauen
ihre Meinung über ihn austauschen. Warum ihnen den Spaß
verderben? Schließlich kannte er ihre Freundin nur vom
Hörensagen. Die Karten für den Kinobesuch bestellte er
telefonisch.
Dank Mrs. Egers Kochkünsten hatte er beträchtlichen
Leibesspeck angesetzt und wegen der relativen Bewegungslosigkeit
am Reißbrett schlug ihm die Kost gut an. Er sah
wohlgenährt aus – war beinahe stark zu nennen. Eine
Eigenschaft, die den ausgemergelten Australiern anscheinend ins
Auge stach. Flugs versuchte man eine allen einleuchtende
Erklärung zu finden, und es gelang ihnen auch
tatsächlich.
Am Nachmittag stand ein wichtiger Abguß bevor. Der junge
Techniker begab sich in die Gießerei hinaus, um sich vom
Gelingen persönlich zu überzeugen und neue Erfahrungen
zu sammeln. In Gedanken über das eben Gesehene versunken,
lenkte er seine Schritte wieder in Richtung Büro und kam an
einer Ecke vorbei, wo einige Arbeiter mit dem Sandstrahlen
beschäftigt waren. Eine der grauverstaubten Gestalten rief
ihm etwas zu, das er wegen des Lärms in der Halle nicht
verstand. Man bedeutete ihm, er möge doch nähertreten.
Willi grinste freundschaftlich fragend hinüber. Vielleicht
gelang es ihm unter der Arbeiterschaft einige Freunde zu machen,
wenn ihm dies unter den Büroangestellten schon nicht gelingen
wollte.
"Ja, was ist los?"
"Heh!" rief der dreckverschmierte Kumpel aus und verzog dabei
seine ganze Visage vor Vergnügen über den kommenden Gag:
"Heh! Geh' mal raus auf die Toilette und mach' deinen Arsch frei!
Komme dann nach. Habe in der Firma hier gehört, es kostet bei
dir nur zwei Bob!" Die Mob heulte teuflisch auf.
Der junge Österreicher hatte nicht alles mitbekommen,
drückte sich der Mann doch im ärgsten Slang aus. Nur
soviel war ihm klar: Man hatte sich irgendeinen Ulk erlaubt.
Mit einigen wenigen raschen Schritten gelangte er bis zum Tor,
erst dort ging ihm der Sinn des Gesagten voll auf.
Urplötzlich hätte er toben und schreien mögen vor
Wut und Scham.
"Nein, nein! Das sollen sie nicht erleben, darauf warten sie ja,
die gottverdammten Hunde, die Säue, die verfluchten!
Den Gefallen tue ich euch nicht und verliere meine Beherrschung, i
c h lasse mich nicht auf dieses primitive Niveau hinunterzerren!
Wenn ihr den 'Germanischen Herrenmenschen' eurer Einbildung in den
Kot ziehen wollt, dann werde ich euch diesen Menschen erst einmal
zeigen!!! Es ist aus mit dem geduldigen Ertragen, dem
Darüberhinwegsehen. Aus mit dem Einfach-nicht-Hinhören!
Ein schiefes Wort noch und ich hole die Polizei her!"
Voll wahnsinniger Empörung kehrte er wie im Trance ins
Büro zurück und setzte sich mit hochrotem Gesicht an
seinen Arbeitsplatz. Er benötigte eine Stunde, um seine
wildwuchernde Erregung niederzukämpfen. Natürlich, es
war ihm alles sonnenklar. Die ehemaligen Ostarbeiter im
Nazi-Deutschland, die Polen, Tschechen und so weiter ließen
ihr haßverzerrtes Deutschlandbild einfach an ihm aus. Sie
waren gezwungen bei 45 Grad im Schatten im Dreck und Staub der
Gießerei zu schuften, und der "Herr Deutsche", der bloody
fucken German, spazierte im weißen Hemdkragen stolz wie ein
Spanier an ihnen vorbei! Letztendlich würde er es noch zu
einer leitenden Position bringen, dann hätten sie wieder
einen verfluchten German auf dem Hals... Um diese tristen
Zukunftsaussichten zu verhindern, war jedes Mittel recht und
billig...
Als Willi an diesem Abend vor dem Century-Theater ruhelos auf und
niederging, merkte er erst, wie überreizt seine Nerven
reagierten. Keine Minute vermochte er stille zu stehen. Nur in
Bewegung halten, laufen, laufen!
Knapp vor Vorstellungsbeginn stoppte er ein Taxi auf der Fahrbahn
und Danica samt Freundin eilten auf ihn zu. Sie sah terrific aus,
just terrific! In ihrer weißen langen Hose mit dem blauen
Pulli und den um das bleiche Gesicht flatternden Haaren wirkte sie
wie eine stolze Amazone. Die flanierenden Männer um sie herum
ließen unmißverständliche "Ah's" und "Oh's"
fallen, einige anerkennende Pfiffe gellten durch die Nacht. Ihre
Begleiterin fiel im Vergleich dazu völlig ab, war klein und
stark gebaut und nicht der Rede wert.
"Entschuldige bitte unsere Verspätung, aber wir besuchten
Nachmittags eine Christmas Party und konnten kein Taxi
bekommen."
Im Halbdunkel des Kinosaales ergriff Danica seine Hand und
drückte sie lange unter ihr Kinn. Ihr lädiertes Bein
streckte sie ungeniert über den Schoß ihrer Freundin,
ebenso ungeniert fielen ihre Kommentare zum laufenden Film. Etwas
verwundert hörte Willi zu, war ihm doch so gut wie nichts
über die Mentalität slawischer Menschen bekannt. Die
zwanglose Natürlichkeit und Triebhaftigkeit seiner Danica
erfüllte ihn immer wieder aufs Neue mit Erstaunen.
Nach der Vorstellung bemühte er sich lange um ein Taxi, eines
nach dem anderen rollte vollbesetzt an ihm vorbei. Endlich gelang
es ihm, einem Matrosen mit Girlfriend einen Wagen knapp vor der
Nase wegzufischen. Seine Niedergeschlagenheit fiel den beiden
Frauen auf. "Du fährst doch mit uns mit?" fragte Danica
erstaunt. Er versuchte ihr zu erklären, daß er so
abgespannt sei, daß er am liebsten gleich ins Bett fallen
würde – an diesem Tag hatte er bereits sein Soll hinter sich
gebracht.
Sie kommentierte nur kurz: "Aber schlechter wie ich wirst du wohl
nicht beisammen sein, oder?" Er verzichtete auf jede
Erwiderung.
Sie schmiegte sich an ihn, lehnte sich nach hinten und sah ihn mit
erwartungsvollen Augen an. Er küsste sie etwas widerwillig,
sofort erkannte sie, daß er nicht ganz bei der Sache war und
gab auf. Dann eröffnete sie ihm, daß sie nicht mehr bei
ihrer Freundin wohne, sondern ein eigenes Zimmer gemietet habe.
Ihr Wohnraum sei in der Zwischenzeit, während ihres langen
Krankenhausaufenthaltes, an Fremde weitergegeben worden. Willis
Mißtrauen gegen die ganze Menschheit, verursacht durch die
infame Diskriminierung seiner Person, machte auch vor Danica nicht
mehr Halt. Die Sache kam ihm abgekartet und ordinär vor.
Vielleicht hatte er sich doch nur eine von den vielen Schlampen,
den massenweise herumstreunenden Nutten, die sich in dem
frauenarmen Land herumtrieben, angelacht?
Es hieß auf der Hut sein! Absichern nach allen Seiten, das
war die Devise!
Ein polnisches Künstlerehepaar, eine Zufallsbekanntschaft,
hatte vor einiger Zeit den ersten Keim eines Verdachtes in sein
Gehirn gepflanzt, indem sie ausführten: "Die jugoslawischen
Mädchen, die ins Land strömen, sind alle nichts wert.
Gleich nach der Landung machen sie sich meistens auf den Weg nach
Newcastle, dem Industrieort im Norden, um dort auf zweifelhafte
Weise schnell zu Geld zu gelangen. Wir kennen einen Geistlichen,
der die Mädchen zu betreuen versucht...er erzählt
fürchterliche Geschichten..."
War Danica eine von diesen Dingern?
Vielleicht in abgeschwächter, verfeinerter Form?
Die Mißachtung seiner eigenen Menschenwürde ließ
ihn langsam aber sicher an jedem menschlichen Wert zweifeln.
Sie fuhren nun durch den Vorort Sydneys, wo die beiden wohnten.
"Gestern, als ich vom Spital nach Hause kam, war ich im Kino",
flüsterte sie ihm zu. "Ich wollte dich in der Pause
anrufen."
"Und warum hast du es unterlassen?" Kalt und unpersönlich
stieß er die Frage hervor. Sie schwieg, begriff er denn
nicht, was sie damit sagen wollte? Weil ich mir nicht sicher bin,
ob du mich wirklich liebst, und ich mir nicht zuviel vergeben
möchte, dachte sie, aber es bleib unausgesprochen, wie so
vieles.
Ihre Busenfreundin stieg aus dem Wagen: "Kommt uns morgen in der
Früh besuchen. Gute Nacht." Die Türe knallte zu, sie
waren allein, zumindest im Fond des Wagens. "Wie weit ist es noch
bis zu dir?" tönte es in die Stille hinein. "Gleich sind wir
da."
In dem niedrigen Hause brannte noch Licht, da zögerte sie
kurz und schlug dann vor, in den nahegelegenen Park zu gehen.
Erwartungsvoll hielt sie inne, erwartete eine Liebkosung von ihm.
Er blieb bei seiner abweisenden Haltung. "Warum bist du
überhaupt mitgekommen?" entfuhr es ihr heftig. Willi gab
keine Antwort. Bei einer Bank angelangt, entledigte sie sich
gewandt ihrer Jacke und küsste ihn mit ungestümer
Heftigkeit. Seine Reaktion blieb träge und ohne Leidenschaft.
Sanft strichen ihre Finger seinen Hinterkopf entlang, bis sie sich
mit einem Male seiner Zurückhaltung bewußt wurde und
verlegen trällernd innehielt.
Von der nahen Küste trug der Wind das Rauschen des Meeres
herüber. "Wieviele Männer hast du schon gehabt,
Danica?"
Dieses schreckliche Mißtrauen erwachte wieder, die
fürchterlichsten Vermutungen wurden in ihm wach. Er
mußte die Wahrheit aus ihr herausquetschen.
"Spielt es eine Rolle, ob es einer gewesen ist oder zehn?"
Seine Gedanken arbeiteten fieberhaft: Wenn das eine Antwort sein
soll, dann weiß ich genug, mehr als genug. Liebte er sie
wirklich so innig, um dies schlucken zu können? Andererseits,
wenn sie ihn wollte, ihn wirklich, ehrlich zu lieben bereit war?
War es dann nicht gleichgültig, wie ihr Vorleben aussah?
Spielte es eine Rolle, wenn sie nur ihm allein auf der ganzen Welt
ihr Herz schenkte? Er mußte, er wollte es mit Danica
versuchen. Aus dem Blitzblauen heraus stellte er die
folgenschwere, ungenau formulierte Frage: "Würdest du mich
heiraten?"
Ihre Antwort darauf kam rasch und sicher: "Nein."
Seine Gedanken wirbelten um und um, vergeblich schnaufte er nach
Luft. Tonlos stieß er dann hervor: "Und warum nicht?"
Lange zögerte sie die Beantwortung hinaus. Er sah, wie sie
sich abquälte, um eine passende Formulierung mit sich
kämpfte.
"Du Willi, ich muß dir etwas sagen..." "Ja, bitte?" Er
schreckte aus dem Dahinbrüten hoch.
"Ich möchte dir keine Schwierigkeiten verursachen – verstehst
du? Ich...Kein Bursch ist mit mir öfter als einmal
ausgegangen. Alle haben mich dann stehen gelassen, niemand hat es
lange bei mir ausgehalten. Bin jedem auf die Nerven gegangen.
Meine Mama wäre so froh gewesen, wenn ich einmal längere
Zeit mit einem Mann gegangen wäre. Aber ich habe bereits mit
Vierzehn gewußt, daß ich anders bin als die anderen
Frauen. Ein Arzt hat es einmal so ausgedrückt: ich habe das
Brain eines Mannes im Körper einer Frau...
Deshalb finden mich alle komisch. Meine Freundin lacht nur immer
wenn ich ihr erzähle, daß ich wieder einen jungen Mann
kennengelernt habe... Sie weiß genau, daß auch diese
Bekanntschaft nicht von langer Dauer sein wird.
Jetzt wirst du vielleicht auch begreifen, was ich dir in meinem
Brief mitteilen wollte.
Aber das kann ja kein Mensch verstehen...
Niemand, kein Mensch versteht mich darin..." Traurig senkte sie
ihr Haupt, ihre Augen brachen trübe. Sie erweckte den
Eindruck eines angeschossenen Rehes, das der Willkür seiner
Verfolger ausgeliefert ist.
Zärtlich fasste sie der junge Mann um die Schulter, ganz
leise raunte er ihr zu: " Danica, ich glaube ich kann dich
verstehen. Auch ich fand selten eine Frau – eigentlich nie – der
ich mich vorbehaltlos hingeben konnte. Ich bin irgendwie..., ich
glaube...zu stolz dazu, verstehst du? Bei dir ist es vermutlich
ähnlich wie bei mir: entweder Alles oder Nichts. Eigentlich
typisch deutsch, so komisch das klingt...Und wenn du das
Gefühl hast, der Partner ist nicht bereit für dich alles
zu tun, alles hinzugeben, dann reichst du ihm nichteinmal den
kleinen Finger. Ist es nicht so?"
Verzweifelt brach es aus ihr hervor: "Bitte laß mich gehen -
genauso wie die anderen. Ich möchte dir keine Schwierigkeiten
bereiten. Du wirst mich bald vergessen haben..."
"Aber ich möchte dir doch helfen! Bitte glaub mir!" Im
tiefsten Grunde seines Herzens beherrschte ihn der Drang, hier
nicht aufgeben zu dürfen. Zögernd machte er sich auf die
Heimreise, die ja noch mindestens eine Stunde beanspruchen
würde.
Verlassen und hilflos blieb sie allein auf der Straße
zurück, blickte ihm nach, bis er um den nächsten
Straßenzug verschwunden war.
Traurig klagte er dem Taxifahrer sein Leid mit dem Mädchen,
er mußte sich einfach die Last von der Seele reden. "Oh, die
Girls wollen oder trauen sich manchmal nicht recht...", meinte der
Mann am Steuer und spähte scharf auf die regennasse Fahrbahn.
"Aber da hilft nur eins – ein wenig Gewalt anwenden!"
Und dann ist womöglich alles und für ewig verpatzt.
Nein, bei Danica durfte er das nicht wagen! Er beneidete den
Regen, der unbehindert herabfließen durfte. Der junge Mann
dagegen konnte dem überwältigenden Eindruck von
Einsamkeit und Verlassenheit in seinem Leben keinen freien Lauf
gewähren lassen.
* * *
In einem tranceähnlichen Zustand der Beglückung, der
Euphorie, selig auf Wolken schwebend, verlebte Willi Höger
die folgenden Tage. Seine Bürokollegen nahmen mit Erstaunen
die Gelassenheit, ja beinahe Entrücktheit wahr, mit der er
ihnen locker entgegentrat.
Pünktlich um zehn Uhr hob Warran tagtäglich den
Hörer ab und rief: "Willy, a call for you!" Danica hing dann
an der Strippe.
Selbstverständlich unterhielten sich die beiden in deutscher
Sprache. "Bist aber happy, nicht englisch parlieren zu
müssen, was?" höhnte Ted. "Ihr könnt ganz beruhigt
sein, M a t e s, über's Büro erzähle ich garnichts.
Rein private Dinge."
Es war ihm natürlich bekannt, wie argwöhnisch man die
Einwanderer betrachtete, die sich zeitweilig ihrer Muttersprache
bedienten. "Warum redet ihr denn nicht Englisch untereinander?"
war er einmal gefragt worden. Man starrte ihn ungläubig an,
als er wahrheitsgemäß mitteilte, daß er sich in
einer Fremdsprache niemals so vielfältig und einwandfrei
ausdrücken könne. "Jetzt behaupte bloß noch,
Englisch ist eine schlechtere Sprache wie das fucken German!"
bekam er darauf zu hören. Es war zwecklos, ihnen das
klarmachen zu wollen.
Samstag in aller Frühe besuchte er ein Kaufhaus und
wählte für seine Danica ein Kleid als Geschenk aus.
Silbergrau, mit eleganten Taschen an den Seiten. In seinem
gegenwärtigen Optimismus hoffte er, es würde schon
passen. Oh, es wird ihr sicherlich herrlich stehen. Auf dem
Packpapier prangten Rentierschlitten und Gesichter von Santa Claus
– und auf der Straße wischte er den Schweiß von der
Stirn. Ungeduldig auf seinem Sitz im Zug hin und herrutschend,
flog Station um Station vorbei. Die Lokomotivschuppen vor der
Central Station tauchten auf, durch den Rauch und Staub der Luft
leuchteten Parolen herüber, mit Kalk an die grauen Mauern
gepinselt: "EINWANDERER! Bewirbt Euch um die Australische
Staatsbürgerschaft!"
Zeit lassen und Billy-Tea trinken, dachte er ironisch. Auf den
Terrassen vor Mark Foy's Großkaufhaus rannte er unruhig die
Schaufenster entlang. Da, punkt zehn Uhr tauchte sie auf.
Sie durchwanderten den Park und nahmen schließlich auf einer
Bank Platz. Ihre Begeisterung über das unverhoffte Geschenk
fiel eher mäßig aus. Es fehlte nicht viel und sie
hätten zu streiten angefangen. Um die Gemüter zu
beruhigen, führte er sie in ein Restaurant zum Imbiß,
dann ging es wieder in den Hyde Park hinaus. Endlich fanden sie
ein ruhiges Plätzchen für sich allein.
Unendlich lange küssten und kosten sie dort in relativer
Ungestörtheit. Es bedurfte seiner ganzen Selbstbeherrschung,
um sie nicht in aller Öffentlichkeit wild zu umschlingen. Ihr
Sex-Appeal wirkte unheimlich stark auf ihn, und auch Danica
stöhnte leise. "Weißt du, was ich mir so vorgestellt
habe, Willilein?" gestand sie: "Ich habe mir gedacht, wie ich
nicht schlafen konnte, wir sind zusammen in einer Kabine auf See
und fahren nach Europa zurück." Er strich den Linien ihres
langen weißen Nackens entlang, als er flüsterte:
"Dasselbe habe auch ich geträumt, liebe Danica. Wir haben
anscheinend eine Form der Telepathie entwickelt, die uns die
Wünsche des anderen überträgt..." Glücklich
lachte er auf: Ganz unabhängig von einander, durch Meilen
körperlichen Raumes getrennt, hatten ihre Seelen
widerstrebend zueinander gefunden.
Es gab immer Kampf zwischen ihnen, wo sie gingen und standen.
Jeder Augenaufschlag von ihr und jede Handbewegung von ihm
drückte dies deutlich aus. Einer von ihnen, den beiden
stolzen Menschenkindern, würde schließlich nachgeben
oder...aufgeben?
Noch nie vorher war den beiden dieses zitternde Glück, dieses
geheime Wissen um das endgültige Zueinanderfinden zweier sehr
unterschiedlicher Menschen, so bewußt geworden. Noch nie
hatten sie ähnliches mit einer solchen Intensität
erlebt.
Stockend wagte er eine Frage, die ihm seit langem auf der Zunge
lag. "Danica, ich habe mir überlegt – ich weiß nicht,
wie du das auffassen wirst – ich möchte mit dir zusammen eine
Wohnung nehmen!" Ihre Reaktion drauf war nicht negativer Natur,
sie stellte nur eine praktische Gegenfrage: "Wirst du nicht sehr
weit zur Arbeit fahren müssen?"
Ihn ärgerte jetzt schon, daß er heute Abend wiederum
ihr ständiges Anhängsel am Hals haben würde.
"Nichts gegen deine Freundin", hatte er ihr nach der
Eröffnung, daß diese mit ins Kino gehen würde,
ruhig mitgeteilt, "aber wenn ich mit dir ausgehe, möchte ich
mit dir allein ausgehen und mit sonst niemandem. Ist das klar?"
Sie hatte darauf nur geheimnisvoll gelächelt.
In der Dämmerung kauerten sie knapp nebeneinander und
betrachteten wortlos den vorbeiflutenden Verkehr. Neonzeichen
flammten irrlichternd auf, Autoscheinwerfer huschten die
Straßen entlang, Tramways klingelten nervös durch die
Gegend. Ihr Haupt ruhte an seiner Schulter. "Willst du nicht zur
Bushaltestelle rüberschauen?" erinnerte er sie an ihre
Pflicht. "Deine Freundin muß doch jede Minute
eintreffen!"
"Bitte nicht sprechen, nicht jetzt!" Sanft verschloß sie mit
ihren Fingerspitzen seinen Mund und schmiegte sich noch enger an
ihn. Ihre Vertraute tauchte nicht auf, scheinbar hatte sie ihn nur
auf die Probe stellen wollen, ob er diese Zumutung aus Liebe
tolerieren oder ob er einen Wutanfall bekommen würde... Oder
vermeinte sie am Ende gar, es würde ihm ums Geld leid
tun?
Der Film lief an: An Affair to Remember.
"Die große Liebe meines Lebens" oder wie immer man den Titel
übersetzen mochte, flimmerte über die Leinwand: Playboy
Nickie lernt die attraktive Nachtklubsängerin Terry kennen.
Bevor er seine neue Liebe heiratet, will er aber erst beweisen,
daß er auch Geld verdienen kann. Doch seine Zukünftige
verunglückt inzwischen schwer, und das Happy-End
läßt auf sich warten...
Knapp vor dem Ende dieses Streifens mit gut dosierter Komik, ein
bißchen Sentiment und viel Schicksal, ergriff Danica seine
Hand und flüsterte ihm mit gebrochener Stimme zu:" Bist du
dir bewußt, daß das u n s e r e Geschichte ist -
nahezu bis ins letzte Detail?"
Er konnte nur stumm nicken. Ihre Lebenssituation, in eine andere
sozialen Schicht verlegt – aber ansonsten I h r gemeinsames
Erlebnis. Inmitten der Masse der Kinogänger wanderten die
beiden Verliebten stumm auf die lärmenden Straßen
hinaus, Hand in Hand.
Danica, die Wilde, die Unbeherrschte, hielt ihr Antlitz von ihm
abgewandt, rückte von ihm ab, so weit dies möglich
war.
Es würgte sie zum Weinen, und sie versuchte ihm diesen
Anblick zu ersparen. Spät in der Nacht langte er in Banston
an. All alone and blue.
Und seine letzten Gedankengänge vor dem Einschlafen kreisten
um das ewige Problem: "Weiß nicht, was los ist. Jedesmal,
wenn ich mit ihr beisammen bin, bereitet sie mir Kummer und
Leid...
Aber ich liebe sie, ich l i e b e sie... Ich sollte es ihr mal
gestehen, laut und deutlich. Vielleicht merkt sie es von selber
garnicht..."
* * *
Die Weihnachtsfeier fand bei Mrs. Eger statt. Das Imitat eines
heimatlichen Tannenbaumes stand spärlich aufgeputzt im
Wohnzimmer, das Radio spielte englische Christmas Songs und
anschließend die schönsten Weihnachtslieder aller
europäischen Nationen. Ihre Wirtin ließ den Tränen
freien Lauf, und alle schluchzten rührselig mit.
Am Boxing Day besuchten sie eine befreundete ungarische Familie,
die guterhaltene, rüstige und temperamentvolle Magyarin
tischte auf, daß sich die Balken bogen. Unweigerlich kam man
auf die Schwierigkeiten der Assimilierung in die australische
Lebensweise zu sprechen. Alles sei so fremd, so anders als in
Europa, meinte die fesche Frau: "Wir schimpfen gelegentlich daheim
über diese Aussies. Und dann kommt mein zehnjähriger
Junge daher und sagt ruhig: 'Mama, wenn du über die
Australier herziehst, beleidigst du auch meine Freunde!' Und er
hat ja recht, er wächst in der Schule ja mitten unter ihnen
auf. Er will mit uns auch nicht mehr ungarisch sprechen. 'Ich bin
Australier', sagt er. 'Und die sprechen Englisch!'
Ja, das Leben wirft für uns Erwachsene Probleme auf, das kann
man wohl sagen."
Die folgende Nacht schien kein Ende nehmen zu wollen. Schlaflos
wälzten sich die Bewohner dieser Millionenstadt von einer
Seite auf die andere. Ein entsetzlich heißer Gluthauch, aus
der Wüste blasend, schwebte über dem Land. The Voice of
Australia – Die Stimme Australiens – der Todeshauch, wehte aus dem
Westen über sie hinweg...
Mehrmals erhob sich Willi vom Nachtlager und öffnete den
Kühlschrank, wo er eine Flasche Whisky aufbewahrte. Mit einem
Schuß Sodawasser und Eiswürfeln darin verschaffte ihm
der Drink eine kurze Erleichterung, brachte ihm wieder eine Stunde
Schlaf. Man lebte um diese Jahreszeit wie in einem Backofen.
Schweißnaß griff er in der Frühe zum Hörer,
als ihn Danica anrief. Sie sei erst um fünf Uhr morgens nach
Hause gekommen, sei von einer Party zur anderen gewandert. Was sie
getrunken habe? Sie wisse es nicht. "Ich liebe die Männer
nicht, nur weil ich muß...", eröffnete sie ihm auf
nüchternem Magen. "Nur meine Mama liebe ich." Er griff sich
an den Kopf, versuchte den Ausspruch zu enträtseln. Doch wie
er es auch drehte und wendete – er verstand überhaupt nichts
mehr. Die verfluchte Hitze beraubte ihn so und so allmählich
seines Denkvermögens.
Er kündigte ihr seinen Besuch für zwei Uhr an.
Natürlich fuhr er, nach dieser eigentümlichen
Eröffnung am frühen Morgen, mit recht gemischten
Gefühlen in Richtung des kleinen Vorortes an der Küste
ab. Vergeblich suchte er nach der angegebenen Hausnummer, strich
forschend zwischen den Häuserzeilen herum, als sie ihm aus
einem der niedrigen Wohnblocks entgegenkam. Ihr ganzes Gehabe
konnte nur abweisend genannt werden. Noch immer trug sie lange
Hosen, diesmal aus einem graugrünen Stoff, der an der Seite
Schmutzflecken aufwies, dazu eine weiße Nylonbluse und an
den Füßen Slacks. Sie führte ihn an der Hand
wortlos zur Beach hinunter, an eine Stelle, die von allen Seiten
Einblick gewährte.
Wortkarg taxierte er ihre niederschmetternde Aufmachung.
"Wenn du nicht reden willst, drehe ich mich um und laß dich
stehen!" rief sie in drohender Verzweiflung aus. Ohne mit der
Wimper zu zucken packte er seinen Fotoapparat aus und ersuchte
sie, sich auf einen der wildromantischen Felsen zu postieren.
"Ich will nicht, daß du Bilder von mir hast. Ich sehe so
schlecht aus!" Ohne auf ihre Proteste weiter einzugehen, knipste
er eine Serie von Aufnahmen. Schließlich bequemte sie sich
zu kooperieren, nahm eine lockere Pose an und warf ihm sogar eine
Kußhand zu.
"Komm, laß uns dorthin aufsteigen, unter die
überhängenden Felsen", lockte der junge Mann beharrlich.
Mit ihrem lädierten Bein turnte sie auf den Steinbrocken
herum, sodaß er sie einmal nur knapp vor einem Sturz
bewahren konnte.
"Ich muß nachsichtig mit ihr sein, reiß dich zusammen,
Willi", sagte er sich. "Sei betont lustig, auch wenn dir nicht
danach zumute ist. Denk doch daran, wie dreckig es dir zeitweilig
ergangen ist. Warum hast du dir die kotigen Schuhe damals nicht
gereinigt, bist mit zerknitterter Wäsche herumgelaufen? Denk
doch zurück, wie du dich damals in deiner Haut gefühlt
hast!"
"Du siehst aus wie ein richtiges Partisanenmädchen",
versuchte er zu scherzen. Sie grollte nur: "Meine Mama hat zu mir
gesagt, ich werde einmal mit den Schuhen an den Füßen
sterben. Du verstehst doch?"
In einer vom Meer ausgehöhlten Nische ließen sie sich
nieder. Er breitete ein Handtuch, das er in der Absicht Baden zu
gehen, mitgebracht hatte, auf dem nackten Felsen aus. "Warum hast
du das dabei?" Flammende Wildheit lag in ihren Zügen.
Er besänftigte sie mit den Erklärung "Damit du dich
drauflegen kannst."
Dann strich er ihr die Locken aus dem breiten Gesicht,
knöpfelte langsam die Bluse auf und ließ seine Hand
zärtlich über ihre Brust gleiten. Ihre eben noch bleiche
Farbe wich aus dem Antlitz und wechselte in einen feinen Hauch von
Rot über. Wie zufällig verirrte er sich auf die
Innenseite ihrer Schenkel, sie zuckte zusammen und preßte
ihren Busen gegen seinen Oberkörper.
Wortlos ließ sie dies alles mit sich geschehen. "Ich bin
nicht die richtige Frau für dich, Willi", entfuhr es ihr
plötzlich. Verwundert fragte er zurück: "Aber warum denn
nicht?"
"Es ist ja selbstverständlich, daß die Frau dem Mann
beim Aufbau der gemeinsamen Existenz hilft. Aber ich werde nicht
mehr arbeiten können, wegen meines Fußes. Auch meine
Karriere mußte ich deshalb aufgeben... Schau, ich suche
einen alten Mann, der für mich sorgt, damit ich mich nur mehr
der Schriftstellerei widmen kann."
Das hat sie schon damals im Spital erwähnt, erinnerte er
sich. Mädchen, das sind doch alles nur Ausflüchte, du
drückst dich vor einer Entscheidung vor der du Angst
hast.
"Ist das dein voller Ernst?" Keine Antwort.
Eine momentane, abrupte Regung der Empfindungslosigkeit umfing
ihn. Eine Spur kälter erwähnte er, daß ihm der
Fall einer Hollywood-Schauspielerin bekannt sei, die trotz einer
Fußprothese ihren Beruf weiter ausübte. "Und da willst
du aufgeben? Bloß weil bei dir eine vielleicht auffallende
Narbe zu sehen ist?"
Er dachte an sein persönliches Martyrium mit dem
Ohrgeräusch, wie er jahrelang dagegen angekämpft und das
Leiden zumindest "kompensiert" hatte, wie die Ärzte sich
ausdrückten. War sie so schwach? Sein Blick fiel auf ihre
nackten Füße, die in Sandalen steckten. Es waren
wohlgeformte, rassige Fesseln, die da unter der groben Hose
hervorlugten. Er mußte versuchen, ihr die Scheu, ihm die
Blessur zu zeigen, zu nehmen. Innig bettelte er: "Liebling,
laß mich einmal dein Bein ansehen, bitte!" Langsam griff er
nach dem Fuß und streifte die Hosenbeine etwas höher
hinauf. Da schnellte sie empor wie von einer Tarantel gestochen,
fuchsteufelswild. Wahnsinnig vor Empörung schleuderte sie ihm
ins Gesicht:" Du bist genauso wie die anderen Männer – du
willst mich auch nur im Bett haben!!"
Er erfasste den Ernst der Situation nicht sogleich und versuchte
sie nochmehr auf die Palme zu bringen. Während er noch mit
ihren Abwehrbewegungen kämpfte, gab er mit lächelnder
Ironie grinsend von sich: "Vergiß nicht – ich habe dir
fünf Pfund geliehen!"
Der verhängnisvolle Satz war gefallen, von seiner Warte aus
sollte es ein Scherz sein, um sie zum Lachen zu bringen. Denn wenn
sie ihn als Mensch und Charakter auch nur einigermaßen
richtig eingeschätzt hatte, mußte ihr klar sein,
daß es sich nur um eine seiner paradoxen Herausforderungen
handeln konnte. Sie schnappte auch sofort nach dem Happen, nur
nicht so, wie er es erwartet hatte – nämlich mit etwas Humor:
"Du bist auch wie die anderen Deutschen alle – nur aufs Geld
sehend!" Und dann, in einem bitteren Nachsatz: "Nicht umsonst hat
Hitler einen Krieg angefangen!!"
Nun waren sie also offengelegt, ihre geheimsten und hintersten
Gedanken. Nun warf ihm Danica, seine Danica mit allen ihren Launen
und kleinen Bosheiten – das wilde Biest, das anscheinend nicht
genau wußte, was sie vom Leben erwarten durfte – nun spielte
sie als "nationalstolze Jugoslawin" diesselbe Walze ab wie die
ärgsten Aussiebrüder. Jetzt lief er auch bei ihr nur
mehr unter "bloody German"...
"Die Österreicher und die Deutschen sind ja ein und
dasselbe!" betonte sie bitterböse. Regungslos verharrte Willi
in der Rückenlage. Danica hatte sich aufgesetzt und starrte
auf die rauschenden Wellen unter ihnen. Er versuchte ihren Kopf zu
ihm herumzudrehen: "Was ist los mit dir? Warum guckst du mich
nicht mehr an?"
Sie erhob sich nun vollends und schickte sich an wegzugehen, er
machte keinen Versuch mehr, sie daran zu hindern. Vor dem letzten
Felsbrocken, der ihm endgültig die Sicht auf ihre grollende
Gestalt nahm, wandte sie sich nocheinmal um und fragte
schmerzlich: "Was glaubst du wohl, warum Gott das Meer und die
Felsen erschaffen hat?"
Dann fand sich Willi allein und verlassen auf den Klippen wieder.
Die Brandung donnerte gegen die Küste wie eh und je, seit
ewigen Zeiten. Später raffte er seine paar Klamotten zusammen
und verließ diesen Ort mit langsamen, schleppenden
Schritten. Nachdenklich wartete er an der Bushaltestelle und
zermarterte sich den Kopf, wie ein solches Auseinandergehen nach
einem derartig tiefen beiderseitigem Verstehen möglich war.
Warum hat uns der Schöpfer dieser Welt in ein Paradies mit
all den Naturschönheiten hineingepflanzt, uns Menschen,
Ebenbilder Gottes? Mitten hinein zwischen die wildschäumenden
Wogen, die ehernen Felsen, die herrlich bunte Vogelwelt? In die
Sonnenuntergänge, die über den ganzen Horizont flammen,
und die grünen, langen, wiegenden Gräser, den duftenden
Wäldern und dem Todeshauch unendlicher Wüsten. Warum
nur?
* * *
"Was trinkst du denn so unmäßig? Du schaust
überhaupt ganz verändert aus!" Der vom Schicksal
hartgeprüfte Neue in ihrer Mitte, Eduard, dem die Frau mit
den zwei Kindern davongelaufen war, setzte sich zu Willi aufs
Kanapee und stellte die Flasche Bier an der Seite ab. "Was ist
los? Ist dir dein Mädchen durch die Lappen gegangen?? Na,
red' schon!"
Willi nickte betrübt. "Ja, es ist aus. Ich denke, nun ist es
endgültig vorbei. Eigentlich möchte ich heulen...aber es
funktioniert nicht. Aber auch das ist mir schon schnuppe. Da,
sieh' selbst", rief er verzweifelt aus und kramte aus der
Brusttasche ein Bild Danicas hervor. "Ist sie nicht rassig? Du
kennst dich doch aus bei den Weibern, was meinst du, was für
ein Frauentyp ist sie?"
Eduard warf einen langen, prüfenden Blick auf die schlanke
Gestalt, überlegte noch ein paar Sekunden und stellte dann
sehr sicher eine präzise Diagnose: "...Typisch eine Lebedame,
die aufs ..., na du weißt schon, nicht so steht. Die besucht
gerne Parties und liebt es, Mittelpunkt des Geschehens zu sein...
Wart ein bißchen, ich muß noch weiter nachdenken!"
Eduard sah einmal kurz und sinnend an die Zimmerdecke, um dann
fortzufahren: "Solche Mädchen haben eine Vorliebe für
Männer zwischen Fünfzig und Sechzig – in gesicherten,
angesehnen Positionen – was sich in diesem Alter meist von selbst
versteht... Das ist keine Frau für dich!"
Willi Höger war einfach platt über dieses Urteil seines
Landsmannes, das ihm durchaus zutreffend und einleuchtend
erschien. "Wie unerfahren ich dem Leben im Grunde noch
gegenüberstehe", dachte Willi verzweifelt. "Der um zehn
lächerliche Jahre ältere Mann sagt mir genau das, was
Danica von sich selbst behauptet. Ein schöner Idiot bist du",
schalt er sich. "Schlag dir das Weib aus den Schädel! Zahlt
sich nicht aus, an diese Zigeunerin, an dieses Flittchen zu
denken..."
Der Franzose wankte angesäuselt ins Zimmer: "Hah! Sieh' mal
an! Unser kleiner Verliebter tut uns wiedereinmal die Ehre an,
gestattet sich Zuhause aufzuhalten...Hahahaaa! Ganz traurig und am
Boden zerstört. Geht dir dein Danicajandl-jandl-jandl auf die
Nerven?" Erstaunlich, sogar der Refrain einer
österreichischen Schnulze fiel Jean in diesem Augenblick ein,
dessen Augen krankhaft fiebrig glänzten, der mit hektischen
Bewegungen im Raum umherschoss.
"Hör' auf, sag ich!!" fuhr Willi wütend in dessen Johlen
und Singen, "Hör schon auf!"
"Nana, keine Aufregung, mein Lieber!" maulte der kleine Franzose
leicht ernüchtert. "Glaubst du vielleicht, du allein kommst
ohne Trouble mit den Frauen von hier fort? Laß dir einmal
von Eduard erzählen, was wir kürzlich erlebt haben! Es
war ja zum – na, wie drückt ihr euch aus? Zum Kotzen
schön!
Da sitzen wir, das heißt einige Österreicher, Deutsche
und ich beschissener Franzose in einem Pub beisammen. Auch Eduard
befand sich auch in unseren Reihen...Die Reihen diiiicht
geschlossen!! Hahaaa!.."
"Halt's Maul, besoffener Kerl!" fuhr Eduard wütend hoch. "Der
bringt die Story ja doch nicht mehr raus... Also, die Geschichte
war so.
Wir sitzen alle so gemütlich beisammen, da berichtet einer in
seiner Bierseligkeit, die eben ins Traurige umschlug: 'Meine Frau
hat mich kurzerhand verlassen!' Die Reaktion der übrigen?
Meine auch, meinte ein anderer. Meine Alte ist auch abgehauen, ein
dritter. Darauf der gesteht ein vierter: Bin in derselben Lage!
Und so fort... Stell dir vor Willi! Alle acht, die wir da hockten
wie uns der Zufall zusammengeführt hat – alle acht
Männer haben das gleiche Schicksal erlitten – allen sind die
Frauen stiften gegangen!
Und da willst du der kleinen Schlampe nachtrauern?
Sei doch froh, daß du sie losgeworden bist!"
Die drei so grundverschiedenen Schicksalsgenossen lachten bis
ihnen die Bäuche zu zerplatzen drohten. Ein verzweifeltes,
gefährliches, hysterisches Lachen.
Jean lauerte noch immer seiner Gattin vor dem Kino auf. Eduard
hoffte noch immer auf die Rückkehr seiner Frau, seiner zwei
Kinder. Und Willi?
Sie hofften alle drei, weil sie liebten, sich nach ihren
weiblichen Partnern sehnten, noch immer, trotz alledem.
* * *
Nach dem Pferderennen verabschiedeten sich Willi und sein
Jugendfreund Anton von Peter, dem Gambler. Der große
schlanke junge Mann mit dem dichtem Haarwuchs, der
auffälligen Künstlermähne, schlich mit seinen
Kumpanen in der Affenhitze dieses Nachmittages davon.
Drei Pfund gewonnen! Nicht schlecht, Willi! Zufrieden grinste er
vor sich hin. Aber der Clou des Tages, den Willi ansonsten nicht
sehr genossen hatte – die Temperatur war in die Höhe
geschnellt – er hatte sich kaum auf die einzelnen Rennen
konzentrieren können, waren doch die beiden alten Australier
gewesen, deren Zwiegespräch er zufällig belauscht hatte.
Peter, ihr Spezialist auf der Trabrennbahn, war vor ihnen
gestanden, vor Erregung von einem Fuß auf den anderen
tretend, und hatte mit der ganzen Leidenschaft seiner Spielernatur
die Ereignisse auf der Rennbahn verfolgt.
"Look at him", hatte da der eine Aussie dem anderen
zugeflüstert. "Look at this bloody long hairs of him. One of
these fucken migrants." "You are right, matey", hatte die andere
Gestalt mit düsterer Miene erwidert, "sie drücken sogar
die Preise für die Haarschnitte in die Höhe! Die
Bastards!"
Es war zu köstlich gewesen.
"Paß auf, jetzt besuchen wir nochmals die Crown Street. Ich
glaube, du bist nach dem Krach mit deiner Danica gerade in der
richtigen Verfassung. Die Rothaarige hat dir letztes Mal doch
gefallen...?" forderte ihn Anton auf. Er wollte seinem Freund
etwas Gutes tun, etwas für seine geistige und
körperliche Gesundheit, wollte ihn aus der trübseligen
Niedergeschlagenheit herausreißen.
Willi erklärte sich gleichgültig mit allem
einverstanden, und sie brachen gemeinsam auf. Vor dem
unscheinbaren Haus lungerte eine Rotte von etwa zwanzig
Männern, hauptsächlich junge unverheiratete Italiener
und Griechen. Die verschlossene Pforte zum Paradies tat sich auf,
und eine Frau blickte forschend herum – die Rotblonde. Sie
ließ eben einen Jüngling heraus und rief dann fordernd
in die Reihen der ungeduldig Wartenden: "Wer ist der Nächste?
Nun, wer ist der nächste Mann? Meldet sich niemand?" Eine
Sekunde noch zögerten die Männer, dann drängten die
Gestalten nach vorne.
"Du da scheinst nüchtern zu sein, du da hinten! Los, komm
schon rein!" Die Hure deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger auf
Willi, der in der hintersten Reihe nahe des Straßenrandes
mehr oder minder belustigt dem Treiben zugesehen hatte.
"Ich? Warum gerade ich? Warum nicht?" überlegte er. Du bist
genauso wie die anderen Deutschen, siehst auch nur aufs Geld! Ist
doch eins wie's andere – Österreicher und Deutsche!
"Da, halt meine Tasche. Ich pfeife auf Danicas 'Liebe'!" Der
gedrungene, stämmige Anton schaute einigermaßen perplex
drein, als sein Freund entschlossen auf die Türe zusteuerte.
Ob es richtig war, was er da angestiftet hatte?
"First the money!" Zynisch lächelnd reichte er der Nutte die
dreissig Shilling hin, Geschäft ist Geschäft. Als er
hinter ihr die knarrende Treppe hochstieg und die weichen
Kniekehlen des jungen Weibes vor sich sah, stieg es heiß in
ihm hoch.
"Ich verzichte auf deine Liebe, Danica!" dachte er trotzig.
"Wie dein Magen knurrt. Hast du heute noch nichts inhaliert?"
stieß sie ungerührt hervor, als er sie umarmte. Ihr
dünner Fetzen von Kleid roch billig und abgeschmackt.
"Doch, Schweinebraten. Hast d u vielleicht Hunger?"
"Nein, schon gegessen."
Wie banal das alles ablief. Nach zehn Minuten stand er wieder auf
dem Gehsteig: "Laß uns in einen Pub saufen gehen... Ich
hätte genausogut ein Stück Holz umarmen
können."
Sein Freund musterte ihn mit geheimer Besorgnis. "Du darfst nie
wieder da rein!" Wenigstens einer der ihn verstand, auf den er
sich blindlings verlassen durfte.
* * *
Die Sylvesternacht verbrachte Willi Höger im Kreise von
wohlsituierten Australiern. Nicht nur finanziell begütert,
verfügten die einzelnen Mitglieder der Familie auch über
Geist, Kultur und Esprit. Die Söhne des alten Briten
bekleideten sämtlich hervorragende Positionen im
Staatsdienst. Jean gehörte als deren langjähriger
Nachbar zum Bekanntenkreis, gelegentlich fuhren sie sogar
gemeinsam zum Angeln aus. Der Österreicher war einfach
uneingeladen mit Jean mitmarschiert. Seine anfängliche
Zurückhaltung legte sich bald, als der Brite mit einem Glas
Wein in der Hand auf ihn zutrat und mit ihm anstieß. Die
lustige Gesellschaft spielte Schallplatten ab und sang auch
gelegentlich mit. Zwanglos kauten die Männer an den
Sandwiches, während sich die Frauen nach althergebrachter
Weise absonderten und im Wohnzimmer plauderten.
Die eingefrorenen Saiten seines Gemütes tauten ein wenig auf,
als ihn der Alte mit brother anredete.
"Wir sind alle Brüder, wir Menschen, und so sollten wir uns
auch benehmen. Ganz gleich, woher einer stammt und welche Position
er in der Society einnimmt." Und Willi spürte erneut die
warme, sympathische Menschlichkeit des weitgereisten Mannes, als
der ihm zum Abschied diskret zuraunte: "Paß auf dich auf!
Sieh zu, daß du nicht absinkst und zugrunde gehst wie
soviele deiner Mitmenschen! Keep an eye on yourself!"
* * *
Eines Tages hielt er es einfach nicht mehr aus, die Sehnsucht nach
"Ihr" wuchs ins Unerträgliche, er vermochte ihr einfach nicht
mehr Herr zu werden. Drei Tage nachdem er angenommen hatte,
daß zwischen ihnen alles zu Ende sei, hatte sie wieder
angerufen, geradeso, als ob es niemals auch nur die kleinste
Unstimmigkeit gegeben hätte. "Wie ich so schnell wieder nach
Hause gekommen bin, hat mich der Gatte meiner Freundin gefragt:
'Danica, wo hast du Willi gelassen?' Ich habe geantwortet: 'Der
ist mir davongelaufen.' Um weiteren Fragen zu entgehen, habe ich
mich dann ins Badezimmer gesperrt. Dort habe ich geweint!"
Konnte man diesem Mädchen böse sein, das sich benahm wie
ein kleines, launisches Kind?
An diesem Tag machte er einfach blau, ließ die Firma Firma
sein und setzte sich in den Bus nach P. Sie eilte ihm so gut es
ging die Treppe herunter entgegen und strahlte ihn glückselig
lächelnd an. Willi benutzte einige Minuten des Alleinseins
mit ihrer Freundin dazu, diese über Danica ein wenig
auszuholen. Leider radebrechte die kleine Mollige nur schwer in
Deutsch, und Englisch zu sprechen fiel ihr anscheinend nicht viel
leichter.
"Du mußt sie zu verstehen versuchen – ein wenig Philosophie,
meine ich!" Das sollte wohl "Psychologie" heißen, aber er
sah großzügig über den Fehler hinweg. Danica
platzte mitten in das vertrauliche Gespräch hinein: "Glaub
ihr nicht, sie erzählt nur Gutes über mich. Daß
ich gut kochen kann, daß ich ein braves Mädchen bin,
und so weiter."
Werden hier auf dem Fünften Kontinent alle Begriffe, Dogmen
und Verhaltensmaßregeln auf den Kopf gestellt, verkehrt
herum angewendet? Unsicher fuhr er sich über die Augen. Wenn
ein Mädel einen jungen Mann gerne sieht – dann versucht sie
doch, sich ihm im bestem Licht zu präsentieren, warum nicht
auch Danica?
Das schlanke Girl in dem langen engen Kleid ergriff nun eine
Zeitung, las aufmerksam die Spalten mit den Wohnungsanzeigen
durch. "Hier steht: Kleines Zimmer-Küche Flat an m.c.
abzugeben. Was heißt das, Willi – m.c.?"
"M.c.? Denke 'married couple', verheiratetes Paar."
Ein wenig vernagelt war er schon, um diesen Wink mit dem Zaunpfahl
nicht wahrzunehmen. Sie warf die Truth mit einem Schwung in die
Ecke. Die kleine Mollige hantierte laut hörbar in der
Küche herum. "Ich sollte eigentlich Wäschewaschen -
kommst du ins Badezimmer mit und hilfst mir?" Nur allzugerne nahm
er den Vorschlag an.
In verführerischer Pose beugte sie sich über die Wanne
und gab sich den Anschein ernsthafter Betätigung, warf ihm
aber aus den Augenwinkeln rasche, schelmische Blicke zu, weil ihr
auffiel, wie Willi sie mit den Augen nahezu verschlang. Sein
männlicher Instinkt trieb ihn an, er zerrte sie hoch,
preßte sie ungestüm gegen die Wand, um sie
leidenschaftlich zu umschlingen.
Der lange Ausschnitt über ihrem Busen öffnete sich
leicht, er begrub seine Lippen darin, und verhalten keuchten die
beiden vor Anstrengung ihre Gefühle im Zaum zu halten. "Du,
ich halte das nicht länger aus!" raunte er ihr stürmisch
ins Ohr. "Nehmen wir uns ein Zimmer, ja?" Ihre Antwort ging in
seinen schweren Atemzügen unter.
"Willilein – ich muß dir sagen: Ich kann dich jetzt nicht
lieben, ich..." "Was hast du schon wieder? Warum nicht? Bitte! Sag
es mir doch, oder ich werde noch verrückt!" Stereotyp kam
ihre Antwort wieder: "Verzeihe – ich kann dich jetzt nicht
lieben... Vielleicht in ein, zwei Jahren fahre ich mit dir nach,
nach Europa. Aber jetzt kann..."
"Wenn du mir nicht augenblicklich verrätst, was das alles zu
bedeuten hat, verlasse ich dich, um nie wiederzukehren! Hast du
Angst vor mir? Los, bitte sag mir: Fürchtest du dich vor
mir??"
Er ließ sie los, trat einen Schritt zurück, geradeso,
als wollte er ihre ganze Erscheinung, ihre Reaktion beobachten,
wenn sie ihm jetzt Rede und Antwort stand.
"Willi, ich habe keine Angst vor dir. Ich fürchte mich nur
davor, daß..., mich so in dich zu verlieben, daß ich
mich nicht mehr lösen kann..."
"Aber willst ...?" "Psst, Willi, jetzt laß mich
sprechen:
Ich bin keine Frau für dich. Du würdest eines Abends vom
Büro nach Hause kommen...und ich hätte dich verlassen,
wäre weit fortgegangen. Ich habe eine solche
Natur...Möchtest du das erleben?"
Und da kam es wieder: eine dunkle Wolke legte sich um sein
Bewußtsein. Die vielen Huren, denen er in diesem Land schon
begegnet war! Die hinterlistigen, meuchelmörderischen
Berufskollegen, die alles darauf anlegten, sich den unbequemen
Konkurrenten vom Hals zu schaffen, falls nötig, aus dem Weg
zu räumen. Schüttet ihm doch Gift in den Tee! Der
einfachste Weg um ihn loszuwerden! Die höhnischen Worte des
infantilen Dicken aus dem Verkaufsbüro klangen noch in ihm
nach.
Wenn sie es nun auf sein Geld abgesehen hatte? Irgend jemand
muß ihr die Spitalskosten bezahlen, sie selbst wird in naher
Zukunft kaum dazu in der Lage sein. Noch Wochen wird ihre
Rekonvaleszenz beanspruchen. Bis dato hatte er ihr an die zwanzig
Pfund gegeben, jeden Penny den er besaß, hätte er ihr
mit Freuden geschenkt. Aber was hatte s i e mit ihm vor? Was waren
ihre wirklichen Absichten? Nein, bevor sie sich nicht mit mir ins
Bett legt, bevor ich ihr den Ehering über den Finger streife,
werde i c h nicht für ihre Schulden blechen. Und – konnte er
sie denn ehelichen?
Nach all dem, was sie ihm so vorgegauckelt hatte, was er bis heute
an Zuneigung und Hingebung von ihr erfahren hatte? Mit Geduld und
Verständnis war er über die meisten ihrer Launen
hinweggegangen, aber irgendwo mußte ein Schlußpunkt
gesetzt werden. Wo, wo würde er einen Ruhepol finden. Bei
ihr?
Sein Denken verlief im Kreis, er sah keinen Ausweg mehr. Alles was
ihm zu tun übrig blieb, war abzuwarten wie sich die Dinge
weiter entwickeln würden, sich einfach treiben lassen.
Die Freundin und Wohnungsinhaberin hatte mit dem Bügeln
Schluß gemacht. "Willi hat mich geküsst!" rief Danica
ganz stolz aus.
"Wie hoch belaufen sich deine Schulden?" erkundigte er sich
später so nebenbei. "An die 150 Pfund. Sehr viel Geld, nicht
wahr?"
"Ach wo, das geht schon." Im Geist überschlug er, was eine
Heiratsausstattung für sie kosten würde, viel konnte sie
ja nicht ihr eigen nennen. Ob sie zufrieden sein würde mit
dem, was er ihr an materiellen Gütern bieten konnte – als
Ehegemahl? Hier in Australien war es doch eine
Selbstverständlichkeit, daß die Ehemänner für
die Frauen schufteten, um ihnen das Dolce Vita so angenehm wie
möglich zu machen. Sicher hatte auch Danica schon Lunte
gerochen, vermutlich war sie garnicht so versessen drauf, nach
Europa zurückzukehren, aus diesem Paradies für Frauen,
hierzulande.
Nun sprach er den Gedanken aus, ohne ihn näher zu
erläutern: "Meine Freunde haben gemeint, wenn ich dich
heirate, kann ich gleich in Australien bleiben." Eine
unglückselige Formulierung, auf die sie kleinlaut erwiderte:
"Nein, so ist das nicht." Und vorwurfsvoll, nach einer Weile:
"Geld ist dir wichtiger wie Liebe!"
So also schätzte sie ihn ein, auch gut.
Sie ließ sich auf seine Knie nieder: "Und wann wirst du mir
geben – einen Ring oder das Armband?" "Wenn ich es für
richtig halte, früh genug", dachte er ingrimmig. Später
umarmte er sie zärtlich ungezwungen in Gegenwart ihrer
Freundin. "Soll ich den Willi heiraten?" warf Danica ihr neckisch
zu.
Er war bereits soweit in seiner Gemütsverfassung, daß
er aus jeder noch so harmlosen Bemerkung eine Anfeindung, ja eine
tödliche Beleidigung heraushörte: Falls sie nicht selbst
weiß, ob ja oder nein, soll sie es bloß bleiben
lassen. Ich jedenfalls werde es mir gründlich
überlegen.
Danica eilte auf einen Sprung außer Haus, um in einen
nahegelegenen Laden eine Besorgung zu erledigen. Die kleine
Mollige legte die Hausarbeit ad acta und nahm sich des jungen
Mannes an, der sichtbar angeschlagen herumsaß.
"In Danica ist die Liebe zum Mann noch nicht wachgeworden, noch
nicht erweckt worden, verstehst du! Viele Männer haben sie
ausgeführt, aber keiner hat etwas erreicht bei ihr. Sie ist
zu stolz, verstehst du?" Zweifelnd blickte Willi die dralle
Vertraute Danicas an, eine wichtige Frage im Zusammenhang damit
lag ihm auf der Zunge. Mit abgewandtem Gesicht fügte ihre
Freundin schnell hinzu: "Nur Pässe bekommt man eben so
schwer."
Aha, die Stolze, die Spröde. Von vielen Männern
ausgeführt. Selbstverständlich, d a s ist ja was ganz
anderes – PÄSSE ERHÄLT MAN SO SCHWER! Einen Willi
Höger wird sie noch immer finden – bloß Pässe
bekommt man so schwer! Er glaubte nicht richtig gehört zu
haben. In die so entstandene, betretene Pause fielen die letzten,
bedeutsamen Worte von Danicas Freundin wie ein Donnerschlag: "Ist
es nicht besser für dich, wenn sie dir sagt, daß sie
dich nicht liebt?"
Das war beinahe zuviel auf einmal. Es widerstrebte ihn, diese
nüchterne Aussage zur Kenntnis zu nehmen. Zweifellos hatte
ihr Danica manches über sie beide anvertraut, unter anderem
auch, daß sie ihn nicht lieben konnte...Aber er wollte es
einfach nicht glauben, noch nicht.
Am späten Nachmittag schlug Danica nochmals die Karten auf,
um die Zukunft vorauszusagen. Einmal für Willi, einmal
für sich persönlich. Ein helles, breites Band hielt die
Fülle ihrer schwarzen Lockenpracht zusammen, die Zaubermacht
ihrer Erscheinung umnebelte noch einmal seine Sinne. "Du bist
wunderschön, Danica", flüsterte er ihr zu. "Du findest
alles an mir hübsch und schön, sogar meinen Namen Danica
Petrovic", meinte sie geschmeichelt. Noch einmal zählte sie
die Karten ab und berührte jede siebente: "Du wirst ein
anderes Mädchen lieben. Von zwei Leuten wirst du sehr viel,
sehr große Geld erhalten. Dann wirst du endlich
glücklich sein... Aber", ein beredtes Schweigen, " wir zwei
werden getrennt werden. Es besteht die Möglichkeit, wie die
Karten zeigen, daß wir in sehr viel späteren Jahren
wieder zusammenkommen...Das ist alles, was über dich darinnen
steht."
Beklommen fragte er sie leise:" Glaubst du daran?"
"Du kannst es glauben oder nicht. Jetzt werde ich für mich
die Karten legen." Wiederum hob sie ab, breitete die
Schicksalsboten vor sich aus, sah aufmerksam die Reihen durch.
"Ich...,nein, besser ich sage nicht." Mit düsterer Miene
raffte sie die Spielkarten zusammen.
Am Abend führte Willi die beiden ins nahegelegene Kino, wo
ein Science-Fiction-Streifen über das Thema Weltraumabenteuer
lief. An physikalische Gesetze hielten sich die
Hollywood-Produzenten nicht allzugenau, und als die Astronauten
mit den grellgelb bemalten Plastikhelmen die Aktionen im Kosmos
allzu bunt trieben, entkam Willi ein verärgerter Ausruf. "Was
hast du denn?" erkundigte sich das Geschöpf an seiner rechten
Seite. Er erklärte ihr kurz den Grund für seinen Unmut.
"You are silly!" rief sie nur aus und lugte sogleich wieder
angespannt zur Leinwand.
"So, ich bin dumm, bloß weil ich mich über den
offensichtlichen Kohl ärgere?" "Du verstehst doch nichts von
diesen Dingen. Das ist doch nicht dein Fachgebiet!"
"Ach nee. Habe mich bloß seit meinem sechzehnten Lebensjahr
intensiv mit Raketentechnik befasst", höhnte er. "Wenn du da
vorne dauernd einen Blödsinn sehen würdest, käme
dir da nicht die Galle hoch?" Aber so war es nun mal, tiefes
Mißtrauen ihm gegenüber, Unverständnis, was seine
Ausbildung und sein Know-how betraf – das sprach deutlich aus ihr.
"Höchstwahrscheinlich hat sie auch ihr Architekturstudium nur
erfunden", dachte er. "Auch dabei erfährt man manches
über die Grundlagen der Physik, wenn auch nicht allzuviel...
Ob sie je eine Hochschule von innen gesehen hat?"
Hastig erledigte er die Verabschiedungszeremonie von ihrer
Freundin, die sich auf dem Weg nach Hause machte. Danica
begleitete er in Richtung ihres Untermietzimmers, das sie
angeblich nur die Nacht über benützte. Ganz fein
rieselte Regen herunter, wortlos schritt er neben ihr her. Vor der
Straßenkreuzung, wo sie sich trennen würden, blieb er
im Halbdunkel einer Mauernische stehen.
"Hier! Habe dir etwas mitgebracht – was ich dir versprochen habe."
Das herrliche Armband, das er aus Port Said mitgebracht hatte,
glitzerte im Schein der Straßenlaternen. Stumm wickelte er
es aus dem Seidenpapier und reichte es ihr mit einer
gleichgültigen Geste hin. Sie griff hastig zu und legte es
an, dann warf sie ihm rasch hintereinander zwei
Kußhände zu: "Das ist für dich!" meinte sie, und
das war's dann auch schon. Er drängte Danica tiefer in die
Wandecke, umarmte sie und drückte einige zärtliche
Küsse auf die schlanke Linie ihres Halses. "Hast du mich
nicht ein wenig gern, Danica? Ein klein wenig?"
In diesen Momenten gab er die Hoffnung auf ein glückliches
Ende ihrer Affaire unbewußt auf, die Flamme der Leidenschaft
brannte langsam herunter, er war im Begriffe zu resignieren. Dicht
hielt er sie an sich gepreßt, machte einen letzten
verzweifelten Versuch, sie zu halten. Er drückte sie so fest
an seinen Körper, daß er sie ein wenig hochhob.
"Laß mich auf den Beinen stehen!" rügte sie ihn sehr
ruhig und nüchtern.
An der Bushaltestelle ließen sie sich auf eine Bank nieder.
Sie fror in ihrer dünnen Kleidung, eine Gänsehaut
überlief sie. Er merkte es, zog seinen Regenmantel aus und
hing ihn fürsorglich um ihre Schulter. Scheu blickte sie zu
ihm auf: "Du würdest nie eine Frau schlagen, nicht wahr?"
"Nein, wie kommst du darauf?" Ihre Reaktion drauf hatte soetwas
Rührendes an sich, daß er peinlich betroffen
zusammenschauerte: Ihre Lippen berührten seine
Fingerspitzen.
Von der Ferne hörte man das Heranrattern des Omnibus, das
leise Rauschen des Regens verstärkte sich.
"Die letzten Jahre ist es mit mir bergabwärts gegangen,
Danica. Wenn du zu mir halten würdest, meine Liebe, ich
verspreche dir – ich erreiche alles, was ich nur will!" Ein
fanatischer Wille zum Erfolg sprach aus seiner Äusserung,
gespannt wartete er auf eine Erwiderung.
"Dein Bus kommt daher, der letzte. Beeile dich!" Aus den Rinnsal
planschte der Dreck hoch, dann sah er durch die beschlagenen
Scheiben ihre Gestalt nur mehr schemenhaft verschwommen im Dunkel
der Nacht verschwinden.
* * *
Sein Verstand, so verwirrt und konfus er durch die pausenlose
seelische Qual und den Stress des Psychoterrors im Betrieb auch
sein mochte, sagte ihm dennoch, daß er keine reelle Chance
mehr besaß, die Frau die er liebte oder zu lieben glaubte,
für sich zu erobern. Der Gefühlsüberschwang mit dem
er sich, davon unabhängig, an die seligen Bilder seiner
Fantasie klammerte, glich einem rettenden Strohhalm. In seiner
Freizeit ging er daran, einen Bungalow für Danica und sich zu
suchen. Seine zahlreichen Bekannten und Freunde halfen ihm dabei
nach besten Kräften. Schließlich war es Anton Melzer,
der ihn auf eine Einwandererfamilie aufmerksam machte: "Haben
droben auf dem Berg ihr Haus, schön, und im Grünen. Und
gleich davor steht der Bungalow. Frag einmal an, vielleicht ist er
noch frei, war es jedenfalls vor drei Wochen noch."
Und der junge Mann hatte Glück, zusammen mit dem
Eigentümer besichtigte er das Objekt: "Bloß die
elektrischen Leitungen müssen ausgebessert werden, dann ist
alles in Ordnung." "Das werden wir gleich haben!" Mit Feuereifer
ging Willi ans Werk, den Schaden auszubessern. Elektrisches Licht,
Wasser, Waschgelegenheit – alles fand er vor. Selbst das
schöne Panorama kam ihm nicht teurer zu stehen.
"Du siehst dich wohl schon vor der Hütte an der Seite deiner
Danica im Liegestuhl ruhen, den Sonnenuntergang bewundernd. Die
letzten Strahlen des Himmelsgestirns und deine Finger spielen im
weichen Haar der Geliebten – oder so. So denkst du doch, nicht
wahr?" Hämisch grinsend nahm ihn Anton auf den Arm. "Die ist
sich ja garnicht bewußt, was sie mit dir angestellt hat, du
bist ja rein verrückt nach ihr! Wenn das nur gut
ausgeht..."
Systematisch und sorgsam wie es seinem Naturell entsprach,
erstellte Willi Listen mit den benötigten
Haushaltsgeräten. Während der Mittagspausen telefonierte
er mit verschiedenen Firmen rund um Banston, versuchte er vorerst
vergeblich, für Danica eine Stelle zu finden. So verging auch
diese Arbeitswoche wie im Fluge.
Als er seine Vorbereitungen im wesentlichen abgeschlossen hatte,
rief er das Mädchen an und jubelte vor Freude: "Danica, ich
habe ein nettes Haus, unweit vom Zentrum Banstons entdeckt. Es
wird am besten sein, du kommst morgen heraus und wir besichtigen
es gemeinsam."
"Morgen geht es nicht. Da muß ich mich bei Rotary Ltd
vorstellen, haben mir einen Job versprochen."
"Aber das dauert doch nicht den ganzen Tag?"
"Doch, es ist sehr weit draussen. Und gegen Abend führt mich
ein Bekannter mit dem Auto noch zu einer anderen Firma." Die
Ausdruckslosigkeit ihres Tones war erschreckend.
"Ach so, ich verstehe. Du willst also nicht."
"Nein." "Aha", ein paar belanglose Worthülsen noch und er
legte den Hörer in die Gabel. In der Telefonzelle herrschte
drückende Schwüle, ein paar alte Tanten blickten
neugierig herein. Der Schweiß lief ihm in kleinen Rinnsalen
den Nacken hinunter, er wischte geistesabwesend mit der Hand
darüber.
Wie üblich und zur Gewohnheit geworden, trafen sich die
beiden von leichter Tragik umhüllten Figuren dieser Story
wiederum unter den Arkaden von Mark Foy's. Falls er sie
während der Badezimmer-Szene richtig verstanden hatte, war
auch ihre Bereitschaft zu intimeren Beziehungen erwacht, für
den Anfang tat es seiner Meinung nach auch ein Hotelzimmer. Seine
Raserei und Verblendung reichte soweit, daß ihm nicht die
Spur eines Gedankens gekommen war, damit vielleicht einen
höchst unpassenden Anfang gefunden zu haben. Aber was sollte
er sonst tun? Keine fremde Frauensperson durfte das geheiligte
Domizil von Mrs. Eger betreten. Längst schon wäre Willi
aus diesem Grunde woanders zur Miete gegangen, aber die
circensischen Kochkünste seiner Wirtin hielten ihn fest. Am
Anfang ihrer Beziehung hatte Danica einigemale vorgeschlagen, er
möge doch in die City ziehen. "Wir können uns dann jeden
Abend treffen!" lockte sie ihn.
Heute traf sie, entgegen ihrer sonstigen Art, verspätet ein.
Willi überraschte sie, wie sie sich gerade vor einem
Schaufenster die Lippen nachzog, sie wirkte sprunghaft, zerfahren
und unausgeschlafen. Er fand sie an diesem Morgen noch um eine
Spur blasser als sonst. Weisse lange Hosen bedeckten ihre Beine,
am Oberkörper hing eine schäbige helle Bluse, die um
ihre zarte Gestalt schlotterte. In einem Netz trug sie
offensichtlich Toilettengegenstände mit sich – hatte sie
vielleicht "sonstwo" übernachtet?
"Nein, ich möchte nicht im Park sitzen, gehen wir in die
Ladies Lounge." Gut, es war nur vernünftig ihr nicht zu
widersprechen. Beim Betreten des Hotel beging er einen kleinen
Fauxpas, worauf sie ihn zornig anpfauchte: "Du kannst mich ruhig
als Frau behandeln, auch wenn ich Hosen trage!"
Einige wenige Damen saßen im Saal verteilt umher. Nachdem
die Getränke serviert worden waren, erkundigte er sich
beiläufig, ob sie bereits einen Job gefunden habe. Sie
verneinte, da es in den Fabriken zwar Frauenarbeit gäbe, aber
nur hochqualifizierte. Er knüpfte vorsichtig vortastend das
Thema 'Zimmer als Liebeslaube' an, und sie begriff, daß er
von ihr quasi eine ad hoc Entscheidung verlangte. Ihre Haut verlor
innerhalb einiger Herzschläge jede Farbe, wurde
kalkweiß, weißer als die Mauer hinter ihr. Totenbleich
saß sie hochaufgericht vor ihm, öffnete mit fahrigen
Bewegungen das Netz, entnahm ihm das Silber-Armband und streifte
es über das Gelenk: "Siehst du, wie ich mich beeilte, um
rechtzeitig zu dir zu kommen?" Ein geringschätziges
Lächeln stahl sich um seine Mundwinkel, für wie
töricht hielt sie ihn eigentlich? Die weghängende Bluse
störte ihn mächtig, sie gab ihr das Aussehen – nun, von
etwas Billigem. "Sag, hast keine – andere – engere Bluse zum
Anziehen?"
"Was paßt dir daran nicht? Ist es nicht Sommer? Ist es nicht
Sommer??" Wütend und zugleich in höchster Verzweiflung
sprühte sie ihn an: "Ich kann doch tragen was ich will!
Sollen die Leute sehen, was ich habe!!" Wie von Sinnen zog sie am
Kragen und zerrte ihn soweit herunter, daß der Busen
freilag...
Mit einer schnellen Drehung vergewisserte sich Willi, daß
dieser – Temperamentsausbruch – von niemandem bemerkt worden
war.
Soll ich wirklich mit dieser – aufregenden – Frau zusammenleben,
fragte er sich. Es war schön, ausschließlich an ein
weibliches Wesen denken zu müssen, aber schließlich
hegte er für die Zukunft noch andere Pläne. "Was hast du
mit dem Zeugs da vor?" Er wies auf das vollgepackte Tragnetz. "Ich
muß auf eine Besuch fahren zu eine Familie in M. Die waren
im Hospital immer so nett zu mir und haben mir immer soviel
mitgebracht."
Aha, folgerte er, ich habe ihr also nicht genug geschenkt,
zumindest klingt es so. Wie dem auch sei, das Erste und Wichtigste
ist nun, daß sie eine Beschäftigung findet, womit sie
sich ihr täglich Brot verdienen kann, überlegte der
junge Mann und handelte danach: "Ich glaube, das Herumsitzen in
der Lounge hat wenig Sinn! Ich werde das Special Employment Office
aufsuchen, vielleicht ist da was zu machen."
Er erhob sich brüsk, entnahm seiner Brieftasche eine
Fünf-Pfundnote und legte sie ihr lässig hin: "Hier,
verwende sie für dich! Ich gehe jetzt." Mit wenigen Schritten
gelangte er zum Treppenabgang. In den Augen die ihm nachblickten,
lag eine Verstörtheit und ein Schrecken, wie sie nur
himmelhohe Bangigkeit hervorrufen konnte.
* * *
Nach dem letzten "Rendezvous" war Willi zu ernüchtert, man
kann ruhig sagen apathisch, um auf die zwei folgenden Anrufe von
"Ihr" anders als mit knapper Einsilbigkeit zu reagieren. Drei
Wochen lang hörte er darauf hin nichts mehr von Danica, bis
ihm ein Briefchen ins Haus flatterte, das nahezu wortwörtlich
lautete:
"Lieber Willi,
Ich fühle, daß Du mich vergessen hast, nachdem Du dich
schon lange nicht mehr gemeldet hast.
Das ist schön, und ich freue mich. Aber das eine muß
ich Dir noch sagen: Ich habe versucht, Dich zu lieben (glaube mir
bitte) und ich bin soweit gekommen, daß ich mich
entschlossen habe, mit Dir zusammen zu leben.
Aber noch hier habe ich gesehen, daß es nicht gut ausgehen
würde. Ich weiß, daß ich nie wieder eine Person
wie Dich treffen werde, aber ich werde nie jemand glücklich
machen und werde wohl immer ein 'Mädchen' bleiben. Alles Gute
durch Dein ganzes Leben
Deine Freundin
Danica
P.S: Ich habe einen längeren Brief schreiben wollen, bin aber
zu unruhig dazu. Ich wohne noch immer in P.
Wenn Du mir etwas sagen willst, meine Tür ist immer offen
für Dich. Danica."
Die Zeilen lagen einfach, ehrlich und ergreifend vor ihm.
Wenn ich Dir etwas sagen möchte, dann, liebe dumme kleine
Danica, ist es folgendes: Ich habe es Dir nie zugeflüstert -
aber ich liebe Dich!
Das ist eigentlich schon alles. Noch etwas: Ich bin nahezu am Ende
mit meinen Kräften, ich kann nicht mehr um Dich kämpfen,
werde Dich nie mehr erreichen. Alles, was mir zu tun übrig
bleibt, ist Dir einige Ratschläge zu erteilen, wie Du Dir das
Leben ein wenig vernünftiger einteilen könntest.
Würde nicht schaden. Bleiben wir Freunde, gute Bekannte,
nicht wahr? Auf Wiedersehen, und sieh' zu, daß Du bald
wieder ganz auf der Höhe bist.
Das war der Inhalt eines sechs Seiten langen Schreibens, das er an
sie richtete. Vor dem verschlossenen Kuvert verharrte er noch eine
Weile nachdenklich und wehmütig. Wenn ich es so richtig
bedenke, ist sie viel vernünftiger als ich. Ich muß ihr
für diese Ehrlichkeit und Entschlossenheit, diese
Standhaftigkeit, dankbar sein. Es wäre mit uns beiden
wirklich nicht gut ausgegangen.
Ich werde Dich nie vergessen, Danica Petrovic.
* * *
Tapetenwechsel war das Vernünftigste. Willi Höger sagte
nun auch Mrs. Eger die Liebe auf und übersiedelte in ein
Zimmer, das Anton vorher bewohnt hatte. Melzer rückte ein
Stück weiter, in einen Raum, der Peter dem Gambler als
Unterkunft gedient hatte. Das Karussell geht immer rundherum...und
die Welt dreht sich im Kreis...
Sturmfreie Bude mit dem einzigen Nachteil, daß er sich nun
die Mahlzeiten selbst zubereiten mußte. Nun gut, die
Küche war modern eingerichtet.
Seine vormalige relative Ausgeglichenheit, ja Fröhlichkeit,
die Willi im Kreise seiner Bekannten – meist Junggesellen, die
sorglos in den Tag hineinlebten – aufgewiesen hatte, war einer
gereizten, in sich zurückgezogenen, gefährlichen Ruhe
gewichen. Gleichmütig begleitete er seine Bekannten
überall mit, nahm sogar an deren Vergnügungen und
Ausflügen teil, ohne aber jemals aus sich herauszugehen.
"Du mit deinem Liebeskoller! Schlag dir die Henne aus dem Kopf!
Wer weiß – vielleicht triffst du sie einmal in einer City
Bar, am Kings Cross oder im Hafenviertel!"
Das waren noch die gefühlvollsten und
verständnisvollsten Äußerungen der in ihrem
moralischen Standpunkt leicht angeschlagenen Freunde. Alles nette
Kerle – aber mit höheren Idealen zum Thema Nummer Eins durfte
man ihnen nicht kommen. Ein Zynismus sondergleichen, aus der
praktischen Erfahrung in diesem Lande entstanden, hatte ihnen
jeden Glauben an die Weiblichkeit genommen.
"Wahrscheinlich verkauft sie sich für 20 Pfund pro Nacht an
ältere Lustmolche. Schlag sie dir aus dem Kopf. Am besten, du
siehst dich so schnell wie möglich nach einem anderen
Mädchen um, das wirkt immer!"
Die Bemühungen seiner Kumpel um sein seelisches Wohlbefinden
waren herzhaft, das konnte man wohl sagen. Der rauhe, beinahe
gemeine Ton dabei störte Willi nicht sonderlich, er
wußte, wie es gemeint war.
Der Freundschaftsbesuch eines schweren Schlachtschiffes der
US-Marine lockte die beiden Jugendfreunde Anton und Willi zum
Hafen hinaus. Stundenlang bestaunten sie die komplizierten
technischen Anlagen und Einrichtungen, den ungeheuren Aufwand an
Material, Kapital und nicht zuletzt Menschen, die der
Verteidigung, notfalls aber auch dem Angriff dienen sollten.
Sie krochen durch enge Gänge, sahen in die drohenden
Mündungen überdimensionaler Schiffsgeschütze,
nahmen in der Kantine einen herzhaften Imbiß zu sich und
strichen dann weiter auf dem Schiff umher, bis sie rechtschaffen
müde auf einen weiteren Einblick in die moderne Kriegstechnik
verzichteten und wieder an Land gingen.
Gleich nach der Town Hall entstiegen sie der Stadtbahn und
gerieten vor einem Pub in einen mittelschweren Aufruhr.
Ein Mann um die Dreissig schlug seiner Frau, beide waren stark
angeheitert, gerade mit den Fäusten aufs Haupt. Sie fiel hin,
lag nun zwischen seinen Beinen, den Rock bis über den Nabel
hochgeschoben. Er drosch noch immer unter wüsten
Beschimpfungen auf sie ein, als da eine zittrige, mickrige Stimme
aus der gaffenden Menge ringsumher, ausrief: "Niemand da, der Lady
beisteht?"
Die Situation war so grotesk – warum schritt der Kerl nicht selbst
ein -, daß die Umstehenden zu kichern begannen. Hunderte
Menschen genossen in vollen Zügen dieses entwürdigende
Schauspiel da auf der Straße. Nun hatte sich die betrunkene
Lady wieder in eine menschenwürdige Position gebracht und
bearbeitete nun ihrerseits mit dem Stöckelschuh den
Lover-boy.
"Na weißt du! Alles was recht ist, aber...", hatte sich der
hartgesottene Toni nur geäußert, um sich dann
schockiert abzuwenden.
Die Stadt wimmelte nur so von Amis. Den wohlgenährten
Burschen aus Kansas, Wiscounsin oder von wo sie auch immer
herstammen mochten, flogen die Damenherzen weitgeöffnet zu.
Direkt Gefühlswellen wurden von den stark gepuderten Girls
abgelassen – lockte vielleicht die Möglichkeit einer Heirat
in die Vereinigten Staaten von Nordamerika?
Im Gegensatz zu ihren begünstigten weißen
Waffenbrüdern, hatten die Farbigen kein leichtes
Manöverfeld vor sich, und Ansätze zu leichten Siegen auf
dem Schlachtfeld der Liebe, Treue und Tugend schienen selten.
Selbst im Hurenviertel der Palmer Street, jenem
Gäßchen, wo Charakterstudien an Hand reichlich
vorhandenen Anschauungsmaterials betrieben werden konnten,
nützte den ausgehungerten Schwarzen ihre Zugehörigkeit
zur drittbedeutensten Nation unserer Erde, den USA, nichts.
Ein Gefängniswagen der Polizei bahnte sich hupend eine Bahn
durch die Massen der Männer in dem schmalen, verfallenen,
lichtlosen Gäßchen.
Eine fette, schwabbelige Alte, auf einer Steinstufe kauernd,
krächzte dem Grünen Heinrich ein "Police is giving us
plenty of protection tonight!" nach. Aus dem vergitterten
Rückfenster des Wagens grinsten zwei nachtdunkle Köpfe
mit blitzenden weißem Gebiß...
Aus einem Pub drangen die Töne einer Jazzband, die Trommel
klopfte rhythmisch die Synkopen, der Jazzbesen kratzte übers
Fell. Vier Mann klopften da drinnen Musik herunter. Eine
fürchterlich heruntergekommene Alte von etwa sechzig Jahren,
vorsichtig geschätzt, lehnte an der Theke. Der Mund grellrot
bemalt, die Haut grobporig – versoffene Äuglein und eine rote
Nase wiesen auf den verflossenen Lebenswandel hin. Die Haare
verfilzten sich zu einem wüsten Gestrüpp, grüngelbe
Streifen durchziehen das Grau. Ein riesiger Negersoldat kauerte,
sie halb umschlingend, neben ihr, flüsterte ihr
beschwörende Worte zu.
"Muß in einer entsetzlichen Notlage sein – sonst würde
er sich nicht an der Megäre vergreifen", raunte Willi seinem
Freund zu. Er konnte seine Blicke nicht von den beiden Gestalten
abwenden, es war zu unwahrscheinlich, was seine Pupillen hier
aufnahmen.
"Auch das nennt sich 'Liebe'", dachte er rein mechanisch.
Wofür der Begriff nicht alles mißbraucht wird.
Ein schrecklicher Zynismus bemächtigte sich seiner: Alle sind
sie nichts wert, eine wie die andere...
* * *
Wiedereinmal traf Willi den deutschen Optiker im Morgenzug, der
ihm auch diesmal von seinen Anstrengungen, in Australien Fuß
zu fassen, ausführlich berichtete. Der Mann bemühte sich
derzeit, die Werkstätte von seinem australischen Chef zu
pachten, da dieser vor hatte, den Fünften Kontinent zu
verlassen, um sich im fernen England weiter ausbilden zu lassen.
"Für Sie bedeutet das Zustandekommen des Vertrages zweifellos
die Zukunft hierzulande", pflichtete ihm Willi bei.
"Ja, wenn es nur schon so weit wäre!" seufzte sein
Gegenüber.
"Ich habe angenommen, alles sei bereits fix und fertig unter Dach
und Fach, auf einmal redet er wieder so kariert daher, als wenn
wir die ganze Angelegenheit nicht schon x-mal durchbesprochen
hätten. Der Kerl dreht mir buchstäblich das Wort im Mund
um. Was mir durchaus nicht gefällt ist, daß man nur
dann freundlich behandelt wird, wenn man bei dir etwas erreichen
will.
Oft habe ich mich schon gefragt, wer von uns beiden eigentlich so
dumm ist, er oder ich."
Wenn der wüßte, wie häufig ich mir diese Frage, in
Bezug auf meine Kollegen, schon vorgelegt habe, schmunzelte
Willi.
"Ich möchte nur wissen, haben die Aussiebrüder wirklich
ein so schlechtes Gedächtnis – oder sind sie so hinterlistig
und grundfalsch?"
Das war die Kernfrage, des Pudels Kern sozusagen in ihren
Beziehungen zu den Einheimischen dieses Kontinents. Sie selbst
merkten nur zu deutlich am Schwinden des eigenen
Erinnerungsvermögens, daß das Klima dieses Landes
tatsächlich einen leichten Schleier des Vergessens über
die Gehirne der Bewohner herabsinken ließ. Aber durfte und
konnte dies soweit führen, daß man wichtige Abmachungen
einfach unter den Tisch fallen ließ, sie einfach
"vergaß"? Oder war der eben demonstrierte Fall nur ein
weiterer "Leg-Pull", ein gut aufgelegter Trick, für den die
Australier sehr viel übrig zu haben schienen, und für
welche Charaktereigenschaft sie ebenso weltbekannt sind wie etwa
für den Diggerhut und die Merino-Schafzucht?
"Was macht übrigens Ihre Freundin?" erkundigte sich der
Deutsche teilnahmsvoll. Gelegentlich hatte ihm Willi von den
Schwierigkeiten mit Danica berichtet, wenn er ihren diversen
Aussprüchen wiedereinmal verständnislos
gegenüberstand.
"Nun darf ich Ihnen ja sagen, wie ich darüber denke", begann
der Mann, nachdem ihm Willi vom Ende der Romanze erzählt
hatte.
"Höchstwahrscheinlich haben Sie nicht genug Geld. Wenn Sie
Haus und Bankkonto Ihr eigen nennen könnten, würde die
Angelegenheit höchst verschieden aussehen. Wo doch gar
verheiratete Frauen mit Kindern ihre Ehemänner verlassen – um
sich einem Freier mit mehr Mammon an den Hals zu werfen.
Ein Mädel in Europa wäre abwechselnd blaß und rot
geworden, wenn Sie ihr das Geld gegeben hätten!"
Es widerstrebte dem jungen Mann, so über seine Angebetene
sprechen zu hören, hätte er Danica doch noch vor kurzem
gegen alle derartigen Unterstellungen entschlossen verteidigt.
Aber wegen der restlosen und furchtbaren Enttäuschung mit der
seine Wahngebilde zerplatzt waren, brauchte er eine leicht
faßliche Erklärung für ihr Verhalten, wollte er
nicht an sich selber verzweifeln. Und zwar eine Erklärung,
die möglichst abschreckend auf sein Gemüt einwirkte -
damit er sie leichter zu vergessen vermochte, also eine Art der
seelischen Selbsthygiene mit einem stark wirkenden
Antiseptikum...
Sein Reisegefährte hub wieder zu sprechen an: "Am Sonntag
habe ich mit meiner Frau ein Lokal besucht, das viele Deutsche
kennen. Konnte dort eine Diskussion dreier deutscher Mädchen
am Nebentisch hören. Es war furchtbar... Wie von abgefeimten
Geschäfsleuten oder durchtriebenen Huren klangen ihre Worte:
'Was glaubst du, wofür ich die Freunde in der Heimat
verlassen habe, zwei Jahre hier im Haushalt schuftete – um dann
vielleicht aus Liebe zu heiraten? Und dann weitere fünf Jahre
nichts vom Leben zu haben? Für die Liebe, die ich mir hier
jeden Abend holen kann, wenn ich will?'
Das waren die Äusserungen einer der drei Damen, die auf den
Hinweis, der Tänzer am Parkett sei ein netter Kerl, und ob er
ihr denn nicht gefalle – über die zwei anderen mit diesen
Verweisen hergefallen ist.
Was sagen Sie nun?"
Der junge Österreicher räusperte sich erst kurz, bevor
er zu sprechen begann: "Nun, das ist natürlich nicht sehr
erhebend. Mir ist diese Einstellung so mancher Einwandererfrau
bekannt, ich kann sie bis zu einem gewissen Grad sogar
verstehen."
Er zögerte merklich, bis er sich überwandt und einen
insgeheimen Gedanken aussprach. "Ich selbst, ich gebe es zu, habe
ähnliche Vermutungen bei Danica angestellt. Sie hat
zweifellos eine harte, vielleicht sogar ärmliche Jugendzeit
hinter sich. Viel Hunger während und nach dem Krieg – sie hat
einmal eine derartige Bemerkung fallen gelassen – und
fürchtet nun wahrscheinlich, nochmals ähnliche
Schwierigkeiten, diesmal an meiner Seite, durchmachen zu
müssen...
Vielleicht besitzt sie einfach nicht mehr die Kraft, die
Zuversicht, bringt den Mut nicht auf mit mir durch dick und
dünn zu gehen. Sie sehnt sich nach Geborgenheit und Ruhe,
glaubt sie aber bei m i r nicht finden zu können. Ein gerade
heiteres Naturell besitze ich auch nicht – und gerade Lustigkeit
schafft Zuneigung und Vertrauen.
Vielleicht ist es so...ich weiß es nicht!" Der junge Mann
lachte gequält auf.
* * *
Eines Sonntags lieh sich Anton ein Motorrad aus, Willi schwang
sich auf den Soziussitz und die beiden brausten los, um Paul zu
besuchen. Kurz vor Pauls Auswanderung nach Australien, war Paul
dem um einige Jährchen jüngeren Willi über den Weg
gelaufen und, über die Beweggründe für diesen
Schritt befragt, hatte er erklärt, es sei in Österreich
für ein mittelloses junges Ehepaar fast unmöglich einen
eigenen Hausstand zu gründen. Er hoffe zuversichtlich, in
diesem riesigen Einwanderungsland bald ein eigenes Heim errichten
zu können.
Nun näherten sich die Burschen diesem Haus, das in einer
trostlosen, einsamen Buschgegend stand: nur alle drei Stunden
ratterte dort ein klappernder Bus auf der Landstraße
vorbei.
Durch eine Lücke in einem verrosteten Drahtzaun gelangten sie
in den Hof, wo ein herziger, pausbäckiger dreijähriger
Bengel in einer waschechten Lederhose zwischen den Überresten
einer uralten Benzinkarosse spielte, die Paul für kurze Zeit
zum Leben erweckt hatte. Ein primitiver Holzschuppen, aus Latten
zusammengezimmert, diente zur Aufnahme des Gerümpels – und es
lag viel davon umher.
Das Haus war zu etwa einem Drittel fertiggestellt, und ragte am
Ende eines Betonfundamentes als Provisorium in die Höhe.
Selbstgestrickt natürlich, aber trotzdem... Zwischen dem
halberrichtetem Mauerwerk flatterte Wäsche zum Trocknen
aufgehängt, über die Wiese verstreut lag
Plastikspielzeug.
"Sieht aus wie ein Armenhäusler in Österreich. Aber, um
Gottes Willen, laß dir ja nichts anmerken!" raunte Anton
seinem Freund zu, der schweigend die Szenerie betrachtete.
Innen war es zwar eng, aber das Wohnzimmer relativ behaglich
eingerichtet. Kühlschrank, Radio und der unvermeidliche
Ventilator erweckten den Eindruck von bescheidenem Luxus. Vom Bett
im Vorraum her greinte ein Baby.
"Um da durchzuhalten gehört ein großer Mut her, den ich
nicht aufbringen würde", dachte Willi beschämt. Gar
nicht auszudenken, wenn Paul für längere Zeit stempeln
gehen müßte...
Paul hatte etwas Hektisches, Eckig-Nervöses an sich, das den
beiden Junggesellen völlig ungewohnt an ihm dünkte. Wenn
er sich nur ein wenig aufregte, schoß im schnell das Blut in
den Kopf.
Wie sich herausstellte, verdiente er als der gute Handwerker der
er war, nicht viel mehr als Willi – und lange nicht soviel wie der
bauernschlaue Anton, der angelernte ehemalige Hilfsarbeiter.
"Früher hat meine Frau mitgearbeitet, aber seit das
Jüngste bei uns ist, geht das nicht mehr. Jetzt muß ich
eben allein die ganze Gesellschaft erhalten – und der Hausbau
muß ruhen!" lachte Paul etwas gezwungen.
Der schafft das alles mit ungefähr demselben Mammon wie ich.
Meine vollste Hochachtung, sagte sich Willi, der dies alles mit
Verwunderung zur Kenntnis nahm.
Zwei lange Jahre hatten sie im Villawood Hostel ausgehalten,
gespart, geknausert – bis sie endlich in der Lage gewesen waren,
das Stück Land zu kaufen und mit dem Bau zu beginnen.
Eine etwas taktlose Frage einer seiner Freunde ließ Paul
sogleich aufbrausen – und, sosehr sich Anton und Willi
bemühten darüber hinwegzusehen – sie fanden ihren
langjährigen Freund und Gefährten ihrer tollen
Jugendstreiche nun dem Weinen nahe. Und da war es einzig und
allein Pauls Frau, die mit einigen sanften, einfühlsamen
Worten den Armen wieder ins seelische Gleichgewicht
zurückversetzte. Und es war diese Ehefrau und die kleinen
Gesten, die Willi immens bewunderte. Wenn es nicht tausende, nein
hunderttausende solcher weiblicher Wesen gegeben hätte, die
sanft und stark zugleich, ihre männlichen Partner in schweren
Stunden wiederaufrichteten, niemals wäre der Wilde Westen
Nordamerikas besiedelt worden, niemals würde ein modernes
Australien existieren.
Die junge Frau und Mutter ließ nun in Gegenwart der beiden
Junggesellen so manche schwere Stunde in ihrem Berufsleben in
Australien Revue passieren. Sie hatte zwar die Sprachbarriere bald
überwunden – nicht aber den Wesensunterschied zu den
Einheimischen. "Ja, und wie ich so in der Arbeitspause meine
belegten Brötchen auspackte – es waren Butterbrot mit
Tomatenscheiben, grünen Paprika oder Radieschen – da haben
sie alle höhnisch losgemeckert: Seht doch die Z i e g e an,
die frißt Grünzeug!" Die Einundzwanzigjährige
wurde von Erregung geschüttelt, bei der Erinnerung an die
Erniedrigungen, denen sie ausgesetzt gewesen war.
Es wird wohl keinen einzigen Einwanderer geben, der nicht durch
das Höllenfeuer der Unverständnis und der Dummheit
gegangen ist: wo immer eine Minorität, egal welcher Art, der
Masse auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ist, sind solche
Übergriffe und Angriffe auf die Persönlichkeit des
Einzelnen an der Tagesordnung.
Denn die Verschwörung der dummen, hartherzigen Menschen ist
weltweit, und sie fordert tagtäglich Opfer, unheimlich
viele...
Sie werden Folterungen unterworfen oder physisch vernichtet – wie
die Häftlinge in den Konzentrationslagern von Hitler, Stalin
oder anderen Menschheitsbeglückern – oder als
Flüchtlinge und Auswanderer langsam seelisch zu Tode
gemartert, durch Unwissenheit, Ignoranz und Gleichgültigkeit
ihrer Umwelt.
Es gehört ungeheurer Mut und große Tapferkeit dazu,
trotzdem auszuharren, immer wieder die Freundeshand auszustrecken
– die immer aufs Neue übersehen oder zurückgewiesen wird
– und dem Land und seinen Bewohnern doch nicht den Rücken zu
kehren. Der Mut der Verzweiflung, wie ihn dieses verlassene,
einsame junge Paar aus Österreich besaß...
* * *
Im Speisesaal neben dem Konstruktionsbüros trampelten die
schweren Schritte der Gießereiarbeiter. Unter lautem
Gepolter wurden die Tische und Bänke zurechtgerückt, die
Jausenbrote ausgewickelt – und geschwatzt. Im gleichen Zuge, wie
die Papierreste auf dem Boden landeten und das Schmatzen der
Männer seinen Anfang nahm, entwickelten die verschiedenen
Mitglieder dieser geschlossenen Gesellschaft die neuesten Theorien
und Ansichten über die "bloody Germans" und ihre verdammte,
höchst lächerliche Lebensweise, ihr "way of living".
"Die Schwachköpfe schuften 48 Stunden in der Woche und mehr
für etwa den halben Lohn, den wir in Australien für nur
40 Stunden Arbeitszeit beziehen. Aber sobald sie in unserem
Paradies eingetroffen sind, schimpfen und meutern sie drauflos,
wie verflucht besser bei ihnen in Deutschland alles ist!"
"My word! Vom ersten Tag an stellen sie eine Arroganz und
Überheblichkeit zur Schau, daß es ein Graus ist, ziehen
über Premierminister Menzies los – und dabei ist es in ganz
Scheiß-Europa bis heute nicht gelungen die Ordnung und den
Standard of Living herzustellen, wie wir es in Australien gewohnt
sind."
"Ob sie überhaupt genug zum Fressen haben, die Habenichtse?
So eine Menge und Auswahl an Waren wie in unseren Shops werden sie
daheim wohl kaum finden!"
"Gosh, bei uns hungert keiner, that's right, Matey! We got plenty
of all!"
"Nicht umsonst hat sich der Kerl da im Konstruktionsbüro so
herausgefressen – zuhause wird es nichteinmal..."
"Ach, die fucken Germans sind alle viel stärker gebaut als
wie wir. Die sind schon so!"
Schmatzen, Gurgeln aus den Bierflaschen, Knistern von Papier.
"Heh, Jack! Ist es wahr, habe gehört, daß sie in vielen
Ortschaften nicht einmal elektrisches Licht kennen?"
"Ja, und auch höchst selten Kühlschränke..."
"Ruhe, Mates! Mir ist eben etwas eingefallen! Da geht meine Alte
zum Fleischhauer, und wie sie so dasteht und wartet bis sie an die
Reihe kommt, fragt der Butcher eine Lady, die es kaum erwarten
konnte bis er im Nebenzimmer mit dem Rasieren fertig war, was denn
los sei? Nun, ihr wißt ja, die Migrants drängeln
immerzu. Sie wolle eine Leber, hat die Lady drauf geantwortet.
Für den Hund, hat sich der Meister erkundigt und den Schaum
vom Kinn gestrichen. Und stellt euch vor, Mates! Stellt euch das
mal plastisch vor, da gibt sie zur Antwort: 'Nein, für mich,
ich habe keinen Hund.'
Meiner Frau sind gleich kalte Schauer die Schulter hinunter
gelaufen. 'Which Country?' wollte der Fleischer natürlich nur
mehr wissen. Von wo stammte die feine Lady wohl her?
Natürlich aus dem bloody, fucken Germany! Nur dort
frißt man solches Zeugs zusammen, ihr wißt ja selbst
aus eigener Anschauung, was das für Barbaren sind!
Haben sie nicht ihre alten Leute abgeschlachtet und Seife draus
fabriziert? Alles Schweine – hab' ich nicht recht?"
Das Gegröhle, Gestampfe und die Beifallsrufe auf den Gag des
Kumpels drangen Willi nur mehr gedämpft ans Trommelfell, denn
verzweifelt hielt er die Hände über die Ohrmuscheln
gepresst, um die unsinnigen, hirnlosen Tratschereien nicht mehr
länger anhören zu müssen.
Es kotzte ihn an!
Es eckelte ihn vor jeder Fratze, die da ein und ausging. Nur nicht
mehr diesem Stumpfsinn ausgeliefert sein zu müssen, den
Primitivlingen, die da umherliefen. Aber dann horchte er wiederum
gespannt auf. Ungeniert unterhielt man sich jetzt über sein
Privatleben in Barston. Nicht, daß er etwas zu verheimlichen
gehabt hätte, aber die niederträchtigen Vermutungen, die
an die harmlosesten Ereignisse geknüpft wurden, konnte er
nicht so ohne weiteres hinnehmen, das waren ja die reinsten
Ehrabschneider! Woher, zum Teufel, bezogen diese Männner
bloß ihr Wissen? Woher, verflucht nochmal, wußten sie
Bescheid, was er an den letzten Weekends getrieben hatte?
Das ging doch nicht mit rechten Dingen zu!
Entschlossen sprang er auf die Beine, lehnte sich dann
bewußt lässig an den Türrahmen, kaute an seinem
Apfel und blickte sich ruhig in der Männerrunde um: "Wer hat
sich da eben über mein Privatleben ausgelassen? Los, wer war
es?" Niemand ließ auch nur einen Ton verlauten, alle
Gespräche verstummten mit einem Schlag. Nur das Schmatzen der
Mäuler war noch zu hören.
Der Österreicher hielt sich keine Sekunde länger mit
sinnlosen Diskussionen auf, sondern lief schnurstracks zum
Personalchef und schilderte ihm wütend die Geschehnisse der
letzten Minuten.
Der ältere, sympathische Australier mit dem norwegischen
Familiennamen wand sich in Verlegenheit als ihn der junge Mann
anfuhr und ihm mitteilte, daß das Maß nun voll und er
entschlossen sei, mit dem Unfug aufzuräumen der hier mit
seiner Person getrieben werde, ein für allemal Schluß
zu machen: "Woher wissen die Leute hier, was ich in meiner
Freizeit tue? Spitzelt man mir vielleicht nach?"
Der Australier bequemte sich schließlich zu eine
Erklärung, die den Österreicher in höchstes
Erstaunen versetzte. "Es besteht eine australische Organisation
zur Überwachung der Einwanderer", erklärte der Mann
zögernd. "Wahrscheinlich pflegt einer der Kumpel Kontakt mit
einem dieser Beamten. Ich selbst bin ein Mitglied... Vornehmlich
ältere Herren, oft Pensionisten, werden üblicherweise
für diese Aufgabe herangezogen." Bereitwillig und nicht ohne
Stolz zeigte er Willi seinen Ausweis. "Aber wir mögen die
Germans sehr", fuhr er fort. "Mir persönlich wäre es nur
recht, wenn alle Deutschen zu uns nach Australien auswandern
würden. Ich bewundere ihre Kultur und ihre Bildung. And we
need brains over here", schloß der Alte sehr sachlich.
Welche Feststellung: "Wir brauchen hier noch viele gute
Köpfe."
Der junge Mann starrte ihn entgeistert an und legte dann
wütend los:
"Ihr braucht also die starken Arme der Einwanderer, ihre Muskeln,
ihre Geschicklichkeit, wollt ihre neuen Ideen ausschöpfen,
ihre gute Ausbildung nützen... Was aber geschieht mit den
Herzen, die unweigerlich dabei sind? Die weist ihr tagtäglich
zurück! Wir sind doch keine gut funktionierenden Maschinen,
die man einfach an- und abschalten kann nach Belieben, die man von
einem Ort zum anderen transportieren und neu einfundamentieren
kann...
Was bildet ihr euch denn ein, ihr Australier! Ihr glaubt wohl, wir
müssen euch auf den Knien danken, daß ihr uns die Gnade
und das Privileg erweist, uns in eurer 'Paradies' eintreten zu
lassen! Was meint ihr wohl, wohin das führen wird? Habt ihr
euch jemals darüber den Kopf zerbrochen? Ich glaube
nicht!"
Die wilde Empörung ließ die Stimme des jungen Mannes
anschwellen, seine Arme beschrieben weitausholende Kreise, als er
drohend ausrief: "Aber ich kann es Ihnen verraten, Mr. Johnson:
alle werden euch wieder verlassen!
Einer wie der andere! In überfüllten Schiffen werden sie
zurück in ihre Heimatländer, nach Europa flüchten.
Ihr werdet auf eurer Robinsoninsel verrotten bis ein asiatischer,
totalitärer Staat mit einer einzigen Geste diese ganze
lächerliche, versnobte Gesellschaft hinwegwischen wird, so
gründlich, daß kein Stein mehr auf dem anderen stehen
bleiben wird!
Und niemand wird euch in dieser Not beistehen können. Niemals
werdet ihr ein Zwanzig-Millionenvolk werden, wenn ihr eure
kleinlichen Interessen weiterhin dem Fortschritt in den Weg
stellt, der Zukunft euren Landes. Der einzigen, die möglich
ist – mit einer verstärkten, unbegrenzten
Einwanderungspolitik, wo jeder Bewohner dieses Kontinents jeden
Neuankömmling mit offenen Armen aufnimmt!"
Mit steigender Verlegenheit hatte der alte Australier dem Ausbruch
des zornigen jungen Mannes gelauscht. Ohne eine Entgegnung
abzuwarten, stürmte der Österreicher zum Fabrikstor
hinaus, um seine Wut abklingen zu lassen. Im nahegelegenen Park
verzehrte er, nun etwas ruhiger, eine kleine Erfrischung. Kinder
tollten um ihn herum und der zehnjährige Sohn des
Shop-Inhabers von nebenan sprach ihn vertraut mit seinem Vornamen
an. Ein kleiner Bengel klemmte einen Fuß zwischen den
Planken der Bank ein und Willi half ihm, wieder davon loszukommen.
Es tat wohl, jemandem harmlos Vertrauenden etwas Gutes tun.
Mit neu gestärkter Zuversicht begab er sich wieder an seinen
Zeichentisch, ergriff Zirkel und Bleistift und trieb seine
Entwürfe voran. Der halbe Nachmittag war schon verflossen,
als einzelne Rufe und Schreie aus der Werkshalle
herüberhallten. Er schenkte ihnen vorerst keine Beachtung,
bis sie anschwollen und er einzelne Worte verstehen konnte.
"You b l o o d y bastard!"
"You fucken German!!! Get lost!! Get away!" Schaurig drangen die
wütenden Schreie aus verschiedensten Richtungen an sein Ohr.
Willi erinnerte sich der Bemerkung des Personalchefs mit dem er
auf gutem Fuß stand, einen verheirateten deutschen Schlosser
eingestellt zu haben. Vermutlich hatte er sich wie gewohnt in die
Arbeit gestürzt, konnte sich mit seinen englischsprachigen
Kollegen nicht unterhalten und war nun hilflos der Meute
ausgeliefert, immer dasselbe Lied.
Der junge Mann legte die Arbeitsrequisiten aus der Hand und
straffte seinen Körper. Die vier Bürokollegen blickten
verstohlen zu ihm herüber, was er jetzt tun wohl würde?
Offene Schadenfreude stand in ihren Gesichtern geschrieben.
"Verschwinde, verfluchter Kerl! Weißt du nicht, daß
wir in einem Engpaß stecken, daß wir nicht genug
Aufträge haben? Und da haust du noch so hin? Bleib uns mit
deinen Großdeutschland-Manieren vom Leibe!!"
Die riesige Halle befand sich in wildem, unkontrollierten Tumult,
ja offenem Aufruhr. Männer in schmutziger Kluft standen in
Gruppen beisammen und schüttelten drohend die Fäuste
gegen den Mann, der einsam und verbissen an einem Werkstück
feilte, der nicht begriff, warum sich die Volkswut an ihm
entzündete. Und mitten im Profil des weitgeöffneten
Tores, draussen im gleißendem Glanz des Sonnenlichtes,
pflanzte sich die Gestalt Willi Högers auf, des jungen
Mannes, der als einziger die Zivilcourage aufgebrachte, gegen
diese Willkür einzuschreiten. Die Gestalt, hochaufgerichtet,
aus dem Halbdunkel der Halle nur in Umrissen zu erkennen, allein
auf sich gestellt – strömte kalte Drohung und
Entschlossenheit aus, eine Entschlossenheit, die auch die
erhitzten Gemüter der Kumpels da drinnen fast augenblicklich
abkühlte. Mit einem Schlag verstummte der Tumult. Ohne die
Figuren entlang der Montagestrecke auch nur eines Blickes zu
würdigen, schritt er auf den Newcomer zu, mit dem ihm die
gleiche Sprache verband: "Regen Sie sich nicht auf, versuchen Sie
einfach nicht auf die Kerle zu hören. Aber machen Sie um
Gottes willen langsamer weiter – oder man wirft Sie kurzerhand
hinaus! Mir ergeht es genauso... Wenn die es mit Ihnen zu bunt
treiben sollten, verständige ich die Polizei."
"Danke", stieß der gehetzte Mann im rauhen Ton hervor. Beim
Hinausgehen blickte Willi den Arbeitern geringschätzig
herausfordernd in die Augen, und kein weiterer übler Ausdruck
fiel. In der lautlosen Stille vernahm Höger das Knirschen des
Sandes unter seinen Sohlen. Draussen angelangt, fühlte er wie
schwer sein Herz gegen die Rippen pochte.
Einige Tage lang herrschte Ruhe, relative Stille um ihn herum. Man
versuchte ihn andersherum zu boykottieren. Wenn er abends zur Bahn
ging, fehlte nun der junge Australier aus dem Büro, der ihn
früher häufig begleitet hatte. "Los, bleib hinten,
Johnny!"
"Er ist ein Spion! Du darfst dich nicht mit ihm unterhalten.
Laß ihn sausen!" zischten die Kollegen dem gutmütigen
Burschen zu.
Und wenn sich Willi in der Frühe an der Stechuhr anstellte,
raunten die Stimmen um ihn her: "Bloody spy! Bloody spy! Bloody
..." Er reagierte nicht mehr darauf, stellte sich taub und
blöde. Und trotzdem überlegte er natürlich
krampfhaft, wie er dem grausamen Spiel ein Ende machen
könnte, wie er die Brüder dazu bringen konnte, ihm eine
Atempause zu gewähren...
Er beging den Fehler, mit der Vernunft der Menschen zu rechnen,
schloß aus seinem doch sehr kühl abwägenden
Verstand auf die Einsicht der anderen. Man mußte doch einmal
kapieren, daß die ganzen Quertreibereien – falls die Aussies
wirklich an das glaubten, was sie da verzapften – unsinnig
waren.
Durch Zufall entdeckte er in einem US-Magazin eine Art Karikatur,
mit deren Hilfe er seinen australischen Kollegen die Augen zu
öffnen hoffte, ihnen verständlich machen wollte, wie er
und Hunderttausende über die Einwanderungspolitik dieses
Landes dachten.
Ein sowjetrussischer General mit Tellermütze, die Brust
übersät mit Orden, starrte mit verschränkten Armen
in abwartender Pose dem Betrachter entgegen. Darunter schrien
Balkenlettern:
I V A N I S W A T C H I N G Y O U !
Der Russe beobachtet Euch, lauert geduldig, bis Ihr reif seid -
für den Kommunismus: das war der Sinn des Cartoons.
Den übrigen Text trennte Willi sorgsam ab und klebte den
Ausschnitt deutlich sichtbar an eine Wand in der Kantine.
Die idiotischen Mutmaßungen und üblen Verleumdungen der
Germans im allgemeinen und unseres Helden im besonderen
verstummten in den folgenden Tagen fast vollständig. Mit
Genugtuung hörte Willi die Stimmen aus dem Nebenraum nun in
gemäßigteren Tönen weiterquatschen. Selbst der
ärgste Hetzer entschuldigte sich nahezu bei seinen Kameraden
– Willi erkannte ihn nur an dem krächzendem Organ: "Ich habe
ja nicht viel gegen die Germans gesagt. Wir müssen uns ja im
klaren sein, daß hier alle Nationen friedlich nebeneinander
leben müssen..." Und so weiter auf der weichen Welle...
Seine Bürokollegen tuschelten untereinander: "Jaja,
Experiance, Erfahrung. Wie elegant er das gemacht hat ... Ohne ein
einziges Wort fallen zu lassen, hat er die ganze Diskussion
gestoppt!" "Erfahrung", dachte Willi, "Erfahrung habe ich genug
gewonnen in Australien, auch Umgang mit Menschen, zumindest
gewisser Spezies, und nicht a la Knigge. Aber das? Das mit dem
russischen General? Das war eindeutig eines meiner Genieblitze,
dear boys", lachte er still in sich hinein.
* * *
Ganz überraschend erhielt Willi einen Anruf von "Ihr", von
der er seit zwei Monaten weder etwas gesehen noch gehört
hatte. Obwohl er versuchte sie zu vergessen, immer wieder ertappte
er sich dabei wie er in seiner Bude abends Mutmaßungen
über ihre Person aufstellte, immer neue Theorien
durchhäkelte und am Ende verwirrter denn je dastand. Statt
sich mit der simpelsten Erklärung zufriedenzugeben,
nämlich daß sie ihn einfach nicht liebte, oder
zumindest nicht genügend liebte – besaß er nun deren
zehn oder mehr.
Er war auf die skurrile Idee verfallen, ihr brieflich von seiner
Abreise nach Europa Anfang April mitzuteilen. Lag Danica trotz
allen gegenteiligen Anscheins etwas an ihm, würde sie seiner
Meinung nach versuchen mit ihm in Kontakt zu kommen, anderenfalls
war es eben eine "one sided love", versuchte er sich
einzureden.
Daß diesen Überlegungen ein fataler Fehlschluß
zugrunde lag, war ihm nicht zu Bewußtsein gekommen. Auf
einen der üblichen Kartenbriefe an sie war keine Reaktion
erfolgt. Auf einem Anruf bei den Nachbarn hin hatte er zur
Kenntnis nehmen müssen, daß Danica gemeinsam mit dem
befreundeten Ehepaar verzogen war – unbekannten Aufenthaltes.
Und nun dieser Anruf von "Ihr", den er insgeheim mit einer
gewissen Bangigkeit erwartet hatte. "Hast du meinen
Kartengruß erhalten?" erkundigte er sich stoisch. "Ja",
antwortete sie schlicht.
"Wo wohnst du jetzt eigentlich?"
"Warum willst du das wissen?" Blöde Frage, dachte er
verbittert.
"So weißt du also, daß ich Montag Sydney verlassen
werde, um nach Europa zurückzukehren?" Stumm wartete er auf
ihre Reaktion, die eine endgültige Entscheidung über
sein unmittelbares Schicksal formen würde.
"Ich kann es nicht glauben – Willi!" "Wenn du mir nicht glauben
willst oder magst, weiter auf meine Zuneigung baust, warum gibst
du mir dann dauernd solche Antworten?" dachte er wütend.
"Doch, es ist so. Am Montag um 22 p.m., mit der Fairsea."
Er spielte seine Rolle zu Ende und wußte selbst nicht,
warum. Doch er wollte eine Entscheidung erzwingen, und zwar
augenblicklich. Im Hintergrund hörte er Warran kichern, sonst
lauschte er nur absolute Stille.
Endlich raffte sie sich auf: "Ich hoffe, du wirst sehr
glücklich..." Eine ganze Welt lag in diesen einfachen Worten,
eine verlorene Welt. Der Wunsch, ihn wirklich zufrieden zu sehen.
Er brachte es nicht über sich, ihr einfach zu gestehen,
daß er sich nach ihr sehnte, seit Monaten, nein, seit vielen
Jahren nach einer Frau sehnte wie sie eine war. So kleidete er
diesen Wunsch in Worte die ihm lagen, Worte die ausdrücken
sollten, was er ihr auf andere Weise nicht mitteilen konnte: "Ich
möchte dich noch einmal treffen, Danica. Beim alten Meeting
Point, du weißt schon – bei Mark Foy's. Wirst du kommen?" Er
fieberte vor Spannung, und da kam auch schon die Antwort: "Nein.
Ich werde dich nicht mehr treffen. Habe keine Zeit. Samstag
Vormittag arbeite ich für meinen Chef, Nachmittag mache ich
Dienst in seiner Filiale bei Chelsea – ich muß arbeiten, um
meine Schulden abzahlen zu können. Samstag Nacht muß
ich schlafen, und Sonn..."
Sie hat sich also einen aufgegabelt, wollte ihn nicht mehr zu
Gesicht bekommen! Im sachlichsten Ton der Welt unterbrach er sie
und fragte, verrückt vor Eifersucht: "Schläfst du
allein?"
Ein Knacken in der Leitung ließ ihn wissen, daß sie
aufgelegt hatte, nun hatte er sie endgültig verloren,
unwiderruflich. Nächste Woche wähnte sie ihn bereits auf
hoher See. Ihre Anschrift war ihm unbekannt, er wußte
niemandes Adresse aus ihrem Bekanntenkreis und keine Behörde
Australiens würde ihm ihren Wohnsitz verraten, das
verstieß gegen das Gesetz. Was bleibt mir noch zu tun
übrig, was habe ich in diesem gottverdammten Australien noch
verloren?
Müde kehrte er zu seinem Reißbrett zurück. Seine
Arbeit war das einzige, was ihn nun noch aufrecht halten konnte,
ihm Rückgrat verlieh.
* * *
Bei nächster Gelegenheit begab sich Willi Höger in die
City, suchte ein Reisebüro auf und belegte eine Passage auf
der "Fairsea", dem Liner, der die "Flamingo" vor Bab el Mandeb bei
seiner Auswanderung überholt hatte. Versonnen blickte er auf
die Zahlungsbestätigung in seiner Hand, wer hätte das je
gedacht? Gebucht hatte er für Mitte Juni, es blieben ihm also
knapp zwei Monate, die er hier noch ausharren galt.
Irgend ein Firmenangehöriger von Williamstown Foundry Pty
mußte ihn auf dem Reisebüro gesehen haben, denn der
infantile Dicke, der ihnen eben die Konstruktionunterlagen von
"draussen" brachte, legte beinahe philosophische Töne an den
Tag, deren Aussagen sich nur auf Willi beziehen konnten. "Das
Leben ist schon spaßig, wenn man es so betrachtet",
verlautbarte er mit resignierender Stimme. "Der eine wartet auf
eine Gehaltserhöhung – und der andere auf den Zeitpunkt bis
sein Schiff ausläuft. So wartet eben jeder zu jeder Zeit auf
irgendetwas in seinem Leben."
Also war man bereits über seine Abreisepläne informiert,
vielleicht vom Secret Service? Umso besser, war ja auch vollkommen
egal. Nun konnte er das Visir in Kampfstellung bringen, durfte die
Maske des still Duldenden fallen lassen...
Selbst wenn sie ihn entlassen würden – bis zur Abreise konnte
er sich mit Gelegenheitsarbeiten durchschlagen. Denn das ersparte
Kapital wollte er unangetastet hinüberretten – nach Europa.
So laut, daß alle erstaunt aufsahen, sagte er: "Well, Sie
haben vollkommen recht mein Freund mit ihrer Bemerkung, daß
jedermann sich mit Warten die Zeit vertreibt.
Ich spreche aus eigener Erfahrung – im Busch zum Beispiel war ich
manchmal fest davon überzeugt, die Leute dort warten nur auf
den Tod, so langweilig lief alles ab. Und in eurer
geschätzten Mitte, meine Herren, beschleicht mich das
unangenehme Gefühl – speziell wenn ich Warran betrachte, wie
er bei der Hitze im Sessel hängt und den Fliegen an der Wand
bei ihren neckischen Spielchen zusieht – ihr wartet alle darauf,
bis euch die Sonne den letzten Rest Verstand aus dem Hirn saugt...
Von den Einwanderern warten viele wiederum nur auf den Tag, wo sie
ihre 1000 Pfund zusammengekratzt haben, um dann frohlockend in
ihre heimatlichen Gefilde zu entschwinden – damit sie dort ein n o
r m a l e s Leben als gleichberechtigte Bürger führen
können!"
Mit beispielloser Ruhe hatte Willi Höger diese provozierenden
Äusserungen in wohlgesetztem Sätzen hingeworfen.
Die fünf Personen hingen wie erstarrt in ihren Sesseln, halb
umgewandt, im Begriffe aufzuspringen. Der rotblonde Engländer
legte die Zigarette bedächtig in den Aschenbecher, lehnte den
Oberkörper nach hinten und grinste unverschämt in
Richtung Warren. Ray hatte dies schon lange kommen sehen, nun
wollte der Pommy die heraufziehende Szene voll genießen.
Oh, Willi wußte genau, wo er die Burschen am tiefsten
treffen konnte, lange genug hatte er Gelegenheit und Anlaß
gefunden, die Volksseele hierzulande intensiv zu studieren. Aber
noch niemals hatte in seinem Benehmen eine derart unverblümte
Herausforderung gelegen.
"Was willst du damit ausdrücken, Willy?" formulierte Warran
langsam jede Silbe. Ted nahm die Augengläser von der Nase,
wie immer wenn ihn etwas aufrührte. Gleich würde der
Austrian wieder spuren, bisher hatte es noch immer geklappt, doch
der riß den Mund wieder weit auf:
"Nun, erstens einmal, daß ihr Aussies stinklangweilige
Burschen seid, insbesondere was euer Arbeitstempo anbelangt.
Daß zum Beispiel ohne Hilfe der Einwanderer heutzutage keine
einzige Bahnlinie gebaut worden wäre..." Warran unterbrach
ihn kalt: "Es sind im letzten Jahrzehnt überhaupt keine neuen
Linien verlegt worden – also dazu hätten wir die bloody
Migrants nie gebraucht!" Höhnisch verzog Ted seine Visage in
tausend Falten.
"Zugegeben, keine größeren.
Aber wie steht es denn mit den Ausbesserungsarbeiten, heh? Mir ist
bekannt, daß in einzelnen Gebieten Australiens der gesamte
Eisenbahnverkehr ausschließlich durch Einwanderer
aufrechterhalten werden kann!" Und Willi gönnte sich noch
einen kleinen Triumph dazu:
"Mir selbst hat die Australische Regierung ja auch in
großzügigster Weise Krampen und Schaufel in die Hand
gedrückt. Habe bei dieser Gelegenheit im Busch ebenfalls ein
paar tausend Yards an Schienen verlegt. Na, was sagt ihr dazu?"
Der junge Mann blickte sich herausfordernd im Kreise seiner
australischen Zuhörer um.
"Das ist nur recht und billig von unserem Government.
Schließlich haben sich unsere Vorfahren ja auch jeden Square
Inch des Landes erst erobern müssen, als sie vor Jahrzehnten
oder Jahrhunderten hier gelandet sind. Warum soll es euch
Europäern in dieser Hinsicht besser gehen? Erarbeitet euch
erst mal das Paradies, das ihr hier vorfindet!" rief der Ingenieur
unwillig aus. Es war ihm also ernst mit seinem Kommentar, niemals
zuvor hatte er sich aus der Reserve locken lassen.
"Verdammt nochmal! Was für ein Paradies meint ihr
eigentlich?" brach es nun aus Willi heraus. "Glaubt ihr denn
wirklich, daß mir diese sandige, verstaubte Robinsoninsel
mit den wenigen spärlichen Gebüschen und den dazwischen
herum hüpfenden Kangaroos als der Garten Eden erscheint?
Ist doch lächerlich.
So kann nur ein Mensch reden, der noch nie einen Schritt vor die
Schwelle seiner Tür gemacht hat!" Johnny, der blutjunge Kerl,
spielte nervös mit einem Bleistift und richtete seine
weitgeöffneten Kinderaugen auf die erhitzte Gruppe.
Warran griff nun in die Mottenkiste der Argumente, die in der
Öffentlichkeit immer wieder aufgetischt wurden.
"Aber unser Klima ist doch healthy, gesund. Es gibt fast keine
Lungenkranken, wir sind doch das Land mit der längsten
Sonnenscheindauer der Welt! Bei uns wachsen keine rachitischen
Kinder auf wie am Kontinent – oder im neblichen, fucken
England..." Ein schräger Seitenblick auf den Pommy, auch dem
hatte er es nun gegeben. Warum griff der übrigens nicht in
die Debatte ein und stellte sich auf die Seite der Aussies? Konnte
er den überheblichen Austrian am Ende gut leiden?
"Allerdings, das stimmt. Du hast vollkommen recht. Bei euch
scheint die Sonne am längsten. Aber..." Willis Mundwinkel
zogen sich zynisch herab. Die vielen, mit Geduld und Nachsicht
ertragenen Demütigungen zogen an seinem geistigen Auge
vorbei, drängten ihm Worte auf die Zunge, die nur entfernt
seine Bitterkeit erahnen ließen. Genußvoll zerkaute er
die nächsten Silben: "Aber..., es gibt da im deutschen
Sprachschatz eine Menge guter alter Volksweisheiten und
Sprichwörter, so zum Beispiel: Wo viel Licht ist, gibt es
auch viel Schatten. Auf euer Scheiß-Country übertragen
bedeutet das, daß ihr zwar keine rachitischen Kinder habt
... dafür aber umso mehr Geisteskranke unter euch weilen...
Wer weiß, vielleicht hat es auch Warran schon gepackt? Er
stiert mir schon zu lange die weißgetünchte Wand vor
seinem Schreibtisch an!"
"Bloody bastard!" zischte Ted wütend. Hastig rückte er
seine kreisrunden Brillen zurecht, seine Blicke begannen unsicher
zu flackern, wanderten emsig suchend im Raum umher. Der
Jüngere des Zweigespanns, Warran, hing plötzlich weich
durch, als ob ihm jemand unvermutet eine Axt ins Rückgrat
gehauen hätte.
"Das war stark, Willy", stieß er matt hervor. Ein unheimlich
satanisches Gefühl der Genugtuung erfüllte den bloody
Migrant, der Schlag in die verwundbare Kerbe hatte haargenau
getroffen. Lächelnd trieb er die Angriffe weiter: "Oder
willst du das Gegenteil behaupten, M i s t e r Warran? Willst du
leugnen, daß sich die ganze Bevölkerung, die
Einwanderer miteingeschlossen, gegenseitig bespitzelt -
ängstlich nach jedem Anzeichen von Madness, von
Verrücktheit beim Mitmenschen Aussschau hält?
Warum wohl? Ich kann dir auch das verraten: Weil er um sein
eigenes Seelenheil fürchtet, weil die ganze Lebensweise,
diese puritanisch strenge, altmodische, jeder lauten
Freudensäusserung abholde Einstellung zum Leben euch zu
notorischen Spießern heranwachsen läßt, die an
ihrer eigenen Einfalt und Introvertiertheit schließlich zu
ersticken drohen. Depressionen, Neurosen – alles gang und
gäbe. Jede emotionelle Regung wird unterdrückt,
bloß weil es nicht als fein gilt, aus sich
herauszugehen.
Warum sind die Italiener trotz ihrer materiellen Armut ein so
lebenslustiges Völkchen? Bei der Arbeit im Busch platzte mal
eine Ölleitung im Tunnel, mit mehreren Atmosphären
Überdruck ergoss sich das schmierige Zeugs über die
Kumpel. Alles drohte binnen Sekunden überflutet zu werden,
alle waren bereits mit einem Ölfilm überzogen. Wie war
die Reaktion der Leute? Die Aussies haben einige halblaute
Flüche von sich gegeben, daß die Steine vor Scham
erröteten. Die Italiener haben wild gestikuliert und wie
Ochsen am Spieß geschrien, haben Zeter und Mordio
gebrüllt – vor Vergnügen über den großen
Spaß. Abgedreht hat die Flut dann ein bloody German. Man
sollte also versuchen, allen Lebenslagen eine heitere Seite
abzugewinnen, meine Herren Australier. Das würde die
seelische Ausgeglichenheit fördern, die euch fehlt..."
"Ich rede wie ein Buch", dachte Willi, "als ob ich mich selbst an
diese Erkenntnisse halten würde."
"Aber die Australier sind doch ein humorvolles Volk!" ließ
Warran nun verlauten. "Ja, das stimmt auffallend. Ihr witzelt
immer dann und speziell über solche Angelegenheiten, wenn
Menschen anderer Nationen ernst zu werden beginnen. Für euch
Australier ist sogar das Fehlen jeglicher Ernsthaftigkeit und
Seriosität im Gespräch bezeichnend – möchte ich
behaupten. Schon wieder etwas, das euch von den Amis
unterscheidet, denen ihr so nacheifert oder es wenigstens
versucht..."
"You are right, Willy! Wir lieben es sogar sehr, den Leuten mit
denen wir es zu tun haben, ein Bein zu stellen – besonders wenn es
sich dabei um Einwanderer handelt." Ted war nun in seinem Element,
die scharfe Spitze, mit der die Diskussion begonnen hatte, begann
stumpf zu werden und machte einem leicht ironischen, neckendem Ton
Platz. "Aber wir sind durchaus nicht abgeneigt, die Ansichten von
Menschen anderer Nationen ernstlich anzuhören!"
"In der Theorie – ja. Aber gewöhnlich versucht ihr dann mit
euren eigenen Ansichten aufzutrumpfen und alles niederzuhauen, mit
Meinungen, die ebenso pathetisch wie fürchterlich
präpotent vorgebracht werden..."
"Na, was denn zum Beispiel? Another Crack at the Australians. Go
on!" Ungeduldig drängten ihn die Männer, sahen Willi
halb belustigt, halb verärgert an. Willis Miene
verhärtete sich, ein spezielles Thema lag ihm auf dem Herzen,
war es wert, aufs Tapet gebracht zu werden: "Nun, zum Beispiel
dies: In euren Zeitungen tauchen laufend Titelüberschriften
auf, wie 'Man schickt uns immer mehr Mörder, Gangster und
Verrückte aus Europa herüber! Laßt euch das nicht
mehr länger von der Regierung gefallen!' – und so weiter."
Unwillig starrte Warran herüber: "Ist dir denn nicht bekannt,
wer diese Schlagzeilen verfasst? Das sind doch kommunistische
Schmierblätter!!"
"Doch, das weiß ich. Aber ich weiß auch, daß ein
Großteil der Bevölkerung solche Behauptungen schluckt -
ihr doch auch! Gebt es doch zu!!" rief Höger wütend aus.
"Jedenfalls berichten die Blätter immer wieder: Der
Täter, ein Einwanderer aus so und so, erstach Mr. XY...und so
weiter. Das ist bestimmt nicht erfunden, oder?" warf Ted nun seine
Einwände in die Waagschale.
"Nein, durchaus nicht, nehme ich an. Aber abgesehen davon,
daß ich mit der Diskriminierung aller Einwanderer einer
Nationalität wegen der Fehltritte einzelner nicht
einverstanden bin, nützt man der von der Regierung
angestrebten und durchgeführten Migration-Politik sicherlich
nicht – was ja unter anderem Zweck der Übung ist.
Überdies hat eine staatliche Untersuchung kürzlich
ergeben, daß der anteilige Prozentsatz der von Einwanderern
begangenen Strafdelikte geringer ist als der von den
Einheimischen!" Willi legte eine wirkungsvolle Pause ein.
"Wenn ihr wollt, kann ich die Zeitungsausschnitte morgen mit ins
Büro nehmen. Ich habe sie mir gut aufbewahrt – für alle
Fälle...", grinste der Österreicher mit gespielt
freundschaftlicher Miene.
"Bastard", knurrte Ted, der erzpatriotische Chauvinist,
verlegen.
Als habe er diesen Beschimpfung überhört, fuhr Willi
fort seine Kollegen in lockerer, freundschaftlich-sachlicher Art
aufzuziehen. Jetzt fuhr er eines der schwersten Geschütze
auf, die ihm zur Verfügung standen: "Das ist mir
persönlich leicht verständlich – stammen doch die
meisten eurer Vorfahren von Verbrechern ab, die aus England
strafweise in dieses gräßliche Land deportiert worden
waren."
Der unpersönliche, verständnisvolle Ausdruck in der
Stimmme des Einwanderers reizte seine Widersacher bis zur
Weißglut. Als hätte er in ein Hornissennest gestochen,
attackierten ihn die 'Kollegen' nun mit Schmährufen sonder
Zahl: Der Europäer hatte sehr gezielt die Archillesferse der
Alteingesessenen verletzt. Warran schnappte nur mehr nach Luft:
"Aber ..., aber das waren doch nur ganz kleine, unbedeutende
Diebstähle, eine Henne, ein Shilling – oder dergleichen. Kein
Mensch würde sich heute darum kümmern!"
"Ja heute! Aber gebt es doch zu: Es war eine negative Auslese, die
da die entlegene Kolonie zuerst besiedelt hat!!"
Der australische Ingenieur hing bekümmert über der
Schreibtischplatte, beinahe hätte Willi Mitleid mit ihm
empfunden. Die beiden jungen Burschen in ihrer Mitte waren die
längste Zeit einfach sprachlos dagesessen, nur der rothaarige
Engländer hatte einzelne schlagfertige Einwände Willis
mit kurzem Auflachen quittiert. Der Newcomer gewann nun zweifellos
an Terrain, verzweifelt suchten die erwachsenen Australier nach
neuen Argumenten, mit denen sie Willi mundtot machen konnten.
Jetzt trumpfte Ted wieder auf, der gegenseitigen Beschuldigungen
schien es kein Ende nehmen: "Wenigstens keine degenerierten
Österreicher sind damals ins Land geströmt, so wie
heutzutage..."
"Inwieferne degeneriert? Ich verstehe nicht ganz...?"
"Well, die Österreicher leben in ihrem kleinen Land ja nur
mehr von der 'Eisernen Ration', Kulturration, meine ich.
Hochöfen glühen auch in China, im Schwarzen Afrika. Auch
dort werden vermutlich Seidenstrümpfe erzeugt und Radios -
drauf braucht ihr Österreicher nicht sonderlich stolz zu
sein. Ansonsten träumt ihr scheinbar nur mehr vom ehemaligen
Hapsburger-Empire, oder wie immer das geheißen hat. Von der
einstigen Größe ist doch nicht mehr viel übrig
geblieben, oder?
Könnt ihr heute noch den Anspruch erheben, eine der
führenden Kulturnationen der Erde zu sein – ganz abgesehen
von den bescheidenen materiellen Wohlstand, den eure Zivilisation
erreicht hat, den sich jeder Negerstaat im Kongo schaffen kann,
wenn er nur genügend Zeit und Kapital zur Verfügung
hat?"
"Lieber Ted", gab Willi Höger bedächtig zurück,
"ich weiß von deiner letzten lächerlichen Behauptung
schon lange – gewisse Interessengruppen hier in Australien wollen
damit das sogenannte Wirtschaftwunder Deutschlands und auch
Österreichs schmälern. Aber ich muß zugeben,
daß du das Kernproblem unserer Generation in Europa erfasst
hast. Mich wundert deine genaue Sachkenntnis.
Aber glaube mir, intellektuelle Kreise bei uns zuhause setzen sich
sehr intensiv mit diesem Problem auseinander. Wie, das zu
erörtern würde zu weit führen. Eben deshalb glaube
ich ernstlich, kann man uns nicht für degeneriert halten. Wir
leben in einer Übergangsphase – man schnuppert nach langen
entbehrungsreichen Jahren endlich Wohlstand, aber diese vorwiegend
materielle Einstellung zum Leben wird nicht ewig dauern. Neue
schöpferische Kräfte sind am Werk. Das ist es doch, was
du ausdrücken wolltest, nicht wahr?"
Eigenartigerweise erwuchs in ihm eine starke Sympathie für
seine Gegner, seine beruflichen Konkurrenten und weltanschaulichen
Widersacher. Diese seine Einstellung den Australiern
gegenüber hatte sich trotz der heftigen, persönlichen
Auseinandersetzung nur noch verstärkt. In den wenigen
Sekunden, die ihm zum Sammeln der Gegenargumente zur
Verfügung standen, grübelte er kurz über dieses
Phänomen nach, konnte aber keine einleuchtende Erklärung
für sein paradoxes Verhalten finden. Hätte der junge
Österreicher psychologische Studien betrieben, wäre ihm
mit erschreckender Klarheit bewußt geworden, daß seine
nun wachsend wohlwollende Einstellung den australischen
Brüdern gegenüber nichts anderes bedeutete, als
daß er zwei Phasen der Reaktion unter langandauerndem
Streß stehender Individuen durchlaufen hatte, und nun die
letzte, die ultra-paradoxe Phase durchlief: Eine Verhaltensweise,
die der Schöpfer dieser Welt den höherentwickelten
Lebewesen zu ihrem Schutz, zur Verhinderung der Selbstvernichtung
einzelner Geschöpfe, eingepflanzt hat. Einer Phase, in der
sich alteingelebte Gewohnheiten, Ansichten und Verhaltensweisen
gerade umkehren: Vom Positiven zum Negativen und umgekehrt...
"Aber bitte, meine Herren, ich muß euch zum Teil recht
geben... Das angeschnittene Thema ist ein grundlegendes, ich
glaube man könnte dies den Unterschied zwischen Zivilisation
und Kultur betiteln. Wenn ich eine Zahnbürste besitze,
Freunde, nennt sich das Zivilisation. Wenn sich jemand
überhaupt der Mühe unterzieht und seine Zähne
reinigt, eventuell sogar mit dem Zeigefinger, dann nennt sich das
Kultur!
Also ist es mit unserer Zivilisation, das was ihr so stolz
Standard of Living nennt, nicht sehr weit her in Europa, denn ein
hoher Prozentsatz der Bevölkerung besitzt zum Beispiel kein
Bad. In den Altstädten keine Spur davon, in den älteren
Zinskasernen kaum und in den Neubauten nicht immer. Zehn
Quadratmeter im Durchschnitt bleiben einem Menschen zum Wohnen in
einer weltbekannten Großstadt wie Wien zum Beispiel. Wo
bleibt da unsere vielgepriesene Kultur? Mit
Schnadahüpferl-Singen und den weinseligen Grinzinger Liedern
werden wir uns in Österreich kaum einen Platz in der
vorwärtsdrängenden Welt sichern. Erst wenn wir behaupten
können: Wir haben fast keine sozialen Probleme mehr, es
leidet niemand Hunger, jeder hat ein Dach über dem Kopf, wir
komponieren – nicht allein dirigieren – beste Musik, schnitzen
kunstvolle Skulpturen, stellen herrliche Glasmalereien her, unsere
besten Ingenieure und Wissenschaftler müssen nicht erst ins
Ausland abwandern, um sich dort entwickeln zu können, erst
dann dürfen wir zu Recht behaupten, unser Land gehört
zur Weltspitze."
Ted fuhr triumphierend hoch. Wiederum gruben sich tausend feine
Fältchen in seine Haut, die ihn alt und verlebt wirken
ließen: "Du gibst also selbst zu, daß ihr in eurem
bloody Europe nur von der Vergangenheit lebt?
Warum schimpft ihr dann auf Australien? Warum wandern soviele
Menschen nach Australien aus? Weil es das Land der Zukunft ist!
'Australien – Land der Zukunft!!' "
"Mensch, gib nicht so an! Überleg' dir genau, was du
vorbringst. Das ist der Slogan, mit dem Hunderttausende aus Europa
an eure Gestade gelockt werden. Hier wird er verbreitet und in
Europa von den zahlreichen australischen Missionsstellen, die
irgendetwas unternehmen müssen, um ihre Existenzberechtigung
nachzuweisen.
Ich will dir mal was erzählen, Ted: Kannst du dich vielleicht
an den ominösen Mr. Muggeridge erinnern, der, aus England
kommend Australien ein wenig unter die Lupe genommen hat?"
Willi sprach ernst und gelassen, seine Wut, sein Verlangen es den
Brüdern heimzuzahlen, war verschwunden. Er wollte nur eines,
eines bevor er diesen Kontinent für immer verließ: Die
Wahrheit über Australien herauszufinden.
"Well, der arrogante Pommy vom T.V.?"
"Genau derselbe. Der hat sich an ein entferntes, verlassenes,
staubiges Plätzchen eures Kontinents begeben, ganz allein.
Und hat sich dort ruhig, zufrieden auf seltsame Art,
wiedergefunden. Warum wohl? Nach seiner eigenen Aussage: Weil er
sich bewußt wurde, daß an dieser Stelle, in dieser
Einsamkeit wohl noch kein Mensch vor ihm jemals gesessen hat,
keine Aspirintablette jemals geschluckt worden war, keine
Konservenbüchse geöffnet, keine Musik gemacht und kein
Krieg geführt worden war.
Mit einem Wort: Dieses Fleckchen unberührter Landschaft hat
weder Vergangenheit noch Zukunft. Und dasselbe gilt im weiteren
Sinne für ganz Australien, beinahe uneingeschränkt. So
hat sich ein unabhängiger Pommy geäußert.
Ihr Australier sprecht vom 'Land der Zukunft'. Und ich, ein bloody
Newaustralian, ich sage euch jetzt meinen Standpunkt: Australien
birgt in sich vielleicht eine große Zukunft – aber keine
Gegenwart. Jedenfalls nicht für uns Migrants..."
Es war stille geworden, nachdenklich ließ Warran mit
unruhiger Miene vernehmen: " Also du gibst wenigstens zu,
daß wir in Australien, wenn auch nur mit
Einschränkungen, einer großen Zukunft entgegensehen
können? Ich muß sagen, das ist wirklich
großzügig von dir! Und was ist mit unserer
Vergangenheit?"
"Oh, aus meinen Worten geht nicht hervor, daß die Australier
keine Vergangenheit kennen – sie versuchen zumindest eine zu
erfinden! Leider ist vielleicht nirgendwo auf der Erde die
Vergangenheit so hinderlich für die Zukunft des Landes
wie..."
"The Hell!! Was willst du damit andeuten?"
"Nicht viel – aber ihr werdet mich gleich verstehen..."
"...Zum Teufel," unterbrach ihn Warran wütend, "er fängt
schon wieder zu stänkern an!"
"Relax, Mr. Warran. Just relax gently!" beruhigte ihn Willi
spöttisch. "Ich möchte euch nur auseinandersetzen, wie
ich die Situation sehe... Also, diese Sträflingsansiedlungen
in der Pionierzeit Australiens, der frühesten Vergangenheit
eurer Geschichte, haben eine tiefe Narbe in allen von euch
hinterlassen – das beweist doch die Heftigkeit, die ihr beim
Anklingen des Themas entwickelt... Eine unauslöschliche Narbe
– das Kennzeichen aggressiver Gleichheit aller Bürger, die
Mißachtung von Autorität und allen 'feinen'
Leuten!"
"Beweis' uns doch diese Behauptungen!!" schrien die paar Aussies
herum. "Los! Wie kommst du darauf?"
"Nur gemach, meine Herren! Ich erlebe das tagtäglich, selbst
hier in eurer Mitte.
Was glaubt ihr, würde wohl wo anders eurem netten Johnny
widerfahren, wenn er vom Manager gebeten wird schnellstens eine
Zeichnungspause herzustellen, und Klein-Johnny, als echter
Nachkomme der einsam über Busch und Weite dahinreitenden
Pioniere eures Landes, als Abkömmling der sich jeder
Anordnung nur murrend fügenden Sträflinge, die alle im
gleichen Boot saßen – im wahrsten Sinne des Wortes – wenn
also dieser sympathische Johnny dann erst mal ruhig seine Jause
verzehrt, dann gemächlich den Kopierapparat einschaltet,
lässig das Papier zurechtschneidet, vom Chef gefragt wird, ob
er die Rollen schon bereitgestellt hat und drauf ebenso
lässig zur Antwort gibt: Na, wenn's Ihnen nicht schnell genug
geht, müssen Sie's eben selber machen!
Das ist nur ein kleines Beispiel, aber bezeichnend für eure
Einstellung zur Arbeit und zur Autorität. Viel lieber besucht
ihr Rennplätze – die ganze Nation hat eine Spielernatur,
gegen die eure Kirche wettert – oder spielt Cricket oder
Tennis."
"Das ist nicht wahr!" fuhr der junge Ingenieur empört
auf.
"Doch, das ist sogar sehr wahr. Nicht umsonst ist euch die
unablässige Geschäftigkeit der neuen Siedler ein Dorn im
Auge, ist d i e Quelle der Störungen und Reibereien zwischen
Alt- und Neuaustraliern..."
"...und im übrigen laß unsere Kirche aus dem Spiel,
wenn's recht ist!" rief Ted dazwischen. "Der Katholizismus, dem
die Massen der Einwanderer angehören, ist in erster Linie
für den dekadenten, gefühlsbetonten, korrupten und
ärmlichen Zustand der Länder wie Italien, Frankreich und
Spanien verantwortlich!
Es kann bei Gott nicht Sektierertum genannt werden, wenn wir uns
in einem protestantischen Land von den Massen
römisch-katholischer Menschen in unserer Eigenart bedroht
fühlen. Nicht umsonst passen sich die Einwanderer aus dem
Norden Europas besser an unsere Gesellschaft an, die
Norddeutschen, die Skandinavier – eben weil sie vornehmlich
evangelischen Glaubens sind."
"Ich glaube, wir lassen die Kirche wirklich aus dem Spiel, lieber
Ted, deinem eigenen Wunsch gemäß.
Du beklagst dich, daß die Lebensgewohnheiten der Australier
langsam verschwinden und durch Sitten und Gebräuche der
Einwanderer ersetzt werden... Dazu kann ich nur sagen – und
hunderttausende Migrants würden da zustimmen – die einzigen
lebenswerten Conditions sind die, die von den Einwanderern
geschaffen wurden! Die Gemüseläden, die auch euch mit
Vitaminen, l e b e n s w i c h t i g e n Vitaminen versorgen, die
Espressos, welche die Bierhallen abzulösen anfangen, die
Vereine der Einwanderer, die sich am Wochenende, n a c h einer
arbeitsreichen Woche am Samstag oder Sonntag bei Spiel und Sport
erholen wollen, die Nationalitätenrestaurants, die
ausländischen Bücher und Zeitschriften, bisher hier
unbekannte handwerkliche Tätigkeiten, die von den
Einwanderern ausgeübt werden, die Liedergruppen, die
Gesangsvereine, die..."
"...Die zur Bildung nationaler Gruppen führen! Lebt lieber
die australische Lebensart!!" fuhr Ted dazwischen. Sie
transpirierten am ganzen Körper von der Anstrengung ihres
Wortgefechtes und den sommerlichen Temperaturen. Jegliche
berufliche Tätigkeit ruhte seit Stunden, keiner dachte daran,
seiner Arbeit nachzugehen. Seit Monaten hatten sich auf beiden
Seiten Fragen und Spannungen aufgestaut, die zu einer Lösung
drängten. In diesem Zustand hochgespannter Erregung fielen
die Worte hart und meist ohne den üblichen spöttischen
oder beleidigenden Beigeschmack. Man fühlte, irgendetwas
mußte aus dieser Diskussion resultieren, irgend ein Ergebnis
wand sich unter Qualen an die Oberfläche ihres
Bewußtseins.
"So, ihr Aussies wollt uns also dessen berauben, was uns
überhaupt zu Menschen, zu Persönlichkeiten geformt hat:
der Kultur unserer Heimatländer, der Großen der
Literatur, der Musik unserer Vorfahren. Dem einzigen, was uns in
dieser manchmal mehr als tristen Umgebung unsere Lebensfreude
erhalten kann, uns für den Alltagskampf stärkt..."
Schlagfertig parierte Warran: "Und gerade uns wollt ihr die
Wahrung unserer Eigenart übelnehmen? Uns, die wir..."
"Niemand beabsichtigt das. Aber für euch, wo doch das
Verhältnis Einwanderer zu Australier eins zu neun steht, kann
dieses unser Bestreben, eigene kulturelle und sportliche
Vereinigungen zu gründen, doch keine Bedrohung,
höchstens eine Erweiterung, eine Ergänzung eures eigenen
Lebensinhaltes bedeuten!
Es sei denn, ihr seid wirklich, nach euren eigenen
gebräuchlichen Ausdrücken 'No-Hopers' und
'Red-Bags'.
Mir ist genau bekannt, welche Ziele die Migration-Politik eurer
Regierung verfolgt, es sind im wesentlichen deren drei:
Die Einwanderer sollen eine kulturelle Injektionsspritze
darstellen, sie sollen das Land auffüllen, um eure Angst vor
den Japs zu vermindern – und sie sollen als
Arbeitskräfte-Pool dienen, der euch zu höheren
Leistungen antreibt, weil wir die Löhne drücken und
immer da sind, wann und wo es immer etwas zu schaffen gibt..."
"Mit einem Wort, ihr seid das reinste Cattle-Vieh, das man
drüben einfängt und hier wieder ausladet. Ein
Geschäft, das dem australischen Steuerzahler allerdings teuer
zu stehen kommt." Ted kostete seinen Gag mit dem Rindvieh deutlich
aus. "Ein Einwanderer kostet dem Land etwa 200 bis 3000 Pfund von
dem Zeitpunkt an, wo er für die Auswanderung ausgewählt
wird bis zu dem Zeitpunkt, wo er sich hier niederläßt.
Wir müssen also für eure Vergnügungsreise teuer
bezahlen – schon lange, bevor mit euch der Krampf beginnt.
Nun, was hast du dazu zu bemerken?"
Der Österreicher grinste nur überlegen: "Mir ist
zufällig bekannt, was dem italienischen Staat seine 460 000
Auswanderer jährlich kosten: Diese Völkerwanderung kommt
einem Transfer von 650 Milliarden Lire in die
Auswanderungsländer gleich, das sind etwa 6 bis 7 Prozent des
gesamten Volkseinkommens von Italien. Das bedeutet nicht mehr und
nicht weniger, als daß die Auswanderung kein Allheilmittel
für Bevölkerungs- und Ernährunsprobleme
darstellt.
Ihr glaubt also, wir Einwanderer, im allgemeinen ausgesuchte und
tüchtige Fachkräfte, müßten euch dankbar sein
für die Chance die ihr uns bietet. Meinen Erfahrungen nach
verhält es sich genau umgekehrt. W i r tun euch Australiern
einen Gefallen, wenn wir in euer Land kommen. Allerdings
unwissentlich. Leider, möchte ich behaupten. Denn es
wäre sehr gut, wenn man den Menschen bevor sie auswandern,
mehr über die Dinge erzählen würde, die sie hier
erwarten... Denn was passiert mit den Leuten, die man
überredet wegen der Zukunft ihrer Kinder ihre
Heimatländer, ihre Freunde und Bekannten, ihren angestammten
Lebenskreis zu verlassen? Werden sie nicht noch einsamer sein?
Was geschieht, wenn die Asiaten einmal diesen vorgeschobenen
Brückenkopf der Weißen Rasse übernehmen?
Ihr lacht, ihr Tröpfe.
Wißt ihr, daß die Bevölkerung von China Jahr
für Jahr um 10 Millionen zunimmt? Eine Wachstumsrate, die der
gesamten Bevölkerung Australiens entspricht? Ganze
Groß-Familien ernähren sich da auf Erdfleckchen, wo bei
euch nicht einmal ein Schaf weidet! Hier wird die
Bevölkerungszahl in zehn, fünfzehn Jahren bestenfalls 14
Millionen betragen, falls die Einwanderung so weitergeht wie
bisher, was ich ernstlich bezweifle. Und all diese Menschen werden
am Rande dieses Kontinents in Städten zusammengepfercht
leben.
Sechs Millionen Auswanderer verließen in den Jahren zwischen
1964 und 1955 ihre Heimatländer in Europa. Sie fuhren nach
den Vereinigten Staaten von Amerika, nach Kanada, nach Australien,
Argentinien, Brasilien, Südafrika und Neuseeland. Das ist
eine nicht allzugroße Zahl, eingedenk der Möglichkeiten
des sogenannten Raketenzeitalters, eingedenk der Menschenmassen,
die vor drei Generationen den Alten Kontinent hinter sich
ließen...
Ihr seid am Holzweg, meine Herren, wenn ihr glaubt, daß
Menschen allein wegen ungünstiger ökonomischer
Zustände ihre Heimat verlassen, ganz abgesehen davon,
daß auch in Osteuropa eine gewisse Verbesserung der
wirtschaftlichen Verhältnisse zu erkennen ist. Einen Gefallen
erweist ihr wirklich jenen, die aus diktatorischen Regimen in die
Freiheit flüchten, die hier ohne politische
Unterdrückung weiterexistieren wollen. Ich betone
ausdrücklich das Attribut 'politisch'.
Für euch Australier kann daher nur jeder Einwanderer von
Nutzen sein, denn die Briten können euch im Falle eines
Angriffes nicht verteidigen. Die haben genug zu tun, wenn sie ihre
letzten Vorposten halten wollen. Zuviele Positionen sind ihnen
schon verlustigt gegangen: Der Suezkanal, Burma, Singapur, Ceylon
– ein Stückchen nach dem anderen bröckelt ab. Die
Australien klammern sich jedoch krampfhaft an Illusionen, haben
einen Queen-Mother-Komplex entwickelt, glauben, daß noch
immer die alten Beziehungen zum Mutterland fortbestehen.
Australien muß daher seine Vorstellung, zum nicht mehr
existierenden Britischen Empire zu gehören, energisch
beiseite schieben und den nackten Tatsachen ins Auge sehen:
Nämlich in dem Teil der Welt zu leben, der von Asiaten
umgeben ist, am Rande Asiens zu leben. Hunderten von Millionen.
Die nächsten 15 Jahre werden die Entscheidung bringen, nicht
ob die Nation ihren Lebensstandard halten kann, sondern ob sie
überhaupt überleben wird...
Es ist daher sinnlos, dauernd Stimmungsmache gegen die
'non-british Subjects' zu machen. Seid froh und glücklich
über jeden Menschen, der sich entschließt sein Leben
mit euch gemeinsam zu führen, ganz egal woher er kommt, was
er ist.
Besiedelt vor allem den Norden, der eure Front-Seite darstellt,
nicht den Hinterhof, gründet Siedlungen und laßt die
Einwanderer dort so leben wie sie es von zuhause gewöhnt sind
– und sie werden gute Australier abgeben. Es ist höchst
unrealistisch, auf die Hoffnung zu bauen, die kommunistischen
Staaten in eurem Umfeld würden sich selbst zerschlagen, von
Innen heraus zerfallen.
Was hat es weiterhin für einen Sinn die Volksrepublik China
nicht anzuerkennen? Eine Regierung nicht anzuerkennen, die
Korruption, unhygienischen Zustände, Hunger und
Überschwemmungen im Lande erstmals bekämpft. Es ist
unrealistisch anzunehmen, daß die Bevölkerung Chinas im
nächsten halben Jahrhundert ihre Regierung stürzen
wird!"
Die Stunden verrannen wie im Fluge, nur langsam rückte der
Zeiger der Wanduhr gegen Fünf p.m. Ende eines Arbeitstages,
Ende eines Tages ohne Arbeitsleistung, Ende eines Tages, an dem
sich Willi Höger mit seinen engeren Kollegen erstmals
ausgesprochen hatte, an dem beide Seiten ihre Standpunkte klar und
ungeschminkt auf den Tisch legten. Der Österreicher war weit
davon entfernt irgend eine Genugtuung zu empfinden, als ihn die
Kollegen zum Abschluß noch fragten, ob die Australier denn
nur lammfromm zusehen sollten, wie sie in ihrem eigenen Land in
die Defensive gedrängt wurden?
" Nein", gab er ihnen ernst zur Antwort. "Wir können mit
gutem Recht keine Ansprüche an die Australier stellen. Denn
zwischen Uns und Euch liegt nicht nur der halbe Globus – es liegt
eine ganze Welt dazwischen. Wir können nur wiederholen: Ihr
habt uns gerufen, jetzt sind wir hier, und nun findet euch damit
ab!"
* * *
Durch die halboffene Tür drang das Geräusch der
Haushaltsgeräte, Bestecke klirrten, Teller klangen
gegeneinander. Er zog die sechste Zigarette aus dem Päckchen,
legte sich flach auf den Rücken und starrte an die
weiße Decke des Raumes.
Unruhig warf er sich hin und her, sein Blick fiel auf das halbe
Dutzend Bierflaschen in der Ecke. Verdammt, alle leer. Nochmals
aufstehen, zum Grocer rüber? Nein, dazu war er zu
abgekämpft. Willi knipste das Radiogerät an, das
Bex-Programm rollte ab, eine Werbesendung für Kopfwehpulver.
Hätte momentan eines nötig, stellte er nüchtern
fest. Sein Schädel brummte, zum wiederholten Male
rekonstruierte er Szene für Szene, die er mit Danica erlebt
hatte. Er mochte es drehen und wenden wie er wollte – er wurde
sich weder klar, ob sie ihn liebte oder je geliebt hatte, noch ob
sie als Mensch etwas taugte. Verzweifelt vergrub er sich in seine
Überlegungen, er würde über diese Ungewißheit
noch vor die Hunde gehen...
War er so schwach, oder war er so maßlos in sie
verknallt?
Eine Ansage, die aus dem Apparat auf dem Nachtkästchen drang,
lenkte seine Aufmerksamkeit auf das Radioprogramm. "Well, und
jetzt noch ein Briefchen von einem gewissen Teddy Blacke aus
Melbourne. Er berichtet uns darin, wie herrlich ihm unser
Bex-Pulver bei seiner Krankheit geholfen hat. 'Liege hier im
M.-Hospital', schreibt er, 'mit nervösen Beschwerden. Das
einzige, was meine oft unerträglichen Schmerzen lindern kann,
ist Bex-Powder...'"
Willi brach in ein kurzes, abruptes Lachen aus. Der gute,
tüchtige Teddy Blacke. Nun lag er also wirklich im
Krankenhaus, vermutlich nach einem nervlichem Zusammenbruch, wie
er es ihm vor nahezu einem Jahr prophezeit hatte. Jetzt war seiner
Frau vermutlich leichter... Aber was ihn, Willi, dabei so
berührte: Teddy ließ sich trotz alledem nicht
unterkriegen – selbst seinen Zusammenbruch setzte er noch in gute
Pfundnoten um. Teddy hatte anscheinend trotz allem nicht
verzweifelt, sondern gehandelt.
Action! Er mußte sich aufmachen und Danica suchen, suchen,
suchen...
Gleich kommendes Wochenende. Systematisch würde er die Stadt
durchstreifen, irgendwo, irgendwann würde er sie
wiederfinden. Notfalls spanne ich meine Freunde ein, verteile sie
über die ganze City, denn dorthin wird sie wohl verzogen
sein, nachdem sie immer davon geschwärmt hat...
Der junge Mann ging zum Eisschrank hinaus, entnahm ihm einige
Eiswürfel, tat sie in ein Glas, goß Brandy pure
darüber und ließ das Gesöff seine Kehle
runterrinnen. Diese Nacht würde er trotz der abscheulichen
Hitze schlafen können.
Im Dunkel des Zimmers vergaß er seine Sorgen, die
Müdigkeit übermannte ihn, bald atmete er ruhig und tief
und die Außenwelt versank um ihn.
Gegen Mitternacht klopfte es an seiner Tür, Anton Melzer
stand als grauer Umriß auf der Schwelle. "Was ist los?" fuhr
Willi hoch. "Weiter nichts. Hast du Bier zuhause? Nein? Verflucht!
Habe eine Polin bei mir, ist nur mitgegangen, weil ich ihr von
herrlich gekühltem Alkohol vorgeschwärmt habe... Na, die
wird sich auch so nehmen lassen!" Die Tür fiel ins
Schloß.
Die dünnen Wände ließen das Gekicher der Frau
durch, Toni hatte wiedereinmal sein Ziel erreicht.
Du Narr! Du Narr! schalt sich Willi. Warum treibst du es nicht so
wie Anton? Warum nicht?
Weil, ...weil ich Danica liebe, vermutlich deshalb.
* * *
Das steinerne Meer der Innenstadt strahlte betäubende Hitze
aus, die Straßen kochten und brodelten buchstäblich.
Willi Höger lief sich die Sohlen wund, rannte Kilometer um
Kilometer das harte Pflaster entlang, erkundigte sich bei
Delikatessenhändlern, zeigte Danicas Foto vor, klapperte
sämtliche Firmen der Innenstadt ab, blickte in die Espressos
und kleinen Restaurants, erledigte zwischendurch Einkäufe,
nahm eine Erfrischung zu sich und suchte dann weiter. Weiter in
der wahnsinnigen Hoffnung, ein Zufall oder eine gnädige
Fügung möge ihm Danica über den Weg laufen
lassen.
Sein erster Weg hatte ihn hinaus in den stillen Vorort an der
Küste geführt, dorthin, wo er für einige Stunden
mit ihr glücklich gewesen war, wo sie mit ihrer Freundin und
deren Mann gewohnt hatte. Die ehemaligen Nachbarn konnten oder
wollten nichts über den Verbleib der Verschollenen sagen,
aber der flotte Verkäufer in der nahegelegenen Milkbar und
eine Kellnerin in einem Saloon, drei Häuser weiter,
vermochten sogar ihr Äußeres zu beschreiben. Mit
riesengroßer Freude vernahm er die Kunde, sie seien irgendwo
in die Nähe der Harbour Bridge übersiedelt. Voll Mut und
neuer Zuversicht machte sich Willi auf die eben aussichtslos
erscheinende Suche.
Gegen Abend, als die Dämmerung einfiel, und er noch immer
keine Spur entdeckt hatte, umrundete er mehrmals den Wohnblock, wo
sie der vagen Beschreibung nach logieren konnte. Beim dritten oder
vierten Male fiel er zwei stämmigen Bullen von Polizisten
auf, die ihm nun offensichtlich gemächlich folgten. Er
bemerkte dies rechtzeitig, betrat im geeigneten Augenblick eine
Stadtbahnstation und verließ die City.
Vom Büro aus rief er die folgende Woche sämtliche
Unternehmen an, die sie seiner Meinung nach angestellt haben
mochten.
"Entschuldigen Sie bitte – kann ich Miss Danica Petrovic sprechen?
Sie ist bei ihnen beschäftigt."
"Danica Petrovic?"
"That's right. A Yugoslav girl. Sie kann noch nicht lange bei
Ihnen sein..."
"I am very sorry, aber wir kennen keine Miss dieses Namens!"
Ein Dutzendmal dieselbe Frage, derselbe Bluff. Und ebensooft die
gleiche Antwort.
Eine letzte schwache Hoffnung war ihm geblieben, da er die
Behörden aus bekannten Gründen nicht einspannen konnte:
das Krankenhaus.
Der Mann am Informationsschalter blickte verwundert auf: "Danica
Petrovic? Yes, I remember. Sie wollen wissen, wo sie sich
aufhält? Tut mir leid, kann ich Ihnen leider nicht
verraten..."
"Aber das gibt es doch garnicht. Sie muß doch ihre Schulden
abzahlen, ihre Adresse muß Ihnen bekannt sein!"
"Nein, das muß sie nicht. Jemand hat garantiert, die Kosten
des Aufenthaltes für sie zu tragen."
"Wer? Wer ist dieser 'Jemand'?" "Ein Gentleman..."
Fluchtartig verließ der junge Mann das Foyer. Draussen auf
der Steintreppe lehnte er sich gegen die Mauer. Er wankte, die
Knie drohten ihm einzuschnappen, ein Schwächeanfall durchzog
seinen Körper, erfüllte ihn mit einem Schwindel.
Minutenlang stand er so an der Wand, versuchte seine Fassung
wiederzugewinnen. Irgendjemand, ein Mann, vielleicht i h r Mann?
Wahrscheinlich aber garantierte ein australischer Boyfriend, ein
ältere Gentleman mit genügend Cash für Danica! Nur
zerrissene, sinnlose Gedankenfetzen drangen in sein
Bewußtsein, wie in Trance gelangte er nach Hause.
Nach Hause? Ja, war es das?
Was hatte er noch in dieser Stadt, in diesem Land verloren? Was
konnte ihn auch nur eine Stunde länger halten? Nichts.
Und dann, knapp drei Wochen vor dem Auslaufen des Schiffes,
geschah das Ungeheuerliche, trat der einmalige Zufall ein.
Er hatte vor, sein polnisches Künstlerehepaar zu besuchen und
betrat den Fahrkorb zum Aussichtsturm der Harbour Bridge mit der
Absicht, sich auf das Brückenniveau hochfahren zu lassen, um
dann zu Fuß die Bucht zu überqueren. Der Liftboy
wartete noch ein paar Augenblicke, denn eben betraten drei
Gestalten das Halbdunkel des Vorraumes. Als sie das Licht im Lift
notdürftig erhellte, erlebte Willi die Szene, die er sich
hunderte Male in seiner Fantasie ausgemalt hatte: Danica trat ein.
Flankiert von zwei Männern, deren eine der Gatte ihrer
Freundin war.
Sie fuhr zusammen: "Willilein – du bist noch hier?"
Vor Überraschung stockte ihm der Atem, er registrierte ihre
Erscheinung, so gut dies bei der matten Beleuchtung möglich
war: Karierte Hose, knallrote Bluse.
"Ja, ich habe mich entschlossen bis knapp vor Weihnachten zu
bleiben. Habe eine Gehaltserhöhung durchgesetzt, weißt
du. Verdiene jetzt 25 Pfund in der Woche..."
"Muß ihr irgendeine plausible Erklärung bieten", dachte
er nervös zerfahren. Das schluckt sie bestimmt. Die zwei
Begleiter musterten ihn durchdringend, Danica stellte sie nun
Willi vor: "Das ist der Mann meiner Freundin, das ist ein
Bekannter von uns, der vor kurzem aus Europa eingelangt ist." Sie
sprach sehr hastig, als wolle sie sich entschuldigen.
"Wo wohnst du jetzt?" erkundigte sich Willi rasch, er durfte keine
Sekunde verlieren, der Lift würde jeden Augenblick
halten.
"In der Nähe des Circular Quay. Wieder mit meinen Freunden
zusammen." Die verbleibenden Zeit verrann ungenützt, mit
einem Ruck hielt der Aufzug, die Türen öffneten sich,
das Tageslicht flutete unbarmherzig grell herein. Nun sah er es,
nun sah er es deutlich.
Sie wirkte so mager, so eingefallen, so schrecklich ausgezehrt,
körperlich heruntergekommen, daß er sich scheute, sie
voll anzusehen. Ihr ehedem breites Antlitz wirkte blaß wie
Pergament, die Backenknochen traten spitz hervor, rotumrandete
Augen blickten ihn trübe an.
Was war in der Zwischenzeit vorgefallen? Was trieb sie, um Gottes
Willen, was trieb sie eigentlich? Welches Leben führte
sie?
Die beiden Männer entfernten sich langsam, bald waren sie
außer Sicht. Danica erschien ihm wie ein gefangener,
ängstlicher Vogel, der nicht wußte, wie er einer
drohenden Gefahr entkommen sollte. Sie wollte den beiden
anscheinend nacheilen, doch er vertrat ihr stumm den Weg.
"Willst du nicht ein Foto von mir machen?" schlug sie hastig vor,
um das quälende Schweigen zu überbrücken. "Nein,
ich habe keine Lust." Stur, mit einem entsetzten, unverwandten
Blick starrte er sie an, versuchte er krampfhaft Klarheit zu
gewinnen. Wie war das möglich? Hatte sie so unter der
Trennung gelitten? Lächerlich.
War sie vielleicht krank, trieb sie sich herum? Alles sprach
dafür.
"Du bist sehr mager geworden, Willilein, warum?"
Ach nein, er sei mager geworden. Ein Witz, wenn sie es sagte.
"Habe sehr viel gearbeitet in den letzten Wochen, Überstunden
und so. Das nimmt her." Habe nie gedacht, daß mir das
Lügen so leicht fällt, und so selbstverständlich
klingen kann. Sein Entschluß war gefaßt, vor ihm stand
nicht mehr seine Danica. Das war ein Schatten, ein Zerrbild von
ihr.
Seine Benommenheit, sein Entsetzen über ihr Aussehen wich,
das konnte nicht sein Mädchen sein, seine Danica: "Ich
möchte mich verabschieden. Auf Wiedersehen!"
Kaltlächelnd reichte er ihr die Hand zum Abschied. Ohne sich
noch einmal umzuwenden, setzte er zum Marsch über die lange
Brücke an.
Die letzten Abende verbrachte Willi apathisch im Kreise seiner
Kumpel. Selten lächelte er über ihre manchmal rohen
Scherze, über die Worte der Aufmunterung, die man an ihn
richtete. Gelegentlich sprach er in gleichgültigem Ton von
Danica, von den Widersprüchen in ihren Aussagen und ihrem
Verhalten. Und Anton, sein alter Freund, sprach ihm aus der Seele,
als er das Resümee aus diesen gelegentlichen Schilderungen
zog:
"Willi, ich vermag nur das eine zu sagen – aber es wird dich nicht
trösten: Entweder war deine Danica der boshafteste,
hinterlistigste Teufel in Person – oder sie war das tapferste,
standhafteste Mädchen, das es je gegeben hat. Gib dich
endlich damit zufrieden, grüble nicht länger nach. Es
macht keinen Sinn, du wirst es nie mehr erfahren, was davon
richtig ist..."
Der letzte Tag in der Williamstown Foundry Pty brach an.
"Nun kehrt er zurück nach Europa. Das ist alles, was ihr
bloody Australians erreicht habt. Nun wird er seine ganze
Erfahrung drüben einsetzen..." Resigniert besprach sich Ray
mit Johnny. "Well, such is life!" zuckte der nur mit der
Schulter.
Der junge Österreicher kam sich wie ein Verräter vor,
wie einer, der eine gute Sache um des persönlichen Vorteils
wegen fallen ließ. Nun ließ er sie alle zurück,
zurück mit den quälenden Zweifeln um die Zukunft des
Landes, allein in ihrem unbewältigten Kampf mit der Natur
dieses Kontinents, allein mit den Sandstürmen, Hitzewellen,
allein mit dem drohenden Gespenst einer Überwältigung
durch die Asiaten.
Der alte Herr vom Zimmer nebenan, der ihm so freundschaftlich in
dem Kampf gegen die Intrigen um ihn her beizustehen versucht
hatte, murmelte: "I am very sorry, really sorry. Sie sind gerade
der Typ von Migrant, den wir hierzulande brauchen!" Ein fester
Händedruck, und auch das war überstanden. Der
Verkaufsdirektor erkundigte sich zweifelnd: "Erwartet Sie jemand
drüben?", und Willi nickte vage mit dem Kopf.
Der Engländer in der Modelltischlerei bemerkte wütend zu
seinem australischen Kollegen: "Hättet ihr ihm eine Chance
gegeben, er wäre aufgestiegen wie eine Rakete – nun haut er
ab. Wieder ein tüchtiger Bursche weg, läßt uns
allein mit all dem Quatsch!"
Schließlich riß sich Willi noch einmal zusammen,
reichte Warran und Ted in kollegialer Weise die Hand und meinte
abschließend mit lächelnder Ironie: "Wenn ihr einige
Monate früher mit den Tuschezeichnungen angefangen
hättet, wäre ich bereits damals gegangen. Kann ich
nämlich nicht ausstehen... Ihr hättet euch so das ganze
nette Theater, die Komödien und die weniger netten
Verleumdungen erspart." Die beiden blickten ohne jede Erwiderung
verlegen zu Boden. So, als ob nichts geschehen wäre, als ob
er sich auf einen kurzen Wochenendurlaub begeben würde,
verließ er die Firma.
Die restlichen Tage bis zur Abreise sammelte er Andenken,
wählte Schallplatten und Bücher aus, packte seine
wenigen Habseligkeiten zusammen und absolvierte eine
Verabschiedungstour bei seinen zahlreichen Freunden und
Bekannten.
Man warnte ihn allgemein vor einer Rückkehr nach Europa und
äußerte, er würde es noch bereuen, versuchte damit
das eigene Verbleiben zu rechtfertigen. Aber Willi Höger
ließ sich nicht beirren, hörte sich gleichmütig
alle Einwände und gutgemeinten Ratschläge an.
"Ich glaube nun endlich zu wissen, was ich zu tun habe, wie meine
Zukunft aussehen wird. Und der Weg führt nach Europa",
lächelte er nur gezwungen, wenn man ihn bedrängte.
Er wirkte mit seinen knapp 26 Jahren nun wesentlich gereifter,
entschlossener, wie ein Mensch, der ein Ziel in sich trägt.
Ein Ziel, ein Wollen, das ihm niemand mehr auf dieser Welt nehmen
konnte, das ihn in stiller Zuversicht lächeln und mit
Gelassenheit dem Morgen entgegenblicken ließ.
Der letzte Tag in Australien, ein Samstag. Ein Abschiedsessen bei
Mrs. Eger, die sich verstohlen die Tränen mit dem
Schürzenzipfel aus den Augen wischte. "Vergessen's uns halt
nicht ganz, uns arme Einwanderer herüben", versuchte sie zu
scherzen. "Aber vergessen's ihre Danica, wenn's glücklich
werden wollen – und wenn's können!" Das Wasser schoß
ihr jetzt in kleinen Sturzbächen aus den Augenwinkeln. Auf
der Straße vor dem Haus lärmte ihr Gatte mit dem Wagen
herum, der Motor sprang an, heulte im Probelauf auf vollen Touren.
Wieder senkte sich ein herrlicher Abend über die Landschaft,
mit stimmungsvollen Wolken, die sich langsam in glühende
Farben wandelten.
Das Ehepaar Eger transportierte ihn schließlich mit dem Auto
zum Hafen. Schweigend, verlegen drückte ihm die Frau
während der Fahrt einmal die Hand. Bei völliger
Dunkelheit langten sie an der Pier an. Enttäuscht sah sich
Willi nach allen Seiten um, wo blieben seine Freunde, alles
Landsleute, die versprochen hatten beim Abschied da zu sein? Wo
blieb Anton, sein Jugendfreund? War ihnen die Rennbahn auch heute
wichtiger?
Er reihte sich ein in die lange Schlange der Wartenden, um die
Formalitäten zu erledigen, gab mit gemischten Gefühlen
seinen Einwandererpaß ab, ließ die Koffer aufs Schiff
bringen, das da mit tausend Lichtern beleuchtet, vor Menschen
überquoll. In allen Sprachen, allen Lauten, allen Tonlagen
schwirrten Gesprächsfetzen durch die Luft. Es herrschte ein
Gedränge, Geschiebe und Durcheinander, daß er nicht
wußte wohin er zuerst seine Schritte lenken sollte.
"Hier! Willi! Wir sind da!!" Rufend, winkend, gestikulierend
warteten ein halbes Dutzend seiner Freunde auf ihn. Eben stellte
noch einer den Motor seines VW ab und ging auf die Gruppe zu.
"Schreib bald, Willi!" rief Mr. Eger noch, bevor er in der
Finsternis untertauchte.
"Komm, laßt uns das Schiff besichtigen!" forderte Peter der
Gambler die Burschen auf. Über die schwankenden Laufstege
gelangten sie an Bord, schlängelten das A-Deck entlang und
fanden am Vorschiff ein ruhiges Plätzchen. Mit gemachter
Fröhlichkeit umringten sie alle Willi, zauberten auf einmal
Biergläser aus den Sakkotaschen hervor, Champagnerpfropfen
knallten und die Gruppe der Burschen feierte feuchtfröhlich,
bis sie alles doppelt zu sehen begannen. Bis auf den letzten
Tropfen geleert, flogen die Flaschen und Gläser in weitem
Bogen in das nachtschwarze Gewässer unter ihnen, klatschten
auf die Oberfläche und versanken mit leisem Gurgeln.
Eine Welle riesiger Wehmut über kam Willi in diesen Minuten,
die Sehnsucht nach Danica und das Bewußtsein, diese Stadt in
wenigen Viertelstunden auf immer zu verlassen, wo er soviel erlebt
und erlitten hatte, wo er so viele Freunde gefunden – und so
vielen Widersachern die Stirn geboten, überwältigte ihn.
Ohne Scham ließ er seinen Tränen freien Lauf. Und Peter
der Spieler, der große Glücksritter, der ahnte, was in
Willi vorging, nahm ihn unauffällig beiseite und versuchte
ihn mit ruhigen Worten zu trösten: "Willi – du mußt nur
denken, die Menschen hier haben nicht verstanden, was du gewollt
hast...Denk nicht mehr in Haß daran zurück,
vergiß die Demütigungen, die Heuchelei, die Infamie
vieler dieser Leute. Es war nicht umsonst, was du mitgemacht hast.
Es wird hoffentlich nicht vergebens sein, was wir alle, wir, die
Million Einwanderer, tagaus tagein erdulden müssen...
Denk nicht mehr daran, aber denk an die herrlichen
Sonnenuntergänge, wenn der Himmel in allen Farben des
Regenbogens zu leuchten beginnt. Denk auch manchmal an das Meer,
das tiefblaue, das gegen die Klippen donnert.
Alles andere, alles andere ist unwesentlich..."
"Du hast recht", erwiderte Willi tonlos. "Aber da ist noch..."
"Ich weiß, Danica. Aber die Zeit heilt alle Wunden,
heißt es. Nur die Narben sind dann noch zu sehen."
"Lassen wir das, reden wir nicht mehr drüber."
Jetzt zog Peter der Große, wie ihn die Junggesellengemeinde
auch nannte, einen Pfundschein aus den Taschen, die immer voller
Geld und zugleich immer leer waren. "Hier, den schenke ich dir als
Andenken. Und damit du keinen von uns vergißt, keinen aus
der ganzen Blase, werden sich jetzt alle mit Namenszug darauf
verewigen. Los Boys, macht schon!" Die jungen Männer
drängten lachend heran und kritzelten ihre Unterschriften auf
den grünen Schein des Commonwealth of Australia.
"Solange du kannst, Willi, trag die Note bei dir. Sie soll dir
Glück bringen... Erst wenn es dir ganz, aber auch schon ganz
dreckig gehen sollte, tausch' sie bei der Bank um!" Feierlich
überreichte ihm Peter die Banknote.
Die Schiffsglocke schlug bereits zum zweiten Mal an, mahnte die
Besucher von Bord zu gehen. "Und wenn wir unseren ganz
großen Coup beim Rennen machen, dann schicken wir dir
tausend Pfund nach! Verlaß' dich drauf, Willi!!" rief ihm
sein alter Freund und Gefährte aus sorglosen Jugendtagen noch
zu, als er als letzter der Runde die Planken verließ. Dann
verstummte er, hob die Hand und winkte nochmal herauf, bevor ihn
die Menge am Kai endgültig verschluckte.
Schleppenden Schrittes stieg der junge Mann zur Höhe des
Schornsteins hinauf, wo das Lärmen und Schreien nur mehr
gedämpft zu hören war. Tief unter ihm drängte sich
Kopf an Kopf, wirbelten Girlanden durch die Luft, stimmte eine
Kapelle Abschiedsmärsche an.
Unmerklich langsam schob sich der Schiffsrumpf unter dem Heulen
der Sirenen weiter von der Menschenmenge am Kai ab, die bald zu
einer homogenen Masse verschmolz, deren Geschrei sich bereits in
der Ferne verlor. Die Girlanden hingen zerrissen über Bord,
die letzten Taschentücher winkten aus der Stummheit der Nacht
herüber. Gleichmäßig begannen die
vieltausendpferdigen Motoren zu stampfen, ein Zittern lief durch
den stählernen Aufbau an dem Willi Höger lehnte und das
Schauspiel bewegungslos verfolgte. Von den sanften Hügeln der
Hafenfront grüßten die Lichter der Wohnblocks herab,
schimmerten wie tausend Sterne auf der Meeresoberfläche.
"Dort drüben, irgendwo dort drüben schaust du jetzt
vielleicht gerade aus dem Fenster zu mir herüber, Danica",
dachte er.
"Hallo Willi!" hörte er da jemand halblaut aus nächster
Nähe rufen. Eine verrückte Hoffnung durchzuckte ihn,
ließ seine Fäuste die Reling umklammern, doch dann lief
ein verzerrtes Lächeln über seine Züge. Karl
Holzner, sein Gefährte und Leidensgenosse aus Kabine XII der
Flamingo unseligen Angedenkens, der Auswanderer, den er vor einem
Jahr aus den Augen verloren hatte, stand vor ihm. Lang, hager,
schwankend wie eh und je.
"Wo kommst d u denn her?" stieß Willi fassungslos
hervor.
"Na, habe die ganze Zeit über in Sydney gelebt, na, und jetzt
geht es wieder heim zu Muttern. Aber nicht für allzulange.
Weißt du, habe mich schon für eine Auswanderung nach
Südafrika beworben. Wird ungefähr ein Jahr dauern, bis
ich das Permit bekomme. Aber ich rede immer nur von mir. Wie geht
es dir, alter Kumpel?"
"Danke, man lebt...", lautete die karge Antwort, und nach einer
Pause: "Eine Frage, die sich mir aufdrängt: Sag einmal, hast
du gefunden was du gesucht hast? Ich meine, hast du außer
den paar hundert Pfund am Bankkonto sonst noch was Nennenswertes
erworben für die Heimkehr nach Europa?" Ruhig wartete er die
Antwort seines Schicksalgenossen ab, der jetzt den Kopf senkte und
auf das rauschende Meer hinunterblickte: "Wenn ich ehrlich bin,
nein." Und leiser werdend: "Nein, ich habe nichts gefunden, weder
mich selbst noch ein Lebensziel. Auch den anderen, den
Mitmenschen, bin ich nicht nähergekommen. Deshalb haue ich
nochmals ab, in ein anderes fernes Land. Vielleicht finde ich
dort, wonach ich suche: Ruhe, Zufriedenheit, ein bißchen
Glück, die eigene Persönlichkeit."
Sie lehnten nebeneinander, halb über die Brüstung
gebeugt, und vermieden es, sich direkt anzusehen.
"Und wie ist es bei dir?" erkundigte sich Holzner. "Hast du etwas
profitiert von dem Aufenthalt in der Fremde – außer
Geld?"
Willi schwieg eine Weile nachdenklich und äußerte dann
zögernd: "Ich denke, ja. Ich denke, ich bin ein Mensch
geworden, einer der andere Menschen zu verstehen vermag, der
Sitten und Gebräuche Fremder respektieren wird, der Toleranz
erworben hat und auch an geistigem Horizont gewonnen hat...
Gefunden habe ich hier in Australien die Einsicht und
Gewißheit, daß e i n Europa existiert, ein einziges,
alle Völker und Staaten umfassender Begriff.
Und das ist das Ziel, das ich mir gesetzt habe: Meine ganze Kraft
für die Verständigung der Menschen untereinander,
für ein einiges, ein 'Vereintes Europa' einzusetzen.
Aber ich habe etwas verloren, einen Menschen, der mir teurer ist
als all die hochtrabenden Visionen. Karl, alter Freund, ich habe
ein Mädchen in Sydney zurückgelassen, deren Namen ich
nie vergessen werde, der ich wahrscheinlich nie mehr im Leben
begegnen werde: Danica Petrovic..."
"Was, Danica Petrovic? Die Leichtfüßige, die Rassige
mit den langen schwarzen Haaren? Mensch, die habe ich doch auf
einer Ballveranstaltung kennengelernt. Ein nettes, liebes Wesen,
aber..."
"Was aber! Sag mir! Was aber?" fuhr ihn Willi so heftig an,
daß Karl erschrack: "Verzeihe, ich wollte nur sagen: 'aber
ein wenig melancholisch'. Übrigens kein Wunder...ich
weiß nicht, ob es dir bekannt ist, ...sie, sie hat
Leukämie. Sie,... soll angeblich nur...noch wenige Monate ...
Habe ich jedenfalls gehört...
Hast du, hast du das nicht... gewußt?" Stammelnd brach der
Bote dieser Schreckensmeldung für Höger ab, dem alle
Farbe aus dem Gesicht gewichen war, der taumelnd versuchte, seiner
tiefen Bewegung Herr zu werden.
Kreidebleich lehnte er mit dem Rücken gegen den
hellerleuchteten Schornstein, krampfhaft unterdrückte er den
Schrei, der sich seiner Brust entreißen wollte: Danica hatte
ihn geliebt, unmenschlich geliebt. Und: Sie hatte, im
Bewußtsein ihres baldigen Endes, machtvoll versucht, dieses
Gefühl zu unterdrücken, seine Liebe zu ihr zu
zerstören – um ihn nicht an sich zu binden.
Manchmal war ihr dies gelungen, manchmal hatte der Versuch ihre
Kräfte überstiegen, hatte ihr eigener Wunsch, mit ihm
vereint zu sein, die Oberhand gewonnen...
In der Ferne blinkten die roten Warnlichter auf der Sydney Harbour
Bridge, vom Wasser stiegen Nebelschwaden hoch. Von weit her, wie
von einem anderen Stern, schimmerte das Lichtermeer der City
durch. In diesem Augenblick begriff der junge Mann voll und ganz,
worauf es in dieser Welt von Heute ankam:
Obwohl Riesenschiffe über die Meere eilen, Ingenieure
Brücken und Wolkenkratzer bauen, Automobile produzieren und
Raketen ins All entsenden, Ärzte tagtäglich erfolgreich
den Tod bekämpfen und es dem kleinen Mann von der
Straße materiell besser ging denn je – bedeuten all diese
Errungenschaften und Fortschritte des Menschen letztendlich nicht
viel, ja nichts im Vergleich zum Wichtigsten – dem Glauben an das
Gute in der Menschheit, ohne den die ganze moderne Welt in
Trümmer gehen, im Chaos versinken würde, dem Glauben an
die Liebe, ohne die selbst die geschäftigste Millionenstadt
einer Wüste gleicht...
Solange sich diese Überzeugung nicht im Herzen jedes
Einzelnen festsetzt, solange kann man nicht von einem Fortschritt
der Menschheit sprechen.
Nicht die Zahl der Einfamilienhäuser oder Autos, auch nicht
die Stärke der Bombengeschwader oder das Bruttosozialprodukt
sind ein Maßstab für den Lebensstandard einer
Nation.
Nein, einzig und allein die Zahl der Herzen, die Gutes tätig
ausüben, die in diesem unseren Leben geistige und moralische
Werte hochhalten, bestimmen die Höhe der Entwicklung der
menschlichen Spezies. Alles andere ist vergängliches
Blendwerk...
"Laß uns gehen, wir haben noch einen weiten Weg vor uns!"
forderte der junge Mann seinen Reisegefährten auf; und sie
stiegen hinunter in ihre Kabinen, die knapp über der
Wasserlinie lagen.
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