6. Kapitel: Sydney
Als der Morgen graute, rüttelten Willi die Stöße
der uralten Waggons, die eine Diesellok mühselig durch die
einförmige Landschaft zog, aus seinem Nickerchen empor. Jetzt
hielt der Zug schon wieder, diesmal in einer weitgeschweiften
Kurve, sodaß er die Maschine sehen konnte, wenn er sich aus
dem Fenster beugte. Der Lokführer kletterte heraus und
umrundete prüfend die Maschine.
Eine, gelinde gesagt, langweilige Fahrt lag hinter ihm. Bis Albury
war es ja noch komfortabel und schnell gegangen, aber da aauf
diesem Kontinent drei verschiedene Spurweiten existierten,
mußte dort alles, inklusive der Passagiere, in die
klapprigen Holzwaggons umgeladen werden. Nun, sein Schaden war es
ja nicht unbedingt. Wie sich das auf die Gesamtwirtschaft des
Landes auswirkte? Ach, Australien ist ja so unendlich reich, damit
tröstete sich wohl jeder.
Verdammt, wonach stank es hier so? Das war doch Brandgeruch?
Jetzt sah er es: auf der anderen Zugseite standen weite Strecken
des Horizonts in Flammen.
Buschfeuer!!
Der Anblick war überwältigend und grausig schön:
Schwere Rauchwolken stiegen kilometerweit in die Atmosphäre
hoch.
Unterhalb des Fensters hing eine Glasflasche mit Trinkwasser,
daneben zwei Glasbecher. Etwas vorsintflutlich, aber romantisch.
Nun werden gleich einige Buschräuber auf schnaubenden Pferden
daher galoppieren. Den sechsschüssigen Colt in der Rechten,
mit der Linken den Halfter der Stute umklammernd. Er lächelte
über seine Fantasie, die häufig überbordete.
Na, jetzt hatte sich die Maschine erholt, es ging wieder
weiter.
Morgens um neun Uhr lief er in Sydney Central Station ein. Als
erstes fiel ihm auf, daß es hier wesentlich heißer war
als im südlicher gelegenen Melbourne.
Und ein erfreulicher Anblick ließ sein Herz gleich
höher schlagen: Auf jedem Bahnhof, den sie durchrasten,
warteten wirklich herrlich gebaute Girls in Shorts auf die
Vorortzüge zur Beach.
Von Anton weit und breit keine Spur. Willi deponierte seine Koffer
in der Gepäcksaufbewahrung und machte sich zuerst mal in
Richtung Banston auf die Socken, um Melzer zu suchen.
Er mußte annehmen, daß ihn das Telegramm nicht
erreicht hatte, denn er fand ihn nicht vor an der angegebenen
Adresse. Verzogen nach unbekannt. Zumindest seine Hauswirtin, eine
Baltin, wußte nicht wohin. Aber zwei Österreicher, die
in der Hütte nebenan hausten, kannten Anton. Bereitwillig
boten sie ihrem Landsmann eine Notunterkunft an. Die Baltin
schleppte ein Klappbett daher, und Willi hatte für die
nächsten Tage wenigstens ein Dach über dem Kopf
gefunden. Später holte er noch sein Zeugs aus der Stadt und
richtete sich ein, so bequem es eben ging.
Der eine der beiden Landsleute füllte den ganzen
Türrahmen aus. Ein Riesenkerl, groß und massiv, vom
Beruf Bäcker. Bald freundeten sie sich an und berichteten von
ihren Anfangsschwierigkeiten in diesem Lande.
"Haben mich von Bonegilla direkt zu einer Backstube hierher
geschickt. Ich konnte nur etwa zehn Wortbrocken Englisch. Kannst
dir vorstellen, wie es mir ergangen ist. Als ich den Laden endlich
gefunden hatte, war die Stelle bereits besetzt..." Er verzog sein
Gesicht säuerlich. "Schließlich habe ich bei einem
Australier angefangen. War das vielleicht ein Krampf, Willi!" rief
der Dicke aus.
"Die verwenden hier ganz andere Zutaten, bei der Ofenkonstruktion
kannte ich mich ebenfalls nicht aus. Gleich darauf hieß es,
ich sei kein guter Bäcker. Als ich den Chef mit einigen
gestammelten Worten auf die Unterschiede hinwies, zeigte er
keinerlei Verständnis: 'Das ist überall dasselbe. Wo du
hinkommst, findest du dieselbe Feuerung!' Sollte ich mit ihm einen
Streit vom Zaun brechen? Wenn er von Australien spricht, hat er ja
recht. Und über Banston dürfte er ja nicht
hinausgekommen sein. Aber lassen wir das...
Jetzt schöpfe ich bei einem Deutschen, der sich innerhalb von
vier Jahren eine Großbäckerei aufgebaut hat – aus dem
Nichts. Da sind wir wenigstens unter uns. Nur lauter Deutsche und
Österreicher, auch einige deutschsprechenden Balten, von
denen es in diesem Distrikt besonders viele gibt.
Freilich, perfekt englisch sprechen lerne ich auf diese Weise nie.
Aber da waren auch andere Erfahrungen, die mir anfangs das Leben
sauer gemacht haben: zeitweise bin ich wie ein Halbblinder
herumgerannt. Ich habe alles doppelt gesehen!"
"Was, du auch!" fuhr Willi wie von einer Tarantel gestochen
hoch.
"Ja, und ich wurde dauernd rot im Gesicht. Der Blutdruck stieg
ganz verrückt an..." "Genau dieselben Symptome wie bei mir!"
bestätigte ihm Willi eifrig. "Ob das vom Klimawechsel
herrührt?"
Der gemütliche Dicke führte ihn nach Einbruch der
Dunkelheit in ein Lokal, wo sich vornehmlich Europäer zum
Tanzen trafen. Ein junger Deutscher leitete das Restaurant, und so
verkehrten dort hauptsächlich deutschsprechende
Einwanderer.
Es fehlte nicht viel, und Anton Melzer wäre vom Schlag
getroffen worden, als er Willi so urplötzlich auftauchen sah.
Überschäumend vor Freude, klopften sich die
Jugendfreunde gegenseitig auf die Schulter: "Wie geht's dir, alter
Kumpel? Her mit dem Bier!" Der altgewohnte, der Originalton von
Anton, dem Hilfsarbeiter. Bei schäumenden Faßbier,
serviert in original Münchner Krügeln, tauschten sie die
Erlebnisse der letzten Jahre aus.
Dann kam die Minute, wo der Redefluß stockte, der
Gesprächsfaden für den Augenblick abgerissen war. Jetzt
rückte Willi mit dem Anliegen heraus, das ihm noch auf dem
Herzen lag.
"Sag, Toni, das Bild, das du mir da nach Melbourne geschickt
hast..." "Ja, was ist damit?" Anton wunderte sich, warum Willi
nicht in seiner Rede fortfuhr. Der fischte gerade in seiner
Brieftasche herum, bis er das Foto in dem Wust anderer Papiere
entdeckt hatte.
"Schau dir mal die Kleine an!" forderte er Melzer auf und deutete
auf das bewußte Mädchen. "Kennst du sie
vielleicht?"
Anton blickte seinen Freund forschend von der Seite an: "Nein,
leider nicht! Denn sonst hätte ich jetzt garantiert etwas
anderes zu tun, als hier herumzusitzen", grinste er
verdächtig hinterhältig. "Ka schlechte Kotz!" nickte er
schließlich anerkennend. "Warum ist mir die nicht
früher aufgefallen? Bloß ein wenig gealtert sieht sie
aus. Warum wohl? Vielleicht hat sie sich in der Liebe schon zu
sehr angestrengt?"
"Ach, du bist noch immer der gleiche alte Trottel! Entschuldige
bitte den freundschaftlichen Ausdruck", rief Willi wütend
aus. "Und du kannst dich nichteinmal an sie erinnern?"
"Ganz dunkel nur, ehrlich gesagt", antwortete Anton. "Mein
Gedächtnis läßt mich in dem Sauklima oft im
Stich!"
Aber der alte Freund fand doch einen Weg, um Willi zu helfen. Er
stellte ihn einfach dem Fotografen vor, der nach einem Umtrunk
eine Liste derjenigen Lokalbesucher hervorzauberte, die auf dem
Ball Fotos bei ihm bestellt hatten, schön geordnet nach
Bild-Nummern.
Darunter befand sich auch eine 'Miss Danica Petrovic'.
Nur sie konnte es sein, nur sie ganz allein. Denn zwei waren
Männernamen, und natürlich Anton selbst. Dann noch ein
Frauenname bei Bild Nr.7..."Aber die ist verheiratet, die kenne
ich zufällig", klärte sie der Fotokünstler auf.
"Natürlich, das ist sie ganz gewiß. Schwein gehabt,
mein Junge!" meinte er kameradschaftlich. "Sieh dir mal die
vorstehenden Backenknochen an – unzweifelhaft eine Slawin!"
Höger notierte sich Name und Adresse. "Was soll das
heißen? Das ist doch ein Spital!"
"Der Mann zuckte nur mit der Achsel: "Keine Ahnung, was da
dahintersteckt. Vielleicht ist sie dort Nurse?"
* * *
Am Arbeitsamt bedeutete man ihm, daß es gänzlich
aussichtslos sei, auf Unterstützung zu hoffen. "Es gibt keine
Arbeit, whatsoever. Nichteinmal für Fachkräfte."
Aber ein Beamter der Abteilung für Gehobene Berufe, ein
wirklich vifer, tüchtiger und verständnisvoller Knabe,
vermittelte Willi Höger an einen mittelgroßen Betrieb
mit etwa 150 Mann. Dort stellte man Gußstücke
größerer Dimensionen her, hauptsächlich
Pumpenghäuse, Absperrorgane und dergleichen mehr.
Eigentlich konnte sich Willi für den ganzen Zauber nicht mehr
so recht begeistern. Dauernd ein Brett vor dem Kopf, und einen
Quatsch zu Papier bringen, der oft schon von vorneherein zum
Scheitern verurteilt schien, hing ihm zum Halse heraus. Langsam
dämmerte ihm, daß er zu einem reinen Technikerberuf
nicht taugte. Zusehr erweckten auch soziologische und
wirtschaftliche Probleme sein Interesse.
Die menschliche Persönlichkeit, die Auswirkungen der
Technisierung auf die heutige Gesellschaft – das Studium dieser
Themen fand er zunehmend weitaus spannender, als etwa die
Anwendung mathematischer Berechnungsmethoden beim Entwurf von
Maschinenteilen.
Er übersiedelte in das schöne Heim eines Volksdeutschen
Ehepaares, mußte allerdings mit einem Zimmerkollegen vorlieb
nehmen, der sich bald als absonderliche Figur herausstellte. Jean
war Franzose, an sich nichts außergewöhnliches, obschon
Franzosen hier selten anzutreffen waren.
Aber etwas um diesen Menschen trug ihm die rücksichtslose
Begaffung durch die Mitmenschen ein. Er war schmalgliedrig gebaut,
schmalfüßig und trug einen überdimensionalen
Schädel herum, auf dem eine wahre Fülle enggelockter,
kastanienbrauner Haare wuchs. So dicht und so lang, daß man
buchstäblich zweimal hingucken mußte, bevor man sich
vergewissert hatte, einen Mann vor sich zu haben.
Seine Gesten wirkten überbetont und affektiert. Doch Willi
Höger besaß einen gutmütigen Charakter, eine
ausreichende Portion Toleranz und hoffte daher mit dem
unfreiwilligen Partner einigermaßen gut auszukommen.
Sein Jugendfreund Anton hatte versprochen, ihm Sydney mit allen
seinen Sehenswürdigkeiten zu zeigen. Wobei sich Willi nicht
vorstellen konnte, wohin ihn Anton in dieser Hafenstadt
führen würde. Seine Skepsis erwies sich als nicht ganz
unbegründet. Nachdem sie erst einmal mit der Vorortbahn eine
halbe Stunde durch staubige Slumviertel gefahren waren, landeten
sie in der Central Station, wo sie dem Gewühl der
Fahrgäste, Altersrentner, Blinden oder heruntergekommenen
Subjekten, die dort an die Granitmauern gelehnt Erdnüsse in
jämmerlichen Papiersäckchen verkauften, zu entkommen
versuchten. Um 2 p.m. führte ihn Anton in den
nächstbesten Pub, worauf es mit kurzen Unterbrechungen bis 2
a.m. des nächsten Tages so weiter ging.
Breite, rechtwinkelig angelegte Straßen durchzogen die City
kreuz und quer. Grüne Trolley-Busse knatterten dahin,
berittene Polizei lenkte den Strom der aus den Stadtbahnstationen
quellenden Menschenmassen, der Verkehr flutete noch dichter dahin
wie in Melbourne.
Sie verdrehten die Köpfe nach dem monumentalen Anzac-Denkmal
im Hydepark, marschierten die schnurgerade Elizabeth Street
hinunter, schwenkten in die George Street ein, begafften die sich
kilometerweit dahinziehenden Geshäftsauslagen und gelangten
schließlich an den Circular Quay, wo verschmutztes
Hafengewässer gegen die Bohlen der Fährbootstationen
spülte. Kleine Dampfer, aus hohen Schornsteinen qualmend,
versorgten von hier aus die vielen Buchten dieses herrlichen
Naturhafens.
Und dann bemerkte Willi ein schwarzes Etwas in den Augenwinkeln.
Er wandte den Kopf und erblickte die ungeheure Stahlkonstruktion
der Sydney Harbour Bridge, die das Festland mit den
nördlichen Stadtteilen verbindet.
Hier, kilometerweit entfernt, nahmen sanftgeschwungene,
überdachte Auffahrten Anlauf, um den ununterbrochenen Strom
an Motorfahrzeugen, Straßenbahnen und Vorortzügen auf
das Brückenniveau hochzuführen, dessen Höhe auch
den größten Ozeandampfern genügend Spielraum zum
Unterfahren bot.
Als Techniker fesselte Willi der Anblick immer wieder aufs
Neue.
Gegen Abend erfaßte Anton eine leichte Unruhe.
"Ich muß dir noch etwas zeigen", bemerkte er mit einem
schiefen Blick auf seinen Freund. "Na los, was denn?"
"Hast du schon etwas von der Palmer Street gehört?"
"Nein", gab Willi zur Antwort. "Ist das soetwas Besonderes?"
"Komm mit, du wirst schon sehen!" grinste Anton mit der
üblichen Geheimniskrämerei.
Leicht angewidert aber doch neugierig, walzte er an der Seite des
Älteren durch die engen Gäßchen dieses
Elendsquartiers, die durch niedrige, halbzerfallene
Wohnhöhlen mit vermorschten Türstöcken, mit
Sackleinen verhängt, begrenzt wurden. Finsteres,
männliches Gelichter lungerte davor herum, dem der Hunger
nach einem Frauenkörper ins Gesicht geschrieben stand.
Unattraktive, fette und verschlampte Nutten lehnten
gleichmütig an den Wänden und musterten die
zögernden Männer mit kalten Blicken, in denen nicht die
mindeste Aufforderung lag.
Nur eine einzige von all den Weibern ließ eine menschliche
Regung erkennen: Eine großgewachsene, etwas üppige
Blondine saß da auf einer Steinstufe vor einer Bruchbude und
bemühte sich, ihr dünnes, geblümtes Kleid vor dem
Hochflattern zu bewahren.
Ein fast unmerklicher, spöttischer Zug um Mund und
Augenpartie erinnerte Willi in makaberer Weise an seine erste
Liebe, eine kleine Verkäuferin von damals 17 Jahren. Welche
Gedankenassoziationen!
Anton machte Willi ziemlich laut auf ein wichtiges Detail
aufmerksam: "Schau mal! Sie trägt gar keine
Unterhöschen!"
"Was hat er gesagt?" erkundigte sich die Blondine neugierig bei
Willi.
"Oh, er sagte eben zu mir: 'Was für ein beautiful Baby!'",
meinte der charmant schmeichelnd.
Aus dem Schuppen gegenüber stolperte soeben, mehr als er
ging, ein Fotograf mit Stativ und umgehängten Kameras. War
gänzlich fertig, der arme Mann.
"Willst du noch mehr sehen?" erkundigte sich der robuste Anton bei
seinem Freund und schreckte den so aus seinen Milieustudien hoch.
Der zuckte nur gleichmütig die Achseln. Der andere nahm dies
als Zeichen der Zustimmung auf und führte ihn sodann in ein
repräsentableres Viertel der Crown Street. Irgendwo
öffnete er eine Haustüre mit der Aufschrift
Residential.
Mit einem unguten Gefühl in der Magengegend folgte Willi den
Spuren seines Freundes. Mit einem kurzen "Wieviel?" sprach Anton
eben eine Frau an, die neben der Türe einen Aufsichtsposten
bezogen hatte und sich gelangweilt die Fingernägel
manikürte. Ein achtjähriger Junge heulte sie um einen
Bob an, eine alte Frau kochte drinnen in der Küche Kaffee.
Ohne auch nur einmal aufzublicken, gab sie "Thirty Shillings" zur
Antwort.
Zwei Girls "arbeiteten" gerade im ersten Stock. Eine hübsche,
gepflegt aussehende Rothaarige, stieg soeben die Treppe herunter
und händigte einem jungen Mann das Wechselgeld aus. Sie sah
gemütlicher drein als alle, die er bisher gesehen hatte.
"Die käme für mich in Frage, wenn überhaupt eine!"
schoß es ihm durch den Kopf. Und dann überlegte er:
Wenn ich dieser jungen Frau unverhofft auf der Straße
begegnen würde – ich ahnte nicht, was sie für ein
Gewerbe betreibt. Faltenlos war die Haut, adrett die Kleidung und
anziehend das ganze Wesen.
Nun kam eine hochmütig dreinsehende Blondine auf die beiden
zu und rief kalt und drohend: "Welches Mädchen wollt ihr? Nun
los, welche wollt ihr haben!?" Immer lauter und wütender.
"Selbst die Huren benehmen sich hier überheblich!" zischte
Anton verächtlich und drängte seinen Jugendfreund rasch
ins Freie hinaus. Von hier aus war es nur ein Katzensprung bis zum
Kings Cross, das von jedem Australier als eine Brutstätte des
Lasters angesehen wurde, mit einem Wort also ein
Vergnügungsviertel.
Leicht angesäuselt vom Bier, schweiften ihre Blicke suchend
und prüfend über die wenigen Frauen, die in diesem Pub
vereinzelt zwischen den Männern hockten. Auf einem hohen
Podium plaziert, intonierte eine Damenkapelle Jazzrhythmen.
Gelangweilt lauschte Willi dem Gemisch aus Musik und emsigen
Geschnatter alkoholisierter Stimmen. Auf einmal durchfuhr es ihn
wie ein Blitz.
Ein Rasseweib, relativ jung, unterhielt sich mit zwei
ausrangierten älteren Typen, denen man die Harmlosigkeit an
der Nasenspitze ablesen konnte. Sie thronte mit überkreuzten
Beinen auf dem Barhocker, ein enganliegendes schwarzes Samtkleid
umschloß die mollige Figur. Wenn sie gelegentlich hell
auflachte, flatterten schwarze Locken um ihr Haupt. Willi
bemühte sich eifrig um Augenkontakt, sie wich nicht aus,
sondern blitzte ihn sekundenlang aus schrägen Augenwinkeln
an. Doch sie schien ihren ganzen Charme für die zwei
klapprigen Grufties einsetzen zu wollen.
"Du getraust dich ja doch nicht, sie anzuquatschen!" hänselte
ihn Toni, als er die grenzenlose Bewunderung seines Freundes
bemerkte. Ermutigt durch den Alkohol, und mit der wachsenden
Überzeugung, daß er dieses Prachtweib eigentlich besser
unterhalten könnte als die beiden alten Kracher, raffte er
sich auf, trat auf sie zu und legte ihr ungeniert die flache Hand
auf den Rücken: "Entschuldigen Sie bitte die Störung -
wir sind fremd hier in Sydney – könnten Sie uns vielleicht
einen Rat geben, wo uns etwas Amüsantes erwartet?"
Das Rasseweib prüfte ihn schelmisch von der Seite her, drehte
langsam den Kopf und äußerte dann schmunzelnd: "Zuerst
höre ich mir die Geschichte meiner zwei Freunde hier fertig
an, dann reden wir über den Nachtklub."
Eine Gruppe von zwei Deutschen und einem Österreicher wandten
sich gerade zum Gehen, und unsere beiden verhinderten
Schürzenjäger schlossen sich ihnen an. "Die ist
verheiratet, nichts zu machen!" bedeutete ihm einer der
Männer resigniert, der die Dame zufällig kannte. Doch in
diesem Moment trat die Heißumschwärmte mit schwingenden
Hüften zwischen die Männer, kokette Blicke um sich
werfend. Strahlend bedachte sie Willi mit der gutgelaunten
Bemerkung "You are a cheeky boy!", worauf sie sich dem Bekannten
aus Deutschland zuwandte, der Willi später wiederum
brühwarm mitteilte, auch er, Höger, habe ihr sehr gut
gefallen. "Aber leider, es wäre eben nicht möglich."
Willi war über seine spontane Reaktion selbst am meisten
überrascht. Obwohl im allgemeinen noch immer sehr
zurückhaltend, zauderte er jetzt nicht mehr allzu lange, wenn
es ihn packte.
Ein elendslanger Münchner gesellte sich noch ihnen zu, der
Urlaub von den Snowy Mountains machte und gewillt war, sich zu
amüsieren, koste es, was es wolle.
Die Lounge eines Innenstadt-Hotels empfing sie – ein Irrenhaus. Es
war vollgepackt mit Menschen: Männlein, Weiblein, Soldaten,
Kellnerinnen, Strichkatzen, jungen Farmerstöchtern auf Urlaub
– wohin man auch blickte, ein Sammelsurium von Individuen.
Durch die Aluminiumfolien der Rollos drangen die letzten Strahlen
der untergehenden Sonne und ließen den Zigarettenrauch
plastisch greifbar über dem Salon schweben. Die drei
kämpften sich über ausgestreckte Beine, umgeworfene
Stühle und herabhängende Tischtücher vorwärts,
zwängten sich zwischen weit nach rückwärts
gelehnten Männerschultern durch – immer in Richtung Podium in
der Ecke, da der Münchner die Schlagzeugerin kannte.
Zufällig verließen zwei Paare den Saal, rasch
ließen sich die drei Männer auf den ergatterten
Stühlen nieder, halb benommen vom kreischenden Lärm.
Dem Klavier entströmten heiße Akkorde, eine Frau
quäckte ins Mikrofon, und das Weibchen am Schlagzeug
arbeitete wie besessen mit dem Jazzbesen. Zwischendurch nickte sie
dem Münchner kurz und unauffällig zu, als sie seiner
ansichtig wurde.
Um den selben Tisch lagerten auch einige Australier. Einer
stieß mit dem Ellenbogen gegen ein Bierglas, dessen Inhalt
auch Willis Hosenbeine streifte.
"Sorry mate!" rief der Mann besorgt.
"Macht nichts, ist nicht viel passiert!" brüllte ihm Willi
ins Ohr. So kamen sie ins Gespräch.
"Mein Freund glaubt, ihr seid Deutsche. Ist das wahr?"
"Ja", meinte Willi verwundert. Wie er das festgestellt habe? Er
mußte seine Stimmme gewaltig erheben, um auch nur auf diese
kurze Distanz einen verständlichen Dialog fertig zu
bringen.
"Hahahaa! Ganz einfach, als ihr reinmarschiert seid – Oh, nur
wegen der Länge!" rief ihm der Aussie vergnügt zu.
"Meist sind es ja die Hunnen, die nur u n t e r dem Bett Platz
finden!"
"Thanks mate. Den originellen Ausspruch werde ich mir aber
merken!" brüllte Willi belustigt zurück.
In der anschließenden kleinen Pause im Programm setzte sich
die charmante Trommlerin in ihre Mitte. Sie reagierte witzig,
erotisch, originell – und war nicht rasch zu beleidigen. Gegen
Mitternacht wankten sie die Treppen hinunter, wo Soldaten in
Uniform ihre Mädels abknutschten, die wie verrückt die
Arme um sie schlangen.
Um zwei Uhr morgens lagen die beiden Freunde Anton und Willi
schläfrig auf den Bänken des Zuges, der sie nach Hause
brachte.
* * *
Jean der Franzose sprach gutes Deutsch, bekam
regelmäßig ein deutsches Sportblatt zugesandt und hatte
auch die "Neue Welt", eine australisch-deutsche Wochenzeitschrift,
abonniert. "Für einen Franzosen eine erstaunliche Vorliebe
fürs Germanische!" versuchte ihn Willi in den ersten Tagen
ihres Zusammenlebens aufzuziehen, als sie sich noch nicht sehr gut
kannten.
"Alles hat seinen tiefen Grund", hatte ihm Jean damals
ungerührt geantwortet. Und fuhr dann fort: "Meine Frau..."
"Was, du bist verheiratet?" unterbrach ihn erstaunt der junge
Österreicher.
"Meine gewesene Frau", hatte Jean daraufhin traurig berichtigt,
"ist Deutsche, weißt du. Daher meine guten Sprachkenntnisse,
daher meine Vorliebe für deutsche und österreichische
Musik."
"Aber wo ist sie denn jetzt, wenn ich fragen darf?" erkundigte
sich Willi, der auf dem Sofa sitzend, den pedantischen Franzosen
betrachtete.
"Weggelaufen, mit einem ganz jungen Landsmann!" berichtete der.
Bedachtsam nahm er eine Feile aus dem Necessaire und fing an,
seine Fingernägel zu bearbeiten. Der leichte Geruch eines
Herrenparfüms umgab ihn, den lockigen Haarwusch umhüllte
ein Handtuch, um zu verhindern, daß ihn das Nachtlager aus
der Form brachte.
Das Kerlchen tat ihm aufrichtig leid, sein Innenleben konnte
unmöglich ausbalanciert sein. Ein Narziss wie er im Buche
steht, dünkte es Willi, wenn er ihn so bei der
sorgfältigen Pflege seines Körpers und seines Eigentums
beobachtete.
"Seit ihm seine Angetraute vor zwei Jahren mitsamt dem
zweijährigen Töchterchen durchgebrannt ist, dreht er
langsam aber sicher durch", erzählte ihm die
urgemütliche Hausfrau. Ja, mit Jean ging es abwärts,
immer steiler und unaufhaltsamer. Er liebte seine Ehefrau nach wie
vor, lauerte ihr manchmal vor dem Kino auf – sie wohnte in der
weiteren Umgebung – nur, um sie am Arm des Nebenbuhlers
vorbeistolzieren zu sehen.
Er trank – aber wer trank in diesem Lande schließlich
nicht?
Er soff – jeden Abend Whisky, Gin, mit Soda und ohne.
Die Mattscheibe, die bei ihren Diskussionen nicht sehr deutlich zu
Tage trat, verdichtete sich automatisch, wenn Jean allein auf dem
Klappbett hockte, das genauso deutsche Importware darstellte, wie
die exklusive Musiktruhe in der Ecke. Einzig und allein die
Begeisterung für den Fußballsport riß ihn des
Sonntags vom Lager hoch, auf dem er stundenlang schlief. Er zog
dabei europäischen Fußball, Soccer genannt, dem
australischen ovalen "Eierlaberl" vor. Dies einzig und allein
riß ihn aus seiner Lethargie hoch, ließ ihn die
selbstauferlegte Kasteiung vergessen: Jean hatte aus Angst vor
einem potentiellen Schuldspruch des Richters, geschworen, bis zum
Durchsetzen seiner Scheidung keine Frau mehr anzurühren.
Diesen Abend gesellte sich ihnen noch ein Norddeutscher, ein unter
demselben Dach lebender Untermieter zu, der Jean zwar
gutmütig, jedoch nicht ohne Schärfe aufs Korn nahm. Jean
erzählte eben, wie er seine Gattin als 17jähriges
Mädel in Deutschland kennengelernt hatte. Damals, als Hunger
und Not ganz Europa schüttelte, wo Schokolade und Zigaretten
als Zahlungsmittel fungierten. Wie er als französicher
Besatzungssoldat um ihre Hand angehalten, und sie
schließlich eingewilligt habe.
Da dröhnte das entsetzliche Gelächter dieses
normannischen Kleiderschrankes durch das Zimmer. "Haha! Hahaa!"
brüllte er, wurde dann jedoch mit einem Schlag ruhig, sprach
mit eiskalter Stimme nur einen langen Satz: "Kein Wunder, Mensch,
daß sie dich nun mit einem Jüngeren verläßt,
dich hängen läßt wie 'nen dreckiges, abgelegtes
Hemd: du hast sie ja damals gekauft, g e k a u f t !" Die
Augensterne des Deutschen sprühten den schmächtigen
Franzosen verächtlich an.
Ja, so verliefen die meisten ihrer Unterhaltungen: Nichts wie
Trouble, Schwierigkeiten und Verzweiflung, wohin man auch blickte.
Jean stolperte oft noch nach Mitternacht ins gemeinsame Zimmer
herein, drehte das Licht auf, schlug Krach und hielt Willi
gefühlvolle Vorträge, aus denen vor allem der Geist des
Alkohols sprach. Bis er Jean mal eine unvermutet knallte,
daß der Franzose beinahe zu Boden ging. Aber nun hatte Willi
wenigstens Ruhe. Diese unguten Zustände begannen
allmählich an seiner Nervensubstanz zu zerren, er wehrte sich
jedoch verzweifelt, in diesen Strudel hinabgerissen zu werden, in
dem er so viele seiner Bekannten versinken sah.
Der Kalender zeigte nun Anfang November.
Immer heißer und schwüler, immer unerträglicher
wurde das Wetter. Vor allem abends, wenn Willi aus dem Office
heimkehrte und nach dem Nachtmahl bei Mrs.Eger den kleinen Raum
betrat, den er mit Jean bewohnte, prallte er vor der hohen
Temperatur die dort herrschte, förmlich zurück. Den
ganzen Tag lang hatte die Sonne Gelegenheit gehabt, dort
hineingezuheizen, am Abend war es drinnen einfach zum
Verrücktwerden. Jean drängte ihm Whisky auf. "Dann
schläfst du besser", unterwies er ihn.
Allerdings, allerdings. Ob dies seiner Lebensweise gut tat?
In Willi kristallisierte sich, unter dem Eindruck all dieser
Ereignisse und deprimierenden Erfahrungen, erneut der Gedanke
heraus, nach Europa zurückzukehren. Es lag nicht daran,
daß er etwa fürchtete, in Australien vielleicht nicht
seinen Weg zu machen – im Gegenteil. Er fühlte sich beruflich
bereits sehr erfolgsicher, daran haperte es nicht. Das Vertrauen
in die eigenen Kräfte und Ideen, die Überzeugung, jeder
Aufgabe gewachsen zu sein, stärkte sein Rückgrat,
ließ ihn kampfeslustig werden. Bis jetzt hatte es einfach
unter seiner Würde gelegen, auf gewisse Anfechtungen
überhaupt einzugehen. Nun ertappte er sich immer öfter
dabei, daß er wie ein gereizter Tiger völlig
überraschend zurückschlug. Und zum Teufel, der
Anlässe wurden nicht weniger.
Und er stand völlig allein, auf sich gestellt in diesem
kalten Krieg, der ihm noch bevorstand: Einer gegen viele, in einer
Firma, deren Arbeiter und Angestellten nicht gerade zu den
zartbesaiteten der Metaller-Branche gehörten – einer
Gießerei. Dieser Betrieb beschäftigte viele
Hilfsarbeiter, deren Gros, abgesehen von den Einheimischen, aus
zugewanderten Polen und Tschechen bestand, meist eben Displaced
Persons.
Der Österreicher war sich voll bewußt, daß seine
sture Haltung in Dingen der täglichen Pflichterfüllung
die Australier maßlos reizte und gegen ihn einnahm. Er
hätte selbstverständlich von allen Anfang an ein
gemäßigteres Tempo vorlegen können; und hätte
es auch getan – wenn nicht vom ersten Tag an die Hetzkampagne
wieder losgegangen wäre.
So verbiß er sich wiederum in die Arbeit, um nicht den
hirnlosen Tratschereien lauschen zu müssen. Am Abend des
ersten Arbeitstages traf er den jungen Ingenieur im Zug an und
warf ihm selbstverständlich einen freundlichen Gruß zu.
Der aber hatte einfach den Kopf weggedreht und zum Fenster
hinausgesehen.
In seine erste Woche fiel eine kleine Betriebsfeier,
anläßlich der Verabschiedung eines langjährigen
Mitarbeiters. Einige Kasten Bier und Limonade standen herum. Herum
standen in kleinen Gruppen auch die männlichen Angestellten,
schön brav getrennt von den reizenden Damen. Die drei
Australier aus seinem Büro hatten sich frühzeitig aus
dem Staub gemacht, der vierte im Bunde, ein 21jähriger
Rotschopf mit Vornamen Ray, war nach zehn Minuten der Anwesenheit
abgehauen.
Keiner der Angestellten, kein Mensch nahm Notiz von ihm. Willi
versuchte mehrmals ein Gespräch anzubahnen, kam aber
über drei Sätze nicht hinaus: man geruhte, sich einfach
umzudrehen und mit dem nächstbesten Australier zu
plaudern.
Die weiblichen Mitarbeiter, die Stenotypistinnen, die
Telephonistin und andere, hatten wie gesagt, den Männern
gegenüber Aufstellung genommen und starrten neugierig und
erwartungsvoll zu ihm herüber, so, als ob sie eine
gefährliche Bestie aus sicherer Entfernung betrachten
würden.
"It's inhuman, es ist unmenschlich, was man da mit ihm treibt!"
flüsterte eine der anderen zu. Wenn sich die Bemerkung auf
ihn bezog, hatte sie zweifellos recht. Und sie blickten doch alle
geradewegs zu ihm her!
Ach ja, Ray hatte ihm erzählt, daß vor ihm noch kein
Neuaustralier einen Bürosessel bei Williamstown Foundry Pty
blankgescheuert hatte.
Das helle Mißtrauen drückte sich in ihren Mienen aus.
Zu welch wahnwitzigen Resultaten die ganze Blase bei diesen
Debatten gekommen war, mußte er tagsdarauf zu seinem
Leidwesen feststellen.
Eine flott aussehende ältere Dame trat an Warran, dem
Ingenieur, und Ted dem Konstrukteur, heran.
Warran lehnte entspannt im Sessel, die linke Hand hing an der
Seite herunter. Eine Sitzposition, die er gewöhnlich einnahm,
wenn ihm fad war. Den brünetten Schädel hielt er leicht
nach links geneigt, wo Ted wie ein übler Einbläser nahe
an ihn herankroch und auf ihn einredete: "Das ist ebenfalls ein
Schlechter! Wenn du ihn genau ansiehst, wie schweigsam er arbeitet
– und wie hartnäckig – das sollte doch des Beweises genug
sein, nicht wahr?...
Die Truth hat also doch recht: nichts wie Ex-Kriminelle und
Mörder strömen in unser Land!"
Ted warf verstohlen einen Blick zu dem Österreicher hin,
rückte sein Brillengestell zurecht und murmelte: "Wir
brauchen ja garnicht seinen wirklichen Namen! Nimm einfach ein
Foto von ihm auf, wir können so leicht Nachforschungen
anstellen..."
Die Dame, die bis zu diesem Punkt aufmerksam, wenn auch befremdet
zugehört hatte, warf sich nun für Willi in die Bresche:
"Wenn er schon von Mills gekündigt hat weil man entdeckte,
daß er ein Exkrimineller ist, so muß man ihm doch eine
Chance geben!
Seid doch nicht so kleinlich und unmenschlich!"
Der junge Österreicher traute kaum seinen Ohren. Wie, um
Himmels Willen, kamen sie auf diesen ausgefallenen, absurden
Gedanken, er könnte ein entlassener Sträfling sein?
Zutiefst erschüttert, begann er ernstlich an seinem Verstand
zu zweifeln: litt er unter Halluzinationen?
Bildete er sich dies alles möglicherweise nur ein?
Vielleicht redeten sie garnicht von ihm, vielleicht bezog er in
neurotischer Weise alle Äusserungen auf sich?
Hatten ihn die Burschen in Wirklichkeit garnicht brüskiert,
war alles nur eine Ausgeburt seiner überhitzten Fantasie?
Litt er an Verfolgungswahn??
Entsetzliche Aussichten!
Kalter Schweiß drang in kleinen Perlen aus den Poren seiner
Haut, bis das Hemd klitschnaß war.
Aber, warum merkten seine Bekannten und Freunde nichts davon,
daß er im Kopf nicht mehr richtig war? Duldeten sie ihn
einfach gutmütig in ihrer Mitte? Nein, das war nicht der
Fall. Täglich knüpfte er neue Bekanntschaften an, alle
respektierten ihn. Er konnte nicht ernstlich krank sein, wenn
überhaupt. Möglicherweise eine Nachwirkung der Krise bei
Mills Ltd, die er nur überwunden glaubte?
Auf dem Platz vor ihm saß, mit dem Rücken zu Willi, der
junge Ray, der die Gewichtskalkulationen durchführte.
Anscheinend beschäftigte er sich intensiv mit der Ablesung
des Rechenschiebers, den er eben in den Händen hielt.
Aber Ray lauschte mit geheimen Abscheu dem infamen Disput um die
Ehre und die Zukunft dieses anständigen jungen Mannes.
Eigentümlich, die beiden hatten sich vorher nie im Leben
gekannt oder auch nur gesehen, waren in verschiedenen Ländern
aufgewachsen, in gänzlich verschiedenem Milieu groß
geworden. Ray in einem Glasscherbenviertel von London, Willi in
einem Provinznest des kleinen Staates Österreich. Aber allein
der Umstand, daß sie 18 000 Km von Williamstown zur Welt
gekommen waren, ließ sie einander näherrücken und
besser verstehen.
Ray erhob sich von seinem gepolsterten Sessel und trat an das
Reißbrett Willi Högers heran. Ohne jegliche Einleitung
begann er: "Mir gefallen diese Aussies nicht. Insbesondere, wie
sie über andere Leute reden, speziell die Italiener!"
Da Willi kein Wort erwiderte, da er zu verkrampft war in Wut und
Empörung über die ungerechte Behandlung, über die
Schmach, die er erdulden mußte, schwieg der Engländer
eine Weile.
Unsicher setzte er hinzu: "Ich sollte das eigentlich nicht sagen,
denn die Briten und Australier sind doch ein Stamm, nicht
wahr?"
Eben noch hatte Willi überlegt, wie er den jungen
Engländer dazu bringen könnte, einen Zeugen für das
eben Gehörte abzugeben. Denn daß ihm diese gemeinen
Anschuldigungen nicht entgangen waren, bewies ja dessen halb
entschuldigende Äusserung von vorhin. Nun wurde Willi
bewußt, daß er von Ray nicht gut erwarten konnte,
gegen seine Stammesbrüder auszusagen.
Er nahm sich mit allem Ernst und aller Verbitterung vor, wenn er
diesmal entlassen würde, dann war ein Krach fällig, der
sich gewaschen hatte. Tagtäglich erschienen empörte,
verbitterte Zuschriften von Neuaustraliern in den Zeitungen, und
in Einwandererkreisen nahmen die Diskussionen um diesen Punkt kein
Ende.
Es war etwas faul im Staate Australien!
Er war müde. Allzugerne wäre er in Ruhe und in
freundlichem Einvernehmen mit den Einheimischen seinem Beruf
nachgegangen, aber nein, es war nicht möglich.
* * *
Er beeilte sich mit dem Abendessen, warf sich in den dunklen Anzug
und fuhr nach N., wo er jene Danica im Spital suchen wollte. Ihr
Foto trug er in der Brusttasche verwahrt mit sich. Während
der Fahrt zog er es heraus und betrachtete die junge Dame nochmals
eingehend und kritisch.
Die trüben Vorfälle während der Schiffsreise, die
manchmal erschütternden Beobachtungen hier in Australien,
hatten in ihm eine unbewußte Abwehrhaltung, ein gewisses
Mißtrauen gegen jedes Weib, das ihm zufällig unterkam,
hervorgerufen. Von der früheren Idealisierung, ja direkt
Ehrfurcht vor dem Weib an sich, war nicht mehr viel
übriggeblieben.
So näherte er sich im Grunde widerstrebend dem Ort, wo mit
großer Wahrscheinlichkeit bestenfalls ein weiteres
erotisches Abenteuer auf ihn wartete, dessen er sich später,
vielleicht nur mehr mit Mißbehagen, erinnern würde. Es
befiel ihn regelrecht die Furcht, daß jenes unbekannte
Wesen, soferne er es überhaupt vorfinden würde, nur eine
weitere Enttäuschung darstellen könnte.
Nicht etwa in Hinblick auf Aussehen, Schönheit,
Anziehungskraft – aber vielleicht traf er nur auf ein ganz
gewöhnliches Flittchen. Er war von dem Vorurteil
erfüllt, daß ein alleinstehendes europäisches
Mädchen mit größter Vorsicht zu betrachten sei, da
das Hauptaugenmerk der holden Weiblichkeit in diesem Lande, nach
seinen bisherigen Erfahrungen, ganz banal und einseitig auf Money
ausgerichtet war.
Ein junger Mann mochte aus Abenteuerlust auswandern, na
schön. Die meisten, der ledigen Burschen seines privaten
Umgangs, waren einfach dem Lockruf der Ferne gefolgt. Niemand
konnte ihnen da einen Vorwurf machen. Fast alle entpuppten sich
als sehr flotte, sehr anständige und vertrauenswürdige
Burschen. Noch niemals war er enttäuscht worden.
Aber was trieb ein Mädchen in die weite Welt hinaus?
Was mochte ein behütetes Töchterlein aus einer
gutbürgerlichen Familie dazu veranlassen, aus dem Elternhaus
wegzulaufen?
Aus welch' plausiblen Grund wandert eine Frau in das entlegene
Land des Männerüberschusses aus, wenn nicht, um einen
Ehepartner zu finden! Weil die Nachfrage groß, das Angebot
an Frauen aber beschränkt war, jedenfalls im Vergleich zu
Europa.
Wenn ein Mädchen zuhause keinen Partner fand, sei es, weil
sie häßlich oder untüchtig war, ihr moralischer
Ruf vielleicht angeschlagen – dann war noch mit ziemlicher
Sicherheit anzunehmen, daß sie hier einen Mann fand, der
bereit war, alles für sie zu opfern. Weil er eben ein W e i
b, irgendeine Frau brauchte, mit Verlaub gesagt!
Diese und ähnliche Gedanken bewegten Willi auf dem Weg zur
angegebenen Adresse. Unschlüssig stand er nun vor der
Mahagonitür mit der Aufschrift 'Room 117'.
Eine Spitalsschwester fegte geschäftig heran, er hielt ihr
den Zettel aufdringlich unter die Nase: "Entschuldigen Sie bitte!
Könnten sie mir verraten, wo dieses Girl anzutreffen ist?"
Und als Ausrede fügte er hinzu: "Ich bin aus Melbourne, ich
weiß, daß es relativ spät ist, aber..."
"Ist noch da. Werde nachsehen, ob sie bereit ist, Sie zu
empfangen. Ausnahmsweise! Die Besuchsstunden sind nämlich
schon vorüber. Warten Sie hier!"
Also war sie doch eine Patientin dieses Spitals.
Nach einer Minute kehrte die Schwester zurück und meinte
kurz: "Alright, Sie können eintreten."
Willi schob die Krawatte mit einer nervösen Bewegung hoch und
betrat dann zögernd das Zimmer.
Gleich neben dem Eingang lag eine Frau um die
fünfunddreissig, in ein Buch vertieft. Das also konnte Danica
Petrovic nicht sein...
Ein weiteres, hochgelagertes Bett verstellte fast die Sicht durch
die riesige Glasscheibe vor dem Balkon.
Auf dem ersten Blick gewahrte der junge Mann nur lange, wirre
schwarze Haare, die ein bleiches, abgespanntes Gesicht umrahmten,
das halb verborgen im Kissen lag. Das Antlitz einer müden,
verbitterten Frau mit ausgebrannten Augen.
Er erschrack, näherte sich vorsichtig.
Kaum merklich drehte das seltsame Wesen ihr Haupt in seine
Richtung.
"Guten Abend, – entschuldigen Sie bitte die Störung!" Nun
fing er zu allem Überfluß auch noch zu stottern an.
"Mein Name – ist Willi. Willi Höger...Ja. Ich, ich bin
Österreicher und bin – aus Melbourne kommend – vor kurzen in
Sydney – gelandet. Wohne in Banston... und habe Sie zufällig
auf diesem Bild hier...äh, entdeckt!"
Vor Aufregung lief er rot an. Krampfhaft lächelnd hielt er
ihr das bewußte Foto hin.
" Sie – haben – mir da – sehr gut gefallen! Habe Ihre Adresse
rausbekommen, und da ..., da dachte ich, ...ich könnte Sie ja
mal aufsuchen. Ich hoffe, Sie sind nicht ungehalten, wenn ich Sie
so überfalle?" Fragend hielt er inne.
Unwillig, direkt feindlich abwehrend hatte ihm die junge Frau
anfangs angesehen. Nun stahl sich ein feines Lächeln auf ihre
blutleeren Lippen, und sie erwiderte ebenfalls auf englisch: "Ach,
dieses kleine Fest! War sehr schön."
Pause. Tiefes Nachdenken auf beiden Seiten.
"Wir können Deutsch sprechen", meinte sie plötzlich.
"Das ist Ihnen doch sicher lieber, nicht wahr?"
Sie hat braune Augen, große braune Augen. Und ein kleines
Schmollmündchen, registrierte er flüchtig.
"Sie sind von Sydney?? Mein Gott, Sie sagten doch soeben,
daß Sie aus Melbourne gekommen sind...
Wissen Sie, ich haben heute ein Plastisches Operation gehabt – da
bin ich noch ganz dumm, von Narkose. Kann nicht viel denken."
Verlegen strich sie mit der Hand durch die Haare, die sie wild
umflossen und versuchte die Fülle am Hinterkopf zu
bändigen. Einmal, zweimal, dreimal. Reizende Öhrchen
kamen da zum Vorschein. Wie weich und melodiös ihre Stimme
klingt, fiel Willi auf. Und dunkel, wie das Organ Zarah
Leanders.
"Oh, tut mir leid. Wäre nicht gekommen, wenn ich das geahnt
hätte!" entschuldigte sich der junge Mann. "Muß mich
schleunigst irgendwie aus der Affäre ziehen", dachte er.
"Hier, darf ich Ihnen eine Tafel Schokolade anbieten?" Linkisch
zog er die Stollen aus seiner Sakkotasche hervor. "Und Samstag
werde ich nochmals auf einen Sprung bei Ihnen vorbeisehen, ob es
Ihnen schon besser geht! Ich darf, ja?"
Ohne eine Antwort abzuwarten erhob er sich und schritt schleunigst
zum Ausgang. "Auf Wiedersehen!" sagte er noch und deutete eine
leichte Verbeugung gegen die Dame mit dem Buch an. "Good bye!"
"Auf Wiedersehen! Auf Wiedersehen!" hörte er ihre samtene
Stimme, sah er einen freudigen Zug über ihr Antlitz huschen.
Lebhaft winkte sie ihm mit der Linken zu. Die rechte Hand war
während der vergangenen fünf Minuten unter der Decke
verborgen geblieben. Dann senkte sich ihr Kopf wieder in die
weichen Kissen zurück, die sie hochlagerten.
Tut mir leid, das Mädel. Na, Samstag werde ich sie nochmals
aufsuchen, vielleicht freut es sie ein wenig. Hat viel
durchgemacht, wie es aussieht...
Ohne weitere Zwischenfälle verfloß die Woche.
Den freien Vormittag verbrachte er mit Shopping und
Stadtbesichtigungen – und um Punkt zwei Uhr schritt er wieder
über den Korridor, der zum Raum 117 führte.
"Hallo, da bin ich wieder!" rief er so fröhlich wie nur
möglich und baute sich neben dem Bett auf, dessen Unterkante
ihm bis zu den Hüften reichte. "Schön, daß Sie
gekommen sind. Ich habe nicht gewußt, ob ich letztes Mal
richtig verstehen haben. Habe gedacht, Sie sind nur hier zu machen
einen Besuch?"
"Nein, ich arbeite als Draftsman in Williamstown." Er tat diese
Frage kurz ab und wechselte schnell auf ein anderes Thema
über. "Bevor ich mich noch zu ärgern beginne", dachte
er. "Und woher stammen Sie? Wie lange halten Sie sich bereits in
Australien auf?" Kurz und sachlich stellte er eine Frage nach der
anderen. Von deren zufriedenstellenden Beantwortung würde es
abhängen, ob er sich hier noch einmal sehen lassen
würde. Sieht verdammt abgehärmt aus, hat tiefe Ringe um
die Augen. Etwas unkonzentriert beim Sprechen, so als ob sie Tag
und Nacht schlaflos verbringen würde. Kühl und
distanziert diagnostizierte er ihr Aussehen. Wenn sie redete, rief
sie den Eindruck einen Menschen hervor, dessen Gedanken weit in
die Ferne schweiften; beim Sprechen sah sie an ihm vorbei.
Sie hatte bereits seinen forschenden Blick bemerkt: "Ich darf nach
einer Operation vier Tage und Nächte nicht schlafen, Mr.
Hoeger, damit ich meine rechte Hand nicht losreiße. Die ist
an meine Fuß festgebunden, wissen Sie!"
Armes Mädchen. Regungslos so dasitzen müssen, Stunde um
Stunde! Wenn ich es so abschätze, muß sie mindestens
dreihundert Pfund an Schulden haben – die kann sie in etwa zwei,
drei Jahren abzahlen. Das muß ihr schon schlaflose
Nächte bereiten, da muß sie sich erst garnicht
künstlich wachhalten! Nüchtern stellte er diese
Überlegungen an, während er mit ihr sprach.
"Mein Vater war Direktor. Aber nach dem Krieg ist er...erstochen?
Wie sagt man da?" Sie sah ihn fragend an.
"Erschossen?" Willi schauderte zusammen.
"Ja, erschossen worden, weil er eine Königstreue Mann war."
Sie verfiel in ein kurzes, düsteres Nachdenken. "Unser Haus
wurde uns auch weggenommen, aber vielleicht bekommen wir es
wieder", erzählte sie ihm später. "Da habe ich mir ein
kleines Fotolaboratorium gebaut gehabt. Deswegen arbeite ich hier
in eine Fotostudio, weißt du – entschuldigen Sie, wissen
Sie, Herr Höger!"
Sie lächelte wie ein kleines Kind.
Herrlich weiße Zähne. Und der reizende Mund dazu!
Schade, daß sie ein so grobes Flanellhemd trägt.
Möchte mehr von ihr sehen. Er sagte laut: "Ach, das ist doch
lächerlich, dieses 'Sie'! Sagen wir doch 'du' zueinander, wir
sind doch beide jung!"
"Sehr gerne – Willi!" Sie lächelte, leicht gezwungen und ganz
unverbindlich. Diese Erkenntnis ärgerte ihn. Für einige
Monate wäre sie ein ganz passabler Flirt, wird wahrscheinlich
nicht abgeneigt sein. Unterstütze sie, und als
Gegenleistung...na, das ist ja klar. Schade, sie wirkt älter
als ich. Tatsächlich ist sie um zwei Jahre jünger, also
etwa vierundzwanzig.
Sie beschrieb ihm jetzt gerade ihre Geschwister, zeigte ihm einige
Familienfotos: "Da war ich in eine Camp." Er sah sie drauf,
angetan mit einem langen Hauskleid, das ihr bis über die
Knöchel hinunterreichte. Sie stand inmitten einer Schar von
Männern, im Hintergrund lehnten einige windschiefe
Hütten. Eine wichtige Frage dazu lag ihm auf der Zunge, aber
er unterdrückte sie.
"Wie lange läufst du eigentlich schon mit dieser Narbe am
Fuß herum?" "Drei Jahre, Willi", gab sie zur Antwort.
"Und wodurch wurde die Verletzung verursacht?", fragte er
ruhig.
"Ich war bei eine Schikurs und bin unglicklich gefallen. Und
seither ich habe viele Schwierigkeiten gehabt, Willi. Immer
wieder. Da bin ich mit meiner Freundin und deren Mann nach
Australien ausgewandert. Wir leben hier zusammen, und verstehen
wir uns sehr gut." Sie hatte ihren Oberkörper leicht erhoben
und schlug jetzt die Augen nieder: "Ich habe geglaubt, daß
es mir hier besser gehen sollte..."
"Würde...", besserte er ungerührt aus. Gleichzeitig
dachte er nüchtern: "Du bist eine dumme Gans."
"Glaubst du vielleicht, man wird dir hier etwas schenken?" fragte
er erstaunt. "Nein, das nicht, aber..." Sie verstummte. "Willi -
ich habe in dem halben Jahr, seit ich leben hier, viel mitgemacht.
Wie glaubst du, wie ich habe bekommen Arbeit?"
Ihre großen, rehbraunen Augen sahen ihn weitgeöffnet
an. Ein Zittern schwebte um ihre Stimme, die ganz klein und
zaghaft im Raum hing. "Ein Jammer, so ein alleinstehendes
Mädchen in der Fremde, krank und schutzbedürftig",
dachte er.
"Ich habe müssen immer eine lange Hose tragen, weil die Narbe
zu groß, zuviel sichtbar ist. Da habe ich unterhalb
Seidenstrümpfe und dann noch ein Kleid darüber
angezogen. Und weil es hat viel und oft geregnet, noch einen
Mantel drüber...
So ausgestattet bin ich von eine Firma zu andere gegangen. Wenn
ich bin vor Büro gekommen, ich habe die Hose hinaufgezogen,
sodaß sie unter den Mantel hinein...?" "Geschlüpft",
half er ihr aus. "Danke – . Denn wenn ich mit Hose von vorneherein
gekommen, haben mich die australischen Chefs immer gefragt: warum?
Und wenn ich ihnen die Narbe gezeigt habe, wollten sie mich nicht
einstellen.
Das war eine furchtbare Zeit für mich.
Glaubst du mir das, Willi?"
Er nickte, die Jugoslawin tat ihm verdammt leid. Ein Blick auf die
Armbanduhr zeigte ihm, daß die Besuchszeit abgelaufen war.
"Ich muß leider gehen, Danica. Aber ich komme wieder, um
dich zu besuchen." Er zögerte noch mit dem Weggehen,
anscheinend wollte sie ihm noch etwas anvertrauen.
Sie drückte ein wenig herum: "Willi, ich muß dir noch
etwas sagen. Wie ich Jugoslawien verlassen habe, habe ich etwas
ganz Schreckliches getan!!" Sichtlich gequält brachte sie es
über die Lippen; und trotzdem klang es wie das
Geständnis eines kleinen Mädchens das dem Papa
berichtet, sie habe ihre Puppe zerbrochen.
"Na, was denn? Ist vielleicht die Polizei hinter dir her?"
Gutmütig grinsend blickte er das blasse Geschöpf an.
"Nein, das ist es nicht." Offenbar nahm sie einen geistigen
Anlauf, denn sie schwieg einen Augenblick. "Ich habe zuhause immer
nur Schwierigkeiten gehabt, wurde immer nervöser.
Schließlich habe ich es nicht mehr ausgehalten. Bin dann
plötzlich auf ein Schiff. Meine Mama hat tagelang geweint,
aber ich habe mich nicht darum gekümmert.
Und zuvor habe ich etwas ganz, ganz Schreckliches getan!" Zaghaft,
gebrochen, fast wimmernd hatte sie dies hervorgebracht. Nun sah
sie den jungen Mann aus traurigen Augen an.
"Aber was denn, Danica, sag es doch! Ich werde es niemandem
erzählen, bitte!" Er dachte: "Wenn sie sich mir mitteilt,
wird es sie erleichtern. Und gar so schlimm wird es schon nicht
gewesen sein."
"Ich kann es dir nicht sagen, ich kann es dir nicht sagen!"
flüsterte sie nur.
"Nun, Danica, dann...Ich verlasse dich jetzt. Es ist wirklich an
der Zeit. Also auf Wiedersehen, good bye, Danica!"
Ein neutraler Beobachter der Szene hätte einen
zärtlichen Unterton in seinem Ausdruck festgestellt...
Eineinhalb Stunden waren wie im Fluge vergangen. Er zog das
Resümee: Ein ganz netter Käfer – bloß jünger
sollte sie aussehen, und drängelte zur Tür hinaus.
* * *
Anton Melzer kannte ein aus Österreich stammendes Ehepaar,
das nun naturalisiert, die Australische Staatsbürgerschaft
besaß. Anton und Willi besuchten die beiden in ihrem
Häuschen unweit von Banston. Die Burschen, die wegen der
flüssigeren Unterhaltung einige Flaschen Bier mitgebracht
hatten, fanden außer dem Ehepaar noch einen jungen Mann von
neunzehn Jahren vor. Wie sich herausstellte, ein leiblicher Sohn
des Mannes aus seiner ersten Ehe, den der Vater aus Jugoslawien
hatte nachkommen lassen. Seine erste Frau war dort geblieben.
"Von Erziehung keine Spur", wetterte der Mann ärgerlich. "Man
kann sich ja vorstellen, wie der Junge im heutigen kommunistischen
Jugoslawien aufgewachsen ist – ohne Vater noch dazu! Was der trotz
seiner Jugend schon alles erlebt hat! Einiges hat er mir ja
freiwillig erzählt: er hat das Leben eines
vierzigjährigen Mannes geführt! Diese kommunistischen
Machthaber – alles, was die in Jugoslawien zustande bringen, sind
doch nur hochtrabende Phrasen – und die Jugend zu Tagedieben und
Mördern heranzuzüchten! Noch immer steigt dort die
Mordrate.
Wißt ihr, was der Kerl, m e i n Sohn, während unserer
Abwesenheit in meinem Haus getrieben hat? Er hat die ganzen
Kästen durchstöbert, um sich in den Besitz einiger
Dokumente zu bringen, damit mein Haus hier an seine Mutter
fällt, die sich da reinsetzen möchte!"
Neben dem Fenster kläffte nun wütend ein Hund, ein
zweiter lief auf der Veranda unruhig hin und her. "Ist schon gut,
bekommst schon dein Fressen!" beruhigte ihn der Mann mit
schmeichelnder, sanfter Stimme.
Später nannte er seinen Sohn, der bisher ruhig alles
mitangehört hatte, in Gegenwart der beiden Gäste einen
Idioten und Banditen. Daraufhin sprang der Jugendliche auf und
stürmte mit knirschenden Zähnen in Freie hinaus. Sein
Erzeuger eilte ihm sofort nach und wollte ihn zum Umkehren
zwingen, aber der Bursche rannte die staubige Straße
entlang. Die beiden Jugendfreunde schwiegen betreten, draussen
hörte man den Mann herumrumoren. Entschuldigend wandte sich
Anton an Willi: "Ist mit den Nerven ziemlich am Ende...So wie alle
anderen, die hier einige Jahre gelebt haben!" Willi räusperte
sich zynisch: "Was heißt übrigens 'gelebt haben'? Er
und seine zweite Frau haben sieben Jahre lang nur geschuftet,
gespart und sich Sorgen gemacht. Jetzt dürfen sie dieses
Häuschen ihr eigen nennen. Mit zwei möblierten
Räumen darin. Ob sich das alles gelohnt hat?
Diese Leute sind zu einer Zeit ausgewandert, als es in Europa noch
ganz dreckig ausgesehen hat, die Zukunftsaussichten nur
düster erschienen. Weil sie alle noch die russische
Soldateska, die vier Besatzungsmächte – unsere vier Befreier
– und den niedrigen Lebensstandard vor sich sehen, zögern sie
in die Heimat zurückzukehren. Obwohl sie vielfach vor Heimweh
vergehen...
Was heißt hier 'leben', habe ich gesagt", fuhr Willi in
seiner Suada fort.
"Hast du gehört, daß ihr erster Unterhaltungsabend in
Australien jenes jüngste Österreicher-Fest in Banston
gewesen ist? Daß sie niemals ins Kino gegangen, nirgendwo
hingegangen sind, an keinen Parties teilgenommen, geschweige denn
welche veranstaltet haben? Weil sie sonst mit den Einkünften
nicht ausgekommen wären, da sie ja nie über den
Grundlohn hinausgekommen sind?
Ja Mensch, Anton! Wo bleibt der viel gepriesene standard of
living, wenn sich der Mann von der Straße, der
regelmäßig und fleissig seiner Tätigkeit nachgeht,
nicht mehr leisten kann? Die ganz Tüchtigen und Gerissenen
kommen in jedem Land der Erde zu etwas. Und wenn du sie auf dem
Nordpol absetzt!
Hier ist es für den Durchschnittsbürger einen
Scheißdreck besser. Im Gegenteil! Er geht wegen des unguten
Klimas, den unsicheren Lebensverhältnissen, der Rastlosigkeit
und wegen des mangelnden Kontaktes mit den Einheimischen langsam
aber sicher vor die Hunde. Da! Sieh dir die Schachtel an, die am
Kühlschrank liegt: ein Nervenberuhigungsmittel!"
"Paß auf, er kommt zurück!!" zischte Anton.
Auch die Frau trat wieder herein, nachdem sie die Hunde versorgt
hatte. Noch lange unterhielten sich die vier über Australien
und die verlorene Heimat Österreich.
"Ihr wißt ja über die Zustände und
Verhältnisse hier wesentlich besser Bescheid als ich, der ich
schon dreimal solange hier lebe!" gestand der Vierziger danach.
"Wir hatten eben Muße, uns umzusehen", gab ihm Anton zu
bedenken. Nachdem sie das letzte Schlückchen Bier
ausgetrunken hatten, verabschiedeten sich die beiden Junggesellen
von dem Ehepaar.
"Eins steht für mich fest, der Mann liebt seine Hundsviecher
mehr als seinen eigenen Sohn. Das ist das Resümee unserer
ganzen Diskussionen..." Willi beförderte die Bierflasche, die
er auf dem Weg zur Bahnstation geleert hatte, in weitem Bogen auf
eine Schutthalde. In der Nähe verrostete ein uralter Ford auf
Plattfüßen in einer Halde wuchernden Unkrauts. Dahinter
verwitterte ein verlottertes Bretterhaus, mit durchlöchertem
Blechdach über der Veranda. Über die Fensterhöhlen
wölbte sich vergilbter Pappkarton.
"So sehen sie aus, die Autos und die Eigenheime, von denen die
Einwanderer nach zwei Jahren nach Hause berichten. Ha! Daß
ich nicht lache!" Sie trotteten schweigsam dahin. "Wie sieht
übrigens die 'Villa' von Paul aus?" fragte er Anton mit
beißendem Hohn. "Der hat doch vor drei Jahren mit Kind und
Kegel die Heimat verlassen, weil er sich nach einem eigenen Herd
gesehnt hat. Wie geht es ihm denn?"
"Nicht besonders, aber du wirst ja sehen. Ich leihe mir
demnächst eine Maschine aus und wir fahren zu ihm."
* * *
Das erste, was Willi nach Abstempeln der Zeitkarte gewöhnlich
tat, war die Aktenmappe auf den Tisch zu feuern und den Ventilator
auf dem Schrank in Schwung zu bringen. Schon am frühen Morgen
brütete die Novemberhitze unheimlich heiß und
schwül über New South Wales. Das hinderte die
Angestellten aber keineswegs daran, mit steifen Kragen und
Krawatte herumzustolzieren. Man war ja schließlich und
endlich ein white collar man, ein Bürohengst. Und das
mußte man doch schließlich jedem deutlich zu verstehen
geben, denn an der Ausdrucksweise oder dem Benehmen unterschieden
sich die Boys hier im Staff sehr wenig von den übrigen
Bevölkerungsschichten.
Der Verkaufsleiter knurrte das "bloody" genauso genußvoll
hervor wie der letzte Gießgrubenkumpel, wenn etwas schief
ging. Und häufig lief etwas schief.
Wie üblich vertieften sich Willi und John, ein
Zeichner-Lehrling und Abendschüler, eifrig in die
Lektüre der Morgenblätter, denn beide trafen zwanzig
Minuten vor Arbeitsbeginn mit dem Zug ein. Warran und Ted kamen
gewöhnlich eine Stunde später, da sie gemeinsam als
Nebenverdienst Maschinenkonstruktionen entwarfen. Soweit, so gut.
Niemand nahm oder wagte daran Anstoß zu nehmen, galten die
beiden doch bis vor kurzem als unersetzlich.
Die Leitung des Werkes änderte nur widerwillig, doch mit
steigender Neugierde ihre Meinung in diesem Punkt. Ein blutjunger
europäischer Stutzer, von dem man nie genau wußte, was
er dachte, machte den beiden Gentlemen Konkurrenz.
Noch dazu war er bienenfleißig, was man ja leicht
feststellen konnte, wann immer man den Abkürzungsweg durch
das kleine Konstruktionsbüro nahm, ging man in die
Werkshalle. Fast immer sah man ihn dann über das Brett
gebeugt an der Arbeit. Er, von dem man sich nicht mehr als
Durchschnittsleistungen erwartet hatte, schüttelte technische
Lösungen anscheinend aus dem Ärmel, wo andere
stundenlang nachdachten.
Die Leichtigkeit, mit der er dies vollbrachte, ließ sogar
die Vermutung zu, daß er ein "fully qualified engineer" war.
Aber man würde ihn deshalb nicht besser entlohnen, beileibe
nicht.
Denn liefen in der Firma nicht Gerüchte herum, daß der
Austrian ein Exkrimineller sei?
Daß er so brav und beinahe sklavisch schuftete, bewies doch,
daß ihn das schlechte Gewissen drückte. Daß er
Aufdeckung befürchtete und dem durch gute Leistungen
vorbeugen wollte. Aber wenn man ganz ehrlich blieb, mußte
man wohl oder übel zugeben, daß ein persönliches
Gespräch mit ihm gar keinen so schlechten Eindruck
hinterließ. Von einer Haftpsychose oder ähnlichem war
nicht das Geringste zu merken.
Aber Warran, dem Ingenieur und Australier, mußte man
andererseits doch Glauben schenken, oder etwa nicht? Aber für
uns, die wir hier im Lohnbüro sitzen, an der Schreibmaschine
oder im Managerbüro, ist es ganz amüsant, diese
Entwicklung weiter zu verfolgen. Denn daß der hochgeehrte
Warran die Existenz des Europäers sowohl verärgert als
auch leicht besorgt betrachtete, lag auf der Hand.
So oder so ähnlich dachte man wohl in den Büros von W.
Foundry Pty.
In diesen Vormittagsstunden war einzig und allein Willi Höger
als Techniker erreichbar, denn dem Jüngling John traute man
natürlich noch nicht allzuviel zu. Der Verkaufsleiter
benötigte eine Auskunft, peinlich, aber an wen sollte er sich
wenden, als an den Konstrukteur, dem Austrian? Ted hatte ihm
eingeredet, der Entwurf eines Hemmelementes, ausgelöst durch
die Schwerkraft, tauge nichts.
"Komm mit raus", knurrte der Manager unwillig den jungen Mann an.
"Betrachten wir uns die Sache im Original!"
Das Einführen des Schwingarms war nicht unkompliziert.
Minutenlang probierte der Mann herum, ohne Erfolg. Vor Wut und
leichtem Schamgefühl schoß dem Australier das Blut ins
Gesicht. "Bloody bastard!" fluchte er vor sich hin.
"Gestatten Sie, darf ich mal probieren?" erkundigte sich Willi
höflich, ergriff den Schwingarm, visierte kurz an und -
brachte ihn in Sekundenschnelle in die vorgesehene Position. Der
Chef sah überrascht auf und ordnete ihm dann in barschem Ton
an, er möge noch dessen Funktion überprüfen: es
haute alles programmgemäß hin.
Kaum vermochte Willi ein Triumphgefühl zu unterdrücken.
Damit hatte er sowohl dem mißgünstigen Kollegen als
auch dem Chef eine Schlappe zugefügt. Daß seine
Vorgangsweise kaum Anerkennung, sondern nur neue Feindschaft
einbringen würde, berührte ihn nicht mehr sonderlich.
Ein unbändiges Verlangen, diese Menschen hier zu
demütigen, wo er nur konnte, lächelnd durch bessere
Ideen zu übertrumpfen, bestimmte nun sein Handeln. Er
würde sich einen Deut um deren Gefühle kümmern,
genauso wenig, wie sie es bei ihm taten.
Oh, man ließ ihm das Mißtrauen deutlich merken, wie
etwa der Lohnverrechner, der jedesmal seinen freundschaftlichen
Gruß überhörte und ihm wortlos das
Lohnsäckchen aushändigte.
Wartet ab, ihr Hunde! Ich werde euch noch bis aufs Blut reizen,
das schwöre ich euch, rumorte es in der Brust des jungen
Mannes.
"Wenn er auch ein Teddy-Boy ist, ein Plattenbruder und
Exkrimineller, aber eines muß man ihm lassen: arbeiten kann
er!" hatte Warran einmal seinem Satelliten Ted hinter
vorgehaltener Hand zugeflüstert – gerade so laut, daß
dem Österreicher nichts entgehen konnte. Willi hatte auf
diese gezielte Provokation nicht reagiert, er wußte warum.
Und er erfuhr auch, wie heimtückisch es die Brüder
trieben.
Nach einer dieser Hetztiraden stand er auf und trat an den Tisch
Warrans heran. Ein letztes Mal wollte er versuchen in vollkommener
Ruhe und Güte mit diesem Mob auszukommen. Gemessen hub er zu
sprechen an: "Warran, – ich habe den Eindruck, daß in dieser
Firma über mich Gerüchte umlaufen, die irrtümlich
oder böswillig, das kann ich nicht entscheiden, meine Person
herabsetzen..."
"Wirklich? Das habe ich nicht gewußt, Willy." Unschuldig
harmlos setzte Warran seine Berechnungen weiter fort.
Der junge Mann zwang sich gewaltsam zur Ruhe. "Warran!"
stieß er wie eine Drohung hervor, "Ich mag mich
täuschen, aber ich höre dich und Ted dauernd
flüstern, über mich herziehen. Unsinnige, grundlose
Anschuldigungen. Schön langsam bekomme ich einen
Verfolgungswahn, wenn es so weiter geht. Habe ich also richtig
gehört oder nicht?"
Der australische Ingenieur schwieg sich aus, enthielt sich jeder
Antwort. Seine Erregung wuchs an: "Offensichtlich herrschen hier
andere Regeln im Umgang mit Menschen. Wir in Österreich
halten mit unserer Meinung nicht hinter dem Berg. Also bitte, wenn
dir etwas mißfällt, wenn du dich über mich zu
beklagen hast – sag' es!" Mit zitternder Ungeduld wartete er auf
eine Entgegnung.
"Du irrst dich! Wir haben nicht das geringste gegen dich und
würden nie zu solchen Mitteln Zuflucht nehmen. Nein, du hast
dich sicherlich verhört. Kein Grund zur Aufregung, wir sind
alle Freunde!"
"Well, dann ist es ja gut. Es freut mich, daß du mich als
Freund betrachtest." Damit begab sich der junge Mann wieder an die
Arbeit, nicht ganz überzeugt, daß er aus der
Unterredung etwas gewonnen habe.
Flugs eilte Ted an die Seite Warrans: "Er ist verrückt! Du,
ich sage dir, der ist verrückt!!" Sie plapperten wie
Kindermäuler.
"Jetzt glaubt er, wir ziehen über ihn los. Der leidet ja
wirklich an Verfolgungswahn. Am besten holen wir einen Psychiater
und lassen ihn hier untersuchen. Dann können wir ihn gleich
in einer Anstalt unterbringen, bevor er noch gewalttätig
wird."
"Ja, das werden wir veranlassen!" gab Warran ruhig zur
Antwort.
"Ein wenig warten wir noch ab, dann bekommt er vielleicht einen
Tobsuchtsanfall und wir ersparen uns etwaige Scherereien."
"Ja, so ist es richtig. Das ist eine gute Idee!" Eifrig rieb sich
Ted die Hände. "Also nicht nur ein Krimineller, auch noch ein
Verrückter. Damit haben wir gleich zwei Fliegen auf einen
Schlag gefangen!" Ein endloses Kichern folgte. Teds Stimme senkte
sich noch tiefer ab: "Und das Tolle dabei ist, daß er uns ja
nichts nachweisen kann. Was wir hier über ihn diskutieren,
kann er niemals beweisen. Denn nur wir drei Australier und Ray
befinden sich im Raum. Hahaaa! Das ist ein Heidenspaß. Er
kann also nicht das geringste dagegen unternehmen."
"Jaja, er kann und wird nichts tun...Er hat ja Angst vor uns!"
Ted zog sich zufrieden auf seinen Hocker vor Warrans Tisch
zurück. Das war ja kaum auszuhalten!
Das ist ja zum Wahnsinnig werden!
Der junge Österreicher blickte fieberhaft um sich, fragend,
forschend, zweifelnd. Seine Kopfhaut krampfte sich zusammen, warf
Falten über dem rot werdendem Gesicht, das nahezu
augenblicklich das Aussehen eines verrunzelten Greises annahm.
Befand er sich in einem Irrenhaus? Arbeitete er hier mit
Verrückten zusammen, oder hatte er Schwachköpfe vor
sich? Infame Idioten? Meinten die im Ernst, was sie da eben von
sich gegeben hatten, oder...Oder um Gottes Willen – vielleicht
hatten die beiden wirklich kein Wort über ihn verloren?
Täuschten ihn seine Sinnesorgane?
Was geht hier vor??
Was ist los?!!
Von innerem Zwiespalt und Zweifel zerrissen, suchte er verzweifelt
nach einem festen Halt, einem einzigen ruhenden Pol. War denn
niemand da, kein wohlmeinender Mensch im ganzen Betrieb, dem er
vertrauen konnte? Doch!
Hinter einem langgestreckten Glasfenster saß ein Gentleman
um die Sechzig, der sämtliche Projekte in der Firma
überprüfte. Ein wenig brummig, rauhe Schale, guter Kern.
Unermüdlich, von früh am Morgen bis spät abends
kalkulierte, prüfte, rechnete er, beugte er sich über
ihre Konstruktionen. Manchmal begleitete ihn Willi auf dem Weg zur
Bahn, mit ihm konnte man wirklich vernünftig diskutieren.
Und der Mann vernahm durch die Glasscheibe hindurch die
gezischelten, hetzerischen, verleumderischen Worte der zwei
dunklen Ehrenmänner: Schlechter Kerl! Exkrimineller!
Wahnsinniger! – die Auswürfe steigerten sich von Woche zu
Woche. Und er kannte den Austrian doch als netten Burschen, keine
Spur von allen diesen Vorwürfen war zu bemerken. Welch
schändliches Spiel trieben die beiden Kerle mit ihm?
Mit einer Zeichnung in der Hand blieb er im Türrahmen stehen:
"Wird hier eine Komödie gespielt, oder the Hell, was ist los
hier drinnen?" erkundigte er sich gereizt und blickte Warran
wütend an.
"Was denn, was stört Sie denn?" gab der Ingenieur
kaltlächelnd zurück.
Und stillschweigend zog sich der alte Mann in sein Kämmerlein
zurück. Ray hockte ruhig wie eine Statue mit dem Rücken
zu Willi. Nur aufgrund der pausenlos glimmenden Zigarettenenden,
die zwischen Rays Haupt und dem Aschenbecher hin und her
wanderten, konnte man bei dem Engländer Leben registrieren.
Nun legte er eine Pause ein und kam nach hinten zu Willi.
"Sag, bin ich hier in einer Irrenanstalt oder laufen da noch
normale Menschen herum?" fragte ihn flüsternd der
Österreicher, noch immer fassungslos über die neuerliche
Wendung in den zynischen Bemerkungen seiner Kontrahenten.
"Nimm die Lunatics nicht so ernst. Ich zweifle manchmal selbst, ob
die noch als normal anzusehen sind!" Der junge Engländer
stieß dies so unverblümt und verächtlich, so laut
heraus, daß es den Paarläufern nicht entgehen konnte.
"Aber Ray! Dämpf' doch ein wenig deine Stimme, ich
möchte die beiden Gentlemen nicht noch mehr verärgern!"
raunte ihm Willi zu. "Das ist mir egal. Ich sage, was mir auf der
Zunge liegt", äusserte der Engländer. "Und die Boys
haben nicht alle Tassen im Schrank!" Herausfordernd äugte er
hinüber zu den beiden, doch keiner zuckte auch nur mit der
Wimper.
Gut Nerven besaßen sie ja, Warran und Ted.
Ja, die hatten Nerven, die Australier.
* * *
Eigentlich hatte er nicht vorgehabt, das Mädchen Danica vor
Samstag zu besuchen. Aber Freitag nach der Auszahlung packte ihn
urplötzlich das Verlangen, die Jugoslawin wiederzusehen, und
zwar sofort. Er rief pflichtbewußt Mrs. Eger an, seine
Wirtin, sie möge das Abendessen ins Backrohr stellen. In
einem Hamburger-Laden nahm er einen kleinen Imbiß zu sich,
kaufte in Cellophanschächtelchen elegant verpackte
Süßigkeiten und rannte dann unruhig vor dem
Spitalsgebäude auf und ab, bis die abendlichen Besuchsstunden
anfingen.
Danica freute sich sehr über die Überraschung, und Willi
riß sich zusammen, um unbeschwert und launig zu wirken. Sie
lachte über seine Witze, und alle nachdenkliche Versunkenheit
löste sich in neckischen Gesprächen auf.
"Wann gehst du eigentlich schlafen, Danica?" erkundigte er sich
ernsthaft. So oft er noch gekommen war, hatte er sie beim Lesen
angetroffen oder sie lauschte der Musik aus den
Kopfhörern.
"Ich bin ein braves Mädchen. Ich gehe pünktlich um zehn
Uhr zu Bett. Das heißt, ich drehen das Licht ab und versuche
dann zu schlafen." Kokett verzog sie ihr Mündchen.
"Na, brave Mädchen gehen um acht Uhr zu Bett – damit sie dann
um zehn Uhr schlafen können!" scherzte der junge Mann. Das
war zwar alt, aber gut. Sie begriff den versteckten Sinn sofort
und wollte schon losplatzen, als sie sich ihrer kranken Nachbarin
erinnerte und das drohende Gelächter mit der Hand vor dem
Mund in ein Gekluckse verwandelte. Er sah in diesem Augenblick ihr
Profil, sah den mädchenhaften Zug in ihrem gealterten
Gesicht, das aufschießende Rotwerden ihrer bleichen Wangen,
das heitere Glitzern ihrer Pupillen und den leicht nach innen
gebogenen Nasenrücken.
"Wie eine orientalische Märchenprinzessin!" durchzuckte es
ihn wie ein Blitz. "Wie eine Ägypterin, eine Zigeunerin -
ach, ich weiß nicht was!" Ein exotisches Fluidum umgab sie,
das auf ihn im selben Moment zu wirken begann, ihn in den Bann
zog, als er die unbewußte Bewegung ihrer Hand beobachtete.
Die Lieblichkeit, die fremdartige, faszinierende Anziehungskraft
Danicas, die von nun an wie ein unentrinnbarer Zwang alle seine
Gedanken und Gefühle gefangen hielt, seine Handlungen
bestimmte und ihm das Wort "Liebe" in all seiner Bedeutung erahnen
ließ, begann in diesem Augenblick zu wirken.
Wie gebannt starrte er das vierundzwanzigjährige Mädchen
an. War sie ein Mädchen? Eine Frau – oder ein Kind? Von einer
Sekunde zur anderen schwankte er in seinem Urteil.
"Du, Willi! Ich möchte dich schlagen, weil du so schlimm
bist!" erwiderte sie nun endlich und hob den freien Arm. "Dann tu
es doch!" forderte er sie auf. "Ich möchte dich gerne
berühren, irgendwo. Wie sie wohl darauf reagieren
würde?" dachte er. "Wenn ich unter die Decke tasten
würde?" Er schämte sich, für wie billig hielt er
sie eigentlich? Eben hatte sie eine Zärtlichkeit gesagt,
hatte das Verlangen geäussert, seinen Körper zu
berühren.
"Zu dumm, wie lange wird sie wohl noch hier liegen müssen?
Möchte sie doch mal ganz sehen, nicht nur als Torso",
sinnierte er. "Bis dato kenne ich nur ihren Oberkörper, und
den nicht ganz." Er ergriff ihre Hand, die da auf der weißen
Decke ruhte. Welch schöngeformte, lange Finger sie
besaß.
Sie entzog sie ihm ziemlich heftig. "Nanu", dachte er,
"schließlich war das doch kein Verbrechen." Beleidigt
richtete er sich im Sessel hoch. Urplötzlich hatte die
Stimmung umgeschlagen. "Willi, ich muß dir etwas sagen."
Ganz ernst, beinahe feierlich stellte sie dieses Statement in den
Raum.
"Schon wieder?" fragte er sich.
"Wie lange wirst du hier noch liegen müssen? Ich möchte
mit dir einmal ausgehen. Willst du?" Sie ging nicht drauf ein,
sondern wiederholte: "Du, ich muß dir etwas sagen: Ich – ich
– ich bin kein gutes Mädchen. In Europa bin ich immer von
eine Party zu andere gegangen. Und überall ich wollte stehen
im Mittelpunkt, weißt du. Immer ich habe gesprochen, und die
anderen Leute zuhören. Meine Eltern haben gesagt, ich war ein
böses Kind, wie ich klein war. Wild und unfolgsam. Die
Geschwister sind alle gute Menschen, aber ich war immer gewesen
das böse Mädchen.
Weißt du, was ich getan habe in Wien, wie ich war in
Staatsopernaufführung, mit meine Mann...meine Boyfriend?"
"Was war ihr da herausgerutscht – mit 'mein Mann'?"
"Wir sind gesessen in Seitenloge, da habe ich einen alten Herrn
gesehen mit grauen Schläfen vis-à-vis, elegant
gekleidet. Ich habe zu meinem Freund gesagt, daß mir der
Mann gefällt, da er mich gefragt hat, wo ich mit dem
Opernglas hingucke. Da hat er mir eine runtergehauen, mitten in
der Vorstellung. Oh, alle Leute haben hergeschaut! Aber ich habe
getan, als ob nichts geschehen wäre und habe geradeaus
geblickt!" Sie hielt einen Moment inne.
"Siehst du, solche Sachen mache ich.
Alle meine Bekannten sagen, daß ich eine schreckliche Frau
bin. Und da willst du mit mir ausgehen?
Die meisten Männer laufen davon, wenn sie mit mir nur einmal
spazieren gegangen sind. Weil ich ein so schlechtes Mädchen
bin. Keiner hält es lange mit mir aus." Sie machte eine kurze
Pause und dachte nach: "Deswegen möchte ich am liebsten eine
alte Mann heiraten, der von mir nichts mehr verlangt und für
mich sorgt – und wo ich schreiben darf. Ich dichte nämlich
gerne, Willi!" Unschuldig harmlos blickte sie ihn an.
Was sie da so ungezwungen daherplapperte, ging meist garnicht so
rasch in den Kopf hinein, so schnell, wie sie es hervorbrachte. Es
erschien ihm aber nicht so wichtig, genau hinzuhören. Er
wollte sich nur keine ihrer Bewegungen entgehen lassen...
"Also in Wien war sie gewesen, zusammen mit ihrem Freund. Soso.
Und einen alten Mann will sie heiraten – lächerlich! Oder
hält sie auch mich zum Narren? Gar so helle scheint sie nicht
zu sein, eine enttäuschende Erkenntnis."
"Wie bist du überhaupt nach Wien gekommen?" erkundigte er
sich jetzt gedehnt. "Weil ich als Architektur-Studentin
Österreich und Deutschland bereist habe. Auch in Italien und
der Schweiz bin ich gewesen."
"Na, sieh mal an! Das ist aber eine nette Überraschung",
dachte er, dumpf auf Danica hinstarrend. In ihrer Gegenwart
fühlte er sich wie gelähmt, sein Denken funktionierte
nicht so reibungslos wie sonst. Alles was er vermochte, war sie
anzustarren, ihre Erscheinung in sich aufzunehmen, gierig wie ein
Verdurstender. "Gab es da nicht Widersprüche?
Hatte sie nicht beim letzten Besuch erzählt, daß sie
den Reisepaß nur unter großen Schwierigkeiten erhalten
habe? Wie in diesen Ostblockstaaten üblich? Wer hat diese
Besichtigungstouren finanziert?"
Er wagte nicht, danach zu fragen, dies hätte offenes
Mißtrauen bedeutet. Und die Erklärung würde ihn
vielleicht arg treffen...
"Du hast also einen Freund gehabt? Wie lange seid ihr miteinander
gegangen?"
"Etwa vier Jahre. Aber er war dumm: er hat mich einmal gefragt,
ganz wütend, ob ich ihn liebe oder nicht. Wenn er das nicht
selbst wahrnimmt, tut er mir leid!" Sie blickte Willi ganz
schnippisch an. Der lauschte nur fasziniert. Interessant, was
dieses Wesen alles zu berichten wußte. Vor allem, wie sie es
tat!
"Und sonst hast du keinen Mann kennengelernt?" Argwöhnisch
kam die Frage heraus. Oder vielleicht doch eifersüchtig?
"Aber ja! Das heißt, es haben viele bei mir um Liebe
gebettelt. Einige haben erklärt, sie würden sich
erschießen oder aufhängen, wenn ich sie nicht gern
habe." Sie betrachtete Willi eingehend, der zu ihr gebeugt, die
lässig hingeworfenen Bemerkungen begierig auffing. Dann
meinte sie gleichgültig: "Aber ich habe sie alle nur
ausgelacht."
"Das kann ich mir gut vorstellen, daß vor dir schon einige
auf den Knien herumgerutscht sind", dachte er. Und dann kam wieder
etwas, was ihn völlig aus dem Gleichgewicht warf: "Ich habe
es noch nie jemand erzählt, außer meiner Freundin, und
ich weiß nicht, warum ich es dir sage: Ich bin jetzt
vierundzwanzig Jahre alt, Willi, und ich habe mich noch nie
verliebt..."
Er vermied es, ihr in die Augen zu sehen, sondern blickte nur auf
den Stoff seines Anzuges nieder, den er mit den Fingern
nervös bearbeitete.
"Und ich werde wohl eher sterben müssen, bevor ich das
erlebe!" Witternd hob er den Kopf. Wie kam sie auf die absurde
Idee, jetzt vom Sterben zu sprechen? Das war doch blühender
Unsinn!
"Ach, das braucht dich nicht weiter zu beunruhigen", meinte er
verlegen. "Da, schau mich an! Bin um zwei Jahre älter als du
und ich habe die sogenannte 'Liebe' auch noch nicht kennengelernt.
Ich war zwar einigemale verliebt, aber die richtige, große
Leidenschaft wie im Roman, das habe ich noch nicht erlebt!"
Manchesmal vermutete er, daß diese junge Dame einen
überdurchschnittlichen Intelligenzquotienten besaß:
Ihre Anschauungen, Aussprüche und ihr Allgemeinwissen
verblüfften ihn geradezu. Dann kam sie plötzlich wieder
mit so kindischen, dummen Vorstellungen daher, wie mit dem
Sterben! Und er mußte wieder einige Punkte von ihrem IQ
abstreichen...
Da erwähnte Willi zum Beispiel, daß er in Australien an
Körpergewicht zugelegt habe. "Jetzt wiege ich bereits
vierzehneinhalb Stone, das sind etwa 88 Kg", rechnete er ihr vor.
"Viel, nicht wahr?" Sie schnitt darauf eine Grimasse und
korrigierte ihn mit leichtem Vorwurf: "Das stimmt nicht ganz. Ein
Stone entspricht ja 6,35 Kg!" Verdammt, das mußte ihm
passieren, als Techniker! Eine schöne Blamage vor dem
Mädchen hier. Auf die Dezimalstelle genau kannte sie den
Umrechnungsfaktor.
Ja, auf diese Weise merkte er bald, daß dieses exotisch
anmutende Weibchen mit den langen schwarzen Haaren ein
Geschöpf mit versteckten, tiefen Falten in der Seele war,
dessen Erforschung ihn immer wieder vor neue Rätsel stellte.
Diese junge Frau im Krankenbett war nicht so wie die anderen
Weiber die er bisher kennengelernt hatte, ausgenommen vielleicht
Beryl. Sie besaß Gefühl, Ausdruckskraft – und einen
überraschenden Scharfsinn. Er entdeckte täglich mehr
Eigenheiten ihrer Persönlichkeit. Ja, Danica besaß eine
Persönlichkeit, eine unvergleichlich erregende, wie keine
Frau zuvor in seiner Vergangenheit.
* * *
Mit einem Hochgefühl sondergleichen raste er am nächsten
Vormittag in Sydney herum. Er legte sich drei exquisite
Nylonhemden zu, pflegeleicht – jedes Bügeln erübrigte
sich dabei. Leider nicht das Waschen. Dazu wählte er zwei
passende Krawatten aus – und brachte es über sich, eine
passende vergoldetete Nadel zu erstehen. Dieser Anfall von
Protzerei ging eindeutig auf die Erkenntnis zurück, daß
er schon ein wenig auftrumpfen müsse, wollte er bei Danica
punkten.
Da er nun mal glänzender Laune war, suchte er einen
Altwarentrödler auf, dessen chinesischen Stickereien,
australische Landschaftsmalereien und dergleichen es ihm schon
länger angetan hatten. Mit zwei originalen
Quasi-Kunsterzeugnissen zog er von dannen. Zwei volle
Wochenlöhne weniger befanden sich nun in seiner Brieftasche,
aber es bekümmerte ihn nicht. Nun suchte er nach einem
würdigem Geschenk für Danica, er wollte nicht mit leeren
Händen bei ihr aufkreuzen. Mit einem Magazin in
serbokroatischer Sprache und einigen deutschen Illustrierten
machte er sich auf dem Weg zu ihr.
"Da, sieh mal, was ich dir mitgebracht habe!" rief er aus.
Danica saß aufrecht in ihrem Lager. Das erste was ihm
auffiel war, daß sie ihre Haare zu einem Knoten hochfrisiert
hatte, und – es verschlug ihm beinahe die Sprache – nur ein
hauchzartes Hemd ihren Körper bedeckte. Er wagte vorerst
garnicht, sie offen zu betrachten, denn er fürchtete, seine
Augen würden automatisch zu den zwei undeutlich
hervorschimmernden Hügeln wandern, die nur durch das feine
Gewebe verhüllt waren. Und Wunder über Wunder: Ihr
Gesicht war von einer hauchzarten, blutvollen Tönung
überzogen und die Wangen straff gespannt, was ihr etwas
ungemein Jugendliches und Süßes verlieh.
So entzückend und begehrenswert hatte er sie noch nie
empfunden.
Er schlug eines der Hefte auf und blätterte darin. Eine
Reportage über das Hansa-Viertel in Berlin bewog ihn, sie
dafür zu interessieren. Unwillig glitten ihre Finger
über die Seiten. "Mir gefällt die Stadt nicht",
äußerte sie schließlich.
"Warst du denn schon einmal dort? Was hast du gegen sie?"
"Nein, das nicht. Ich weiß nicht, warum sie mir
unsympathisch ist", meinte sie mißmutig.
Der Österreicher war hell genug, um den Zusammenhang ahnen zu
können. Im Laufe ihrer Erzählungen war ein Schimmer
davon durchgedrungen, wie sehr die Bevölkerung ihres
Heimatlandes unter der deutschen Besatzung gelitten hatte. Ihr
Vater war an den Folgen eines Krieges umgekommen, dessen
Brandstifter in Berlin gesessen hatten. "Na, lassen wir das",
meinte er einlenkend und scherzte: "Ich hoffe, du wirst die
Illustrierten trotzdem lesen."
Er breitete eine farbenprächtige chinesische Stickerei vor
ihr auf der Bettdecke aus und zeigte ihr auch das Landschaftsbild
mit dem Motiv aus Zentral-Australien.
"Habe garnicht gewußt, daß es hier soetwas gibt",
staunte sie nach eingehender Betrachtung. "Was machst du damit?"
"Ich werde es meinen Eltern heimschicken", gab er zur Antwort. Sie
sah in lange und abwägend an. "Du bist ein guter Bursch!"
stieß sie hervor. Er war ehrlich betroffen. "Ja, aber warum
denn?" fragte er sie. "Na, das tut doch nicht jeder, daß er
an die Familie zuhause denkt! Ich habe meiner Schwester in
Jugoslawien einmal zehn Pfund geschickt." Ihre Lippen
kräuselten sich geringschätzig: "Darauf hat sie mir
geschrieben, daß ich die beste Schwester der Welt sei."
"Siehst du! Und Fräulein Danica selbst betrachtet sich als
schlechtes Mädchen!" entgegnete er lachend. "Übrigens,
woher stammt dein gutes Deutsch?"
"Ich habe natirlich in Schule Deutsch gelernt. Und meine Mama hat
immer gepredigt: Danica, lerne fleißig, du wirst es nie
wissen, wie du es einmal wirst brauchen können!"
"Ja, aber in der Schule allein kannst du doch nicht so einwandfrei
..."
"Willi, du sollst nicht sagen, daß ich so gut spreche, denn
damit setzt du die Frau in mir zu hoch hinauf. Das ist nicht gut!
Verstehst du?" Schnell und energisch war sie ihm in die Rede
gefallen. "Typisch Slawin", dachte er. "Braucht einen Mann, der
sie niederhält."
Wochen später allerdings grübelte er nach, ob diese
Erklärung von ihr nicht einzig und allein dazu gedient hatte,
um weitere Fragen in diese Richtung ein für allemal
abzuwürgen.
Beiläufig erwähnte sie noch, daß sie perfekt
italienisch und ein wenig russisch spreche. "Aber so gut wie du
Englisch beherrscht, kann ich keine Fremdsprache. Außer
Italienisch. Alles nur halb, weißt du Willi!" Sie war
einfach zum Fressen lieb...
Eine malaische Studenten-Pflegerin trat lautlos in das Zimmer ein
und servierte Tee, Milch, Zucker und Butterbrote. Danica sprach
sie auf Deutsch an, schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn
und bat sie dann auf Englisch, sie möge den Tee wieder
mitnehmen. "Das passiert mir oft, daß ich die Sprachen
durcheinander bringe", erklärte sie ihm. "Da siehst du
wieder, wie dumm ich bin."
"Das geht mir doch genauso", tröstete sie Willi.
"Wenn jemand bei mir ist, kann ich außerdem nicht so gut
denken. Ist das bei dir auch so...?" Weitgeöffnete braune
Augensterne strahlten ihn warm und tiefgründig an. Sollte er
ihr gestehen, daß ihre Gesellschaft nicht allein seinen
Denkapparat paralysierte sondern ihm auch den Atem raubte? Eine
Pause entstand. Die beiden Verliebten grübelten und schwiegen
vor sich hin.
Sie setzte vorsichtig tastend ein paar Worte in den Raum:
"Willilein, ich habe gestern Nacht, nachdem du fortgegangen bist,
noch ein Gedicht geschrieben."
Auf seinen Zügen breitete sich Erstaunen aus: "Was für
ein Gedicht denn?"
"Ach, nur ein kleines Liebesgedicht."
"Ein Liebesgedicht?? An jemand Bestimmten gerichtet?"
"Wenn ihr Hemd nur nicht so durchsichtig wäre, das macht mich
ganz verrückt!" Nervös rieb er sich die Stirn.
"Nein, nur ganz allgemein – eben ein Gedicht!"
"Bitte Danica, zeig es mir! Wo hast du den Zettel?" Vorsichtig
tastete er nach ihrer Hand und berührte sie behutsam. Sie
zuckte wieder zurück, ließ es jedoch geschehen,
daß er ihre Finger umschlossen hielt. "Gut...Aber du darfst
nicht lachen! Ich werde es dir vorsagen, aber es wird nicht
schön sein, weil ich mußte viele Wörter aus dem
Dictionary heraussuchen. Kann mich in Deutsch leider nicht so
ausdrücken, wie ich möchte..."
"Also los, ich bin gespannt!" forderte sie der junge Mann in
betont forscher Weise auf. Sie entzog ihm ihre Hand, setzte sich
zurecht und begann einen Text zu deklamieren, der ihm nur neues
Kopfzerbrechen bereitete: "Daß ich Dich liebe, darf ich
nicht sagen..."
Fasziniert von dem leicht klagenden Unterton in ihrem Vortrag, vom
Zauber dieser Minute, verschwamm ihre Stimme in die Unendlichkeit
von Zeit und Raum, füllte sein Inneres mit einem Brausen, das
Sturmesgewalt annahm. Nur undeutlich drangen die
Schlußzeilen wieder in sein Bewußtsein: "...Aber meine
Augen haben es Dir verraten..."
Verlegen hielt sie nun inne. Die Minuten verrannen, abwartend,
spannungsgeladen. Er hätte sie am liebsten in die Arme
gerissen, aber es war eben nicht möglich. "Du, Danica! Wann
kannst du endlich aus diesem verfluchten Bett steigen?"
stieß er rauh hervor.
"Bald schon, Willilein. Vielleicht bereits nächste Woche...",
vertröstete sie ihn. Und mit einem berückendem
Augenaufschlag, mit einer Stimme, dahingehaucht und geheimnisvoll
dunkel vibrierend, flüsterte sie: "Dann kannst du mir geben,
was ich brauche. Du verstehst doch?" Und ob er sie verstand.
"Bist doch ein ganz schön raffiniertes Persönchen",
dachte er beim Hinausgehen.
* * *
In der verrückten Hitze dampfte der Bummelzug durch die
Gegend und brachte Anton Melzer und Willi zu einer Bahnstation
nahe des Georg River. Auf dem Zehnminutenweg zum Quartier seines
Freundes brach Willi der Schweiß aus allen Poren so heftig
hervor, daß das Hemd unter den Achseln klatschnaß
war.
Der stämmige Anton, von Natur aus mit einer Neigung zum
Bluthochdruck, verfärbte sich im Gesicht bald krebsrot und
verfluchte das Land wiedereinmal nach Strich und Faden. "Aber es
läßt dich ja nicht mehr los!" lamentierte er drauflos.
"Gerade wir Burschen aus echtem Schrot und Korn, voll Saft und
Kraft, müssen unter diesem Affenklima leiden. Noch ein paar
Sommer, und ich geh' drauf..."
Willi begriff seinen alten Freund nur zu gut. Ihr junges Blut
rumorte und kochte in den Adern, wurde aufgeheizt durch vierzig
Grad im Schatten, verlangte nach Energieabfuhr, die ihnen die
Arbeit allein nicht bieten konnte.
Zwar, wenn es dem vitalen Toni zu bunt wurde – er suchte und fand
immer ein Notventil. Seine diversen Gespielinnen saßen in
den verschiedensten Orten um Banston, und er suchte sie alle
turnusmäßig auf. Es spielte dabei keine Rolle, welchen
Alters oder Standes das betreffende Weib war. Am liebsten zog er
jedoch verheiratete Frauen vor.
"Da kann nicht viel passieren", lautete sein Wahlspruch. Als
Willis altvertrauter Freund berichtete er von so manchem seiner
amorösen Abenteuer. Während sie also auf dem
glühendheißen Leder der Zuggarnitur nach Luft
schnappten, erzählte ihm Willi von einem Besuch, einer
australischen Bekannten von Mrs. A.: "Wie stolz sie ihr Enkelkind
vorgezeigt hat! Da hat sie den strampelnden Säugling
hochgehoben und mit Genugtuung gefragt: 'Hat er nicht eine
herrlich weiße Haut? Und schon soviele Härchen auf dem
süßen Köpfchen!' Ooch, protzte die mit dem Kind
herum! Schließlich ist ja die Mama auch sehr hübsch, da
ist das ja ganz natürlich", schloß Willi seinen
Bericht.
Anton lümmelte sich auf die Bank hin, legte
genüßlich die Beine neben Willi lang und ließ
dann genießerisch die Worte über die Lippen
fließen: "Ich weiß, lieber Willi!"
"Was, die kennst du auch?" fragte ihn der entgeistert.
"Und ob. Ziemlich genau sogar."
"Gib doch nicht so an!" herrschte ihn sein Freund an. "Ihr Mann
ist doch ein gutsituierter höherer Angestellter in der City!
Möchte bloß wissen, wie du zu einer solchen
Bekanntschaft kommst!"
"Das sind eben die Vorteile einer Nachmittagsschicht", klärte
ihn Anton vergnügt auf. "Vormittags stehen die meisten
Männer in der Tretmühle. Aber Anton Melzer, der arme
Hund und Hilfsarbeiter, hat da frei. Untätig und gelangweilt
sitzen auch die Ehefrauen dieser sich abrackernden Männer
zuhause herum. Warum soll ich da nicht eingreifen?
Hier hat doch jede Frau nebenbei ihren Boyfriend. Die sind doch
nicht voll ausgelastet, die Weiber in Australien.
Sonst würde es nie für alle reichen!"
"Willst...willst du damit andeuten, daß – dieses Baby -
einen Vater aus Europa hat?"
"Beschwören kann ich es nicht. S i e wird es kaum
bestätigen. Aber nach den äußeren Symptomen zu
urteilen – und nach dem Zeitpunkt der Geburt: ja!"
Willi schüttelte den Kopf: "Ich bin erschüttert
über deine Lebenseinstellung. Aber vielleicht hast du recht
damit. Auf jeden Fall tust du dir leichter als wie ich." Er
erzählte Toni dann von Danica, schilderte Aussehen und
Lebensumstände in allen Details, bis ihn sein Freund
unterbrach: "Mir kommt fast vor, du bist verliebt. Mach' dir nur
keine großen Hoffnungen. Merk' dir eins: hier fliegen die
Weiber nur aufs Geld. Aber nur!"
Der verliebte junge Mann protestierte zwar gegen diese
Unterstellung, aber er wußte genau: Anton hatte in seinem
Leben zwar nicht viele Bücher gewälzt – aber auf eines
verstand er sich – auf Frauen. Da durfte man ihn beinahe einen
Künstler nennen. Mit untrüglichem Instinkt gabelte er
sich bei den unmöglichsten Gelegenheiten seine Partnerinnen
auf. Vor dem Kino, am Rennplatz, in der Eisenbahn, beim Baden.
Für Anton stellten dies alles nur ergiebige Jagdgründe
dar. Allerdings, so vermutete Willi, gingen ihm immer nur eine
bestimmte Sorte Weiber ins Netz. Immerhin...
"Heute ist es richtig zum Verrücktwerden", stöhnte nun
Willi seinerseits. Wie leblos hingen die Reisenden in den Sitzen.
Niemand ließ ein Wort fallen. Man hörte in den
Eisenbahnzügen sowieso selten Konversation, selbst
Liebespaare saßen stumm nebeneinander. Nur die Bodgies und
Witchies schlugen dafür doppelt soviel Krach.
"Vielleicht sollte man das Fenster öffnen, damit der
Fahrtwind etwas kühlt", überlegte Willi und
rüttelte am Rahmen. Erschrocken prallte er zurück, der
Luftstoß traf ihn wie der Gluthauch eines Hochofens. Aus dem
toten Inneren, aus den unendlichen Sand- und Steinwüsten
dieses uralten Kontinents, bliesen unheimliche Winde, aufgeheizt
durch die unbarmherzig sengende Sonne. Die Konturen der Objekte
flimmerten, um die Bäume und Sträucher, Häuser,
Autos und Straßen stieg dampfende Luft ventilierend nach
oben, saugte das letzte Äderchen Wassers aus dem Boden,
ließ die Erde brechen.
Klaffende Risse durchzogen die Oberfläche, das Laub verdorrte
auf den Ästen, das Gras schrumpfte strohtrocken ein.
Der Glutwind nahm den keuchenden Menschen den Atem, trocknete ihre
Lebenssäfte aus. Viele schlichen herum wie wandelnde
Gespenster.
Die Sonne am Nachmittagshimmel verfärbte sich blutrot,
verformte sich wegen der starken Strahlenbrechung durch die
Myriaden feinster Aschenteilchen, die durch die tobenden
Buschbrände hochgerissen wurden, in die Gestalt einer
verhutzelten Kartoffel.
Die Brände waren bereits bis auf wenige Meilen an die Vororte
von Sydney herangerückt. Katastropheneinsätze
mobilisierten große Teile der Bevölkerung. Man sammelte
Geld für die unschuldigen Opfer dieser Naturgewalten.
"Mensch, Anton! In welches Land sind wir da geraten?" fragte
Willi, nachdem sie sich in dem relativ kühlen Wasser des
Flusses etwas erfrischt hatten. Eine niedrige Wasserwehr lag
hundert Meter weiter flußabwärts, der Newcomer wollte
darüber hinausschwimmen, doch Anton warnte ihn eindringlich:
"Tu das nicht! Die Haifische dringen oft im Süßwasser
die Flüsse entlang ein, da bist du nur
flußaufwärts, vor dem Wehr sicher!"
Unvermittelt begannen sie von den eiskalten Bergseen ihrer Heimat
zu schwärmen, wo solche Gefahren jedenfalls nicht lauerten.
"Sakrament, ich würde auf dieses ewige Scheiß-Cola mit
Freuden verzichten, wenn ich nur einen Schluck von dem Quellwasser
trinken könnte, damals auf unserer Tour in den Bergen
Salzburgs. Erinnerst du dich noch?" Der harte Bursche neben Willi
wurde auf einmal ganz weich und in seine Augen trat ein
verräterischer Glanz. "Ist ganz egal, was aus mir wird. Ich
fahre in einigen Jahren wieder nach Hause. Ich muß raus!
Hier habe ich zwar mein gutes Einkommen, von gesichert keine Rede,
aber auf die Dauer ist das ja doch nicht auszuhalten.
Du mußt krepieren, ob du willst oder nicht!"
Nachdenklich warf Willi die Frage auf: "Und was ist mit den
Einheimischen, die da bleiben müssen?"
"Die? Die kennen ja nichts anderes. Na, du weißt ja
selbst..." Er vollendete den angefangenen Satz nicht mehr.
* * *
Jeden Morgen traf Willi Höger am Bahnsteig von Banston mit
einem verheirateten Bundesrpublikaner zusammen, der in die gleiche
Fahrtrichtung fuhr. Vom Beruf war er Optiker, und mit seinem
australischen Boss sehr zufrieden.
In den langen Gesprächen der beiden Männer, tauchte
immer wieder die Erwägung einer Rückwanderung auf, doch
die eigenen Zweifel an der Sinnhaftigkeit eines solchen
Entschlusses ließ sie wanken. "Man erwartet sich zuviel,
auch von den Menschen in der Heimat, und ist dann nur wieder
enttäuscht", meinte der um einige Jahre ältere
Pendler-Gefährte; und Willi konnte ihm nur beipflichten. Wie
hatte es Hugo Prattert, sein alter Buschkumpane einmal
ausgedrückt: Du wirst zuhause genauso allein sein wie hier!
Willi Höger hatte diesen Ausspruch nicht mehr vergessen
können.
Die Viertelstunde gemeinsamer Fahrt war randvoll ausgefüllt
mit pausenlosen Dialogen zwischen den beiden
Mitteleuropäern.
Die Themen waren weitgestreckt und drehten sich doch im
wesentlichen nur um einen einzigen Punkt: Die Einsamkeit des
Menschen von Heute.
Beim Reden kommen die Leute zusammen, ein altbewährtes
Sprichwort. Wie wahr! Und wie wenig wurde und wird es befolgt. Wer
nahm sich denn hier Zeit und Mühe, die Sorgen des
Nächsten anzuhören, ohne gleich verstohlen auf die Uhr
zu sehen? Wieviele Vorurteile und Mißverständnisse
ließen sich durch Gespräche zwischen den Australiern
und Einwanderern aus der Welt schaffen. Jeder einzelne würde
erkennen, daß auch das noch so fremdartig wirkende
Gegenüber sich im Grunde mit denselben menschlichen Problemen
herumschlägt. Das müßte doch eine Brücke
zwischen den beiden Lagern schlagen, aber man unterläßt
es.
Warum? Weil der Australier denkt, warum soll ich mich mit dem
armen Schwein von Einwanderer befassen? Je mehr ich ihn
unterstütze, finanziell und insbesondere moralisch, desto
festeren Boden gewinnt er unter den Füßen. Und wer,
bitte, will schon die zukünftige Konkurrenz fördern?
Und auf der anderen Seite, der Einwanderer? Warum soll er sich mit
diesen provinziellen Lümmeln von Australiern herumschlagen,
die ganz verblüfft sind, wenn man ihnen erzählt,
daß zum Beispiel das Fernsehen im armen Süden Italiens
schon längst zum Allgemeingut gehört – lange vor der
Installation der Television in Australien. Die staunen, daß
man sich auch in Deutschland einen Kühlschrank relativ leicht
zulegen kann. Die nicht wissen, daß Österreich vor und
nicht hinter dem Eisernen Vorhang liegt. Die glauben, daß
dessen Bewohner an Unterernährung dahinsiechen – und nur die
Auswanderung nach Australien der letzte Ausweg vor dem qualvollem
Hungertod ist.
Dabei ließen sich alle diese Angelegenheiten, Probleme und
Themen in aller Ruhe diskutieren, gemütlich bei einem Glas
Bier um einen Eichentisch sitzend. Nein, das geht nicht! Da fehlt
der Tisch, um den sich die Gesprächspartner gruppieren
können: Hier steht man ja an der Theke! Außerdem liegt
der Zapfhahn zu nahe, man säuft deshalb zuviel, damit ist
wieder die ganze Urteilskraft im Eimer...
Ja, so war'ns, die beiden Europäer, immer auf der Achse,
immer mitten drin im aktuellen Tagesgeschehen.
* * *
Zum zweiten Male lag Weihnachten in der Fremde vor der Tür.
Jedoch das Geheimnisvolle, die besondere Stimmung und Vorfreude,
die Menschen in den gemäßigteren Klimazonen Europas da
heimsucht, fehlte vollständig.
Surrend kam der Ventilator auf Touren, die Flügel würden
bis zum Abend nicht mehr stille stehen. Der Cleaner, ein
Australier, pflegte um diese frühe Morgenstunde den
Büroraum zu reinigen. "Es ist verdammt schwül, bereits
am frühen Morgen!" begrüßte in Willi. "Ja, und es
gibt Menschen, die andauernd vorwärts drängeln. Als ob
die Arbeit nicht unangenehm genug wäre, speziell in diesen
Monaten!" Knurrend sandte der Alte einen Giftpfeil ab.
Darüber konnte Willi nur lächeln. Das galt ihm, er
schuftete denen zu viel. Nun gut. Er mußte sich mit etwas
beschäftigen, ganz egal womit. Es war ihm einfach
unmöglich, untätig herumzusitzen.
Er schlug die Zeitung auf und vertiefte sich darin.
" Die Arbeitslosigkeit ist so groß, daß die
Neuaustralier die Unionsbeamten zu bestechen versuchen. Sie sind
so verzweifelt, daß sie Fünf- und Zehnpfundnoten auf
den Tisch legen oder in die Taschen der Angestellten zu stecken
versuchen.
Sie glauben, sie können hier Arbeitsstellen kaufen!
Gestern war e i n e Stelle für einen Job in der Bauindustrie
ausgeschrieben – und 36 Männer sprachen vor."
"Mensch, da habe ich aber Schwein gehabt, innerhalb einer Woche
diese Arbeitstelle zu finden", überlegte Willi. Mit
heimlichen Vergnügen dachte er an die ersten Tage in Sydney,
wie er nach dem entmutigendem Start versucht hatte in einer
Schokoladenfabrik unterzukommen: Um sechs Uhr früh standen
dort bereits an die hundert Arbeitssuchende.
Es lohnte sich also, diese Anstellung bei W. Foundry Pty unter
allen Umständen zu halten, bis...?
Bis wann?
Der Arbeitsminister hatte erklärt, daß kein Grund zur
Beunruhigung vorliege. Sicherlich nicht für ihn, den sehr
geehrten Herrn Minister. Okay, wollen's ihm glauben. Der Optiker
jammerte ihm auch jeden Tag vor, daß für seine Gattin
einfach kein Job aufzutreiben sei. Die Lage am Arbeitsmarkt
verschlechtere sich merkbar, von Jahr zu Jahr.
"Früher fand einer Arbeit, ob er nun englisch gesprochen hat
oder nicht. Heutzutage genügt das nicht mehr den
Anforderungen. Man verlangt Diplome und Spezialausbildung.
Australien ist aus den ersten Schwierigkeiten der
Industrialisierung heraussen. Mit dem 'über dem Daumen
peilen' ist es vielfach vorbei. Die Fabriken sind errichtet und
funktionieren, die Maschinen wollen nun von fachkundigem Personal
bedient werden. Man h a t jetzt die Auswahl an Menschen – dank des
großzügigen Einwanderungsprogramms der Regierung. Wir
Einwanderer sind als Arbeitskräfte-Pool, als Reservoir
vorgesehen. Uns kann man jederzeit als Druckmittel einsetzen, als
Lohndrücker – wenn die Aussies selbst vielleicht nicht so
richtig spuren wollen.
Ach, was erzähle ich Ihnen da! Das wissen Sie doch alles
selbst..."
So war das heutige Morgengespräch verlaufen.
Und jetzt, in der Affenhitze, wollten sie eben nicht, die Aussies.
Da saßen sie mit hängenden Köpfen und
brüteten vor sich hin. Die Europäer dagegen, meist
unverbraucht, versuchten die Durchschnittsleistungen trotz der 40
Grad aufrecht zu erhalten.
Und mit dieser Einstellung fingen die Unstimmigkeiten auch schon
an.
Es sollte ein heißer Tag werden für Willi Höger,
dem Draftsman bei W. Foundry Pty. Eine Weile vertrieb er sich
schläfrig die Zeit mit Nachdenken über seine Danica.
Seine Danica? Das war doch ein ziemlicher Zugriff auf die Zukunft.
Das Problem, wie sie die Monate nach der Entlassung aus dem
Krankenhaus zubringen würde, beschäftigte ihn. So weit
ihm bekannt war, suchte sie einen Job. Einige vage Ansätze,
ihr dabei zu Hilfe zu kommen, hatte er schon unternommen. Aber es
war daneben gegangen. "Warum willst du nicht zu deinem vorherigen
Chef ins Fotostudio zurückkehren?" hatte er sie gefragt. "Ach
weißt du, der sieht mich zu gerne – liebt mich angeblich.
Und ich will aber nicht!" hatte sie ihn aufgeklärt.
Natürlich, das kommt vor, überall. Und war ein
plausibles Argument.
Warran, der Ingenieur trat an ihn heran: "Heh, Willy! Nimm bitte
ein Stück Papier und einen Maßstab. Zeichne mir bitte
die Verankerung der XP-5 Pumpe draussen im Workshop ab, will
you?"
Natürlich wollte er.
Der Australier stand mit den Gießereiarbeitern auf
einigermaßen gespannten Fuß, deshalb zog er es vor an
seinem Schreibtisch sitzen zu bleiben. Willi streifte durch die
Hallen, die verrußt und halb verfallen dastanden. "It's a
shame!" hatte Ray gleich am Beginn seiner Tätigkeit
geäussert.
Nun, ihm konnte es ja egal sein. Den Blicken der staubverkrusteten
Arbeiter wich er aus, wo er nur konnte. Die waren um diese
Jahreszeit wirklich nicht zu beneiden.
Wahrscheinlich rief allein sein Anblick mißmutige
Gefühle bei ihnen hervor. Schließlich spazierte er in
einem reinen weißen Hemd durch die Gegend, war ein
Bürohengst.
"Bloody bastard!" – "Fucken German!"
Halblaut gemurmelt, drangen die gräßlichsten
Flüche und Verwünschungen an sein Ohr. Nur nicht
umsehen, nur nicht reagieren! Er marschierte jetzt an den
Sandgruben und riesigen Gußkästen vorbei, ohne nach
links oder rechts zu gucken. Bis jetzt war alles gut gegangen.
Er näherte sich der nächsten Gruppe dreckiger Kumpel.
Plötzlich rissen drei ihre Presslufthämmer wie Gewehre
an die Schultern und salutierten höhnisch.
Mach jetzt bloß gute Miene zum bösen Spiel, ermahnte er
sich. Ein flüchtiges, ein verzerrtes Grinsen, stahl sich um
seine Mundwinkel.
"Verschwinde, verdammtes SS-Biest!!" knurrte es aus dem
Hintergrund, in seiner Muttersprache, und sehr deutlich. Er
beeilte sich, davonzukommen. Niedergeschlagen ließ er sich
im Büro auf den Stuhl fallen. Ehemalige Ostarbeiter befanden
sich also unter der Arbeiterschaft – Polen, Rumänen,
Tschechen...
"Die werden mir noch so manches zum Auflösen geben", dachte
er entmutigt. Er fühlte sich einigermaßen unbehaglich
in seiner Haut. Überlegten die nicht, daß er im Dritten
Reich noch ein Kind gewesen war? Was konnte er persönlich
dafür, daß man sie im Krieg nach Deutschland
zwangsverpflichtet hatte? War denn die ganze Menschheit
verblödet? Mißmutig erledigte er weiter seine Pflichten
und beeilte sich dann, nach Hause zu kommen. Der Vorfall hatte ihn
schwerer getroffen als er vor sich selber zugeben wollte.
Er versäumte den Anschluß in Williamstown, da er wegen
der Hitze zu saumselig dahingeschlichen war. Gierig stürzte
er ein Mixgetränk hinunter und begab sich auf den
Bahnsteig.
Der Bahnwärter torkelte mit den Bewegungen eines Besoffenen
durch das Gelände. Seine Brusthaare lugten zwischen der breit
ausgeschlagenen Uniformbluse hervor, die Mütze hockte schief
am Hinterkopf. "Williamstown – Camden!" gröhlte er los und
steckte die gelbe Tafel mit den Ortsnamen ein. "Das ist
unmöglich! Der nächste Zug kann nicht dorthin
auslaufen!" ereiferte sich die Volksstimme. "You are right! Sorry
mates!" seufzte der Geplagte nur und hing die richtigen
Hinweistafeln aus.
Tatsächlich, der Kerl war stockbesoffen! Die einzige Art und
Weise, wie er seinen Dienst in der prallen Sonne überhaupt
verrichten konnte...
Mrs. Eger lag im abgedunkelten Zimmer und teilte Willi mit
schwacher Stimme mit, er möge entschuldigen: das Abendessen
sei noch nicht fertig. "Jahrelang war es nicht so schlimm wie in
diesem Jahr", klagte sie. "Ich bin ganz fertig. Dazu melden sich
meine chronischen Unterleibsschmerzen wieder. Willi, hören
Sie? Nehmen Sie sich aus dem Kühlschrank etwas raus." Mrs.
Eger hatte den ganzen Tag am Küchenfußboden liegend
verbracht, das war die kühlste Stelle im ganzen Haus. "Und
das Wasser geht auch schon wieder zu Ende. Kaum, daß zum
Kochen genügend aus der Leitung rinnt. Aber wenn es morgen
wieder so unerträglich heiß ist, lasse ich die
Badewanne einmal vollaufen, ist mir ganz egal. Und wenn sie mich
dabei erwischen!"
Die Sommermonate begannen also grausam. Unter dem Einfluß
der hohen Temperaturen waren in den letzten Tagen einige Babys
gestorben. Aber noch hatten sie die zu erwartenden
Maximaltemperaturen nicht überfallen...
Der norddeutsche Mieter war heute ausgezogen, er hatte eine
Solo-Unterkunft gefunden, näher bei seiner
Arbeitsstätte. An seine Stelle rückte ein
Österreicher nach, der bereits in den nächsten Tagen
einziehen würde.
Erschöpft lag Willi am Bett und hörte sich das
Gesäusel von Jean an. Umständlich knüpfte der eben
ein Badetuch über die zuvor sorgsam behandelten Haare und
schmierte sich anschließend das Gesicht mit einer Fettcreme
ein. Seinem Mund entglitt dabei unablässig ein wahnsinnig
sinnloses und lächerliches "Fucken-fucken-fucken..."
Offensichtlich empfand er beim Aussprechen dieses obszönen
Wortes einen sexuellen Genuß..."Ich habe wieder meine Frau
vor dem Kino gesehen, ich..."
"Hör' bitte auf! Das interessiert mich jetzt nicht!" fuhr ihn
der Österreicher gereizt an. "Bleib mir vom Leib mit der
endlosen Geschichte deiner Ehe! Die kenne ich schon auswendig!"
Der andere verstummte augenblicklich.
Traurig warf er Willi später vor: "Aber wenn du mir von
Danica erzählst, dann bin ich dir gut genug zum zuhören,
was?"
"Also schieß los, wenn du es nicht lassen kannst", lenkte
Willi mißmutig ein und ergab sich seinem Schicksal.
Während ihn die Worte des Gefährten umspülten,
ließ er die letzte Begegnung mit Danica an seinem geistigen
Auge vorüberziehen.
"Kommst du am Mittwoch? Bitte! Ich bezahle dir die Fahrt, wenn ich
aus dem Krankenhaus heraus bin!" Anscheinend lag ihr wirklich
etwas an ihm. Sie hätte garnicht so betteln müssen, er
sehnte sich ohnehin nach ihr. Gerade jetzt, in diesem
Augenblick.
* * *
Der beißende Rauch der Buschfeuer rings um Sydney rief einen
sauren Geschmack auf seinem Gaumen hervor, als er zu ihr eilte. In
wenigen Minuten würde er bei ihr sein, dann war für
eineinhalb Stunden alles vergessen, was ihn bedrückte.
Noch niemals hatte er von seinen Schwierigkeiten mit den
Arbeitskollegen erzählt, wenig hatte er bisher aus seinem
Leben berichtet. Er spielte den starken Mann, der kam, um sein
Mädchen zu trösten. Aber vielleicht war dies auch
umgekehrt der Fall?
Die Besuchsstunden wurden ihm bereits zur Gewohnheit, das
rätselhafte Wesen Danica zog ihn magisch an. Es war sonderbar
mit ihr: es schien ihm, als grüble sie unablässig
über einen Punkt nach. Nur, er ahnte nicht, was es war.
Danica lag flach und klein unter der Bettdecke, als er eintrat.
Ungewöhnlich abgespannt. Ihr Busen hob und senkte sich
merklich. Ein abgedunkeltes Nachtlämpchen erhellte nur
notdürftig das Zimmer, dennoch fielen ihm die scharfen
Konturen in ihrem Antlitz auf.
"Hallo, kleines Mädchen, wie geht es dir?" Er zog einen
Sessel nahe an sie heran. "Habe heute wieder eine Operation hinter
mir. Es geht mir nicht gut." Ihre Stimme klang matt. Eine Welle
der Zärtlichkeit überflutete ihn. "Du!" flüsterte
er, griff nach ihrer Hand, die krampfhaft ein Taschentuch
umklammert hielt. Mit einer unwirschen Gebärde riß sie
sich los. "Was hat sie bloß?" dachte er verwundert. Tief im
Innersten gab es ihm einen Stich: "Sie will mich nicht! Sie
stößt mich zurück."
Sie führte das Tüchlein zum Mund und wischte
darüber. "Ich schäme mich. Ich schäme mich, Willi!"
wiederholte sie müde. Er versuchte den Sinn dieser
Äusserung zu erfassen, aber es gelang ihm nicht. Weshalb
brauchte sie sich zu schämen? Wegen ihrer Hilflosigkeit?
Seiner Zärtlichkeit? Oder wegen ihres schlechten
Aussehens?
Wenige Worte fielen an diesem Abend.
"Wann wirst du von hier weggehen können, Danica?"
"Nächste Woche, Willi."
Immer dieselbe Frage, dieselbe Antwort.
Seit Wochen zog sich das schon so hin. Er verabschiedete sich
früher als gewöhnlich. Eben wurde eine spanische Wand
vor das Bett der Nachbarin gezogen, hinter der die
Krankenschwestern die Frau entkleideten. Offensichtlich
störte er nur.
Aber irgendetwas lag dem Mädchen vor ihm noch auf dem Herzen,
sie drückte sichtlich herum. "Du willst mir etwas sagen,
Danica?" Verständnisvoll ermunterte er sie zum Reden.
"Ja", nickte sie unter Tränen, "aber ich kann es nicht. Ich
habe es noch niemandem, außer meiner Freundin, mitgeteilt.
Dir muß ich es aber sagen: ich habe etwas Schreckliches
getan, bevor ich Jugoslawien verlassen habe...Ich,..." Sie
stockte. Gequält blickte sie den jungen Mann an, der verlegen
zuhorchte.
"Nein, ich kann es dir jetzt noch nicht sagen. Bitte sei mir nicht
böse!" Er sah ratlos auf sie nieder: "Samstag nachmittags bin
ich wieder bei dir. Erhol' dich gut in der Zwischenzeit. Ich bring
dir dann etwas Schönes mit, ja? Servus – Darling!" Er huschte
über den Balkongang leise aus dem Raum.
In der Dunkelheit sah er am Horizont die Flammen lodern, es
brannte ringsumher. Es brannte auch heiß in seinem Herzen.
Welches Erlebnis sie wohl so bedrückte? Was lag ihr auf dem
Herzen?
* * *
Er suchte etwas ganz Exquisites. So durchstreifte er stundenlang
die Straßen der City, forschte in den Auslagen der Juweliere
nach, blickte da und dorthin. Alles, was da ausgestellt war, roch
nach Massenware. Gewiß, es fanden sich auch teure, herrliche
Stücke unter den Broschen, Halskettchen, Ohrclips und
Armbändern. Aber erstens konnte sich Willi das alles
finanziell nicht leisten, und zweitens wollte er seiner Danica
etwas verehren, das nicht gleich im nächsten Geschäft zu
kaufen war.
In einem Antiquitätenladen entdeckte er schließlich,
was ihm vorschwebte: ein Armband aus Silber, mit eingravierten
polynesischen Tanzszenen.
Die Verkäuferin, eine etwa 35-jährige Australierin,
nicht unhübsch und ziemlich smart, bemühte sich sehr.
"Ich möchte das Girl sein, das dieses Armband
erhält...anything serious?" Verblüfft hielt er inne. Die
Deutlichkeit des Antrags ließ nichts zu wünschen
übrig, aber zu einem Flirt war Willi momentan wirklich nicht
aufgelegt. "Bedaure, leider. Eine ganz ernsthafte Verbindung",
gestand er in scherzendem Tonfall. Er wollte die Gute nicht vor
den Kopf stoßen.
Später neckte er Danica ein wenig mit den Chancen, die ihm
die Frauen boten. Dann überreichte er ihr triumphierend das
Schmuckstück. "Probiere es doch an!" forderte er sie
neugierig auf. Das Mädchen versuchte es – es erwies sich aber
als zu eng, war nur für ganz schmale, balinesische
Frauengelenke geeignet.
"Da hast du es wieder. Es paßt mir nicht!" Gleichmütig
reichte sie ihm das Ding rüber. Trotzig über den
Mißerfolg und über die zur Schau getragene
Ungerührtheit, stieß er heftig hervor: "Gib her! Ich
werfe es einfach aus dem Balkonfenster. Damit ist diese
Angelegenheit erledigt!"
Verstimmt setzte er sich zurecht und reichte ihr seine Farbdias
zum Ansehen. Sein Stolz, seine Superaufnahmen. Nebenher berichtete
er von einer interessanten Begegnung auf einer der
Brückenpfeiler der Sydney Harbour Bridge: "Also ich treffe
dort oben beim Ausguck einen Chinesen aus Formosa, einen
Medizinstudenten. Spricht perfekt Englisch – und auch etwas
Deutsch. Und stell dir vor, Danica: er deklamierte mir stolz
einige Verszeilen von Goethe!
Hierzulande stellt sich der Durchschnittsbürger unter jedem
Farbigen zugleich einen ungebildeten Menschen vor. Die kommen sich
denen haushoch überlegen vor, bloß weil sie sich einen
Kühlschrank und ein Auto leisten können. Aber nebenbei
gesagt, so hart darf man wiederum nicht urteilen – auch
hierzulande finden zum Beispiel Schüleraufführungen
deutschsprachiger Klassiker statt. Aber bei einem Chinesen
imponiert einem das schon ein wenig!"
Er entwickelte vor ihr seine weitläufigen Kenntnisse
über China, nicht nur über Nationalchina, sondern auch
das Kommunistische China: "In wenigen Jahren werden sie die
Stahlproduktion von Großbritannien erreicht haben. In den
letzten fünf Jahren haben sie 5000 Techniker herangebildet -
mit Hilfe russischer Ingenieure. Tausende Schulen und
Krankenhäuser wurden erbaut und sonstige Errungenschaften der
Zivilisation eingrichtet. Im Rekordtempo!
Und hier ruht sich das Volk auf den Lorbeeren seiner
Pioniervorfahren aus. Die Geburtenrate ist nicht allzuhoch und
Einwanderer sind in der breiten Öffentlichkeit
unerwünscht. In Australien will man den jetzigen
Lebensstandard für eine Minderheit reservieren! Mögen
auch die Länder der dritten Welt von Menschenmassen
überquellen – hier wird Vogel Strauß-Politik betrieben.
Man will nicht bemerken, was in der weiten Welt vor sich geht,
glaubt, daß es ewig mit der Schlaffheit weitergehen wird,
mit der man hier alles angreift!"
Danica verfolgte seinen Eifer zuerst lächelnd, dann jedoch
mit zunehmend ernster Miene. Ihre großen braunen Augen
strahlten ihn an. "Interessierst du dich auch für Politik?"
fragte sie gespannt. "Ja glaubst du denn, ich laufe mit
Scheuklappen durch die Welt?" Sie lenkte beruhigend ein: "Man darf
den Leuten in Australien das alles nicht übelnehmen, sie
leben schon zulange isoliert auf ihrer Insel. Daher können
sie die Dinge nicht so sehen, wie wir. W i r müssen versuchen
mit ihnen gut auszukommen, wenn es bei der Intoleranz auch
schwerfällt."
Daraufhin berichtete er ihr wütend über den Vorfall mit
den Gießereiarbeitern. "Die hetzen die Aussies noch gegen
uns auf. Wer nicht viel weiß, dem kann man leicht alles
aufschwatzen!"
"Nimm's nicht so schwer, Willilein!"
Ganz seltsam schimmerten ihre Pupillen. Den Nacken, von
prachtvollem Haar umflossen, hielt sie leicht geneigt.
Hochaufgebettet ruhte sie im großen Kissen, feingliedrig,
weiß und lang ruhte der freie Arm neben dem Körper. Der
junge Mann ergriff sanft tastend ihre Hand, spielerisch glitten
seine Finger über die weiche Haut, strichen zum Oberarm
hinauf. Wie ein elektrischer Funke durchzuckte es da die beiden
Menschenkinder, die einsam und verlassen, inmitten der
täglichen Sorgen und Schwierigkeiten eines Emigrantenlebens,
aneinander Halt suchten. Lautlose Stille lastete über dem
Raum. Nebenan ächzte die todkranke Australierin, in einem
dünnen Strahl floß eine Traubenzuckerlösung aus
dem Infusionsgerät in ihre Venen.
Er zögerte, seine Hand unter den kurzen Ärmel ihres
Hemdes zu schieben. "Danica!" hauchte er, und sein Griff wurde
fester. Trotz der Benommenheit seines erotischen Taumels,
fühlte er, daß er ihre sonst anscheinend kühlen
Sinne erregte. Keuchend versuchte er sein Verlangen nach ihr zu
bändigen. Jemand betrat das Zimmer, rasch zog er seine Finger
zurück, prüfte verlegen seine Fingernägel. "Keinen
Tee, nur Milch!" hörte er Danica sagen.
"Danica, ich muß jetzt gehen." Er erhob sich und streckte
ihr die Hand zum Gruß hin. Er wäre sonst an seinen
überhitzten Gefühlen erstickt. Sie verstand ihn
sofort.
Wortlos nahm sie seine Hand, preßte sie gegen ihre Brust.
Starr und innig hielt sie ihn fest. "Danke. Danke, Willi!"
Er stürmte hinaus, er lief auf die Straße hinunter. Am
liebsten hätte er die ganze Welt umarmt!
Sie liebte ihn!
Wie glücklich war er doch!
* * *
Die Familie Eger war vollständig beim Abendessen versammelt,
als Willi heimkehrte. Die Familie, das heißt Mr. und Mrs.
Eger und ihre Boys: Jean der Franzose, der junge Bäcker und
Eduard, ihr Neuer. Der Österreicher im besten Mannesalter
befand sich nicht gerade in bester Stimmung. Düster und
lustlos kaute er an der Mahlzeit herum. Bald kam es heraus,
weshalb.
"Habe eine Frau und zwei Kinder, bis vor kurzen jedenfalls noch",
erklärte er schlicht. "Nun hat sie sich einen Aussie
angelacht, der Vorarbeiter in einer Fabrik in der Nähe
unseres Lagers ist. Ich habe ihr die Sache am Anfang im Guten
auszureden versucht.
'Schau, denk doch an unsere beiden Kinder, unsere lieben Kinder',
habe ich ihr vor Augen gehalten. 'Ich habe immer für dich
gesorgt und uns zuhause eine kleine Wohnung eingerichtet.
Zwölf Jahre hast du es nun mit mir ausgehalten. Bis wir uns
entschlossen haben, hierher auszuwandern.'
Australien! Land der Zukunft!
'Bin ja stark. Werde schon Arbeit finden und uns ein Haus bauen.
Als Hilfsarbeiter wäre ich daheim ja doch nicht weiter
gekommen.' Wißt ihr, was sie mir da ins Gesicht geschleudert
hat? 'Was bist du denn schon! Ein D r e c k bist du!'
Dann hat sie sich aufgedonnert und ist mit den Kindern zu ihm
gezogen. In sein Haus, er hat ja schon eines...
Der Aussie fühlt sich dabei nicht recht wohl. Aber er hat sie
gerne und behält sie wohl bei sich...
Das werde ich nie vergessen: 'Ein Dreck bist du!' hat sie mich
angebrüllt."
"Ja, die Frauen verlieren bald das rechte Maß für die
Dinge um sie herum. Wenn sie erst einige Monate im Lande weilen,
steigt ihnen ihre urplötzliche Aufwertung in den Kopf",
bemerkte der Hausherr abschließend, mit einem schiefen Blick
in Richtung seiner holden Gattin. Er wandte sich Willi zu:
"Übrigens, Willi! Daß ich nicht vergesse: Für dich
kam vor einer halben Stunde ein Anruf von einer Dame. Sie hat sich
sehr gewählt ausgedrückt – sie hat mir gesagt, ich soll
Mr.Hoeger ausrichten 'Danica' habe angerufen. Ich soll ja nicht
vergessen: Danica."
Hocherfreut dankte er Herrn Eger. Oh, er war im Bilde, warum sie
ihn heute zum ersten Male angerufen hatte: Sie hatte sein
Verlangen nach ihr empfunden – und ihre Sehnsucht war geweckt
worden!
Gutgelaunt blieb er noch eine Weile bei seinen Kameraden und sie
plauderten ausführlich über das Thema Nr.1, die Frauen.
Jean tröstete den am Boden zerstörten Eduard, so gut es
ging und erzählte ihm natürlich von seinem eigenen
Mißgeschick. Einer holte aus dem nächsten Pub einige
Bottles Bier, der Franzose öffnete seinen geheiligten
Musikschrank und bald dröhnte eine übermütige Polka
aus dem Kasten. Man schlug sich auf die Knie und kreischte den
mitreißenden Text dazu, daß die Wände wackelten:
"Ja, das ist die Lichtensteiner Polka, mein Schatz, Polka
mein..."
Gott sei Dank, man war nicht allein.
Wohin man auch blickte, man war von Schicksalsgefährten
umgeben.
* * *
Seine Gedankenwelt war erfüllt vom Bild dieses Mädchens.
Von einem Besuch zum anderen vertiefte er sein Verständnis
für sie, das instinktive Begreifen ihrer
Persönlichkeit.
Die tägliche Routine ging ihm leicht von der Hand.
Hochmütig wies er die Intrigen und eifersüchtigen
Querschüsse seiner sogenannten Kollegen und Mitarbeiter ab.
Die zunehmende Gewißheit über Danicas Zuneigung machte
ihn fast unverwundbar gegen alle Angriffe, Spott und Hohn.
Versteckte Anspielungen berührten ihn nicht mehr.
Abends um sechs Uhr dreissig, gerade wenn er die letzten Reste der
von Frau Eger zubereiteten Mahlzeit hinunterschluckte, schrillte
täglich im kleinen Vorzimmer das Telefon. "Höger"
meldete er sich kurz, obwohl er genau wußte, wer am anderen
Ende der Leitung hing. Und die geliebte, dunkle Stimme schlug ihm
entgegen:" Wie geht es dir, Willi?"
"Danke, es geht mir gut", war eigentlich eine Unwahrheit. Aber er
wollte sie nicht mit seiner Sorge belasten, daß der geheime
Nervenkrieg, die Kämpfe unter der Oberfläche der
täglichen Konventionen, nicht ins Endlose fortdauern konnten.
Daß alles zu einer Lösung, zu einer explosiven
Entladung drängte.
"Wann glaubst du das Krankenbett verlassen zu können?" Seine
stete, drängende Frage. "Bald, noch vor Weihnachten,
Willilein." Ihre Gespräche am langen Draht ermangelten oft
der Ursprünglichkeit: er hörte die Burschen herumrumoren
und schämte sich, seine innersten Gefühle neben ihnen
auszubreiten und bloßzulegen. Aber Danica und Willi
verstanden sich bereits so gut, daß es nur weniger Worte
bedurfte, um a l l e s auszudrücken. Trotz der wunderbaren
Ereignisse der vergangenen Woche zweifelte Willi manchmal an ihrer
echten Zuneigung: Danica enthielt ihm irgendetwas vor, ganz
abgesehen von dieser Andeutung des "Schrecklichen, das sie vor
ihrer Abreise begangen habe." Er zerbrach sich den Kopf
darüber, was sie von ihm fernhielt.
Ganz aus dem heiteren Himmel seiner Liebe fiel er, als sie eines
Abends hervorstieß: "Ich will dich überhaupt nicht mehr
sehen! Bitte komm nicht mehr, laß mich gehen!"
Im ersten Moment verschlug es ihm vor Verblüffung die
Sprache, dann stieß er hervor: "Mach doch keine Witze! Das
kann doch nicht dein Ernst sein?"
Jetzt, nach all dem, was zwischen ihnen vorgefallen, rückte
sie mit einer solch unverständlichen Äusserung heraus?
Am Klang ihrer Stimme jedoch merkte er, daß es keiner ihrer
kleinen überraschenden Gags war, mit denen sie ihn manchmal
aufzog und testete, zugleich aber fühlte er die Anstrengung,
die es ihr kostete, ihm solches unverwunden zu sagen.
Rätselhaftes Geschöpf! Was steckte hinter der
melancholischen Verfassung, dieser verborgenen Trauer, die nach
Entsagung und Resignation roch?
Er nahm sich vor, sie beim nächsten persönlichen Kontakt
mit seinen Plänen zu konfrontieren, dann konnte sie nicht
ausweichen, war gezwungen, Stellung zu nehmen, und er würde
klarer sehen. In der jetzigen Art und Weise durfte es nicht so
weiter gehen. Mrs. Eger zog ihn in letzter Zeit schon mit dem
herunter gestrampelten Leintuch auf. Die halben Nächte
brachte er kein Auge zu, stundenlang gauckelten ihm die Sinne die
Umrisse seiner Geliebten vor, hielt ihn allein die Erinnerung an
den Klang und das Timbre ihrer Stimme vom Schlafen ab.
Auch Danica erklärte ihr müdes Aussehnen mit
Schlaflosigkeit, die sie allerdings auf das strickte
ärztliche Verbot, einzuschlafen, zurückführte. Aber
es war ihre Haltung ganz allgemein, die ihn verwirrte.
Da kaufte er ihr rote Nelken. Stolz trug er die Blumen in
Seidenpapier gehüllt durch das Menschengewimmel der
Straßen, niemals zuvor hatte er solches über sich
gebracht. "Hier, Danica, habe ich dir etwas mitgebracht. Gefallen
sie dir?"
Ihr Kirschenmund verzog sich zu einem gleichmütigen
Schmollen. "Da drüben in der Vase kannst du sie abstellen",
gab sie ruhig zur Antwort. Kein Dank, keine Freude, nichts!
Herrgott nochmal! Kannte sie nicht einmal die primitivsten Regeln
der Höflichkeit? Ein gemurmeltes "Danke sehr, wirklich nett",
hätte doch keinen Stein aus ihrer Krone gebrochen. Oder fand
sie derartige Aufmerksamkeiten so selbstverständlich,
daß es keiner weiteren Floskeln bedurfte? Dann durfte er
annehmen, daß sie einen großen Verehrerkreis
besaß, daß sie wohl an ganz andere Geschenke
gewöhnt war. Wortlos blieb er eine Minute auf dem Stuhl
sitzen.
Sie betrachtete ihn von der Seite und lächelte in sich
hinein. Was fand sie daran so komisch? Lachte sie ihn am Ende gar
noch aus? Spielte sie ihm vielleicht ein Theater vor? Durfte er
auch ihr kein Vertrauen mehr schenken, war gezwungen, jedes Wort
auf die Waagschale zu legen? Verdammt nochmal!
"Warum lächelst du so?" erkundigte er sich
argwöhnisch.
"Ach nichts, ich hab' dich nur beobachtet, wie du so wütend
dagesessen bist..."
Na, das klang wenigstens ehrlich. Übergangslos fing sie zu
erzählen an. "Gestern war eine Freundin von mir da, eine
Australierin. Sie spricht nur Englisch.
Da hätten wir beide in ihrem Beisein ohne weiteres über
Liebe sprechen können, und sie hätte garnichts
mitbekommen...", meinte sie schnippisch.
Vor einigen Tagen erst hatte sie ihm am Telefon mitgeteilt, sie
wolle ihn überhaupt nicht mehr sehen, verweigerte aber jede
Angabe eines Grundes. Nun tat sie so, als ob es für einen
jungen Mann eine Selbstverständlichkeit darstellt, einem
Mädchen Blumen zu schenken. Sie bereitete ihm Kummer.
Sie saß aufrecht im Krankenbett, es ging ihr offensichtlich
gesundheitlich gut. Wenn sie nur nicht so rassig aussehen
würde – viel zu auffällig und schön für mich.
Mein Geldbeutel wird ihr nie das bieten können, was sie sich
möglicherweise erhofft. Da werden andere Männer am Tapet
erscheinen, wie zum Beispiel der Bruder jener Australierin, die
sich nun auf dem Wege der Besserung befand und nebenan
schlummerte. Er hatte die Eifersucht kaum verbergen können,
als er den Vierzigjährigen mit der Tabakspfeife im Mund, den
grauen Schläfen, gut angezogen – offensichtlich ein
Geschäftsmann – an Danicas Bett gelehnt, vorgefunden hatte.
"Ich habe eine Vorstellung unterlassen", hatte Danica damals
leichthin erklärt. Vor Wut hatte er innerlich gekocht. Der
sympathische Junggeselle war kaum zu Fuß gekommen,
sicherlich wartete unten im Hof ein schnittiger Sportwagen auf
ihn. Ingrimmig hatte Willi auf seine abgetretenen Schuhe
hinuntergesehen. Es war doch alles zwecklos, hatte er gedacht. Die
ganzen Visiten bei dem Mädel hier! Was wollte er denn von
ihr? Was wollte sie von ihm? Sollte er ihr vielleicht die 350
Pfund, die er in den letzten Jahren von seinem
mittelmäßigen Gehalt zusammengekratzt,
buchstäblich vom Mund abgespart hatte, vor die
Füße legen?
Vermutlich würde dies gerade die Spitalskosten abdecken.
Ich muß erst etwas werden, etwas erreichen, bevor ich daran
denken kann, eine Frau wie Danica zu nehmen. Alles was ich
vordringlich benötige, ist Geld und nochmals Geld. Dann kann
ich mir einen Wagen kaufen, mir eine Wohnung leisten. Diese Frau
hat doch ganz andere Chancen, als einen nahezu unbemittelten und
sich noch leicht naß hinter den Ohren anfühlenden
jungen Trottel zu heiraten, der nicht einmal genau weiß, was
er auf dieser Welt werden will!
Die höhnische Stimme seines Jugendgefährten Anton gellte
noch in seinem Gedächtnis nach: Was die Weiber in Australien
wollen? Geld, Mensch, nur Geld! Bedrückt, verkrampft starrte
der junge Mann jetzt zu Boden. Alles, alles war doch
Scheiße. Nie durfte er es unter diesen Umständen wagen,
ihr einen Heiratsantrag zu machen. Nein, es war wohl
vernünftiger, gleich auf das Mädel zu verzichten: Sie
würde ihn womöglich noch auslachen. Und das hätte
er nicht verwinden können, nicht von ihr. Entschlossen hob er
das Haupt, wollte ihr das irgendwie klarmachen.
Das Mädchen saß hochaufgerichtet im Bett, wild
umflossen von ihren langen schwarzen Haaren. Sie sah ihn sanft und
eindringlich an und äußerte dann mit leiser Stimme:
"Ich möchte, daß du mich küßt, Willi."
Er starrte sie an, voll Hingebung neigte sie sich vor. Ein Hauch
von Ängstlichkeit umgab sie. Um sein Herz kroch kalt eine
Welle des Unmuts: die soll mit einem anderen spielen, ihre Launen
an einem anderen Subjekt abreagieren. An einem Mann, der die
nötige Zeit und Muße aufbringt, die Geduld und das
nötige Money. Seine Sinne waren mit Blindheit geschlagen,
ließen keine andere Überlegung zu, als die: Ich
muß etwas erreichen im Leben – unter allen Umständen.
Niemals wieder möchte ich mit leeren Händen vor einem
Weib stehen und unsicher herumstammeln: "Bitte, willst du meine
Frau werden?"
Niemals wieder möchte ich der armselige Einwanderer sein, der
um Beschäftigung und Freundschaft betteln muß, war
alles, was er in diesem Augenblick denken konnte. Versteinert bis
ans Herz hinan, erstickt von dem Gefühl der
Bedeutungslosigkeit, besessen von der Manie, ein in jeder Hinsicht
vollkommener, unantastbarer, bewundernswerter Selfmademan zu
werden, der mit lächelnder Miene alle seine Konkurrenten
erledigt – blickte er auf das Mädchen, das ihm in Erwartung
des Kommenden mit blutrot bemalten Lippen entgegenzitterte.
"Ich kann dich jetzt nicht küssen, was würde deine
Nachbarin dazu sagen? Warten wir damit, bis du heraussen bist,
bitte!" Der unpersönliche Ausdruck seiner Worte erschreckte
sie, rasch zog sie sich zurück. "Gut, dann eben nicht", war
alles, was ihr dazu einfiel. Sie betrachtete ihn ernst und
abwägend. Da schlug er überraschend ein ganz anderes
Thema an.
"Danica, weißt du, was von jeher mein geheimer Wunsch
gewesen ist? Weißt du, was ich wirklich erreichen
möchte?" Der junge Mann sprang auf, setzte einen Fuß
auf die Sesselleiste, steigerte sich in eine wirre Begeisterung
hinein. Er sah über das Mädchen hinweg, starrte auf das
Weiß der Wand dahinter: Fabriksanlagen türmten sich
auf, zwischen den Hallen eilten Menschen geschäftig hin und
her, Ladekrane kreischten, Werkzeugmaschinen surrten, Ingenieure
steckten beratend die Köpfe zusammen... Seine Welt.
Er, Willi Höger, als Mittelpunkt und Eigentümer dieser
Firma, die er aus dem Boden gestampft hatte. Ein Zukunftsbild,
eine Vision, eine Utopie, wahrscheinlich für immer eine
Illusion, aber sein Lebenstraum...
"Was mich momentan interessiert, ist Geld, Kapital, nichts
anderes. Ich brauche es nicht für mich persönlich, zur
Befriedigung von Luxusbedürfnissen. Ich möchte einen
eigenen Betrieb, Danica. Einen, wo ich nach eigenem Ermessen
schalten und walten kann. Für immer Angestellter bleiben,
mich herumstoßen und kommandieren lassen – das kann ich
nicht ertragen.
Du denkst vielleicht, ich bin übergeschnappt, oder – der hat
leicht reden. Du wirst es erleben, Danica. Ich werde dir beweisen,
was in mir steckt!" Er dachte an die grausamen Erniedrigungen,
denen er an seiner jüngsten Arbeitsstätte unterworfen
war und reckte sich empor.
Raus aus diesem Dreck, mit aller Gewalt. Wenn sie nicht mitmachen
will, so soll sie es bleiben lassen. Wer nicht mit mir geht, ist
gegen mich. Ich werde mich nicht abhalten lassen.
Auch wenn ich Danica so liebe, wie ich noch keine Frau vor ihr
geliebt habe...
Bewegungslos hatte das Mädchen dem Ausbruch der innersten
Gedanken und Gefühle Willi Högers gelauscht. Nun
räusperte sich der Österreicher und reichte ihr
beklommen die Hand.
"Entschuldige bitte meine düstere Miene. Mir ist etwas
über die Leber gelaufen. Ich verlasse dich für heute,
auf Wiedersehen!" Ohne sich nochmals umzudrehen, haute er mit
sorgendurchfurchter Stirn ab.
* * *
In diesen Tagen, knapp vor Weihnachten, stand der
Groß-Familie Eger eine besondere Überraschung
bevor.
Gänzlich unerwartet, tauchte eines Abends der hünenhafte
Deutsche auf, der vordem als Untermieter hier gehaust hatte. Er
war total vollgelaufen, bis obenhin. Wenn man ihm einen Penny in
den Mund gesteckt hätte, würde er mindestens drei
Bottles Whisky von sich gegeben haben. "Frau Eger, bitte lassen
Sie mich in meinem Bett schlafen. Nur dieses eine Mal – mir hat
hier bei Ihnen so gut gefallen – lassen Sie mich hier
übernachten. Bitte! Bitte!" Endlos zog sich sein Jammern und
Flehen dahin.
"Aber das geht doch nicht mehr. Das Bett ist bereits besetzt -
außerdem würde das mein Mann nie erlauben! Warum sind
Sie denn fortgezogen, wenn es Ihnen so gut gefallen hat, na?" Die
dralle Mrs. Eger pflanzte sich vor dem Koloß auf, ihre
gerundeten Körperpartien schwabbelten gleich vor Aufregung:
"Wer weiß, was dieses stockbesoffene Mannsbild noch
anstellen wird?"
Der "Normannische Kleiderschrank", wie ihn Willi insgeheim getauft
hatte, ähnelte seinen heldenhaften teutonischen Vorfahren aus
den Urwäldern der deutschen Heldensagen nur in entfernter
Weise. Sein Großsprechertum in nüchternem Zustand war
derzeit einer gebrochenen Alkoholseligkeit mit endlosem Wimmern
gewichen. Den ehemaligen Mitbewohnern um ihn herum kam es
furchtbar peinlich an, dieses Wrack anhören zu müssen.
Stundenlang bettelte er herum, bis er Frau Eger endlich
breitgeschlagen hatte: "Also in Gottes Namen. Bleiben's halt eine
Nacht hier." Jean und der andere Österreicher waren
glücklicherweise noch ausständig.
Mehr aus angeborenen psychologischem Forschungstrieb denn aus
Mitleid hörte sich Willi die Tiraden des Mannes an. Sie
hockten allein auf dem Klappbett, das Willi als Lager diente. Das
Kinn des Deutschen senkte sich traurig auf die Brust: Er
benötige einen seelischen Lift, sei so unendlich müde,
sehe keinen Sinn mehr im Leben.
"Was soll ich tun? Bitte sag mir: was soll ich tun? Es geht mit
mir nicht mehr so weiter... bin ich so schwach? Sag es mir! Du! Du
sollst es mir sagen! Bin ich so schwach?" Er rüttelte heftig
an Willis Arm. "Sag', was soll ich tun?" schrie er ihn verzweifelt
an.
"Ich weiß es nicht. Erzähle, was ist los mit dir?" Der
Jüngere reagierte mit erzwungener Ruhe, aus den ersten
gestammelten, bruchstückweise hervorgestoßenen
Wortfetzen, konnte er sich noch keinen klaren Reim machen. Doch
dann taten sich ihm abgrundtiefe schwarze Löcher der
menschlichen Seele, Begierden und Veranlagungen auf, welche die
bürgerliche Welt normalerweise nur mit Abscheu zur Kenntnis
nimmt... "Die Polizei hat mich eingesperrt...Wenn bei uns einer in
Deutschland 'ja' sagt, dann meint er es...dann ist es ein J a. So
sind wir nun einmal...Aber hier, in diesem Scheiß-Country
ist es scheinbar anders...
Verstehst du, ich habe gesagt: Steig ein ins Taxi, wir fahren zu
mir nach Hause..."
Mit geheimen Entsetzen betrachtete der junge Österreicher den
Mann, der ängstlich an ihm vorbeistarrte, als die
nächsten Worte fielen.
Die Glühbirnen leuchteten gelblich-matt, der Stoff der Couch
war blutrot. Quer über die Wände liefen grüne
Streifen, die Möbel rochen nach echt Nußholz. Die
Aluminiumrollos ließen den Schein der
Straßenbeleuchtung gedämpft ins Zimmer durch – und ein
Mann legte drinnen eine Beichte ab. "Ich habe gesagt: Fahr mit mir
nach Hause...dort sind wir ungestört...
Dafür geht man in England frei,...aber hier wird man
eingesperrt..."
Seine Stimme war zu einem Wispern abgesunken, nahezu am
Verlöschen. Scheu wandte ein gequältes Individuum den
Kopf, starrte ein intelligenter, gemarterter Mensch, der der
Hölle des Krieges nur mit knapper Not entronnen war, aus
glasigen Augen auf Willi. Ein Mensch, der in der privaten
Hölle seiner abwegigen Neigungen und ethischen Konflikte
weiterexistieren mußte.
Ohne Ausweg, außer dem Selbstmord.
Wie eigenartig das Leben doch sein kann.
Gerade die Deutschen trumpfen vor dem kleinen Bruder, den
Österreichern, gerne auf, geben an, prahlen
großsprecherisch. Und kommen dann ganz klein daher, um sich
bei ihnen auszuweinen.
Ein Gedanke, eine Empfindung, der sich der junge Mann
schämte. Aber es tat seiner eigenen Niedergeschlagenheit
wohl, wenn es jemand gab, dem es noch weit dreckiger erging...
* * *
Die W. Foundry Pty lud zur Weihnachtsfeier ein, nichts sonderlich
Aufregendes, nur ein gesellschaftliches Zusammensein der
Angestellten – nach 2 p.m. Unser junger Österreicher freute
sich darauf, war er doch für jede Erweiterung und Vertiefung
seiner Kenntnisse über Land und Leute dankbar. Ebenso wie
über jeden Freund oder Bekannten, den er dabei gewinnen
konnte. Selbstverständlich hatte auch er das
Einladungsschreiben des Managers erhalten, und voller Stolz zeigte
er es in seinem Freundeskreis herum.
Insgeheim hoffte er, es würde ihm gelingen, das latente
Mißtrauen und wachsame Lauern seiner Arbeitskollegen
abzubauen.
Das Wegräumen der Zeichenbretter bereitete weiter keine
Schwierigkeiten. Als es dann soweit war, schleppte man einige
Kasten Bier und eine Unmenge Limonaden für die
Antialkoholiker und weiblichen Belegschaftsmitglieder, sowie Berge
von Sandwiches und Zigaretten herbei.
Um Punkt 2 p.m. hauten die beiden Gentlemen Warran und Ted ab. Sie
hatten Wichtigeres vor, als diesem Zusammensein beizuwohnen, aber
vielleicht wollten sie nur eventuellen, unangenehmen Fragen
entgehen, indem sie das Weite suchten...
Langsam tröpfelten die Angestellten herein, Männer aus
der Verkaufsabteilung, Frauen aus der Lohnverrechnung,
Stenotypistinnen – alles Menschen, mit denen Willi selten oder nie
in Kontakt kam. Mit einigen wenigen war er bereits gut bekannt, so
zum Beispiel mit Don. Der aufgeweckte Aussie hatte sich anfangs
sehr um ihn bemüht, leider wurde Willi das unangenehme
Gefühl nicht los, daß diese freudige Kontaktaufnahme
nur dazu diente, ihn auf eventuellen Schwachstellen
abzuklopfen.
Wie üblich gruppierten sich Männlein und Weiblein an den
gegenüberliegenden Wänden wie zwei feindliche Heerlager,
der Alkohol floß bald in Strömen und die einzelnen
Gruppen unterhielten sich angeregt. Willi Höger bemühte
sich redlich um ein Gespräch mit den Herren von draussen, von
den kaufmännischen Abteilungen. Er sprach den Gentleman von
der Lohnverrechnung an, der ihm wöchentlich seine 17 Pfund
clear ausbezahlte. Sein Aussprache war deutlich und korrekt, der
deutsche Akzent, der in den Anfangsmonaten noch stark zutage
getreten war, fast völlig verschwunden. Momentan stand Don
allein abseits und aß ein Sandwich, die Situation war also
günstig. Willi sprach ihn an – worauf ihm der Mann wortlos
den Rücken zudrehte und sich übergangslos mit einem
einheimischen Kollegen unterhielt, so, als ob der junge
Österreicher überhaupt nicht existierte. Das hatte Willi
von dem Mann eigentlich nicht erwartet, er sah so freundlich und
entgegenkommend aus. Bedrückt versuchte er es bei einem
zweiten, mit demselben Ergebnis: er wurde nicht einmal ignoriert.
Die Frauen und Mädchen von gegenüber blickten unverwandt
zu ihm her, kicherten und raunten einander gegenseitig etwas ins
Ohr. Manche trugen auch eine ernste Miene zur Schau, mit der sie
ihn aufmerksam und besorgt musterten: "Wenn er auch ein
Geisteskranker ist – oder ein Verbrecher, so genau kann man das
nicht sagen, denn Warran entdeckt ja täglich neue Züge
an ihn – aber man sollte ihn doch menschlicher behandeln." Seit er
in dieser elenden Bruchbude gelandet war, umgaben ihn diese
Bemerkungen, die er bruchstückweise immer wieder mitbekam.
Rein intellektuell gelang es ihm noch immer, von den
ungeheuerlichen Vorgängen rund um seine Person Abstand zu
wahren, aber eine emotionelle Komponente blieb, die er nicht
unterdrücken konnte. So zerrte die andauernde psychische
Belastung unheilvoll an seiner Gesundheit, untergrub sie von Tag
zu Tag mehr.
"Er ist ein stupides Schwein!" Ein hämischer Seitenblick Dons
in Richtung Willis, nur um sich rasch der Wirkung seiner Worte zu
vergewissern. Der junge Mann hätte maßlose
Selbstbeherrschung und eine Haut so dick wie ein Elefantenfell
aufweisen müssen, wenn diese Art der Behandlung spurlos an
ihm vorübergegangen wäre.
Mühsam unterdrückte er seine Erregung: bloß nicht
an die Schmähungen denken, vor allem das Gefühl, die
Empfindungen dabei ausschalten. Die Sache nicht ernst nehmen,
nicht ärgern, nicht kränken ..., sonst ist es aus mit
dir, mein Freund!
Ganz mechanisch sprach er sich Mut zu, versuchte seine Gedanken in
andere Bahnen zu lenken: "Laß sie quatschen, was ihnen
beliebt, die Idioten, die gottverd...Nein, du regst dich schon
wieder auf. Sieh doch, wie toll die Figur der Kleinen da
drüben ist, die mit dem spitzen Popo..."
Rein instinktiv flüchtete er in eine Methode, die
wahrscheinlich tausenden politischen Intellektuellen, bei
Verhören und Folterungen durch Gestapo, NKVD – oder CIC -,
zumindest eine zeitlang ihre Qualen überstehen ließ,
wenn die psychologische "Behandlung" nicht allzulange andauerte.
Oder wenigstens anfangs, wenn sie noch im vollen Besitz ihrer
geistigen und körperlichen Kräfte waren – bis zum
endgültigen Zusammenbruch: Beharrlich vermeiden, emotionell
von der Umgebung berührt zu werden. An vollständig
andere Dinge, auf fremden Gebiet Liegendes denken. Sich
völlig auf Handlungen und Gedanken zu konzentrieren, die mit
der tristen und scheinbar ausweglosen Situation nicht das
geringste zu tun haben. Noch gelang ihm dies.
Sein Geist wandte sich von dem Horrorszenario ab,
beschäftigte sich mit Mathematik, der Heimat, seinen
Verwandten und Bekannten... Langsam verrauchte die dumpfe,
drängende Verzweiflung über die ungerechtfertigte
Behandlung. Zynisch grinste er zu Ray hinüber, der soeben
eingetreten war und eine Flasche Limonade öffnete. Der junge
Engländer. Wenigstens einer, der ihn als gleichwertig
behandelte.
"Was sagst du zu unserer großartigen Party?" fragte er
ihn.
"Werde mich bald verdrücken", antwortete der junge Mann
trocken. "Siehst du den dort? Ist auch ein Brite. Nebenbei, will
im August nächsten Jahres wieder nach Old Merry England
fahren...Aber sei bloß ruhig...du weißt ja, sie
hören's nicht gerne!" Geringschätzig wies er mit dem
Daumen nach rückwärts, zu den Aussies hin. Wie einen
rettenden Strohhalm ergriff Willi die Gelegenheit zu dem
Gespräch mit dem rothaarigen Abkömmling aus einem
Londoner Slum. Er hätte ja auch einfach abreißen
können, aber gerade den Spaß wollte er den
Aussiebrüdern nicht bereiten. Diese Party werde ich auch noch
überstehen, schwor er sich ingrimmig.
Gegen Abend ließ sich sogar der Manager der Firma blicken,
Willi bekam ihn zum ersten Male zu Gesicht. Der kleine Mann mit
dem kränklich-gelben Teint schüttelte vorerst die
Hände seiner führenden Mitarbeiter und bemerkte dann mit
einem raschen Seitenblick den langen Österreicher ernst und
still im Hintergrund stehen. Aufmerksam musterte er die
intelligenten Gesichtszüge des jungen Mannes, der sich in
dieser Umgebung offensichtlich nicht wohl fühlte.
Möglicherweise hatte der Boß von den Gerüchten um
den jungen Österreicher noch nichts erfahren,
möglicherweise wußte er, was er davon zu halten hatte.
Vielleicht wollte er nur beispielgebend vorangehen, vielleicht war
er scharfsinnig genug, um die Hintergründe dieser
Verleumdungskampagne zu durchschauen. Wie auch immer es gewesen
sein mag – es durfte ein schöner Zug feiner Wesensart genannt
werden – von einem Mann, der – mosaischen Glaubens war.
Und bei Gott, er hätte sicherlich mehr Veranlassung gefunden
als die fair dinkum Aussies- wenn er eine gesucht hätte -
einem Deutschsprechenden die kalte Schulter zu zeigen...
* * *
Als er, entgegen seiner sonst üblichen Art, schweigsam bei
Mrs. Eger eintrat, die leichte Schwingtür hinter ihm im
Türrahmen auspendeln ließ und sich in die Tageszeitung
vertiefte, ohne ein Wort zu verlieren, zog ihn seine Hauswirtin
mütterlich auf, während sie im die dampfende
Leberknödelsuppe auf den Tisch stellte. Gewöhnlich
blödelte er um diese Zeit lustig drauflos. Erstens, weil er
nun wieder reden durfte, wie ihm der Schnabel gewachsen war, und
zweitens in der nicht ganz uneigennützigen Absicht, Mrs. Eger
stets bei guter Laune zu halten: denn dann fiel das Essen für
den jungen Mann prächtig aus. An der drallen Endvierzigerin
wendete er die Menschenkenntnis und die in den vergangenen Jahren
erworbene lockere Art des Umganges mit dem Nächsten,
zielbewußt und zum Wohle seiner Verdauung an. Als typischer
Österreicher wußte er lukullische Gerichte wohl zu
schätzen. Obwohl er in der Auswahl der Speisen nicht heikel
war – aber schmackhaft zubereitet mußten sie sein. Und so
vereinte die Volksdeutsche mit dem jungen Mann aus dem
Ursprungsland der Sachertorte ein starkes Band – das
Bewußtsein, daß Mrs. Eger sehr gut kochte, daß
es Willi vorzüglich mundete, und er dies zu schätzen
wußte. Und daß er ihr seinen Dank mit
unverblümter Offenheit, in Form stark aufgetragener
Anspielungen, sowohl auf ihre haushälterischen als auch
"sonstigen" Qualitäten, aussprach.
"Heute sind's aber zwida. Dös bin i ja gornet gwöhnt.
Haben's wieda Ärger g'hobt in der Firma?" Keine Antwort.
"Wie war denn die Weihnachtsfeier?" Eine nachhaltige, wütende
Handbewegung ließ sie einen Augenblick verstummen.
"Hat ja keinen Zweck, wann's ihna gift'n, Willi", meinte sie
besänftigend. "Ist uns allen so ergangen, Hunderttausenden
von Einwanderern... Schauen's, wie wir angekommen sind, hat mein
Mann wochenlang wegen der Arbeit im Regen herumlaufen müssen.
Er hat sich dazu seine Knickerbocker angezogen und die
Pullmann-Mütze aufgesetzt. Schauen's – stehn' blieb'n san die
Leut, hob'n sich nach ihm umgedreht und lachend mit den Fingern
auf ihn gezeigt. Glauben's, dös war angenehm? Wann i heut
dran denk, wurlt's ma no oft in die Finger, als ob i an
derwürg'n möcht – an Aussie!"
Erstaunt beobachtete Willi Höger, wie die gutmütige Mrs.
Eger ihre beiden Hände zu Fäusten ballte, und ihr
Gesicht krebsrot anlief. So aufgebracht hatte er sie noch nie
erlebt.
"Na, is scha wieda guat!" meinte sie plötzlich und fuhr sich
mit dem Schürzenzipfel über die erhitzten Wangen.
Punkt sechs Uhr dreissig läutete nebenan das Telefon, seine
Wirtin hob ab: "Herr Höger, Sie werden gewünscht!"
Natürlich war es Danica. Gleichgültig hob er den
Hörer ans Ohr: "Ja, Höger?"
"Du bist es, Willilein?" Natürlich, dumme Frage. "Warum? Wer
denn sonst, wenn du mich verlangst?"
"Ich habe gedacht, daß du vielleicht...? Bist du böse
auf mich, Willi? Mir kommt es so vor." Verdammt, die
melodiöse, vertraute Stimme schlug ihn augenblicklich wieder
in den Bann. Unbewußt wehrte er sich gegen das Gefühl,
daß am anderen Ende der Leitung ein Mensch hing, der ihm
mehr bedeutete als alles andere weit und breit.
Ich will sie nicht – ich kann ihr doch nicht mehr bieten als eine
mehr oder minder sorgenvolle Gegenwart! Du hast dir doch
vorgenommen langsam Schluß zu machen. Wer sagt dir denn
überhaupt, daß sie soviel für dich übrig hat,
wie du hoffst?
Sie hält dich nur zum Besten, telefoniert, weil ihr fad ist.
Da, da hast du schon die Bestätigung! Das waren die Gedanken,
die ihm durch den Kopf schossen.
"Bin ich nicht ein braves Mädchen, Willi, sag es mir! Ich
habe dich als erste Person angerufen, noch vor meiner Freundin!
Komm, sag doch etwas zu mir!" drängte sie jetzt flehentlich.
Kindlich im Ausdruck, rein, unschuldig – beinahe. Und wie
erwartungsvoll und bangend ihre Fragen klangen!
"Die Aussies im Betrieb treiben es genauso", dachte er.
Vordergründig tun sie schön: How are you going, mate?
Allright? Lächelnde Gesichter, Händeschütteln. Kaum
drehen sie sich um, grinsen sie über dich, möchten dir
aus Brotneid am liebsten eine Messerklinge zwischen die Schultern
rennen. Dagegen fühlt man sich nahezu wehrlos,
ausgeliefert.
"Du kannst gut schauspielern, Danica!" sprach er ungerührt in
die Muschel. "Wie? Ich verstehe nicht?"
"Ich meinte, du bist eine gute Schauspielerin. Du versetzt mir
jedesmal einen Schlag vor dem Kopf, wenn ich dich besuche. Einmal
glaube ich, du hast mich gerne, dann tust du wieder so
gleichgültig, als wäre ich ein vollständig Fremder.
Verstehst du, Danica – ich kann bei dir an kein echtes Gefühl
glauben – du spielst mit mir!" Ganz trocken, ohne die geringste
Emotion hineinzulegen, kommentierte er ihre Worte. Begierig
horchte er: Soll sie sich jetzt herauswinden, wenn sie kann.
Eine Weile drang nur das Rauschen der Leitung durch, anscheinend
vertaute sie das soeben Gehörte. Dann tönte es ganz
leise aus weiter Ferne zu ihm her: "Aber ich liebe dich ja,
Willi!"
Das Geständnis bestürzte ihn, warf ihn beinahe um.
Konnte er ihr glauben? Benommen lauschte er in die Stille
hinein.
"Da bist du überrascht, nicht wahr?" Aus diesen Worten klang
wieder die kecke, kokette kleine Danica durch, die er so rasend
liebte. Wenn dem wirklich so war – durfte er nach diesen Worten
noch dran zweifeln – so mußte er seine nächsten
Schritte sorgsam planen. Nach einer minutenlangen Pause des
Nachdenkens fragte er dann: "Du, Danica – wenn du aus dem
Krankenhaus freikommst – und das wird ja in längstens einer
Woche der Fall sein – was willst du dann unternehmen?"
"Nun, zuerst werde ich wohl noch nicht arbeiten können. Aber
später werde ich mir eine Stelle suchen müssen. Zu
meinem früheren Chef gehe ich nicht mehr zurück. Der
liebt mich auch, weißt du!"
Wie einfach und unkompliziert sie dies formulierte und
herausbrachte, wie eine ganz alltägliche Geschichte.
Eifersucht diktierte seine folgenden Worte: "Du, ich hätte
bereits einen Job für dich!" "Wirklich? Ach, ich weiß
schon, als Putzfrau in dem Betrieb, den du einmal führen
wirst, nicht wahr? "Du Süße!" Er hatte Feuer gefangen:
sie liebte ihn wirklich!
"Du Süße! Als Cleaner schon garnicht. Aber an meiner
rechten Seite, als ... nun sagen wir, als Chefsekretärin.
Danica, willst du das?" Langsam und eindringlich fiel jedes Wort,
jeder Ausdruck. Es fielen keine Phrasen, keine Kosenamen, gab
keine überschwenglichen Gefühlsausbrüche, aber die
beiden fühlten einander physisch nahe.
"Oder vielleicht ziehst du eine andere Position vor, die ich dir
anbieten kann. Willst du die annehmen, Danica?"
"Was denn?" hauchte sie kaum vernehmlich.
"Als meine Haushälterin – ich miete einen Bungalow. Du
räumst die Zimmer auf, machst die Betten, kochst mir die
Mahlzeiten. Wie wäre das?" "Und wovon soll ich leben?"
Trotzig stieß sie diese berechtigte Frage hervor.
"Nun, ich sorge für dich. Du kannst dich ausruhen, solange du
noch nicht vollständig gesund bist. Dann werden wir
weitersehen..." Und gleichzeitig überlegte er folgendes: "Ich
werde sie natürlich heiraten, wenn sie darauf einsteigt.
Sofort und ohne Verzögerung. Ich brauche sie und ich liebe
sie. Gleich morgen beginne ich mit der Suche nach einem geeigneten
Häuschen..."
"Sprechen wir ein andermal drüber", lenkte sie diplomatisch
ab. "Hast du meinen Brief erhalten? Du erzählst mir ja rein
garnichts", meinte sie nunmehr in sehr sachlichem Ton. Er
amüsierte sich: ein Musterbeispiel weiblicher Unlogik. "Nein,
hast du mir denn einen geschrieben?"
"Ja. Weil du so schnell von mir gegangen bist, das letzte
Mal...Wütend noch dazu..." Ein klein wenig zitterte ihre
Stimme. "Kommst du am Freitag Abend? Samstag verlasse ich das
Spital..." "Wirklich? Du, ich freue mich so! Ich werde dich
endlich betrachten dürfen. Ganz, bis zu den Zehen hinunter!
Wirst du schon ein wenig gehen können?" brach es jubelnd aus
ihm heraus.
"Bis auf den Balkon wird es schon reichen..."
Mit einigen zärtlichen, zweideutigen Andeutungen
verabschiedete er sich für heute von dem geliebten Wesen.
Innige Reue ergriff ihn, sie so gering eingeschätzt zu haben.
Und langsam drang die Selbsterkenntnis in ihm durch: "Eigentlich
habe ich mich ihr gegenüber selten wirklich zärtlich
verhalten. Habe ihr nie offen zu erkennen gegeben, wie sehr ich an
ihr hänge, an sie denken muß – Tag und Nacht. Beim
kommenden Besuch werde ich alles nachholen, meine liebe Kleine.
Ich werde versuchen, alles zu vergessen, was mich bedrückt
und nur an D i c h denken. D i c h liebkosen – süße,
kleine Danica!"
Ihr Brief lag vor ihm, sorgsam betrachtete er die Schriftzüge
am Umschlag. Er durfte keine Kleinigkeit außer acht lassen,
die ihm einen Hinweis, einen Schlüssel zu ihrem Charakter
geben mochte. Die Buchstaben wirkten nahezu wie gedruckt,
vermutlich nicht ihre normale Handschrift. Er selbst war ja auch
gezwungen, in einer Art von Normschrift sein Geschmiere für
andere lesbar zu machen. Ganz klug wurde er aus dem Inhalt nicht.
Irgendetwas Unausgesprochenes steckte zwischen den Zeilen.
Bekümmert prüfte er jedes Wort auf seine mögliche
Bedeutung und ertappte sich immer wieder bei der Feststellung:
Irgendetwas will sie mir andeuten, aber was?
"Lieber Willi!" schrieb sie da:
"Jetzt bist Du weggegangen und ich entschlisste mich, Dir noch ein
paar Worte zu sagen (ihr geschriebenes Deutsch fällt manchmal
holprig aus, ist jedoch meist verständlich). Sowieso haben
wir heute sehr wenig gesprochen. Nicht wahr? (Ja, das stimmt. Ich
habe eine Wut im Bauch gehabt, auf die Australier, auf mich
selbst. Auf mich selbst am meisten, weil ich ein Niemand, ein Mr.
Nobody bin).
Immer wenn Du hier bist, bin ich so ungestüm und spreche ich
solche Sachen, daß Du 100% denkst, wie ich ein dummes
Mädchen bin. Ich weiß es und ich ärgere mich nicht
(Hahaaa! Das klingt verdammt aufrichtig. Wo sie das Vokabel
'ungestüm' wohl aufgefischt hat? Sicher aus dem Lexikon, aber
es passt haarscharf an diese Stelle). Ich sorge mich nie, ob ich
jemand für Freund oder Feind habe. Deshalb, in erster Zeit
ich bin lieber unfreundlich mit Leute, bis ich sehe, wieviel sie
wert sind (Sieh mal an, die Kleine macht es genauso wie ich. Aber
bei mir ist sie zeitweise übers Ziel hinausgeschossen. Fast
hätten mich ihre gelegentlichen Unmutsäusserungen
abgeschüttelt. Aber nun weiter...). Und mit Dir war ich u n e
r n s t, aber wenn es notwendig wird, ich kann sehr ernst sein
(Das habe ich gemerkt – und mich geärgert). Was ist es
nämlich, was ich Dir schreiben wollte? Ach ja! Dein Abschied,
ich meine heute! (Sie drückt sich vorsichtig aus, will mich
nicht verlieren). Viel Geld für ein eigenes Betrieb. Du hast
schon ein Weg im Leben, und warum soviel Sorgen um die Zukunft?
(Dummchen, meine Probleme liegen in der Gegenwart. Mich belasten
begründete Existenzängste, ich bin von den Brüdern
abhängig, die mich jede Minute aneckeln und beleidigen wo sie
nur können! Aber davon ahnst du ja nichts, Mädchen,
oder?). Bist du denn schon zu alt? Hast Du keine
Möglichkeiten? Du hast alles und Wunsch dazu, und es ist
genug. In erster Zeit, mein Lieber, es solltest Du nicht als
große Firma sehen. Und glaube mir, es ist viel besser, mit
wenig anfangen.
Du hast einmal erzählt, Du hast g e s p a r t. Du mußt
so b l e i b e n und vielleicht Dein Aufenthalt in Australien
verlängern. Nicht für lange Zeit (Es war Unsinn,
überhaupt die Abreisepläne zu erwähnen),
sodaß Du in Österreich nach kurze Zeit etwas anfangen
kannst. Will, will und nur will! Meine ich, wenn jemand etwas
wünscht, er wird den Weg finden.
Und vergesse nicht, der Gott hilft dazu."
Der letzte Satz berührte ihn zutiefst. Durfte er an der
Echtheit ihrer Zuneigung, ihrer Gefühle und vor allem am Wert
ihrer Persönlichkeit zweifeln, wenn sie soetwas zu schreiben
vermochte?
"Ich verstehe Dich sehr gut, aber leider kann nichts machen, nur
sagen: Willilein, Darling, sei geduldig und alles wird gut sein.
Ich habe andere Ziel in meinem Leben und ich wünsche,
daß Du mich gut verstehen würdest: Wenn Du verheiratet
bist, dann kannst Du viel mehr sparen und Deinen Wunsch bald
realisieren.
Jetzt werde ich telefonieren, vielleicht bist Du zuhause?
Wenn ich gesagt habe, daß Du heiraten solltest, dann habe
ich auf noch was gedacht. Es ist ja natürlich, daß ein
Mann wie Du, kann nicht und darf nicht sehr lang ohne Frau sein,
und besonders hier in diesem Land, die Neu-Australier haben viel
Trouble mit den Frauen, und manchesmal müssen sehr weit
gehen, obendrein es ist gefährlich und kost' Geld. Erinnerst
Du Dich an die Bilder, die Du mir damals gezeigt hast? (Ja, die
zwei Nutten in Melbourne).
Ich weiß, was würdest Du antworten, aber Du hast recht,
auch so zu denken, weil Du weißt nie, wie eine Frau ist und
was sie nach Heiratung werden wird. Ich kann Dir, mein Freund
sagen: 'Das ganze Leben ist eine Lotterie', und wir müssen
wissen wie wir das Leben führen, und es ist Kunst.
Was soll ich Dir noch schreiben? Ich wünsche mir gerne viel
zu schreiben, aber was?
Sonntag
Gestern habe Besuch gehabt und so mußte schließen.
Heute bin ich nicht guter Laune und wahrscheinlich werde nicht
viel schreiben. Hast Du gut geschlafen?
Es war meine erste Nacht im letzten Monat, wo ich gut geschlafen
habe (Seit dem Tag, Du erstes Mal warst hier!). Siehst Du, wie
schlimm is my Deutsch, daß Du falsch verstanden hast. Was
meinst Du, warum konnte ich nicht schlafen?
Und jetzt etwas Schlimmes, und ich bitte Dich, sei nicht
böse, aber es ist so und macht mich nicht traurig oder gar
unglücklich.
Nicht, daß mein Fuß stört mich beim Gehen, aber
hast Du nie gedacht, daß er nie wieder werden wird wie war
im Aussehen?
Vielleicht Du kommst ja nicht mehr mich zu besuchen, aber das
macht keinen Unterschied, weil ich muß Dir das sagen. Du
darfst Dein Leben nicht mit mir verketten, doch wir können
immer F r e u n d e bleiben.
Was denkst Du, Willi, daß ich in den Jahren, als ich krank
war, konnte nicht heiraten und daß ich hier bin nur einen
Mann zu finden (Diese Bemerkung war garnicht auf dich
gemünzt, du Dummchen). Hier bist Du 'wrong'. Was meinst Du,
warum eine Frau hat Glück in der Liebe und 99% nicht? Ich
sage Dir jetzt: Eine Frau, die immer sagt n i c h t und haltet es,
dann dieses n i c h t macht, daß der Mann sie liebt. Und
eine solche bin ich und so werde ich bleiben, weil niemand das
ändern kann.
Deswegen habe ich noch immer Freunde, die mich kennengelernt haben
als ich noch ein kleines Mädchen war.
Ich weine nie, ich hasse Leute, die weinen wenn jemand stirbt, ich
hasse Leute die traurig sind, ich verstehe nicht die Leute die
Angst vor dem Leben haben, ich verstehe Leute nicht die zuviel
denken und am Ende erst zu keinem Entschluß kommen.
Das Leben ist für Leute, und die sind für das Leben da -
und alles ist so schön und regulär, daß ein Mensch
nur wenig zu verstehen braucht und glücklich sein soll,
daß er überhaupt geboren ist.
Leider, wie gesagt habe, mein Deutsch ist so schrecklich und ich
kann nicht alles sagen wie ich es wünsche.
So wird es für Dich und für mich besser sein, wenn ich
jetzt schließe.
Es grüßt Dich ganz herzlich
Deine Danica."
Der junge Mann, an den dieses lange Schreiben gerichtet war,
saß zusammengekrümmt auf dem Sofa und versuchte
vergeblich, sich auf das Gelesene den richtigen Reim zu machen. Am
meisten ärgerte ihn der Satz "eine solche bin ich und eine
solche werde ich bleiben, weil das niemand ändern kann".
"Das werden wir ja sehen, ob du dich nicht gehörig genug in
mich verknallen wirst, um deinen Stolz aufzugeben", dachte er
ärgerlich.
Oder war sie am Ende – sexuell nicht normal?
Über dieses Thema hatte er doch schon Verschiedenes gelesen.
Frigidität, Lesb... Unsinn! Werde mir doch gelegentlich ein
einschlägiges Werk besorgen, kann nicht schaden.
Aber bitte – das war doch aufgelegter Blödsinn: 'ich hasse
Leute die weinen, wenn jemand stirbt!' Mit der Philosophie kam er
nicht ganz mit. Auch den nächsten Zeilen konnte er keinen
Sinn abgewinnen, aber er vermutete, daß sie irgendwie auf
ihn selbst gemünzt waren.
Schluß mit dem nutzlosen Grübeln! Ich werde sie bei der
nächsten Gelegenheit darüber befragen. Eines steht
jedenfalls fest: Sie hat mich wirklich ins Herz geschlossen.
'Deine Danica' stand dort in Schwarz und Weiß zu lesen.
'Ganz herzlich Deine Danica'. Noch kein Mädel vor ihr hatte
so einen Brief beendet. Er hatte, genau besehen, auch keiner die
Gelegenheit dazu geboten, zynisch hatte er die meisten
Annäherungsversuche im Keim erstickt. Oh doch, er wollte die
jungen Damen gewinnen, falls es gerade leicht ging. Aber sich von
irgendeiner 'Deine Soundso' grüßen zu lassen – nein, da
war ihm noch keine untergekommen, die zu dem Podest hinauflangte,
auf dem er zu stehen wähnte.
Einzig Danica schien ihm ebenbürtig an Geist, Aussehen,
Stallgeruch...
Bloß, undurchsichtig und ein bißchen zu launisch gibt
sie sich, schränkte er sein Urteil ein. Unsicher drehte er
die Blätter zwischen den Fingern.
* * *
Heute war der Tag, heute würde er ihre Figur bewundern
können, von Kopf bis Fuß. Endlich!
Momentan saß sie leger am Spitalsbett und holte ein
Päckchen Spielkarten hervor. "Soll ich Dir die Karten
legen?"
"Kannst Du denn das?"
"Ja, frag nur meine Freundin, wenn Du sie kennenlernst. Heb' jetzt
bitte dreimal ab!" Sie bemerkte, daß er zögerte und
forderte ihn nochmals auf. "Ich glaube nicht daran", erklärte
er ihr. "Macht nichts".
Sorgfältig legte sie eine bestimmte Anzahl der bunten Karten
vor sich hin und zählte dann dreimal Sieben aus.
Lächelnd verfolgte Willi ihr geschäftiges Treiben. "Nun,
was liest du daraus? Daß d u mein Schicksal bist? Heh?"
Nun war sie offensichtlich zu einem Resultat gelangt, denn sie
setzte eine geheimnisvolle Miene auf. Langsam, Wort für Wort
betonend, gab sie ihre Weissagung von sich: "Du hast sehrrr gut
abgehoben, Willi. Da steht ganz deutlich, daß du dich nach
meinem Bett sehnst – und ich mich nach deinem..." Was sie da
orakelte drang kaum bis in sein Bewußtsein, einzig ihr
Anblick nahm ihn gefangen und raubte ihm den letzten Rest seines
Verstandes. Herrgott!! Wo gab es ein solches Weib noch ein zweites
Mal? "Solche Enthüllungen über uns beide mach' ich dir
auch – und brauche nicht mal Karten dazu!" meinte er,
bedeutungsvoll lächelnd. Auf ihr Geplauder verschwendete er
kaum einen Gedanken, nur ein Trieb beherrschte ihn: ich muß
sie haben!
Sorgsam schlug sie eben die Decke zurück und schlüpfte
auf der gegenüberliegenden Seite hinaus. Vor das riesige
Balkonfenster war mittlerweile die Dunkelheit gefallen. Sie
reagierte mit Verlegenheit, als sie merkte, wie seine brennenden
Blicke ihre Gestalt abtasteten, den Leib hinunterglitten bis zu
den Knöcheln, die durch das lange Hauskleid verhüllt
wurden.
"Du magst schlanke Mädchen ja garnicht", stieß sie
schnippisch hervor, richtete sich dann auf, schüttelte die
langen Haare zurück und glitt an ihm vorbei zum langen
Balkongang hinaus.
Jede ihrer Bewegungen atmete unendliche Anmut und erfüllte
sein Herz mit der Sehnsucht, sie zu berühren. Langsam glitt
sie in einen Liegestuhl, um dort bewegungslos zu verharren. Er zog
seinen Stuhl heran und ergriff sanft ihre Hand. Sie wehrte ab,
doch ihre Zurückhaltung entflammte ihn noch mehr. Sein Mund
näherte sich dem ihren, doch das Mädchen drehte
ängstlich ihr Haupt weg und stieß hervor: "Im
nächsten Zimmer ist ein Spiegel. Man kann uns beobachten,
bitte nicht." Undeutlich, schemenhaft kauerten weiter drüben
schwarze Schatten in Armsesseln, matt beleuchtet durch den
Lichtschimmer, der aus vereinzelten Räumen ins Freie
fiel.
War es nicht sein Mädchen? Durfte er sie nicht küssen,
wann und wo er wollte? "Komm bitte, ist doch egal, ob sie uns
sehen oder nicht." Seine Stimme senkte sich zärtlich ab,
behutsam umfing er ihren Oberkörper, zog sie mit sanfter
Gewalt in seine Arme. Ein Kuß, unendlich süß in
seiner Neuheit, besiegelte ihre Liebe. Zaghaft, scheu, gab sie
sich seiner nun immer stürmischer werdenden Werbung hin. Ein
seliger Glanz umspielte ihr breites slawisches Antlitz, ein
entrücktes Lächeln lag um die geschlossenen Lider, wenn
sie ihm den Mund reichte.
Plötzlich, mit einem Schlag, flog ein dunkler Schatten
über das eben so versonnene, entspannte Gesicht.
Gewaltsam machte sie sich frei und strich die Mähne aus der
Stirn. "Nanu? Was hast du auf einmal?" Mit steigendem Entsetzen
bemerkte er, wie sie anscheinend alle Kraft zusammen nahm um ruhig
zu bleiben. Er ließ sie verblüfft los.
"Willilein, ich muß dir etwas gestehen...
Ich ... habe dir schon einmal ... angedeutet, daß ich etwas
ganz, ganz Schreckliches getan habe, als ich mein Heimatland
verlassen mußte. Verlassen mußte, weil ich dort immer
nur Trouble gehabt habe, weil ich mit dem politischen System nicht
einverstanden bin und in Freiheit leben wollte...
Es ist dir vielleicht bekannt, wie schwer man in den Ländern
hinter dem Eisernen Vorhang einen Pass bekommt. Es ist fast
unmöglich – so auch in Jugoslawien. Nun hat mir das Ehepaar,
bei dem ich jetzt wohne und die meine Freunde sind, aus
Deutschland geschrieben, daß sie nach Australien auswandern
werden.
Da wußte ich, daß ich es tun mußte, es gab
für mich keinen anderen Weg."
Wortlos hatte er ihrem Bericht bis zu diesem Punkt gelauscht, nun
öffnete er den Mund, um etwas zu fragen...
"... Da habe ich das Schreckliche getan.
Ich habe zu dem Mann, der die Reisepässe ausgibt, gesagt: Und
wenn ich mit ihnen ins Bett steige, bekomme ich dann den
Pass...?"
Der anfangs nur dumpf drückende Schmerz in der Magengrube
wühlte nun stechend in seinen Eingeweiden. Unbewußt zog
er seine Rechte, die bis dahin in der ihren geruht hatte,
zurück. Klein und ängstlich kam ihre Stimme wieder.
"Ich habe das Dokument erhalten. Dafür bin ich zwei Stunden
lang bei ihm gewesen. Er war wie verrückt, wie mad. Es war
schrecklich, nie mehr möchte ich soetwas wieder erleben." Und
dann, nach einer Weile, fügte sie noch hinzu: "Es war schon
ein sehr alter Mann, verstehst du, Willi?"
Ach, das ist doch völlig gleichgültig, ob er alt oder
jung gewesen ist. Dieses Schwein wird sich bei ihr ausgetobt
haben. Nun ist sie für ihr Leben lang ruiniert...
Was wissen denn die Aussies hier, was unsere Frauen und
Mädchen alles durchgemacht haben, in den vielen Jahren
während und nach dem Krieg? Keiner mehr würde die Nase
rümpfen, wenn sie nur ein wenig Verständnis und
Mitgefühl aufbringen könnten. Mitgefühl, das sollte
auch er haben. Durfte er sie wegen dieser Vorgangsweise verdammen?
Sollte er sie deshalb – nicht mehr lieben können?
Nein! Was auch immer vorgefallen sein mag, sie getan haben mochte,
er liebte sie doch, wollte nicht an die Schrecken der
Vergangenheit denken und erinnert werden.
"Ich habe es noch niemand außer meiner Freundin erzählt
und weiß nicht, warum ich es dir sage. Glaube mir, wenn
meine Mama das wüßte, könnte ich nie wieder nach
Jugoslawien zurück."
Er räusperte sich: "Ich verstehe dich, Danica. Du brauchst
mir nichts weiter zu erklären." Langsam wich die
Betäubung, in die ihn der seelische Schock versetzt hatte und
machte einer neuen Welle des Verständnisses und der Zuneigung
Platz.
Wieviele Mädchen hätten um diesen Preis den Mut
gefunden, das zu tun, wozu sie sich entschlossen hatte? Er
verglich ihre Lebenssituation von damals mit der seinen vor knapp
zwei Jahren. Auch für ihn hatte es zuhause anscheinend kein
Weiterexistieren gegeben. Hätte er zum Beispiel die
Entschlossenheit aufgebracht etwa über eine minenverseuchte,
schwerbewachte Grenze zu flüchten? Er war sich nicht sicher.
Das Mädchen an seiner Seite war in Ordnung. Erneut zog er sie
vorsichtig an sich und flüsterte ihr ins Ohr: "Du, ich habe
in Port Said ein Silber-Armband mit der Absicht gekauft, es dem
Mädchen zu schenken, das mir am besten auf dieser Welt
gefällt, liebe Danica.
Ich habe dieses Geschöpf lange suchen müssen, Danica,
aber ich glaube, ich habe es nun gefunden."
In ihren langen dunklen Wimpern hingen feuchte Perlen.