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2. Kapitel: Die Landung


Die letzte Stunden vor der Landung in Fremantle verbrachten die Auswanderer ruhelos, genauso wie in allen anderen Häfen. Unablässig schlugen Türen auf und zu, Menschen eilten an Deck und blickten zur Küstenlinie hinüber, die sich im Schimmer der Sterne am Horizont abzeichnete. Die Flamingo kreuzte solange mit leichter Fahrt vor dem Hafengewässer, bis sie um zwei Uhr morgens die Erlaubnis zum Einlaufen erhielt.
Niemand dachte an Schlaf.
Hocherfreut die lange Reise endlich hinter sich zu haben, kleideten sich die Passagiere mitten in der Nacht vollständig an, bereiteten Personalpapiere, Briefe und Fotoapparate vor, um für den langersehnten Augenblick des Anlegens in Australien gerüstet zu sein.
Als die Sonne aufging, verfärbte sich der Himmel blutrot und ließ die Umrisse der Küste deutlich hervortreten. Wie Flakgeschütze ragten die Hafenkrane in die Luft, geisterhaft still lag das Land da, nur das sanfte Plätschern der gegen die Mole anlaufenden Dünung unterbrach die Totenstille.
Unwillkürlich schweiften die Gedanken der Menschen, die da fröstelnd in der frischen Luft des anbrechenden Tages ausharrten, zurück zu den Häfen Aden, Port Said, Messina, Triest überall dort war der Pulsschlag des Lebens auch des Nachts zu spüren gewesen...
Gegen acht Uhr glitt das Schiff parallel zu einer steinbewehrten Mole in ihre endgültige Position. Auf den Verladeplätzen lehnten einige Hafenarbeiter müde gegen ihre Schaufeln und lugten apathisch zur Menschenmenge an Bord der Flamingo hinüber. Auswanderer, die zaghaft hinüberwinkten, gaben es bald auf, denn keine Hand rührte sich zum Willkommensgruße.
Dieser allererste Eindruck von Eintönigkeit, Verlassenheit und Lahmarschigkeit stellte eine große Enttäuschung dar, denn man hatte aufgrund der offiziellen Auswandererprospekte Leben und nochmals Leben erwartet...
Scharen von Beamten der australischen Einwanderungsbehörde nahmen im Salon Platz, uniformierte Beamte der Hafenpolizei stellten sich breitbeinig vor den Saaltüren auf und ließen mit lässigen Handbewegungen die Europäer einzeln eintreten, die in einer endlosen Schlange bis zum Heck des Schiffes und wieder zurück warteten. Karl Holzner und Willi Höger hatten die Absicht, möglichst rasch zum Fremdenpaß zu kommen, denn sie wollten gleich in die Stadt Fremantle eilen, da bereits um 2 p.m. wiederum die Anker gelichtet würden, um nach der Durchquerung der Großen Australischen Bucht den Bestimmungshafen Melbourne anzulaufen. Wütend beobachteten sie, wie Italiener das fürchterliche Gedränge ausnützten, um sich nach vorne zu schwindeln. Da die Reihen der Wartenden mehrfach parallel liefen, wechselten sie einfach in die nächste Reihe und übersprangen auf diese Weise gleich 30 bis 50 Personen. Die endlosen Stunden des Wartens, die sie auf so unangenehme Weise in der prallen Sonne stehend, brennend vor Ungeduld verbrachten, grub sich unauslöschlich in aller Gehirnwindungen ein. Und die Itaker verscherzten sich die letzten Sympathien bei den Österreichern was ihnen vermutlich vollkommen egal war.

Der Beamte sah von den Papieren auf und blickte Willi kurz an, nachdem der ihm Paß, Internationalen Impfschein und ein Portraitfoto überreicht hatte.
"Name?" "Willibald Höger."
"Height?" Der Mann von der Behörde rechnete die Angaben mit Hilfe einer Tabelle in Inches um, musterte Willi nochmals von Kopf bis Fuß und trug dann "Five feet nine inches" in die blaue Legitimation ein. Das schien Höger etwas über den Daumen gepeilt zu sein, aber er schwieg.
Alarmiert war er nur, als der Australier ohne eine Sekunde zu zögern, in die Rubrik Profession "Labourer" eintrug, ihm blieb einfach die Luft weg. Stempel knallten auf die Seiten, ein Tintenkuli fetzte eine Unterschrift aufs Papier und schon hielt Willi Höger seinen Fremdenpaß in der Hand.
"Next please!" hörte er noch, wandte sich zum Gehen und stieß auf Karl, der mit geistesabwesenden Blick seinen Ausweis durchblätterte. "Sag mal", drang Willi vorsichtig in ihn, "was hat man bei dir als Berufsbezeichnung eingetragen?"
"Ich verstehe das alles nicht...", stotterte der Freund. "Ich bin doch im Besitz sämtlicher Papiere, die beweisen, daß ich Schlosser gelernt habe und den Beruf seit Jahren ausübe. Und der tragt so mirnichts dirnichts Arbeiter in das Dokument ein!"
"Ich glaube, die wollen uns elegant verarschen, aber vielleicht hat das alles herzlich wenig zu besagen?"
"Auf jeden Fall ist es eine Herabsetzung jedes Facharbeiters, ihn einfach als labourer zu bezeichnen, was ja einen manuell tätigen Schwerarbeiter laut Lexikon bezeichnet!" meinte Karl noch immer verstört.
Gegen die Mittagszeit hin waren endlich alle Formalitäten erledigt und unsere Freunde und der kleine Bäckergeselle eilten über die Gangway nach unten.
Ihr Füße berührten noch kaum zum ersten Male australischen Boden, erfuhren sie über eine offizielle Durchsage, daß die Flamingo erst um 23 Uhr respektive 11 p.m. auslaufen würde. In der Stadt erzählten ihnen später Landsleute, die Hafenbehörden hätten bei einer Überprüfung der Rettungsboote auf den ersten Blick gravierende Mängel festgestellt. Erst nach Abschluß der Reparaturen dürfe das Schiff die gefürchtete Australische Bucht überqueren.
Der Bäckergeselle begann bereits nach wenigen hundert Schritten auf dem fremden Boden zu jammern: sie würden sehen, das Australienabenteuer ginge ganz bestimmt schief, es wäre zwecklos in die Stadt hineinzurennen, man solle besser sein bißchen Geld zusammenhalten. Auch mit den Arbeitsmöglichkeiten sehe es nicht so rosig aus, wie ihnen Miss Green an Bord geschildert habe am liebsten würde er auf der Stelle umdrehen und zurückfahren. Die beiden anderen achteten nicht auf sein Gejammer, sondern schritten rüstig vorwärts.
Kurz danach brauste eine Dampflokomotive mit einem langgezogenen, sirenenartigen Geheul unter der Brücke durch, die sie gerade überquerten, was Willi aus den englischen Kriminalfilmen bekannt vorkam. Also zumindest der Pfiff ist vom Mutterland übernommen, bemerkte Willi leicht amüsiert. Auch die Backsteinbauten und die erste Kirche, die sie erblickten, erinnerten stark an den altenglischen Stil. Die Burschen schlenderten zu einer Bushaltestelle und stellten sich neben eine Mädchenschar, die, wie sie mit Staunen registrierten, in Schuluniformen gekleidet war.
Die Verständigung mit der Schaffnerin in dem überfüllten Bus klappte einwandfrei, nur etwas fiel ihnen auf, eine Redewendung, deren Sinn sie nicht sogleich verstanden: "Six pence, thank you!" Warum bedankte sie sich noch bevor sie ihr das Geld ausgehändigt hatten? Da sie leichtes Hungergefühl verspürten, hielten die drei nach einem Restaurant Ausschau und blickten vorerst unentschlossen durch die Scheiben eines Lokals, bevor sie einzutreten wagten. Nachdem sie Vegetable soup, Steak and eggs, Salad und anschließend Tea, Bread and butter zu ihrer Zufriedenheit vertilgt hatten, ging's ans Zahlen, wobei zu ihrer Überraschung die Zeche für alle addiert wurde und die Kellnerin ohne ein weiteres Wort die Rechnung dem nächstbesten zuschob. "Die machen sich ihren Dienst aber leicht", murrte einer, als ihnen dasselbe auch in den städtischen Autobussen passierte. Verwundert bemerkten sie, wie der Schaffner einer Mutter mit Kind beim Aussteigen half, das Lenkrad verließ, sich zum Heck des Autos begab, ein zusammenklappbares Sitzwägelchen von einem Haken herunter hob und es der wartenden Mutter freundlich zuschob, die sogleich ihr Kind darin verstaute.
"Mensch, das ist ja famos!" entfuhr es einem der jungen Männer. "Zuhause muß eine Frau froh sein, wenn ein Kinderwagen überhaupt transportiert wird! Da können sich die Unseren aber eine Menge abgucken!"
Minute für Minute entdeckten sie nun neue Dinge, die ihnen entweder unverständlich fremdartig oder irgendwie bewundernswert vorkamen.
Inmitten eines Postamtes, das überfüllt, heiß und schwirrend von Wortfetzen der Wartenden war, geschah es, daß sie Bruchstücke ihrer Muttersprache auffingen, die offensichtlich von einer Frau mittleren Alters ausgingen, die sich da mit einer hageren Jüngeren unterhielt: "Ach, es scheint heute mal wieder richtig heiß zu werden, was denken Sie, Frau Buske?"
"Zu toll, und ich muß noch viel Shopping gehen... How are you going, Miss Bainbridge?" Die jüngere Dame unterbrach kurz ihren Redefluß, um eine vorübergehende Australierin zu begrüßen und fuhr dann im gleichen Tonfall fort: "Mein Husband kommt diese Woche nämlich früher nach Hause, da er Morning shift arbeitet. Ich werde..."
Interessiert lauschten die drei Österreicher der regen Unterhaltung der beiden deutschen Einwandererfrauen. Beim Bezahlen des Luftpostbriefes in die Heimat vernahm die eine Frau den harten deutschen Akzent in Willis Englisch, sie blickte herüber und erkundigte sich herzlich: "Na, ihr seid wohl noch nicht lange im Lande, nicht wahr?" "Ja, diesen Morgen mit der Flamingo angekommen, die noch im Hafen liegt", gab Karl freudig Auskunft. "Und Österreicher auch noch, das merkt man aber gleich. Wartet ein Weilchen, ich werde bald fertig sein, dann können wir uns ein wenig unterhalten. Ihr habt doch soviel Zeit, wa'?"
"Gerne, wir begeben uns nur inzwischen auf die Straße hinaus hier herinnen halte ich es nicht mehr lange aus!" erwiderte Willi. Die mollige Rheinländerin in einfachem dunklen Kleid kam ihnen nach, und gemeinsam spazierten die Vier die belebte Geschäftsstraße entlang. "Ihr müßt schon entschuldigen, aber in den sechs Jahren, die wir nun hier leben, habe ich bereits viele deutsche Ausdrücke verschwitzt. Manchmal, besonders an heißen Tagen wie heute, muß ich in meinem Gedächtnis direkt nach Vokabeln fischen! Englisch spricht sich auch leichter wie das Deutsche, zumindest das Alltägliche... Meine Tochter ist mit einem Italiener verlobt, ein sehr netter Mensch übrigens. Da mein Mann und ich uns in der Sprache nicht unterhalten können, sind wir eben gezwungen dauernd englische Konversation zu führen..."
Die Burschen berichteten ihr von ihren Erlebnissen mit den italienischen Schicksalsgenossen an Bord, worauf sie meinte: "Das stimmt, die Italiener sind auch hier alles andere als beliebt. Aber wie überall gibt es unter ihnen gute und schlechte Charaktere, ziemlich gleich verteilt!"
Die Neuankömmlinge erkundigten sich, wie es denn mit der Erziehung der australischen Jugend stünde, die zu beobachten sie bereits Gelegenheit hatten.
"Ach wißt ihr, mit Education nein das stimmt nicht ganz mit der Erziehung, genauer gesagt dem Benehmen, ist es nicht weit her. Sie wirken alle ein wenig flegelhaft und ungehobelt..."
Mehr als eineinhalb Stunden führten die vier, an einer Straßenecke vor einem Obstgeschäft stehend, informative und inhaltsreiche Gespräche, wobei öfters die Rede auf Europa kam, auf die wirtschaftlichen Verhältnisse oder die noch immer bestehende politische Unsicherheit.
"Wir sind ja ganz zufrieden mit unserem Los hier, wenn einem auch manches abgeht, das in Deutschland wohl als selbstverständlich gilt..." Ihre Miene nahm für einen Augenblick einen seltsam gefassten Ausdruck an, eine nachdenkliche Pause lang starrte sie vor sich hin: "Hoffentlich ergeht es euch gut. Viel Glück! Besonders für den Anfang, es ist nicht leicht!" setzte sie hinzu und diktierte Willi dann ihre Adresse. "Es würde mich wirklich freuen, von euch wiedereinmal ein Lebenszeichen zu erhalten, wäre gespannt wie es euch ergeht!"
Lange blickte sie noch den drei jungen Menschen nach, als diese ihre Entdeckungsreise noch vollkommen unbelastet fortsetzten, so gut wie ahnungslos, was die Verhältnisse auf diesem riesigen Kontinent Australien betraf.
Die halboffizielle Bezeichnung "Newaustralians Neuaustralier", wie man die Einwanderer allgemein betitelte, traf nicht im mindesten auf sie zu. Es waren Europäer, die da den ersten Kontakt mit dem australischen Leben aufnahmen, keine New-Australians, eine Bezeichnung, die Europäer selbst nach langem Aufenthalt zum Widerspruch reizte und die denkende Einheimische als falsch oder unzutreffend ablehnten. Der Wunsch, die Neuankömmlinge möglichst rasch in der australischen Volksmasse aufgehen zu lassen, war der Vater dieser Bezeichnung, die Absicht, sie möglichst bald und nach Belieben dem eigenen Sozialverhalten unterzuordnen, jegliche eventuelle Neuerung, deren Wurzeln am alten Kontinent Europa zu finden war, im Keim zu ersticken.
Von dieser Erkenntnis unbelastet, schritten die Österreicher der Innenstadt zu. In der Sonnenglast lagen die niedrigen, einstöckigen Häuserzeilen menschenleer da. Eine dünne Staubschicht schien sich beim Aufkommen des geringsten Windhauches von der Straßenoberfläche abzuheben, um sich dann in der Luft fein zu verteilen. In den Geschäftsstraßen konnten sie sich fast ununterbrochen im Schatten eigenartiger Vordächer weiterbewegen, die aus rostigen Wellblech, abgestützt mit verschnörkelten Holzsäulen oder altmodisch wirkenden gußeisernen Säulen, bestanden. Als sie schließlich durch eine fußfreie Schwingtüre einen Pub betraten und sie eine Welle von Rauch und Alkoholdunst umspülte, deren Urheber, in breitrandigen Hüten an der ovalen Theke lümmelnd, riesige Quantitäten Bier durch die Kehlen jagten, kam ihnen dies alles wie die Dekoration zu einem Wildwestern vor.
Später gelangten sie in eine noblere Gegend, denn saubere Einfamilienhäuser reihten sich ununterbrochen aneinander. Familienväter sprengte eifrig die kleinen Rasenflächen vor den schmucken Häuschen oder begnügten sich damit, die Sprinkleranlagen bedächtig zu überwachen. Hie und da knatterten Rasenmäher, und nur auf solcherart gepflegten Flächen leuchtete den Dreien das Grün entgegen, das sie aus ihrer Heimat bereits in schmerzlicher Erinnerung hatten.
Bei diesem ziellosen Herumwandern stießen sie auf eine weitere Gruppe von Landsleuten, unter ihnen auch Dietrich, dem Frauenheld. "Also hörst, die Weiber da sind nicht schlecht ziemlich schlank gewachsen!" urteilte er begeistert, als ihn Willi scheinheilig um seine Meinung fragte, wohl wissend, daß kaum ein anderes Thema auf Erden Dietrich mehr reizen konnte. "Aber die Zeit ist ungünstig, die meisten werden noch im Büro sitzen... Wißt ihr was? Wir fahren geschlossen nach Perth rüber, ist ja angeblich eine der schönsten Städte Australiens."
Im Bus ließ sich Dietrich sogleich neben einer auffallend charmanten jungen Dame nieder, während Karl und Willi dahinter Platz nahmen und sofort in drängendem, völlig ungezwungenem Ton auf den Casanova eindrangen: "Mensch, so sprich sie doch schon an! Frag sie doch, wie weit es bis Perth ist oder noch besser lad' sie gleich ins Kino ein!"
"Wenn ich nicht kann! Glaubst du, ich geh' mich blamieren? Die lacht mich doch aus mit meinen Englischkenntnissen!" Er drehte sich um und tippte gegen die Stirn. Keiner der Burschen brachte den Mut auf das erste weibliche Wesen, das ihnen in Australien über den Weg lief, anzuquatschen.
Perth hielt was man ihnen darüber erzählt hatte, brauchte keinen Vergleich in Schönheit und Anmut mit einer europäischen Kulturstadt scheuen. "Schaut doch! Ein Volkswagen!" Die Freude, auch hier Produkte aus Übersee zu finden, war riesengroß. An den Kreuzungen beobachteten sie den Linksverkehr, und jedesmal stockte ihnen der Atem, wenn ein Fahrzeug um die Kurve fegte und der Zusammenprall unvermeidlich schien. Um fünf Uhr öffneten sich die Tore der Büropaläste und heraus strömten in hellen Scharen Frauen und Mädchen, so gepflegt und puppenhaft wirkend, wie sie es zuhause noch nie gesehen hatten. Zu zweit und dritt stolzierten die australischen Evastöchter auf Beinen daher, die jedem Werbeplakat für Strümpfe Ehre eingelegt hätten. "Und da heißt es immer, Australien leidet unter Frauenmangel! Die Girls auf unserem Kahn können ruhig einpacken, ich schau' keine mehr an, so wahr ich Lämmel heiße!
Na, vielleicht Miss Flamingo, das wäre aber auch schon alles", verkündete Dietrich mit erhobener Stimme. "Und jetzt nichts wie ran!"
Leider fehlte im Augenblick jede Gelegenheit dazu, so beschlossen sie, sich vorerst mal Mut anzutrinken. "Hallooo, da ist schon so eine Spelunke, nichts wie rein ins Vergnügen!" verkündete Dietrich flott wie immer und trat als erster ein. Ein großer Saal tat sich vor ihnen auf, an dessen Wänden entlang kleine Tischchen aufgebaut waren. Ein geräumiges Tanzpodium mit einem verlassen dastehenden Klavier, eine Registrierkasse mit einem älteren Fräulein dahinter und dazwischen vereinzelte Pärchen füllten den Raum aus.
Da sich nichts rührte, wurden sie unruhig und einer aus der Runde rief: "Heh! Wirtshaus!". Allerdings so zaghaft, daß es kaum bis in die nächste Ecke drang. "Da ist doch so ein schöner weißer Porzellanknopf angebracht! Drück' den mal kräftig, vielleicht kommt dann jemand", riet Dietrich, und Karl zögerte nicht lange. Gespannt blickte alles umher, die Wirkung war in der Tat verblüffend: Aus einer Seitenloge tauchte ein Mann auf, sandte fragende Blicke auf die Gäste hernieder, rückte den Stuhl am zittrigen Flügel zurecht und begann eine Tanzmelodie zu spielen. Immense Heiterkeit von Seiten der Einwanderer war die natürliche Reaktion darauf.
Auf dem Weg zum Schiffsanlegeplatz begegnete ihnen Fritz, der von Giftzwerg begleitet wurde. Nach dem Begrüßungshallo erkundigte sich Willi nach den ersten Impressionen über ihr neues Heimatland, die Antwort war für ihren Giftzwerg typisch: "Ja weißt du, mir gefällt es ganz gut. Aber eine blöde Gewohnheit haben die Leute hier die reden ja dauernd Englisch!" meinte der leichthin, allerdings im besten Kärntner Dialekt.
"Ihr braucht euch mit dem Heimkommen überhaupt nicht zu beeilen wir laufen auch um 23.30 Uhr nicht aus", teilte ihnen Fritz noch mit, als sie eine schnellere Gangart einschlagen wollten. "Die Ausbesserungsarbeiten sind derartig umfangreich, daß mit dem Auslaufen nicht vor morgen Mittag zu rechnen ist!"
Sie drehten nochmals um und kehrten erst mitten in der Nacht zurück auf das Schiff, das ihnen wie ein sicherer Zufluchtsort vorkam.

Während die vielen hundert Italiener, Österreicher und einige wenige Jugoslawen aus der Gegend um Triest einem neuen Tag mit neuen Entdeckungen entgegenträumten, tauchte aus dem westlichen Horizont wiederum ein mächtiger, schlanker Schiffskörper auf, dessen Decks von neugierigen, erwartungsvollen Menschen wimmelte, meist Westdeutschen und zahlreichen Maltesern.
Als der Koloß endlich festgetaut im Hafen von Fremantle lag und die letzten Kommandorufe verhallt waren, begaben sich die Passagiere des eben eingelaufenen Auswandererschiffes fröstelnd wieder zurück in die Schlafräume, denn die Stille konnte sie nicht zum Wachbleiben verleiten.
Zwei junge Männer, von denen der eine mit leicht gekraustem Haar gegenüber seinem Begleiter mit dem Gardemaß von 1.85 Meter recht klein wirkte, sahen zur Flamingo hinüber, die etwa 50 Meter weiter vorne vollkommen ruhig dalag.
"Scheint ebenfalls ein Migrant-Transport zu sein. Der Kahn sieht kleiner aus als der unsere, wird auch kaum komfortabler sein. Hoffentlich ist wenigstens die Fresserei besser...." Der Lange gab mit keinem Wort zu erkennen, daß er überhaupt zugehört hatte. Der andere sagte gähnend: "Bin neugierig, ob die auch nach Bonegilla oder wie das Camp heißt, eingeliefert werden. Komm, laß uns hinuntersteigen in das elende Massenquartier!"
Eine Ratte lief das armdicke Seil entlang, das durch die Ankerklüsen aufs Vorschiff führte. Als sie nicht weiterkonnte, kletterte sie vorsichtig den gleichen Weg zurück, bis ein massiver gußeiserner Verankerungsblock ihr festen Boden unter den Füßen verspüren ließ.
Aus dieser Entfernung formten die Buchstaben am Bug des Schiffes einen sinnvollen Namen: "Skaubryn" lautete das Wort.

* * *


Frisch ausgeruht und zu neuen Taten bereit trieb sich Willi Höger auf der Flamingo herum. Der Verbindungsweg zwischen den Sonnendecks erwies sich als gesperrt und zeigte einen ungewohnten Anblick: die hölzernen Rettungsboote lagen dickbäuchig auf den Planken, und Handwerker bohrten, hämmerten und meißelten, daß die Späne nur so flogen.
Ein gutmütig aussehender Australier mit einer Lederschürze um den Leib gebunden, die Hemdsärmel aufgerollt, wischte mit dem Handrücken die Schweißtropfen von der Stirn. "Ein heißer Tag heute, nicht wahr?" begann er jovial ein Gespräch. "Yes, indeed", gab Willi zögernd zur Antwort. Er wußte nicht weiter, was sollte er sagen? Doch, es fiel ihm etwas ein: "How long are you working here?" Der Aussie blickte ziemlich verständnislos drein. Nein, das war falsch ausgedrückt, er verbesserte sich: "How long will this job...ah, ah, take you to finish?" Nun war es wohl richtig heraussen, eine schwere Geburt.
"Oh, ich denke wir werden mit diesem bloody Job kaum vor Freitag Morgen fertig werden, die ganzen Rettungsboote sind durch und durch verfault. Es ist eine Schande, denk dir bloß aus, was passieren hätte können, wäre euer Schiff in Seenot geraten! Ihr wäret wie neugeborene Katzen elendiglich abgesoffen. Look down there!", er wie auf die Meeresoberfläche hin, und Willi beugte sich folgsam vor. Die ausgeschwenkten Boote hingen an Stahlseilen tief Wasser, obschon unbelastet drang dreckiges Hafenwasser durch die morschen Bretter, welche die Deckhands so schön weiß lackiert hatten um die schadhaften Stellen für das Auge verschwinden zu lassen. Das durfte man in der Tat als eine unverzeihliche Sorglosigkeit betrachten, da hört sich die alte Walze von italienischer Lebensfreude und Unbekümmertheit aber auf, fand Willi und so dachten Gott sei Dank auch die hiesigen Hafenbehörden.
Der Zimmerman erzählte ihm, daß die Einwanderungsbehörden von der Schweinerei Wind bekommen hatten und auf kompletten Ersatz aller Rettungsboote längstens nach dem Einlaufen in Sydney bestünden. Schadenfroh wandte sich Willi ab, diese Blamage und die Stange Geld für die Reederei gönnte er den Itakern.
Am Kai verwickelte der junge Österreicher einen Arbeiter, der Löcher in die Holzbohlen drillte, in eine interessante Diskussion. "Ich stamme aus Essex und lebe seit etwa acht Jahren hier in Fremantle", erklärte der so bedächtig und deutlich artikulierend, daß Willi , der begierig zuhörte, jedes Wort mitbekam.
"Mein Sohn besucht in Perth die Universität, geht ins College", erwähnte er mit sichtlichem Stolz. "Welchen Beruf hast Du gelernt?" erkundigte er sich dann, ohne von der Arbeit hochzublicken. "Ich habe ebenfalls ein technisches College besucht, aber die Ausbildung nicht abgeschlossen", gab Willi Höger wahrheitsgetreu zur Antwort.
"Dann würde ich dir raten: Sieh' dich um einen Job um, wo du das Gelernte verwerten kannst vor allem aber nicht vergißt, spare fleißig, fahr' nach zwei Jahren wieder nach Europa zurück und beende dein Studium!" Verwundert nahm Willi das Gehörte auf, der Alte bemerkte das und setzte fort: "Du staunst über meinen Vorschlag, das kann ich mir denken. Well, was glaubst du, warum ich diese blödsinnigen Löcher da rein bohre? Weil ich nichts anderes kann?
Nein, mein Freund! In England arbeitete ich als perfekter Modelltischler, hier verdiene ich bei der einfachen Tätigkeit mehr, als ich hierzulande in meinem Beruf erhalten würde. Für genaue Arbeiten haben die wenig übrig, hier mußt du möglichst billig herstellen auch wenn sich das Produkt hinterher als Dreck erweist!
Ist Dir denn nicht aufgefallen, wie primitiv die Dinge um dich herum sind? Wenn ein Aussie etwas Präzises braucht, so wie etwa diesen Metallmaßstab", er reichte ihn Willi zur Ansicht, "dann bezieht er es von Old England oder vielleicht Germany!"
Ja, der Mann dürfte recht haben, sagte sich Willi. Die Telegrafen- oder Strommasten zum Beispiel laufen kreuz und quer, daß einem frisch importiertem Elektriker vermutlich die Grausbirnen aufstiegen. Oft dachte er, die Aussies hängen die Kabel sicherlich nur an die verkrüppelten Maste, weil die Befestigung an den Dachrinnen auf Schwierigkeiten stößt.
Zusammen mit seinen Freunden besichtigte er nochmals Perth, wobei er vornehmlich in den Botanischen Gärten herumstreifte, da er dort seiner Kamera die gebührende farbenfrohe Umgebung bieten konnte. Größte Heiterkeit rief der Anblick einiger weißgekleideter Damen mit großen, breitrandigen Hüten unter ihnen hervor, die auf gleichmäßig exakt geschnittenen Rasenflächen in tiefem Ernst braunlackierte Holzkugeln über ein Feld schoben. Da den Österreichern Frauensport, mit Ausnahme von Winteraktivitäten oder eventuell Leichtathletik oder Wassersport, ziemlich unbekannt war, kam ihnen Bowling höchst komisch vor; und so guckten sie mit unverhülltem Vergnügen dem Treiben zu.
Bald jedoch sollten sie am eigenen Leibe erfahren, daß Kleider Leute machen und aus dem ortsüblichen Fallendes im allgemeinen als Lächerlich empfunden wird.
Konrad aus der Kabine XII hatte sich in seine beste Schale geworfen, um mit anderen Tanzlustigen "die Lage in Perth einmal richtig zu sondieren", wie er sich auszudrücken pflegte. Obwohl er nur einfacher Maurer war und sozusagen ohne höhere Ambitionen, verfügte er über sehr gute Umgangsformen. Umso erstaunter nahm die Belegschaft der Kabine abends seinen Lagebericht auf:
"Wir bemühten uns in der üblichen Art und Weise Damen zu ergattern, um unsere eingerosteten Knochen im Takte der Musik aufzulockern. Vollkommen vergeblich! Kaum sahen die Girls unsere engen Röhrlhosen, wandten sie sich mit Grausen ab und wir hatten das Nachsehen. An die zehnmal erging es mir so. Nach all den Körben reichte es mir aber, ich ließ die eingebildeten Puten stehen und suchte den nächsten Pub auf...
Beim Saufen wird man hier scheinbar am ehesten als Mensch akzeptiert, denn ich fand bald einen Gesprächspartner soweit man bei mir überhaupt vom Englischsprechen reden kann!" setzte er grinsend hinzu.
"Was nicht ist, kann noch werden!" tröstete ihn einer der Kameraden, wobei er offen ließ, ob er Konrads Sprachkünste meinte oder dessen Erfolge bei der einheimischen Damenflora.

* * *


Endlich, in der vierten Nacht nach ihrer Ankunft in Fremantle, lief die Flamingo dem Bestimmungshafen Melbourne entgegen.
Der neueste Bordklatsch, abgesehen vom Schicksal der schwangeren Frau des Tirolers, der nun ganz offen mit der bewußten blonden Italienerin poussierte, und die sich in ihrer Verzweiflung ins Wasser stürzen wollte, drehte sich um die fünf Flamingo-Passagiere, die in Fremantle die Abfahrt versäumt hatten.
"Kein Grund zur Sorge, denke ich", meinte Karl. "Die gelangen früher nach Melbourne als wie wir. Noch dazu steht ihnen eine spannende Bahnreise durch die Südaustralische Nullarbor-Ebene bevor. Den Fahrpreis bekommen sie sicherlich von den Einwanderungsbehörden vorgestreckt..."
Spiegelglatt lag die See vor ihnen, nur zeitweise getrübt durch ein leichtes Kräuseln der Oberfläche. Minutenlang segelten mächtige Albatrosse ohne einen einzigen Flügelschlag durch die Lüfte. Kindergeschrei ertönte beim Auftauchen einer Wasserschildkröte, die in Richtung der nicht allzuweit entfernten Küste schwamm, die sich flach und hellschimmernd hunderte von Meilen dahinzog.
"Sieht aus wie Schnee!" kommentierte einer.
"Ist aber hundertprozentig Sand, darauf kannst du Gift nehmen!" ließ ein anderer verlauten. "Angst um mangelnde Badegelegenheiten brauchen wir nicht zu haben. In Queensland allein soll sich herrlichster Strand tausend Meilen weit erstrecken!" "Ob es da drinnen auch Haie gibt?" Nachdenklich betrachteten sie das friedliche Gewässer.
"Und ob! Jedes Jahr enden drei bis vier Menschen durch diese Bestien, habe ich gehört", ereiferte sich Karl.
"Wenn man annimmt, daß die Hälfte der Bevölkerung die Küstengebiete bewohnen also etwa fünf Millionen, ist die Wahrscheinlichkeit äußerst gering, daß gerade du dürre Latte gefressen wirst!" rechnete ihm Willi vor, was gebührenden Beifall hervorrief.
"Was ist denn das da drüben? Seht ihr die vereinzelten Rauchsäulen?" Eine lebhafte Debatte um die Bedeutung dieser Erscheinung entbrannte unter ihnen. Buschfeuer? Nein, die würden sich über ein größeres Gebiet erstrecken. Also was sonst?
Nasenferdl, der Deckoffizier, schlenderte auf die Gruppe zu, offensichtlich in vergnügte Stimmung. Für ihn stand ja das Ende aller Ärgernisse knapp bevor wenn nämlich das ganze Auswandererpack in Melbourne das Schiff verlassen würde. Die Burschen deuteten auf die Rauchsäulen und baten in gebrochenem Italienisch um eine Interpretation.
Da legte der Gute theatralisch die flache Hand auf den Mund, nahm eine tänzerische Pose ein und begann in grotesken Sprüngen um ein imaginäres Feuer zu hüpfen: "Kangaroo! Kangaroooo!" stieß er dabei im höchsten Diskant hervor und drehte gleichzeitig mit der Linken den nicht vorhandenen Bratspieß. Die jungen Männer blickten ihn aus weit geöffneten Augen an, da wurde er sich plötzlich seiner Würde als Offizier bewußt, rückte die verrutschte Dienstmütze zurecht und schritt unter dem Beifallsgebrüll der Passagiere breitbeinig von hinnen.
Also Eingeborene braten dort die erlegte Jagdbeute. Schade, daß kein Fernglas zur Hand war.

Wiederum vergingen Tage.
In großem Bogen war das Land zurückgewichen und nur das Meer zu sehen, so weit das Auge reichte. Auf der Flamingo herrschte Aufbruchstimmung: Ausgeliehene Bücher wurden retourniert, der Zahlmeister öffnete den Safe und stellte Geld, Wertgegenstände und Dokumente wieder den Eigentümern zur Verfügung, und Miss Green verteilte die Zeugnisse an die Kursteilnehmer.
In Anwesenheit eines Regierungsbeamten hielt sie einen letzten Informationsvortrag, um an Hand der erteilten Antworten die Fortschritte ihrer Schüler zu demonstrieren. Da man ihre Vorliebe für gemeinsam gesungene Lieder zum Abschluß jeder Veranstaltung kannte, verdrückten sich weniger Interessierte noch vor der Beendigung. Krampfhaft bemühte sie sich, die Verbliebenen zum Singen zu animieren: "My Bonny is over the Ocean, my Bonny is over the Sea..." Aus Leibeskräften einstimmend trug Willi seinen Teil dazu bei, die Situation zu retten, Miss Green hatte das gewiß verdient.
In den Gängen und Kabinen der Flamingo begann ein geheimnisvolles und eigenartiges Treiben wie in einem arabischen Basar. Wintermäntel, Schuhe und Rasierapparate tauschten ihren Besitzer, wurden in knisternde Pfundnoten umgesetzt man benötigte doch Geld! Bargeld!
Die ganze Um- und Aufbruchszenerie äußerte sich zum Teil in heftigen Reaktionen, so konnten die beiden Freunde Karl und Willi zufällig beobachten, wie ein Mann unter heftigen Protest seiner Angetrauten deren Wintermantel in die See warf. "Was sollen wir uns damit noch belasten?" schrie der Ehemann in seinem Zorn. "Wir werden ihn ja doch nicht mehr benötigen. Und damit basta!" rechtfertigte er sich vor seiner heulenden Gattin.
"Das wird sicherlich ein guter Australier", bemerkte Willi ironisch. Karl fragte verwundert: "Warum glaubst du das?"
"Nun, der gute Mann versucht wirklich alles über Bord zu werfen, was ihn noch an Europa erinnern könnte. Die Idee finde ich nicht schlecht, schließlich haben schon andere Eroberer ihre Boote hinter sich verbrannt bloß, ich werde erst mal sehen ob es sich überhaupt lohnt!"
"Du bist ein Philosoph und ein elender Skeptiker", gab im Karl zu Antwort, fuhr aber abschwächend fort: "Aber ich schließe mich deiner Meinung an." "Ein wenig Zweifel kann kaum schaden", gab Willi ernsthafter zu bedenken. Ob er recht behalten sollte?

Man wußte, daß die nächste Station Bonegilla, das Auffanglager in Victoria sein würde, somit drehten sich viele Mutmaßungen über ihre nächste Zukunft um diesen Punkt. Angeblich würden sie in Einbettzimmer untergebracht, und innerhalb einer Woche bekämen sie Arbeit, hieß es.
Willi machte sich so seine Gedanken über die Ausflüsse der Gerüchtebörse. Das mit den Einzelzimmern ist sicherlich nur ein Wunschtraum der Leute hier an Bord, jeder sehnt sich nach ein klein wenig privater Sphäre. Innerhalb einer Woche einen Job? Mir soll es recht sein, ich wünsche es mir sogar, überlegte er. Aber im großen und ganzen ließen ihn diese Latrinengerüchte kalt. Langsam glitt er wieder in ein depressives Stadium hinüber, denn das ewige Rauschen und Pfeifen in seinen Ohren trieb ihn sukzessive zur Verzweiflung, oder noch schlimmer in die völlige Apathie. Änderte sich an seinem Zustand etwas wesentliches, wenn er ein Zimmer für sich bekam? Oder, ob es eine oder vier Wochen dauerte, bis sie ihm einen Job zuwiesen?
Gleichmütig nahm er die Dinge hin, wie sie kamen.
Seine äußere Ruhe wurde von seinen Kabinenkollegen als Gelassenheit schlechthin gedeutet: So hatte sich Norbert erst kürzlich gewundert, daß Willi im Bette liegend einen Reisebericht von Traven lesen konnte, während um ihn herum Jubel und Trubel herrschte und ihr Haustrompeter kräftig die Posaune blies. "Bei dem Lärm bringst du das fertig?" hatte er ihn gefragt. Wenn der wüßte! Je größer der Lärm, desto lieber war es ihm, desto weniger störte ihn der verfluchte Tinnitus.

Das Abschiedfeiern nahm immer krassere Formen und Auswüchse an, es erinnerte irgendwie an Torschlußpanik, obwohl niemand so genau sagen konnte, warum eigentlich. Als Willi Höger jüngst bei Tag an sein Stockbett trat, fand er den Raum abgedunkelt und nur die blaue Lampe leuchtete. Aus einer Ecke hörte er geheimnisvolles Raunen und Tuscheln: Konrad lag mit Hilde, der Aushilfslehrerin, engumschlungen im Bett und überwand so seinen Trennungsschmerz. Willi tat, als ob er nichts bemerkt hätte und schloß die Kabinentür sanft von außen. Also auch hier drinnen fing es nun an, vielmehr, hier in den Kabinen endete es: Letzter Abend an Bord der Flamingo!
Eine Ansprache jagte die andere: Der Migration Officer, Mr.Schneefuß und schließlich Miss Green richteten wohlgemeinte Worte an die gespannt Lauschenden. Mit ungeheurem Beifall beklatschte man die Verabschiedung ihrer australischen Englischlehrerin, man dankte ihr auf diese Weise für die Mühe, die sie sich auch mit dem störrischsten Esel gemacht hatte.

Dann war es soweit!
Gepackt standen Koffer und Seesäcke in den Kabinen, auf Gängen und am Deck herum. Schwimmgürtel, Papierfetzen und Ski lagen am Boden, Ansichtskarten wanderten von einer Hand in die andere: Jeder verewigte sich mit seiner Unterschrift. Endlich, endlich war alles getan, was getan werden konnte und mußte, nun hieß es einfach warten.
Hermann holte seine Gitarre vom Schrank herunter und griff in die Saiten: Leise summten die Burschen mit, im Stehen, im Liegen, mit den Gedanken weiß der Himmel wo weilend. Kabine Zwölf war in den fünf Wochen zur See zu einer Gemeinschaft verschmolzen. Würde man sich je wiedersehen? Keiner wußte, wohin ihn das Schicksal in wenigen Tagen tragen würde...
Mitten unter den dicht gedrängt wartenden Passagieren stand Erwin ungeduldig auf einem der höchst gelegenen Punkte des Schiffes, um Ausschau zu halten. Seine näheren Freunde erkundigten sich, besorgt über dieses ungewöhnliche Verhalten, ob er denn hier, mitten im Hafenbecken, jemand suche?
"Ja, einen Bekannten von mir, immens reich. Betreibt in Melbourne eine Textilfabrik. Ich habe ihm ein Radiogramm mit der genauen Ankunftszeit übersandt. Er besitzt ein Motorboot und ich bemühe mich ihn rechtzeitig zu entdecken. Er holt mich sicher ab, meine Zukunft wäre bei ihm gesichert." Höger fühlte leichten Neid in seiner Herzgrube, ihn erwartete kein Mensch auf diesem Kontinent. Zwar wußte er, daß eine Freundin seiner Mutter ihre Bekannten in Sydney von seiner Auswanderung unterrichtet hatte, aber was half das schon? Ja, bald hätte er Paul vergessen, den Jugendfreund, der ihm den Brief nach Salzburg geschrieben hatte. Aber auch der wohnt in Sydney, dachte er resigniert. Auch andere seiner Bekannten hier am Schiff wurden von persönlichen Freunden am Kai erwartet, so etwa das Ehepaar Meier. Die Unannehmlichkeiten eines weiteren Lagerlebens standen ihnen vermutlich nicht bevor, und da für Wohnung und Arbeit bereits vorgesorgt war, würde ihnen der Start ins neue Leben nicht zu schwer fallen. Eigentlich ist es mir sogar lieber, überlegte Willi, wenn ich mir aus eigener Kraft heraus etwas erarbeiten kann und nicht auf fremde Hilfe angewiesen bin.
Als eine Viertelstunde nach der anderen verrann, ohne daß sich das bewußte Motorboot gezeigt hätte, sanken Erwins Hoffnungen und sein Gehabe wurde wesentlich ruhiger. "Sicherlich erwartet er mich auf der Pier, er hat es ja versprochen", wiederholte er des öfteren, als wollte er seinen Glauben damit erhärten.
Wiederum schoben kräftige, gedrungen gebaute Schleppdampfer mit riesigen Polstern am Bug bewehrt, die Flamingo vorsichtig parallel an die Kaimauer heran. Etwa zweihundert Menschen drängten dem kleiner werdenden Zwischenraum zwischen dem langsam herandriftenden Schiff und dem Kai näher. Noch bevor ein leichter Stoß das endgültige Anlegen anzeigte, flogen Schokoladetafeln gegen die Wände des Schiffes hoch, wurden von Händen erhascht oder klatschten in das trübe Hafengewässer. In Zellophanhüllen verpackte Blumen sollten erste Grüße sehnsüchtiger junger Männer an die Bräute auf der Flamingo sein, die häufig nur matt zurücklächelten, denn knapp daneben lehnte schon ein anderer junger Mann, der die neuerworbenen Besitzerrechte zwar nur für die unmittelbare Nachbarschaft sichtbar, aber unmißverständlich durch einen Griff an das verlängerte Rückgrat der jeweiligen Holden klarstellte.
Kaum war die Landungsbrücke angelegt, versuchten die Wartenden das Schiff zu stürmen, aber vorläufig mußten sie sich mit Zurufen begnügen, denn die Zollbeamten verstanden keinen Spaß. Langsam leerte sich das Promenadendeck von den angestauten Koffermassen, nur hie und da saß ein kleiner Bengel inmitten der Familienhabe und plärrte nach seiner Mutter. Während die Auswanderer der Kontrolle ihrer Habseligkeiten harrten, begannen Freunde nur noch durch einen hohen Drahtzaun getrennt ein erstes freudig erregtes Gespräch, und so mancher eben noch hoffnungsvolle Bräutigam ließ traurig die roten Rosen zu Boden sinken, um wortlos in der Menge zu verschwinden oder brüllend vom gegenwärtigen Liebhaber seiner Verlobten wenigstens Ersatz für die Schiffspassage zu fordern.
Karl Holzner und Willi, auf gemeinsamer Entdeckungsreise, beobachteten teils erheitert, teils gespannt und aufmerksam ihre Umgebung. Auf der gegenüberliegenden Seite des Zollgebäudes ankerte die "Himalaya", bevölkert von australischen und indischen Luxuspassagieren. Australische Millionärsgattinen traten leutselig an das Gitter heran, steckten den Kindern der Einwanderer aufmunternd lächelnd Münzen zu und erkundigten sich nach dem Herkunftsland der zukünftigen Bürger.
Unser kleiner Held Willi passierte die Zollkontrolle, wurde am ganzen Körper abgetastet und begab sich anschließend nach unten, wo ein wackeliger roter Zug der Neuaustralier harrte. Nach langem Herumpassen ruckte die Lokomotive an, und zwar so, daß der Holzaufbau in allen Fugen krachte. Natürlich stürzte alles an die Fenster, um sich ja keinen Blick auf Melbourne entgehen zu lassen.
"Langsam bekomme ich den Eindruck, daß wir hier in eine verkehrte Welt, eine Welt hinter dem Spiegel gekommen sind", äußerte Willi dem Freund Karl gegenüber, später, als der Mond am Himmel stand und er aufgrund der Oberflächenstruktur erkannte, daß auch der gut alte Trabant der Erde herumgedreht am Nachthimmel hing. "Ist ja kein Wunder, schließlich sind das ja die Antipoden Europas!" meinte er lachend.
Nach kurzer Fahrt durch die City Melbournes schaukelte der "Wüstenexpress", wie das Bähnlein bereits wenige Stunden später getauft worden war, mit neunzig Stundenkilometer eine schnurgerade Strecke entlang. Sanft gewellt lag die Landschaft vor ihnen, vereinzelt wuchsen Eukalyptusbäume auf spärlichen Grasflächen, hie und da tauchte ein schmutziger Tümpel umgeben von grasenden Rindern auf. Von Zeit zu Zeit rasten Güterzüge, vollgepfropft mit stinkenden Schafen vorbei, unzählige unbeschrankte Bahnübergänge leiteten Straßen in kleine Ansiedlungen, deren eigenartige Bauweise ihnen bereits in Fremantle aufgefallen war. Jede kleine Station lag an einem in Tritthöhe angelegten Bahnsteig aus Holz, an dessen Ende irgendwo ein verrostetes Turmgerüst mit einem Wasserbehälter drauf stand.
In Saymore kreischten zum ersten Male die Bremsen des wild schaukelnden Zuges, ungefähr der halbe Weg lag hinter ihnen. Ein Wartesaal, der in ein Büffet umgewandelt war, nahm sie auf. Frauen in blauen Kleidern und weißen Schürzen schleppten immer neuen Vorrat an Sandwiches und Kaffee heran. Dann setzten sie sich wieder in den Wüstenexpress und brausten dahin, bis sich die Sonne hinter den Bäumen versteckte, Grillen ihr Abendkonzert begannen und wohltuende Frische aus der vorbeiflitzenden Landschaft atmete.

Auf bereitgestellte Autobusse verladen, gelangten einige hundert Menschen in ein Lager, das in völliger Dunkelheit dalag, da sich schwere Wolkenbänke vor den Mond geschoben hatten und elektrische Außenbeleuchtung anscheinend nicht vorhanden war. Fluchend irrten die Einwanderer im Finstern umher, bis endlich jedermann das zugewiesene Quartier gefunden hatte. Hermann der Gitarrespieler, Achmed die Ruine und Willi der Alleswisser mußten sich zu dritt einen Raum in einer der Baracken teilen.

Die Strahlen der Morgensonne drangen durch die kleinen Klappfenster, durch die groben Ritzen in den Holztüren und beleuchteten die vielen hundert Wohnzellen dieses ehemaligen Militärlagers, tasteten sich über die Gesichter der Schlafenden, huschten über in wüster Unordnung herumliegende Habseligkeiten, geradeso, wie sie eben von den erschöpften Menschen vergangene Nacht liegen gelassen worden waren.
Eine Donnerstimme riß die Schlaftrunkenen mit plötzlicher Gewalt aus dem Trancezustand des Halbschlafes, wo noch selige Träume den nun zaghaft die Augen Öffnenden die Angst vor einer brutalen Realität versüßten: "Es wird bekanntgegeben, daß das Frühstück um acht Uhr morgens einzunehmen ist. Teller, Trinkschale und Eßbesteck liegen in jedem Cubicle auf und sind mit dem ebenfalls vorhandenen Tablett von den Essenholenden mitzubringen. Mahlzeiten dürfen nur in den Kantinen eingenommen werden. Thank you!"
Einer der Lautsprecher mußte direkt vor der Baracke angebracht sein, Willi blinzelte dem Sonnenlicht verschlafen entgegen, das durch die Öffnungen zwischen den kärglichen Vorhanghälften hereinstrahlte. Kein großartiger Anfang, überlegte er. Aber immerhin bereits ein Vorhang, sogar mit Blumenmustern drauf. Ein Fortschritt gegenüber der Kabine an Bord, zweifellos. Ein-Mann-Zimmer haben sie uns nun nicht beigestellt, der Gedanke war ihm ja gleich absurd erschienen. Wenn die Zeit fortschritt und das tat sie ja, würde er es sicherlich noch zu einem eigenem Raum bringen. Zu einem sonnigen, leuchtenden, das war ja bereits als Student immer sein Wunsch gewesen. Leider erwies sich meistens eines dunkler und kälter als das andere.
Ach, da hing ja die komische Schnur von der Decke herab. Vergangene Nacht hatten sie eine Ewigkeit vergeblich im Dunkeln danach geangelt, wenn er da nicht die Taschenlampe mit dabei gehabt hätte! Einen Zugschalter direkt an der Lampe anzubringen bedeutete Kabeleinsparung und weniger Installationsaufwand. Gute Idee!
Seine Gehirnwindungen arbeiteten präzise wie immer: Bloß einen leichten Metallring werde ich an der Schur befestigen, dann finden wir dich leichter, du Biest, überlegte er schnell.
Sieh da! Ein kleiner Holzschrank! Sein Blick wanderte in dem dürftig eingerichteten Raum umher. Wie gerne möchte ich meine Kleider lüften, seit sechs Wochen stecken sie im Koffer. Wahrscheinlich werde ich das weiter aufschieben müssen. Ja, da lehnt das Klapptischchen mit den zwei Sesseln, etwas wackelig, aber lange werden wir es ohnehin nicht benützen.
Er fand sich nun hellwach, der Magen knurrte unüberhörbar.
Hermann! Achmed! Auf ihr faulen Kerle, wir müssen Essen gehen! Sie kleideten sich rasch an und eilten ins Freie, konnten nun zum erstenmal kritisch die neue Umgebung mustern.
Baracke reihte sich an Baracke, die auf den rotgestrichenen Türen als einziges Zeichen der Individualität Kennziffern aufwiesen, sonst glichen sie wie ein Ei dem anderen. Auf den Treppen zu den auf Pfählen ruhenden Holzbauten balancierten allerorts die Einwanderer mit dem Eßgeschirr in den Händen. Eine lange Menschenschlange wies ihnen den Weg zur Messe. In einer herzlichen Atmosphäre man war wieder unter sich, das heißt die Italiener unseligen Angedenkens bevölkerten einen anderen Teil des Lagers schmeckte das Frühstück wunderbar.
Sein erster Weg führte Willi auf die Commonwealth Savings Bank, wo er seine englischen Pfunde in gültige australische umzutauschen gedachte. Vorerst suchte er jedoch Karl auf, dessen Heimstätte ihm wesentlich größer erschien und vorher von einem Künstler bewohnt gewesen sein mußte, dessen Kritzeleien Willi ungemein fesselten: Interessante Bleistiftzeichnungen nackter Frauen in allen Posen, sowie Schiffe und Landschaftsbilder verzierten die lichtgrün gestrichenen Preßpappenwände. Ein Frauentorso, in kunstgerechten Schattenstrichen ausgeführt, verriet die Gedanken und Gefühle seines Schöpfers, denn eine verschnörkelte Schrift quer über die Umrisse Italiens kündete in zwei dürren Worten, was für den Zeichner den Inbegriff des Glücks bedeutet haben mochte: " Italia bella". Schönes Italien! Herrliche Geliebte, die Du dort auf mich wartest! Ich sehne mich nach Dir!
Die Zeichnungen und Inschriften der Deutschen und Österreichern, die wartende Menschen in flüchtigen, einsamen Minuten hingeworfen hatten, wiesen kaum auf eine poetische Ader hin, ließen dafür aber in ihrer Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. So hatte ein junger Mann seinem Freund ein paar gut sichtbare Zeilen an der Wand hinterlassen, die trotz der Kürze alles über die Gefühlssituation der Angekommenen aussagte: "Wiedersehen 1957 am Rhein, Kurti!" Willi dachte sinnend nach:

Wie erklärte sich dieser Pessimismus, der augenscheinlich auch in jedem einzelnen ihrer Schar steckte, dieser feste Vorsatz oder die vage Hoffnung, eines Tages in das Heimatland zurückzukehren, bereits nach wenigen Tagen des Aufenthaltes auf diesem Kontinent Australien, dem Terra incognita, dem unbekanntem Land?
War es mangelndes Selbstvertrauen? Hegten die meisten Auswanderer überhaupt nicht die Absicht hier eine feste Existenz aufzubauen, waren alle bloß Abenteurer?
Oder flößte die ungeheure Weite des Kontinents, die Fremdartigkeit von Fauna und Flora ihnen allen geheime Furcht ein, die tief ins Unterbewußtsein gerutscht war und sich nur blitzartig in kurzen Äußerungen enthüllte?
Gedankenverloren starrte Willi Höger die grüne Wand an, bis die Konturen der Objekte vor den Augen zu verschwimmen begannen; er fand sich nicht in der Lage auf dieses Phänomen eine zufriedenstellende Antwort zu finden. Die Eindrücke in seinem Hirn manifestierten sich nur mosaikartig in den Millionen Nervenzellen, reichten nicht aus, um ein klare Erkenntnis in seinem Bewußtsein zu generieren.
Er betrat den Bankraum allein, angelte nach Worten, die sein Begehren klarstellen sollten. Die Verständigung funktionierte zu seiner Überraschung klaglos, und freundlich erkundigte sich die beiden Angestellten, mit welchem Schiff er gekommen sei. Ein junges Mädchen saß an der Schreibmaschine und hörte aufmerksam zu, als Willi von dem Skandal mit den Rettungsbooten berichtete, die Zuhörer erinnerten sich der Zeitungsnotiz und auch die niedliche Kleine griff in das Gespräch ein. Willi bedauerte es, keinen Grund zu finden, um die Unterhaltung weiterzuführen. Stolzerfüllt über den ersten erfolgreichen Kontakt mit Australiern verließ er den Bankschalter.
Eine Begrüßungsansprache stand auf dem Programm, so beeilte er sich in das Bonegilla-Theatre zu gelangen. Die üblichen Willkommensansprachen der verschiedenen Vertreter der Öffentlichkeit verströmten über die vielhundertköpfige Menge. Angenehm registrierte man, daß der Leiter des Unterrichts ein ehemaliger Österreicher war, der seit dreissig Jahren in Australien lebte; eine gewisse Genugtuung darüber hätte man nicht nur bei Willi Höger feststellen können. Ansonsten lauschte das Gros des Flamingo-Transportes gläubig den Worten wie "Herzlich willkommen in einem neuen, aufstrebendem Land, ...Wegbereiter für eine bessere Zukunft Ihrer Kinder...", und was sonst noch alles an die Herzen zweifelnder Menschen zu appellieren vermag.

* * *


Mit einigen Freunden, darunter Erwin, der von seinem wohlhabenden Bekannten schmählich im Stich gelassen worden war, durchstreiften sie die nähere Umgebung, die entfernt an die Hügellandschaften ihrer Heimat erinnerte. Der ausgedehnte Stausee des Hume Reservoirs lud zum Baden ein, doch vorläufig verzichteten sie auf das Vergnügen. Ihr Weg führte sie durch hochsprießende Grashalme, die struppig und ausgetrocknet in der Nachmittagshitze unter ihren Tritten knisterten. Gelegentlich huschten kleine Eidechsen über den Weg und einmal glaubten sie sogar die zuckenden Bewegungen einer schwarzen Schlange zwischen den staubtrockenen Grasbüscheln erkannt zu haben. "Also woaßt, do einilegn mecht i mi net, do woaßt ja nia, obst net mit aner zwa Meta longen Schlongan uman Hols aufwochst! Do geh i liaba daham Bleamal brockn!" ließ der braungebrannte Fritz hören. Wie immer trug er einen leichten roten Pullover um den Hals, den er über der Brust verknotete. "Und wozua i meine Brettl mitgnumman hob, is ma net kloar. A zweite Kleidabürstn tet ma do sicherlich mehr nutzen!"
Unter derlei vergleichenden Monologen gelangte die Schar munterer Burschen zu einem Gebäudekomplex, wo ihrer Lunge eine Röntgenuntersuchung harrte. Auch einige Wohnbaracken für das Lagerpersonal standen in Reih und Glied ausgerichtet da. Kinder spielten vor offenen Haustüren und nasse Wäsche flatterte an Drähten im Wind.
Auf einem niederen starken Baum kletterten einige etwa siebenjährige Buben, in Blue Jeans beziehungsweise Lederhosen gekleidet, herum.
"Come down, Ted! Listen, deine Mutti ruft dich schon eine ganze Weile!" Und im gleichem Atemzug fortfahrend, schrie der Junge schon wieder: "Ted, that's really unfair, come down and give me my pocketknife, will you?" Die Burschen lachten: denen fiel das Englische aber nicht schwer, die lernen's tatsächlich im Spiel.

Eine Frau in einfacher Haartracht, mit Kummerfalten im Gesicht, schob ihr Baby im Kinderwagen vor sich her. Als sie merkte, daß sie Landsleute vor sich hatte, sprach sie die jungen Männer an. Sie führte vergrämt aus, sie lebe bereits seit einigen Monaten hier im Lager, ihr Mann sei in der Nähe als Elektriker tätig. Sie erwähnte, daß manche Einwanderer Wochen oder Monate im Camp zubringen müßten, bis ihnen endlich ein Job zugewiesen wurde. Von Zeit zu Zeit kehrten auch ledige Burschen aus den weit entfernten Städten ins Camp zurück, wenn sie die Arbeitsplätze verloren oder sonst irgendwie in der Sackgasse steckten, behauptete die junge Frau verbittert.
Das ist unmöglich, wir können das einfach nicht glauben, wir wollen das nicht glauben, rief es in ihrem Inneren. Man hat uns doch Arbeit innerhalb e i n e r Woche versprochen, ganz abgesehen davon, daß es ja ein Überangebot an freien Stellen gibt! Es muß uns ja eine Möglichkeit geboten werden, unseren Lebensunterhalt zu verdienen. Wir haben uns doch in fünf Wochen an die zwanzigtausend Kilometer von unserer Heimat entfernt, wir können doch nicht so einfach umkehren!
Alarmierend schlug eine Angstwelle hoch. Nur für einen kurzen Augenblick, dann ebbte sie wieder ab. Trotzdem, ein leichter Schock blieb, unbemerkt, aber wirksam.
"Die Frau scheint etwas mit den Nerven herunter zu sein, man sieht es ja an ihrem ganzen Gehaben. Sie redet Unsinn, ist ja lächerlich, was sie da behauptet", pochte es in den Herzen der jungen Auswanderer.
Viele der europäischen Migrants, die man irgendwo in den Busch gesteckt, mitten in die Einöde des Flachlandes, seien verrückt geworden! Da sie etwa in einer Großstadt aufgewachsen, an die Zivilisation von Ländern mit großer Bevölkerungsdichte gewohnt waren, sei ihnen das Leben in der trostlosen Einsamkeit unerträglich geworden...
Welche Ungeheuerlichkeit behauptete diese junge Mutter da? Durfte man ihr Glauben schenken? Irgendwie erschüttert verabschiedeten sich die Burschen freundlich und nachsichtig lächelnd von ihr. Wenn dies wirklich stimmte, waren es gewiß Einzelschicksale gewesen, einem unter Zehntausenden mag soetwas widerfahren sein. Die Frau schien unter der Nachwirkung der Geburt zu leiden, das würde wieder vergehen. Gewiß lag der Fall so, man durfte das Erzählte nicht ernstnehmen.
Willi gab das nutzlose Grübeln auf und wandte sein Denken realeren Angelegenheiten zu. Heute ist Donnerstag, das Arbeitsamt will die Vermittlungstätigkeit erst Dienstag aufnehmen? Na, nur nicht ungeduldig werden, sagte er sich. Immerhin lassen sie sich Zeit, sprach eine andere Stimme in ihm. Du mußt dich ja sowieso ausruhen, du bist ja garnicht kräftig genug, nach all den sauren Wochen! Genieße doch die erzwungene Ruhe und sieh dich in der Nachbarschaft ein wenig um!
Er trottete neben dem Haufen einher.
"Warum bist du denn auf einmal so schweigsam?" wurde er gefragt. "Was ist dir über die Leber gelaufen?"
"Ach nichts, fast garnichts!" gab er mit einer Flucht ins Lächerliche zur Antwort. Nur keine depressive Stimmung aufkommen lassen, das konnte nicht gutgehen.

* * *


Als die Nacht über Bonegilla hereinbrach und die Junggesellen rauchend oder plaudernd auf den Stiegen vor den Wohnzellen saßen und in das Dunkel hinausblickten, gewahrten sie einige helle Lichtbündel in der leichten Senke, die zum Hume Reservoir abfiel. Sie spazierten in diese Richtung und waren in der Lage die annähernd 100 Quadratkilometer bedeckende Wasserfläche zu überblicken.
Einige Autos waren nahe des Ufers geparkt worden und beleuchteten den See im engeren Umkreis. Im Lichte der Scheinwerfer ragten die Spitzen einiger Zelte deutlich sichtbar in die Höhe. Giftzwerg meldete sich als erster: "Jetzt weiß ich, wie wir die Freizeit verbringen werden! Fischen gemma, genauso wie die da unten!" Rasch hatte das kleine Kerlchen eine dünne Nylonschnur organisiert, einen Angelhaken aufgetrieben und eine Rotte johlender Gestalten eilte den Pfad zum Stausee entlang.
Im Nu hatten fünf Fische angebissen, der Kleine steckte kunstgerecht Stäbchen hindurch, streute einige Körner Salz darauf und bald brutzelten sie über dem inzwischen entfachten Feuer. Das Zeug schmeckte nicht mal so schlecht.
"Wir können uns so einige Wochen mit Fressen eindecken, falls die Herren hier einmal nicht mehr wollen sollten!" war die überschwengliche Meinung der eifrig Kauenden.
Herrlich riesengroß und so orangefarben, wie sie Willi noch nie gesehen hatte, stieg die Mondscheibe nahezu plastisch greifbar über den Hügel am Himmel empor und ließ die bizarren Formen der Bäume immens klar hervortreten. In der anderen Richtung schimmerten die Lichter aus den Gebäuden, und von ferne her ertönten Ziehharmonikaweisen, die der Abendwind an ihr Ohr trug.
Auch diese Landschaft ist von eigenen Reizen beseelt, die zwar spärlich verteilt sind, aber durch die Weitläufigkeit nur umso intensiver wirken, überlegte Willi Höger und teilte sich seinen Kameraden mit. Man stimmte schweigend zu und begab sich langsam wieder auf den Heimweg.

* * *


Die freien Tage, das heißt das Wochenende bis Dienstag hin, wo der Ernst des Lebens für sie beginnen sollte, verflossen in bunter Folge. Zuerst suchten sie das Lagergelände gemeinsam nach intakten Tennisplätzen ab, denn einige Burschen ließen sich durch nichts an der Fortsetzung ihres Trainings stören ganz egal wie die allgemeine Lage beurteilt wurde. Willi fand zwar, daß dies die richtige Einstellung war, aber er gehörte leider nicht zu jenem Menschentyp. Er fand sein größtes Vergnügen im Betrachten der Vorgänge und Leute um ihn herum. Und zu sehen gab es genug und immer wieder Neues.
Da hatte ihr guter Käpten seine naturwissenschaftlichen Kenntnisse überzeugend unter Beweis gestellt, indem es ihm ohne viel Aufregung gelungen war eine Blake Snake zu fangen, eine der giftigsten Schlangen die im australischen Busch umherkriechen. Dann wieder tauchten Bekannte eines Österreichers zu einem kurzen Besuch auf. Sofort war der VW von Neugierigen umlagert, jeder wollte doch hören, was in der Außenwelt vor sich ging.
Nun, man durfte beruhigt sein, nach den Angaben der Neuaustralier zu schließen, gab es genug Arbeit. Das Arbeitstempo sei allgemein niedrig. Heftige Überraschung rief die Mitteilung hervor, daß man bei allzu krampfhaften Anstrengung innerhalb eines Betriebes kurzerhand an die Luft gesetzt würde. Diese Nachricht schlug wie eine Bombe ein, denn man konnte sich beim besten Willen eine solche Verfahrensweise nicht vorstellen. Einige frohlockten, andere schüttelten ungläubig den Kopf.
Höchst bedenklich schien ihnen die Tatsache, daß der Berichterstatter nach eigenen Angaben zwar gelernter Kaufmann, doch hier einige Zeit als Schweißer gearbeitet habe eine Kunst, die er angeblich in einem Dreitagekurs gelernt hatte. In der Folgezeit sei er sogar Mechaniker gewesen und maloche nun als Dreher. Für europäische Begriffe erschien ihnen dies alles nahezu undenkbar. Kaufmann und Dreher! Hatte man derartiges je vernommen? Verstohlen lachten einige der Burschen, die da in kurzen Hosen und Buschhemden barfüßig herumstanden.
Ein höchst sonderbares Land, dieses Australien!
Ein anderer Besucher des Camps, der von einem nahegelegenen Kraftwerksbau gekommen war, prahlte mit seinen fünfzig bis sechzig Pfund Löhnung in zwei Wochen. Das fanden die Neuankömmlinge schon recht beachtlich, doch hatte man die feste Absicht, mindestens ebensoviel zu verdienen.
Schließlich wollte man den weiten Weg in das gelobte Land nicht umsonst angetreten haben.

* * *


Freitag abends begann es leise zu regnen. In der Frühe goß es bereits in Strömen, doch es gab keine andere Wahl als dem Magen zu seinem Recht zu verhelfen. In langen Schlangen reihten sich die Auswanderer um das Frühstück ein, während der Regen niederprasselte. Anschließend begab sich Willi in die große Canteen zum Einkaufen, er benötigte dringend einen dreipoligen Stecker für den Rasierapparat. Eine Rotzpipe von einem Verkäufer, ebenfalls ein Einwanderer, fand es hier in Australien nicht mehr für notwendig, die Kunden anständig zu bedienen und knallte Ware und Wechselgeld einfach aus einiger Entfernung auf die Budel. Zuhause hätte er sein Bündel sofort schnüren können, hier schoß der junge Ladenschwengel in seinem Bestreben, sich der Landessitte anzupassen, weit übers Ziel hinaus. Leider wurden immer zuerst die üblen Sitten eines Volkes kopiert...
Beim ersten Besuch des Bonegilla Theatre, das für die Einwanderer mit Preisermäßigung erschwinglich wurde, erlebten sie als besondere Überraschung einen Kulturfilm über die Hofreitschule in Wien. In der Folgezeit gewöhnten sie sich an die Vorführungen in dem geräumigen Kino, das wie alles hier in einer Holzkonstruktion ausgeführt war. Von einer Vorstellung zur anderen merkten sie deutlich ihre Fortschritte in der Fremdsprache. Bald verstand Willi achtzig Prozent aller Dialoge, soferne nicht zu schnell oder im Slang gesprochen wurde.
Auf gutes Zureden Rosas schwang sich Höger am Sonntag sogar dazu auf, der Heiligen Messe beizuwohnen. Der Geistliche predigte in Englisch und Holländisch, seine Psalmen hallten von den Wellblechwänden des Kirchleins wider und vermischten sich mit dem Gemurmel der Gläubigen aus der weiteren Umgebung. Schweren Herzens spendete der junge Österreicher einen Penny, das große Kupferstück fiel in die Opferschale, als ob er weiß Gott welche Münze hineingeworfen hätte. Er fand es wirklich lächerlich, daß man dem Geldstück mit dem kleinsten Wert den größten Durchmesser gegeben hatte. Na, den halben Penny gab es ja auch noch, der war wiederum kleiner keine Ordnung in dem ganzen Münzsystem, dachte er verächtlich.
Nachmittags wanderte der ganze Klub zum See hinunter. Sich in der Sonne rekelnd lag Willi neben Rosa auf der Decke, während Hubert angestrengt die Überschriften der Tageszeitungen zu enträtseln versuchte. Schäumend teilten sich die Wellen unter den Kielen der Motorboote, die pfeilschnell Wasserskiläufer nachzogen. Weiter draussen lag ein Segelboot hart am Wind, und eben ruderte einer der jungen Tiroler mit einem defekten Ruderboot vorsichtig mitten in den See hinaus. Solange er auf der rückwärtigen Bordwand hockte, ragte das Loch im Bug heraus und schöpfte kein Wasser, aber etwa 200 Meter vom Ufer entfernt versank der Kahn urplötzlich. Die Kollegen , die den Unfall vom Strand aus beobachtet hatten, brüllten vor Schadenfreude auf.
Der junge Höger begab sich nun an den Teil des Uferrandes, wo die Wasserskiläufer mit elegantem Schwung aufsetzten. Die Frauen und Mädchen, ausnahmslos Australierinnen, gefielen ihm außerordentlich. Sonnengebräunt, schlankgewachsen, hochbeinig und mit dem typischen Hals der Engländerinnen versehen, hantierten sie an den Sportgeräten herum. Eigentlich zum ersten Mal in seinem jungen Leben tauchte impulsiv der Wunsch nach einer Gefährtin in ihm auf. Es mußte schön sein an der Seite eines jener herrlichen Geschöpfe diese erregenden Wochen und Monate seines Aufenthaltes in dem neuen Land zu erleben!
In diesem Zeitpunkt beneidete er Hubert maßlos, nicht gerade um seine Rosa, aber um dessen Stand als Bräutigam. Ingrimmig überlegte er, daß das Eingehen einer Verlobung schließlich auch das Ende der Schererei mit Wäschewaschen und Bügeln bedeutete.

* * *


Möglicherweise durch das kühle Naß es war nun immerhin April geworden, und der Herbst, soweit man davon sprechen konnte, zog langsam in Victoria ein begannen seine oberen Schneidezähne zu schmerzen, so begab er sich schnurstracks auf dem Weg zum Hospital.
Der diensthabende Arzt erklärte, er müsse morgen wegen des Röntgens wiederkommen. Ein bedeutender Teil des Beamtenapparates setzte sich Osteuropäern, wie Polen, Tschechoslowaken oder Rumänen zusammen, die von den Österreichern verallgemeinernd Polacken genannt wurden, zusammen. So kam es, daß die ehemaligen D.P.s, die Displaced Persons, ihn nun lächelnd und etwas hintergründig, wie Willi vermeinte, in Empfang nahmen.
Eine barsche Oberschwester holte ihn in den Röntgenraum, wo ihm der altmodische schwarze Klapperatismus in der weißgetünchten Umgebung auffiel: Auf überdimensionierten Schienen lief die X-Ray-Kanone, fingerdicke Kabel nach sich ziehend, knirschend und ächzend dahin. Der Knabe, der das Monstrum bediente, saß in seinem weißen Mantel gehüllt, rauchend und vergnügt seine Fußspitzen im Takt der Schlagermusik wippend, in einem gesonderten Abteil. Willi glaubte mit Sicherheit annehmen zu dürfen, daß zuhause höchstens die Schuhdurchleuchtungsgeräte derartig veraltet waren aber daß der Spezialist nebenbei das Radio laufen ließ, wo gab's denn soetwas? "Alright", meinte der, die Zigarette lässig im Mundwinkel, "you are alright, cheerio!" Dann lehnte er sich mit gespreizten Beinen weit zurück und rekelte sich, daß die Knochen knackten.
Tief erschüttert trottete Willi zum Arzt zurück. Der Medical Officer betrachtete die Aufnahmen eine Weile wortlos, dann wandte er sich an ihn und fragte: "Wollen Sie sich die Zähne reißen lassen?" Da der junge Mann zwar Schmerzen, aber keine unerträglichen, verspürte, andererseits das Resultat der Durchleuchtung erfahren wollte, antwortete er logischerweise und in exaktem Englisch: "Ist es denn unbedingt notwendig?"
"Also was wollen Sie tun?" bellte der andere, der noch immer das Negativ prüfte. Doch dessen Sicherheit und Überlegenheit erschien Willi Höger mehr vorgetäuscht, so lenkte er ausweichend ein: "Wenn möglich werde ich mir die Zähne in der Stadt ausbesseren lassen!"
"Sie bekommen die Röntgenbilder morgen, wenn sie trocken sind", meinte der Arzt kurz und entfernte sich.
Verdattert blieb Willi allein zurück, nun wußte er erst recht nicht, woran er war. Das mit dem Trocknen war doch ein aufgelegter Schmäh, man sollte ihn doch nicht für so dämlich halten. Mißtrauisch beäugte er das Personal, das hier seinen Pflichten nachgehen sollte. Weiß ich denn, ob der Haß gegen alles Deutsche ausgelöscht ist oder ob er nicht doch noch unter der mehr oder minder freundlichen Oberfläche weiterschwelt? Ich werde mich vorsehen, beschloß er.
Als er am folgenden Tag die Negative abholte, lieferte man wie erwartet keinen Kommentar dazu.
Er hatte sich an diesem Tag mit Erwin zu einer Fahrt nach Albury verabredet, in der Hitze des Gefechtes riß er sich die Schnürlsamthose am Bein auf. Verschämt die Hand vor das Loch pressend, betrat er in Begleitung seines vergnügt grinsenden Freundes einen Woolworth-Laden, um schüchtern die Reihen der hübschen Mädchen zu durchqueren, wobei er verstohlen nach Nadel und Zwirn Ausschau hielt. Wie eine Nadel auf Englisch hieß, wußte er, aber den Zwirn konnte er nur beschreiben. "Oh, you mean a thread! What colour do you want?" Schmunzelnd überreichte ihm die Hübsche einen braunen Faden.
Der Park gegenüber lud zum Sitzen ein, hungrig begannen sie ihren Reiseproviant zu futtern. Und nachdem die beiden ungefähr ein Pfund Bananen vertilgt hatten, war auch das Loch in der Hose einigermaßen vernäht. Auf die Blicke der herumsitzenden Damen, der zeitunglesenden Pensionisten und neugierig gaffenden Schulkinder bemühte sich Willi möglichst nicht zu achten. Daß ihm das passieren mußte.
Ach wie peinlich ihm das war!
Obwohl man den jungen Österreicher nicht als Muttersöhnchen bezeichnen konnte, fehlte ihm doch jene gewisse Unbekümmertheit, die aus einem gesundem Selbstbewußtsein erwächst. Erst nach monatelangem Kampf mit seiner Umwelt und sich selber würde er langsam jene Sicherheit in seinem Auftreten und Handlungen erreichen, ohne die kein Fortkommen im Leben möglich ist...
Beim Umherstreifen in der nett angelegten Provinzstadt Albury, einem Eisenbahn-Umladeplatz zwischen Melbourne und Sydney, begegneten sie einem bereits länger hier ansässigen Landsmann, der im Laufe der Unterhaltung erwähnte (Willi hatte ihm gerade von der bisher erlebten wohlwollenden Behandlung berichtet), daß der Australier zwar allgemein als freundlicher und hilfsbereiter Mensch anzusehen wäre, er aber die eindringenden europäischen Volksgruppen fürchte, da sie sparsamer und vermutlich fleissiger wären also schwere Konkurrenten für die Einheimischen darstellten.
Daß es Australier mit kaum verhüllten Haßgefühlen gab, sollten die beiden Burschen sehr bald am eigenen Leibe erfahren. Auf dem Weg ins Lager versuchten sie um Geld zu sparen, vorüberzischende Wagen auf dem Highway zu stoppen. Da ihnen dies nicht gelang, marschierten sie einfach die Straße entlang, bis endlich ein Personenwagen anhielt. Sie stürzten hin und baten höflich um einen "Lift". "Ihr seid von Bonegilla gekommen?" erkundigte sich der Fahrer entgegenkommend aus dem offenen Wagenfenster heraus.
"Yes, that's right!" gab Willi zur Antwort und freute sich über das wohlwollende Verständnis.
"Well", stieß der Aussie zynisch hervor, "dann könnt Ihr auch dorthin zurück g e h e n!" Schob den Gang rein, gab Gas und verschwand hinter einer Staubwolke.
Stumm sahen sich die beiden jungen Männer an, stoppten den nächsten Bus und fuhren betreten in das Lager zurück.
Er ist also nur stehen geblieben, um uns zu zeigen wie sehr er die Migrants haßt, bohrte es in Willi unaufhörlich.

* * *


Das Anlaufen der Englischkurse brachte neue Farbe in die Eintönigkeit des Alltags. Selbstverständlich war Willi, aber auch Karl, Fritz und Erwin und noch weitere seiner Freunde, in die Gruppe der Fortgeschrittenen eingeteilt worden. Etwas lustlos erwartete Willi die erste Unterrichtsstunde, allzu viel Neues würde er wohl nicht erfahren. Aber bald war er eifrig bei der Sache, denn die Lehrerin erwies sich als attraktives Persönchen: Schlank, beinahe mager zu nennen, eine volle Brust, die ein enger Pullover umspannte, ein englischer Schwanenhals auf dem sorgfältig gepuderten jedoch nicht allzu jungem Köpfchen, was der ganzen Erscheinung eine Mischung aus anglosächsischem und slawischen Typus als eigenen Reiz verlieh.
Die rötlich schimmernden Haare schmiegten sich eng ums Haupt, um sich dann in der Nackengegend nach außen zu rollen. Ganz dunkle Augen bildeten einen wunderbaren Kontrast zum Glitzern der türkisgrünen Ohrklipps.
Schon nach ihren ersten Worten fiel dem Absolventen einer Mittelschule, Willibald Höger, die Präzision des Ausdrucks, genauer gesagt des Akzents und der Aussprache auf, die er bei den Sprechern der BBC-London immer schon bewundert hatte. Was da über ihre roten Lippen floß, war reinstes King's-Englisch.
Gewohnheitsmäßig sah er nach ihren Fingern und bemerkte einen schmalen Goldring an der linken Hand. Sie stellte sich als Engländerin vor und ließ durchblicken, daß sie verheiratet war. In ihrem Einführungsvortrag erklärte sie der aufmerksam lauschenden Zuhörerschaft einige Sitten und Gebräuche der Bevölkerung des Bundeslandes Victoria, schließlich kam sie auf die Menschen als solche zu sprechen. Unser junger Held horchte überrascht auf, als sie die Männer hierzulande als faule und dumme Kerle bezeichnete. Das fand er ungewöhnlich, blitzschnell folgerte er daraus, daß ihr Verhältnis zur Männerwelt an sich angeschlagen sein mußte. Sie ließ ihren Groll einfach generell an den australischen Männern aus.
Ebenso eigenartig berührte ihn ihre Feststellung, daß sie die Sitte, öffentliche Trinkstuben um 6 p.m. zu schließen, als lächerlich bezeichnete. Da muß ihr Unwille tiefer gehen, folgerte er, vielleicht ist sie mit einem Australier unglücklich verheiratet? Ich sehe Gespenster, sagte er sich dann. Wenn sonst noch jemand dieselben Überlegungen angestellt hätte, würden sicherlich bereits einige Bemerkungen umherschwirren. Das wäre etwas für meines Vaters ältesten Sohn, dachte er vergnügt. Dabei fiel ihm ein, daß er von zuhause Post erwartete, die schon lange Zeit überfällig war. Das vertrieb sofort seine augenblicklich gute Laune und sein Gesicht nahm wieder den gewöhnlich ernsten Ausdruck an.
Die Postverteilung in diesem Lager grenzte an das Katastrophale. Oft waren die Lagerinsassen gezwungen, die lang ersehnten Schreiben ihrer Lieben in anderen Blocks suchen zugehen, wo sie tagelang herumkugelten, bis sie endlich in die richtigen Hände gelangten. Er fand die ganze Warterei höchst ermüdend, so beschloß er zwei Briefe zu schreiben: Einen an die Adresse in Melbourne, die er von Europa mitbekommen hatte, den anderen als Bewerbung auf eine Annonce in der "Age".

* * *


Zusammen mit den drei Kärntnern, die er am Bahnhof von Salzburg kennengelernt hatte, ausgesprochene Spaßvögel wie sich immer wieder erwies, eilte er an den See hinunter, wo sie sich die Sonne auf die Bäuche scheinen ließen. Einige Holländerinnen, so an die 13 oder 14 Jahre jung, lagerten nicht unweit von ihnen auf einer bunten Badedecke. Ihre Körper waren schon sehr weiblich entwickelt und moderne Badezüge betonten die weichen Formen ihres Geschlechtes. Die rotbemalten Mündchen plapperten und kicherten drauflos, dann immer frecher werdend begannen ihnen die Mädchen Worte zuzurufen, die sie zwar nicht verstanden, in deren Klang aber unverkennbar eine Aufforderung lag. Dem jungen Mann wurde verdächtig schwül, sollte er etwas unternehmen? Unsinn, das sind doch noch Kinder, redete er sich ein.
"Angeblich entwickeln sich die Holländerinnen schneller...", unterbrach einer der Burschen die Stille.
"Nach dem, was die da aufführen, kann's stimmen!" gab ein anderer trocken zur Antwort.
"Wißt ihr, wenn ich nicht eine so gute Erziehung gehabt hätte...", versuchte ein dritter zu scherzen, aber es klang irgendwie verkrampft, und die anderen merkten es. Alle blickten ein wenig betreten zu Boden.
"Verscheucht's die Groppn, oder ich garantier' für nichts!" rief einer urplötzlich aus. "I glaub', die woll'n uns aufziagn ah no!"
"Besser, wir gehen von hier weg", meinte einer, und so packten sie ihre Siebensachen zusammen und verrollten sich an eine Stelle, wo ihnen keine Tantalusqualen drohten.
Doch von hier aus konnten sie gut beobachten, wie eine Gruppe von Südeuropäern sich kurz nach ihrem Abzug mit den Minderjährigen anfreundete und bald darauf handgreiflich zu schäkern begann...

Nun fuhr Willi endlich nach Albury, um einen Dental Surgeon aufzusuchen. Der Arzt, ein breitschultriger Mann, der vertrauenserweckend hinter den Gläsern einer dicken Hornbrille hervorblickte, erklärte ihm, daß der Kiefer entzündet sei und die wirkungsvollste Maßnahme die Extraktion des vereiterten Zahnes darstelle. Wenn Willi eine halbe Stunde warten wolle, könnte er für ihn die nötige Zeit erübrigen. Das kam ihm sehr gelegen und er sagte zu.
Nach kurzer Wartezeit holte ihn eine kleine zierliche Gehilfin in den zweiten Ordinationsraum, der vor Sauberkeit nur so blitzte. Mit wenigen Handgriffen bereitete sie alles Nötige vor und stellte sich dann neben dem Operationsstuhl. Neugierig beäugte sie Willi aus den Augenwinkeln, und es gefiel ihm, wie sie da so leicht verlegen wartete und sorgsam ihre Fingernägel betrachtete.
Weil ihm nichts besseres einfiel, erkundigte er sich: "Fällt bei euch im Winter eigentlich Schnee?"
"Oh, nur sehr selten, und er bleibt dann nicht lange liegen. Die Temperaturen sinken kaum unter 41 Grad Fahrenheit herunter", erklärte sie rasch, als hätte sie nur darauf gewartet von ihm angesprochen zu werden.
"Das ist aber schade!" meinte Willi und dachte, jetzt muß ich aber etwas auf den Tisch hauen: "Ich fahre nämlich leidenschaftlich gerne Ski." "Oh, dann kommen Sie aus Norwegen?" erkundigte sie sich treuherzig (vermutlich befand sich unter ihren Bekannten ein Skandinavier).
"Nein, ich bin vor zwei Wochen aus Austria gekommen."
"That's nice! Oh, from Austria!" wiederholte sie. Sie tat ja geradeso, als ob ihr das ein vertrauter Begriff wäre. Argwöhnisch erkundigte sich Willi: "Warum, kennen Sie denn Österreich?"
"Oh no! Aber vor einigen Monaten gastierte in Albury der Vienna Singing Boys Choir, der Chor der Wiener Sängerknaben! It was wonderful!" rief die Kleine begeistert aus. Der junge Mann aus Österreich fand diese Neuigkeit schlechthin verblüffend, schließlich war Albury nicht London, Tokio oder New York!
Leider beendete Dr. Sure diese sich anbahnende Völkerverständigung ganz radikal mit der Beißzange.
Noch lange nachher klang in Willis Ohren die letzte Bemerkung des kleinen australischen Fräuleins nach: "Ich habe mir gedacht, Sie leben schon länger in Australien, Ihr Englisch ist so gut!" Wenn die Frauen doch wüßten, wie sehr sie einen Mann durch ein kleines Lob anfeuern können, überlegte er vergnügt. Eigentlich überlegte er dies garnicht es war nur ein angenehmes Gefühl, das ihn sanft umschmeichelte, als er auf die Straße hinaustrat.
Eine Stärkung war nun fällig, er betrat eine Milk Bar.
Zufällig stieß er dort auf einen jungen Wiener, der halb über die Theke gelehnt den Kopf auf dem abgewinkelten Arm abstützte und mit einer Angestellten schäkerte. Nach dem üblichen "Wie geht's?" erkundigte sich Willi bei dem Mann, wie lange er bereits in Australien weile, und er solle ihm die indiskrete Frage nicht krumm nehmen wieviel er auf der Bank liegen habe.
"Ooch", meinte der gelassen, "ein Jahr!" Und grinsend teilte er dem Neuankömmling mit: "Erspart habe ich mir ganze achtzig Pfund." Willi war gelinde gesagt entsetzt. In einem Jahr, da muß ich aber mindestens Fünfhundert auf der Bank haben, dachte er und rief laut: "Was, so wenig? Ja warum denn?"
"Na, du wirst schon selber sehen", antwortete der Wiener gutmütig. "Im Busch ist es auf Dauer zu öde, na, und in der Stadt schenkst du's den Weibern sonst kannst du ja garnicht leben!"
Er würde in einem Jahr anders dastehen, das schwor er sich. Wieder im Camp, erkundigte er sich zu allererst nach der Post, er fürchtete, Lillis Brief würde ihn zu spät erreichen, erst nachdem er Bonegilla bereits verlassen haben würde. Aber er wartete vergeblich, seine flatterhafte weibliche Bekanntschaft ließ nichts mehr von sich hören, zumindest nicht in den nächsten Monaten.

* * *


Nachdem sie nun seit vierzehn Tagen beschäftigungslos im Camp herumgelungert waren, begann man das Arbeitslosengeld auszuzahlen, 10 Shilling, die gerade für Kino oder Zigaretten reichten, je nach dem. Täglich verließen nun Einwanderer auf eigene Faust das Wartelager, kümmerten sich nicht um das Gerede, daß man ohne Ausgangsstempel "draussen" keinen Job erhalten könne.
Es wurde nun merklich kühler in diesem Teil Victorias, häufig prasselten subtropisch anmutende Regengüsse nieder. An solchen Tagen benützte Willi Höger die Bibliothek des Lagers, um sich technische Fachausdrücke einzuprägen.
Beim Essenholen fiel ihm der jüngste der drei kärntner Freunde durch sein wütendes, hochrotes Gesicht auf. Sonst wie seine beiden Dorfkumpane alles auf die leichte Schulter nehmend, machte er nun den Eindruck, als habe ihn wirklich etwas in tiefster Seele getroffen. Stockend nach Worten ringend erzählte er den anderen Burschen ganz entrüstet seine Story:
"Mir haben die Kerle vom Arbeitsamt eine Stelle als Bahnsteigwärter bei der Eisenbahn angeboten, na gut und schön. Aber stellt euch das mal vor was glaubt ihr, was mir die als Lohn geboten haben?" Zornrot brüllte er es in die gespannte Stille hinein: "Acht Pfund elf pro Woche!!! Weil ich noch nicht einundzwanzig Jahre alt bin! Das würde ich beinahe drei Jahre hindurch verdienen, bis ich eben Volljährigkeit erreicht habe!
Wenn ich davon nur einen einzigen lumpigen Pfund auf die hohe Kante legen kann, ist das viel. Das macht in drei Jahren zirka 150 Pfund aus das erspare ich mir ja zuhause in einem einzigen!" Seine Stimme drohte vor Erregung überzuschnappen, als er hämisch weiterfuhr: "Aber das ist noch lange nicht alles, meine Herren Auswanderer! Das Schönste folgt noch!
Einige andere, die noch kräftiger gebaut sind wie ich, wollten sie für das Schwellenlegen anwerben, irgendwo im verdammten Busch für lumpige 13/10 Pfund.
Aber jetzt kommt's: Da werdet Ihr erst zu richtigen Männern gemacht, hat einer aus der Anwerbe-Kommission ironisch bemerkt! Das sind Erpressermethoden der übelsten Art! Die Kanaken haben uns glücklich herübergelockt nun sitzen wir in der Tinte und müssen einfach die Suppe auslöffeln!"
"Er hat recht, wir werden nicht als Menschen betrachtet Rindviecher sind wir auf jeden Fall!" bekräftigte einer.

Den ganzen Tag über konnte sich der Achtzehnjährige nicht erholen, jedem erzählte er brühwarm seine Geschichte.
Am späten Nachmittag traf Erwin wieder in Bonegilla ein, ohne Geld und ohne Erfolg. Vor zwei Tagen war er urplötzlich aufgebrochen, um sich in Melbourne eine Stelle zu suchen. "Englischkenntnisse sind vom Arbeitgeber natürlich sehr erwünscht, man verdient dann gleich mehr. Ich hätte sogar in einer Textilfabrik anfangen können, aber sprachlich reichte es angeblich nicht. Einen ganzen Tag lang kutschierte mich ein Taxidriver von einem großen Betrieb zum anderen, aber ich hatte kein Glück. Zweimal übernachtete ich im Freien einmal auf einer Bank im Park, das andere Mal auf der Beach im Sand. Heute hat mich glücklicherweise ein Fernlaster kostenlos bis Albury mitgenommen."
Er guckte ziemlich deprimiert aus der Wäsche, der liebe Erwin. Auf dem Schiff war er so zuversichtlich, so voller Pläne gewesen.
Nun, der erste Schock würde wieder vergehen.
Willi bewunderte seinen Freund ob dieser Courage, er hätte sich dieses Unternehmen nicht zugetraut.
Ein begeisterter Skifahrer und Tennisspieler unter ihnen sah dagegen sehr fröhlich aus der Wäsche. Schon morgen verließ er das Lager, da Arbeitsstelle und Zimmer durch einen Freund organisiert worden waren, er durfte sogar seinen Handelsberuf weiter ausüben.
So sah also die banale Realität aus.
Keine Illusionen mehr, oder nur mehr wenige.
Einige Glückliche trafen es gut, die meisten von ihnen hatten mit dem vorlieb zu nehmen, was ihnen von australischer Seite geboten wurde, und das war oft genug herzlich wenig. Vielleicht war es unvernünftig mehr zu verlangen.
Wenn nur vorher nicht so große Erwartungen gehegt und geschürt worden wären...

* * *


"Erwin Achat, Hermann Kugler, Willibald Höger, Gregor Trischl, Thomas..."
Der Lautsprecher im Wohnblock spie die Namen der zur Arbeitsvermittlung Vorgeladenen aus. Hermann, der gerade wieder einmal auf der Gitarre klimperte, stoppte sein Spiel und horchte auf, Willi schrie begeistert: "Hurra! Hurra! Endlich kommen wir an die Reihe! Los, heb' dich Hermann, in einer Viertelstunde müssen wir drüben sein."
Ein nackter, kahler Raum empfing sie: außer einem Tischchen, mehreren Sesseln und einem Ofen in der Ecke entdeckte Willi keinerlei Anzeichen, die auf die Massenvermittlung von Jobsuchenden, an zum Teil weitentfernte potentielle Arbeitgeber, hingedeutet hätten. In der Nachbarbaracke wurde die Registrierung der ankommenden Migrants durchgeführt, da hämmerten Schreibmaschinen, klingelten Telefone in den diversen Kojen, Papier raschelte...
Hier hingegen fehlten jegliche Organisations- und Kommunikationsmittel.
Als Einleitung wurde ihnen mitgeteilt, die Südaustralische Eisenbahnverwaltung benötige dringend Kräfte, denen eine große Karriere als Bahnsteigwärter oder Maschinenputzer bevorstünde. Einen kleinen Hacken habe die Sache jedoch: da sie eine Ausbildung absolvieren würden, bekämen sie selbstverständlich geringeren Lohn.
"Die betreffenden Bahnhöfe liegen sämtlich in der Nullarbor Plain, etwas einsam, aber man gewöhnt sich bald daran", meinte der Beamte gelassen. Schaudernd erinnerte sich Willi der Bilder, die er davon gesehen hatte, an das 500 Kilometer lange einspurige Geleise ohne eine einzige Kurve in der Sandwüste, weit und breit kein Baum, kein Strauch. Ganz zu schweigen von Bergen, von geliebten Bergen wie in seiner Heimat. Einfach undenkbar, daß sich Hermann, in dessen Ländchen steile Gipfel himmelhoch aufragten und sanfte Almwiesen zum Träumen anregten, jemals in einer solchen Landschaft wohlfühlen würde.
Aber das war ja sicherlich nicht das Anliegen der drei Herren vor ihnen. Die Railway benötigt zehn billige Arbeitskräfte, zehn Idioten, die das Einerlei und die Trostlosigkeit ihrer Umgebung nicht zum Wahnsinn treiben würde.
Für die australischen Beamten endete der Job, sobald die bockigen Kerle auf den rohen Holzbänken unterschrieben haben würden.
"Was überlegen sie eigentlich noch? Well?
Sie werden kaum Aussichtsreicheres finden, ist ihnen das klar?" Forschend sah der Australier die Reihe entlang, fand jedoch offensichtlich nicht die gewünschte Resonanz. Das trifft fairerweise sicherlich auf manche zu, überlegte Willi, denn viele können nur einen angelernten Beruf aufweisen, waren praktisch Hilfsarbeiter. Das Angebot dürfte tatsächlich eine Chance für sie bedeuten, allerdings nicht für ihn.
"Also wir zweifeln an eurer Intelligenz!" ließ einer der Beamten nach einer angemessenen Pause vernehmen. Niemand rührte auch nur ein Glied, denn zwei Faktoren hielten die Burschen ab die saumäßige Entlohnung und die gefürchtete Einsamkeit.
"Übrigens, sie mit der Brille! Wie ist ihr Name?"
"Hoeger, Willy Hoeger, Sir!"
"Sie können gehen, die Eisenbahn beschäftigt keine Brillenträger."
Hocherfreut sprang Willi auf die Beine und verließ leichtfüßig den Raum, das ließ er sich nicht zweimal sagen! Wohl zum ersten Mal in seinem kurzen Leben wurde er ob seiner Kurzsichtigkeit beneidet.

Draussen traf er auf einen Vater zweier minderjähriger Töchter, einen äußerst angenehmen und ruhigen Menschen, der still und nachdenklich an der Wand lehnte und seine Pfeife paffte. "Ich bin mit meiner Familie herübergekommen, weil ich hoffte es würde mir möglich sein ein Stück Land und Boden zu kaufen, eine kleine Farm aufzubauen. Ich will den Kindern eine ruhige und schöne Zukunft bereiten.
Aber ich sage Ihnen ganz ehrlich, ich bin durch die Aspekte, die sich jüngst eröffnet haben leicht beunruhigt", erwähnte er Willi gegenüber. Der Mann vermochte kaum seine Erregung zu bändigen, der Adamsapfel glitt ihm die Kehle auf und ab. "Das Land ist ziemlich teuer, ich habe mich schon erkundigt. Zuerst habe ich mir gedacht, die Regierung stellt mir vielleicht zu günstigere Bedingungen ein Stückchen Boden zur Verfügung, das ist aber nicht der Fall. Mit dem Lohn, den ich bei der mir soeben angebotenen Arbeit erhalten würde, kann ich kaum meine Familie ernähren, das habe ich mir schon ausgerechnet..."
Der Mann tat ihm verflucht leid, deutlich war ihm die Sorge um die unmittelbare Zukunft seiner Familie anzumerken. In deiner Haut möchte ich auch nicht stecken, dachte Willi, der Junggeselle. Ich trage wenigstens nur für meine Person die Verantwortung...

* * *


Überraschenderweise gestalteten sich der Englischunterricht äußerst interessant für Willi Höger, der, ohne daß die Kollegen etwas ahnten, mit der hübschen Lehrerin zu flirten begann. Auf etwas ungewöhnliche Art: Da wurden zum Beispiel Fragesätze gebildet, jeder der Schüler hatte sich einen Satz zurechtzulegen. Willi erkundigte sich bei dem zierlichen Persönchen, ob sie in England studiert habe, eingedenk ihrer exzellenten Aussprache und des überragend weiten Horizonts ihrer Anschauungen. Sie hielt eben ein Stück Kreide in der Hand, und halb der Tafel zugewandt, bejahte sie kurz und ohne auf ihre Ausbildung näher einzugehen. Da sie ihn später über seine Berufsausbildung befragte, registrierte er zumindest ein gewisses Interesse, doch vermied sie es klugerweise persönliche Dinge in den Unterricht miteinzubeziehen. Resignierend rechnete sich Willi aus, daß es trotz alledem eine aussichtslose Angelegenheit war, würde er doch noch höchstens eine Woche in diesen Gefilden weilen.
Hubert und Rosa suchten ihn überglücklich auf, sollten sie doch in Bälde eine Hauswartstelle in einem kleinen Krankenhaus einige Meilen außerhalb Melbournes antreten, gemeinsam und zu äußerst günstigen Bedingungen 17 Pfund die Woche und dazu Kost und Quartier frei. Nun stand ihrer baldigen Verehelichung nichts mehr im Wege.
Einer der drei kärntner Freunderl flog heute nach Tasmanien ab, wo bereits eine Stelle in einer Formerei auf ihn wartete. So verschwanden alle aus ihrem Transport langsam aber sicher aus dem Lager. Einigen war es sogar gelungen auf eigene Initiative in den umliegenden Ortschaften Fuß zu fassen am erstmöglichen Wochenende kamen sie dann zu ihren ehemaligen Schicksalsgenossen zurück und teilten ihre ersten Erfahrungen mit.
Ein Möbeltischler, der in einer kleinen Werkstätte in Albury Beschäftigung gefunden hatte, beschrieb seinen Arbeitsplatz nicht gerade in leuchtenden Farben. "Die Bude ist fürchterlich rauchig, arbeiten tun's wie die ersten Menschen, eine Hobelbank ist anscheinend überhaupt unbekannt, denn alles wird am Boden zusammengeschleudert.
Bis heute habe ich nur einen Hammer verwenden müssen, von meiner Ziselierkunst wird wohl kaum etwas übrig bleiben, wenn das so weiter geht. Wo man geht und steht liegen Glasscherben, Fetzen, verrostete Federn und Betteinsätze herum.
Wenn du dir bei den Kollegen Respekt verschaffen willst, mußt du dich mit ihnen mal zuerst prügeln Zustände wie im Wilden Westen!" meinte er bedeutungsvoll und fuhr dann fort:
"Ich wohne bei einer Familie, wo sie Deutsche ist beziehungsweise war. Er ist gebürtiger Pole ich weiß nicht, ob er bereits die australische Staatsbürgerschaft besitzt ein ehemaliger Lehrer, der hier bei der Müllabfuhr jobbt. Findet natürlich keinen geistigen Anschluß bei seinen Kumpels.
Erheiternd ist nun folgendes, das heißt, man könnte darüber eigentlich weinen: Gegenüber wohnt ein russischer Emigrant, und die beiden reden nicht miteinander, die Narben zwischen den beiden Völkern sind noch nicht vernarbt. Die Frau des Russen hat für sieben Kinder zu sorgen und bekommt kaum das nötige Haushaltsgeld, da der Gatte alles versäuft. Sie ist vollkommen verzweifelt. In Deutschland, wo wir uns kennengelernt haben, verhielt er sich anständig und hat für uns gesorgt, hat sie mir einmal weinend erzählt."
"Na, denn Prost Kinder!" schloß er seinen Bericht als Augenzeuge für die Welt außerhalb der Grenzen ihres Camps. Wortlos erschaudernd registrierten die Lagerinsassen den Report über die Wirklichkeit, die ihnen bevorstand.
Bereits am nächsten Morgen verließen zwei Busse vollgepackt mit Einwanderern das Lager, als alles noch im tiefem Schlaf lag.
Hermann der Gitarrespieler hatte sich den Überredungskünsten der Beamten nicht länger widersetzt und sich zur Railway gemeldet, ebenso Achmed.
Seiner Stubengenossen verlustig gegangen, träumte Willi Höger die letzten Stunden bis zum Frühstück allein vor sich hin. Allmählich breitete sich eine immer intensiver werdende Stille über den ehemals von Betriebsamkeit erfüllten Wohnblock aus, nur selten drang Radiomusik aus einen der Fenster. Verloren hockten einige Burschen herum und warteten ab, bis auch ihre Stunde geschlagen hatte.
Auf dem Weg zum Schulblock passierte Willi das Bonegilla Theatre, wo eben vielen hundert Neuaustraliern aus Holland der Willkommensgruß entboten wurde. Das Lager würde sich wieder füllen, der Zirkus ging weiter, unerbittlich auch ohne ihn, ohne seine vielen Bekannten und Freunde, die nun bereits irgendwo in weiter Ferne an ihren Arbeitsplätzen weilten.

Ist das eine Einbildung von mir, oder liegt da wirklich eine versteckte Aufforderung drinnen, fragte er sich zweifelnd, als "seine" Miss als Beispiel für eine korrekte Satzstellung dozierte: "That man was very rough to me yesterday".
Das war doch sicherlich nicht einfach aus der Luft gegriffen! Wenn ich sie richtig verstehe, will sie damit andeuten, daß sie zwar einen Freund hat, der sie aber nicht sehr rücksichtsvoll und zärtlich genug behandelt, beziehungsweise, daß sie sich nach angenehmerer Gesellschaft sehnt...
Wenige Tage später war die Schar der Kursteilnehmer auf wenige Mann zusammengeschmolzen. Zwangsläufig erwuchsen daraus engere persönliche Kontakte zwischen Schülern und Lehrer, private Gespräche, selbstverständlich in Englisch, waren an der Tagesordnung. Man unterhielt sich angeregt über das Thema Nationalitätenunterschiede, anfangs zwischen italienisch- und deutschsprachigen Menschen. Dann schwenkte die Diskussion auf die zurückliegenden Kriegsereignisse über, worauf Willi seiner Lehrerin erzählte, daß er als kleiner Junge mitbekommen habe, wie sein Vater hinter dem Haus mit australischen Kriegsgefangenen eine Unterhaltung geführt habe, Australien also für ihn schon damals mit gewissen konkreten Vorstellungen verknüpft gewesen sei.
"Das war aber in Österreich?" hatte sie sich drauf vergewissert.
Leicht verärgert gab ihr Willi Antwort die glaubte wohl, alle Deutschen sind die Barbaren, als die man sie in der Weltöffentlichkeit anzusehen geruhte. Als ob es freundliche und gutherzige Menschen nur in Österreich gegeben hätte, einfach lächerlich.
Sie überreichte ihm eine der auf leichtem Flugpostpapier gedruckten Zeitungen, und während der Rest bei der Tür rausdrängte, hielten sie beide verlegen inne, so, als wollten sie sich noch etwas mitteilen. "Aber bringen Sie sie mir zurück, ich brauche sie noch!" trug sie ihm auf, während sie sich Mr. Salzburger zuwandte, der noch im Klassenzimmer auf eine Information wartete. "Na, wir sehen uns sowieso morgen Abend, nicht wahr?" flüsterte sie Willi leise zu, indem sie sich aus dem Türrahmen neigte, als wolle sie den davoneilenden Kollegen nochmals kurz nachblicken.
Überrascht blickte der auf und ging verwundert weg. Was sie wohl damit gemeint haben mochte? Wieso gerade morgen? Und wo?
Er wußte ja nicht einmal genau, ob sie nun Pearl oder Beryl oder so ähnlich gerufen wurde, ob sie hier im Lager oder irgendwo in der Umgebung ansässig war. Keine Ahnung! Was sollte also die hingehauchte Bemerkung? Möglicherweise hatte er sie nicht richtig verstanden.
Bald darauf befielen ihn arge Magenschmerzen, eine alte, nicht ausgeheilte Gastritis machte ihm zu schaffen. Freitag blieb er dem Unterricht fern. Nach dem Mittagessen wurde angekündigt, daß im Block 19 diesen Abend eine Tanzveranstaltung über die Bühne gehen würde, zu der neben dem Staff auch die Lagerinsassen herzlichst eingeladen seien. Als die Lautsprecher die Nachricht verkündeten, die Durchsage wie üblich mit einem lässig artikuliertem " ank you" abbrach, lag Willi gerade einsam in seinem Bett.
Der Wind rüttelte an der wackeligem Barackenkonstruktion, die Sonne strahlte durch die Glasscheiben, an denen Regentropfen vom letzten Schauer glitzerten. Die Tür klemmt seit einigen Tagen. Entweder ist das Holz aufgeschwemmt, oder die Hütte hat sich verzogen da die Pfähle eingesunken sind. Bedächtig verarbeitete sein Gehirn diese kleinen unbedeutenden Eindrücke, plötzlich durchzuckte es ihn wie mit einem elektrischen Schlag, mit einem Mal war ihm die rätselhafte Bemerkung Pearls (zum Teufel, er kannte nicht einmal ihren Vornamen) klar: Sie erwartete ihn beim Tanz.
Bei dem Gedanken an ein überfülltes Tanzparkett stieg ihm eine noch stärkere Übelkeit hoch, als er ohnehin verspürte. "Du verdammter Narr! Du Idiot!" schalt er sich wütend, "Bei jeder intelligenten Frau hast du Chancen. Aber durch diese blödsinnige Schüchternheit, diese Feigheit jawohl, das ist es nämlich bringst du dich um jeden Erfolg!"

Ganz überraschend beorderte man ihn einige Stunden später zur Arbeitsvermittlung: "Mr. Willy Hoeger, Mr. Werner Benke and Mr. Hugo Prattert please! Number 7, thank you!"
Gleichzeitig mit Willi eilten aus der Masse der Wartenden noch zwei junge Männer der Koje Nummer 7 zu. Der kleinere der beiden drängte sich an den Tisch heran, lehnte sich über die Akten und begann im fließendem Englisch, wie es Höger erschien, auf den Beamten einzureden, während der größere sich mit abwartender Miene daneben aufpflanzte. Willi fand Muße genug, um dessen Profil in Ruhe betrachten zu können es wirkte hager mit einem asketischen Ausdruck. Brünette Haare bildeten einen spärlichen Scheitel, und wenn sich sein Gesicht Willi einen Augenblick zuwandte, sah er ein paar knapp nebeneinander liegende blaue Augen zwischen der spitzen langen Nase hervorstechen.
"Nun, Ihr drei!" richtete der Australier sein Wort an sie. "Eine Elektrizitätsgesellschaft benötigt zur Bewältigung ihrer Aufgaben es handelt sich dabei um einen Dammbau und die Verlegung einer Pipeline", setzte er erläuternd hinzu, "- noch einige Männer. Und zwar sollen diese Leute z i e m l i c h gute Englischkenntnisse mitbringen, wurde mir schriftlich mitgeteilt.
Da ich aus Euren Personalakten ersehen kann, daß sie diese Qualifikation erfüllen, schlage ich ihnen vor, diese Stelle anzunehmen." Er überreichte ihnen einige Werkfotos zum Ansehen und fuhr dann in seinen Erläuterungen fort. Abschließend meinte er noch: "Ich bin sicher, es wird ihnen dort sehr gut gefallen. Sie werden auch viele ihrer Landsleute antreffen. Sie werden es nicht bereuen, wenn sie diese Formulare hier unterschreiben ansonsten ich nicht garantieren kann, daß sie dieses Camp vor Ablauf von weiteren drei Wochen verlassen werden."
Die drei erbaten Bedenkzeit und berieten daraufhin gemeinsam. Der kleinere mit dem leicht gekräuseltem Haar stellte sich flüchtig vor: "Werner Benke mein Name, ehemals Dresden, von Beruf Heilmasseur. Und das ist mein langjähriger Freund Hugo Prattert, ebenfalls Dresden Pfleger am selben Krankenhaus, wo auch ich beschäftigt war. Wir sind zusammen nach Westdeutschland getürmt", setzte er lächelnd hinzu, legte den Kopf leicht zur Seite und betrachtete sein Gegenüber mit einem Silberblick, der manchmal an Willis Konturen vorbeizuschielen schien.
Auch Höger stellte sich vor und bemerkte, daß er die Skaubryn in Fremantle ankern sah. "Ach Mensch, hör doch auf mit dem Kasten überlegen wir lieber, was wir tun sollen!"
Kurz und gut, des langen Lagerlebens müde, unterschrieben sie den Arbeitskontrakt und wurden angewiesen kommenden Dienstag von Albury aus den Bus in das entlegene Tal zu besteigen.
Kann etwa zehn Pfund pro Woche sparen, das reicht für den Anfang, überlegte Willi, zufrieden und erleichtert über den Entschluß.

Daß sie alle drei auf einen einfachen psychologischen Trick des Australiers , der an ihre "sehr guten Englischkenntnisse" appelliert hatte, hereingefallen waren, das kam ihnen momentan nicht zu Bewußtsein.

* * *


Von heftigen Magenschmerzen gequält, begab sich Willi anschließend nochmals ins Hospital und erhielt eine große Flasche einer übelschmeckenden Medizin in die Hand gedrückt. So kam der Zeitpunkt heran, den er seit einigen Stunden entgegengefiebert hatte, hin und hergerissen von widerstrebenden Gefühlen. Natürlich wünschte er die nähere Bekanntschaft mit dieser charmanten und interessanten Frau, seine Minderwertigkeitskomplexe, soweit sie gesellschaftliche, soziale Aspekten betrafen, hingen aber wie ein Bleigewicht an ihm und verurteilten ihn zu grüblerischer Untätigkeit.
Obwohl er fest entschlossen war, sich aufzuraffen und ungezwungen heiter diesem kleinem geselligem Beisammensein beizuwohnen als die Stunde näher rückte lag er mit verkrampften Magennerven, sich selbst ob seiner Feigheit und Platzangst verhöhnend allein in dem drei mal drei Meter messenden Cubicle und wartete bis die Dunkelheit einbrach.
Er gedachte der schrecklichen Wochen und Monate vor seiner Flucht aus der vertrauten Heimat: Wie er vermeinte, niemals wieder zu klaren Entschlüssen gelangen zu können.
Er erinnerte sich, wie er einmal Schuhe kaufen wollte, vor dem Geschäft mit dem Geld in der Tasche gestanden war und nicht wagte, den Verkaufsraum zu betreten, aus Angst, man könnte ihm die innere Unsicherheit anmerken. Wie er unverrichteter Dinge wieder in die kalte, unfreundliche Studentenbude geflüchtet war, und mitten auf dem Weg von einer derartigen Panikattacke erfaßt wurden, daß er geglaubt hatte, er müsse augenblicklich in den Boden versinken oder wie von Furien gehetzt nach Hause laufen...
Diese Krisenzeit, die wohl im Leben eines jeden Menschen irgendwann in ähnlicher Form auftreten mochte, war nun im Abklingen, dessen war er sich bewußt. Die Momente des grauenvollen Entsetzens traten nicht mehr auf, er fühlte sich verhältnismäßig wohl, weitaus besser jedenfalls, als vor seiner überstürzten Abreise.
Was er nicht bedachte, war, daß die gegenwärtige Situation, das heißt also die einigermaßen gesicherten und geregelten Verhältnisse im Camp diese Rekonvaleszenz stabiler erscheinen ließ, als sie tatsächlich schon gediehen war.
Waren doch Essenszeiten, Schlaf, Spiel und ein wenig Unterricht genau eingeteilt, hatte ihn der strikte, nahezu militärisch geregelte Tagesablauf jeglichen tieferen Nachdenkens enthoben.
Und gerade das war es ja, was sein seelisches Gleichgewicht langsam aber sicher wieder auf die Beine stellte.

Gegen 10 p.m. schlich sich Willi an den Block 19 heran, wo er bereits von weitem Musik und gelegentliche Lachsalven vernahm, die Unterhaltung lief also auf vollen Touren. Die blödsinnige Hoffnung, das ersehnte Weib möge ihm zufällig über den Weg laufen, erfüllte sein gequältes Hirn, aber keine Menschenseele ließ sich blicken.
Unentschlossen kämpfte er mit sich, bis er an der Behausung eines Angestellten des Employment Service vom Lager anklopfte, der ihm Informationen über die Anerkennung von im Ausland abgelegten Prüfungen versprochen und zu sich eingeladen hatte.
Der Deutsche spuckte wie gewöhnlich große Töne, demonstrierte an Hand eines Schnellkochtopfes die Minderwertigkeit der hierzulande hergestellten Produkte und mußte später kleinlaut zugeben, er sei mit heutigem Tag als Beamter des Arbeitsamtes entlassen worden und werde morgen verreisen, um sich eine neue Anstellung zu suchen. Seine Frau mit den beiden Kindern würden inzwischen im Lager bleiben.
Er bedauerte den Mann nicht im geringsten, denn dieser Angeber hatte sich bei den Einwanderern durch seine anmaßende Haltung in kurzer Zeit unbeliebt gemacht.
Aber offensichtlich nicht nur bei denen, denn die Australier hatten ihn kurzerhand an die Luft gesetzt. Nun war ihm die fällige Rechnung präsentiert worden.

Neugierig erkundigte sich Willi am Samstag Vormittag, ob seine heimlich Angebetete die Tanzveranstaltung besucht habe. Leo, der Wiener mit den eingedrückten Vorderzähnen, hinterbrachte ihm haarklein, daß sie allein aufgetaucht sei, angetan mit einem entzückenden knallroten Kleid, das allgemein Aufsehen erregte.
Ein Italiener habe vergeblich versucht ihre besondere Aufmerksamkeit zu erringen, sie eng umschlingend habe er jeden zweiten Tanz mit ihr aufs Parkett gelegt.
Sie habe sich aber offensichtlich nicht viel aus ihm gemacht, denn bereits nach zwei Stunden verließ sie die Festivität, und zwar ohne Begleitung!
Willi nahm diese Mitteilung zwar mit Befriedigung auf, war aber über sein jüngstes Versagen so deprimiert, daß er sich jeder Äußerung dazu enthielt. Außerdem hatte der andere sicherlich nicht mitbekommen, wie eingenommen er von dieser roten Schlange war.

* * *


In Albury ließ sich der verbliebene Rest der ganzen Blase in einem Espresso nieder, zwei nette junge Australierinnen in den typischen Sportjacken mit eingesticktem Vereinsemblem nahmen in ihrer Nähe Platz, und die beiden Parteien betrachteten sich heimlich, doch nicht minder konzentriert. Obwohl beide Gruppen reges Interesse füreinander hegten, traute sich doch keiner den ersten Schritt zu machen. Als dann die Burschen des Abends durch das hellerleuchtete Städtchen bummelten, kam ihnen ein Schwarm junger Damen entgegen und Willi drehte sich um, denn er glaubte eine der Sportlerinnen aus der Espressobar erkannt zu haben. Im gleichen Augenblick wandte auch das schlanke Girl den Kopf und lächelte ihn an. Doch die Boys schritten weiter was für einen Sinn hatte es, hier eine Tändelei anzufangen?

Und dann trafen die drei Burschen, Leo, der Mittlere der hinreichend bekannten kärntner und Willi auf ihren Käpten, der umgeben von seiner zusammengeschmolzenen Mannschaft auf dem Gehsteig daherwankte. Der kleine Freche wackelte ebenfalls schwankend dahin und der Steuermann, der lange Lulatsch, hielt eine Flasche Bier in der Hand, die er glucksend leerte.
Der Käpten in seinem üblichen Aufzug mit Regenmantel und verdrückter Marinemütze, knöpfte sich gerade ein paar australische Soldaten vor, die aus einem der Trainingscamps stammen mußten.
"Wa-wa-was bist du denn für eine komische Nummer in dieser Khakikluft da, ha?" säuselte er einem der verständnislos dreinblickenden Jungs ins Ohr, den er am offenen Kragenaufschlag gepackt hielt und nun näher an seinen Schnurrbart zerrte. "Hast wohl noch nichts von Disziplin gehört, was? Mensch, Schlappschwanz, schließ den Kragenknopf an deiner Uniform binde die Gamaschen etwas enger, sonst fallen sie dir zum Schluß noch über die genagelten Latschen, hahahahaaa!" brüllte er nun los.
"Weißt du überhaupt, wie ein Maschinengewehr knattert? Ha? Wenn es auf dich schießt? Ha?" Laut lachend über seinen vermeintlichen Witz zog er weiter los auf die grinsend herumstehenden jungen Soldaten: "Und streif mal den Riemen deines Sonnendaches unters Kinn, oder du bekommst einen Anschiß von mir! Hahahaaa!" grölte er weiter und versuchte den breitrandigen Diggerhut in die vorgeschriebene Position zu bringen.
Die jungen australischen Burschen verstanden von dem ganzen Gegröle natürlich kein Wort, sondern ergötzten sich nur ungeniert an den besoffenen Gestalten.
Da Käptens Heiterkeitsausbrüche zufolge kräftiger innerer Organe zu beträchtlicher Stärke anschwollen, daß es die Straße nur so rauf und runter hallte, blieben wohlsituierte Bürger an der Seite ihrer Gattinnen daherspazierend, erstaunt und entrüstet stehen, um die torkelnden Figuren zu betrachten. Deutlich war ihnen anzumerken, welche Gedanken sie dabei bewegten:
Entsetzlich, diese haltlose Brut , die da aus Europa zu uns herüberschwappt. Früher war Albury so ein ruhiges und angenehmes Plätzchen zum Leben. Jetzt aber streichen Horden immer neuer, unverständlicher, zudringlich in alle Dinge ihre freche Nase steckende Menschen durch unsere Stadt. Was diese Ausländer nur von unseren braven Soldaten wollen? Wenn man bloß verstünde, was die da brüllen und gestikulieren!
Kopfschüttelnd wandten sie sich ab und führten ihre gepflegten und behüteten Frauen weg von der gräßlichen Szene.
Als schließlich die Betrunkenen ihrer Bekannten ansichtig wurden, stieg erst recht ein ungeheures Gelächter zum Himmel, worauf die drei entsetzt und beschämt in eine Seitengasse und weiter in ein Lokal flüchteten und die Radaumacher allein stehen ließen.
Der holländische Ober schenkte ihnen australischen Wein ein, zum ersten Male sah Willi ein Hotel von innen. Das einheimische Produkt schmeckte ihnen, nur erzeugte es bereits nach wenigen Schlucken einen Schwips, was ihnen aber diesmal nicht ungelegen kam. Angenehm animiert suchten sie dann noch einen der Kinopaläste auf, wo ein Krimi lief. Die Sitte der Einheimischen, selbst Kleinkinder in die letzte Nachtvorstellung mitzunehmen, störte zwar das Vergnügen, aber was soll's, dachten sie.
Der Bus brummte die Landstraße entlang und hielt an. Im Schein der Neonleuchten aus den Schaufenstern Wodongas, wie dieses Township hieß, sahen sie zwei Männer zusteigen, welche die drei schlaftrunkenen Freunde sofort erkannten: Der lange Steuermann und der kleine Obermaat stolperten die Bustreppe herauf und lösten beim Fahrer ihr Ticket. "Wo habt ihr Käpten gelassen?" wurden sie angesprochen. Trotzdem eine deutliche Alkoholfahne vor ihnen herwehte, schienen die beiden merkwürdig gefaßt und nüchtern, vom tollen Überschwang des Nachmittags war nichts mehr zu merken. Eindeutig und stereotyp kam die Antwort: " Der sitzt im Häfen, die Polizei hat ihn wegen Ruhestörung eingelocht...
Wir haben in einer Pub getrunken, da hat auf einmal ein Aussie behauptet, Käpten hätte ein Nazi-Käppi am Schädel. Immer heftiger haben sie sich ereifert, uns als getarnte Faschisten beschimpft, die hier ihr Unwesen weiter treiben wollen. Schließlich erschien die Polizei und setzte unseren Käpten hinter Schloß und Riegel..."

Das war das letzte, was Willi von und über ihren Käpten aus Kabine XII jemals wieder hörte. Für den Mann bestand keine Hoffnung mehr, sein Start im fünften Kontinent war mißglückt...

Am folgenden Tag wanderte Willi noch einmal durch das ganze Lager, etwas wehmütig spazierte er durch die ehemals so belebten Straßen. Er lenkte seine Schritte in Richtung Bibliothek, und da saß unter einem riesigen Baum ein bärtiger junger Mann, die langen Beine weit von sich gestreckt und las angestrengt und ohne auch nur einmal aufzublicken in einem Buch. Als Willi näher kam, vermochte er den Titel zu entziffern: "The Evolution of Species" der Deutsche studierte Darwin!
Das also ist Urvieh, sagte sich der Österreicher vergnügt und rieb sich im Geiste die Hände. Werner Benke, sein zukünftiger Arbeitskollege, hatte ihm von diesem interessanten Exemplar der Weiterentwicklung des Affenmenschen erzählt das soll nicht etwa heißen, daß Urvieh dumm war! Ganz im Gegenteil.
Nur, sein Lebensprinzip verlangte es, nirgendwo länger als höchstens eine Woche in einem Arbeitsverhältnis zu stehen, dann packte er für gewöhnlich seine Tasche, die er als einzigen Luxus auf dieser Welt mit sich führte, und machte sich auf die Socken. Urvieh hatte bereits alles auf diesem Globus erkundet und probiert, was in zwei Lebensjahrzehnten nur irgend möglich gewesen war. Vom Krankenkassebeamten (mit Reifeprüfung) bis zum Bergarbeiter, über Steinklopfer und Milchausträger bis zum Lokheizer reichte die Skala seiner Beschäftigungen und Talente.
Doch all dies bedeutete geregelte Arbeit und ehrliche Anstrengung.
Am liebsten ging er einer anderen Form der Beschäftigung nach nämlich solide Bürger zu erschrecken. Dazu hatte er auf der Skaubryn zum Beispiel Gelegenheit und Muße genug gefunden. Da legte er sich etwa auf einen Liegestuhl, der von einem ehrwürdigem älteren Herrn für die Dauer der Überfahrt und selbstverständlich gegen harte Devisen gemietet worden war, ebenso lässig, wie er eben hier unter dem Baum lehnte. Hinter der entfalteten Zeitung versank dann die Umwelt für ihn. Kam der Mieter und machte ihn höflich aber bestimmt darauf aufmerksam, daß dies sein Stuhl sei, sah Urvieh gewöhnlich nur kurz auf, um dann seelenruhig weiter zu lesen. Inzwischen schwollen dem Widerpart bereits die Schläfenadern an, heftig pochte er auf seine Rechte. Dann pflegte Urvieh gewöhnlich einen vernichtenden Blick auf ihn zu werfen und beleidigt wegzugehen. Doch nein, er ließ sich einfach nebenan nieder, wenn es möglich war und hielt die nackten, nicht immer nach Eau de Cologne duftenden Füße in unmittelbarer Nähe des nun friedlich in seinem Liegestuhl Ruhenden...
"Sie Herr! Was erlauben Sie sich eigentlich?" mochte der empört losbrüllen ja, das waren dann für Urvieh die erhebensten Augenblicke seiner Existenz, dafür lohnte es sich zu leben...
Schmunzelnd begrüßte ihn Willi und verwickelte ihn in ein langes Gespräch, das sich vornehmlich um die lokalen Zustände drehte. Am Ende erwähnte Urvieh, daß er dieses Landes bereits überdrüssig sei, es interessiere ihn kaum noch. Urvieh kratzte sich ein wenig nachdenklich zwischen den zündholzlangen Borsten, gähnte einmal laut und ausgiebig, worauf er den Schlußsatz pointierte: "Das einzige, was mich wirklich noch reizen könnte, wäre die Fahrt zum Mond alles andere habe ich schon ausprobiert."
Vielleicht würde ein Girl in Australien noch etwas an seiner Einstellung ändern?
Dienstag würde er also dieses Camp verlassen, versunken in diverse Überlegungen schritt Willi über den Saumpfad in der Wiese seinem Wohnblock zu.
Zu gerne würde er mit Beryl, seiner Englischlehrerin, in nähere Beziehungen treten, wie man sich so ausdrückt. Wie sollte er dies einfädeln? Morgen Montag war die letzte Chance, die allerletzte Gelegenheit ein Pantscherl anzuknüpfen, sagte er sich. Wiederum würden Mr. Salzburger, Robert Buchner, der Apothekergehilfe der übrigens als vierter im Bunde mit in die Berge zog und dessen Freund Peter den Unterricht besuchen.
Als er sich dem Schlagbalken näherte, der einen Teil des Lagers von der Hauptstraße abtrennte, schlüpfte eben Robert unter der Schranke durch und begrüßte Willi schon von weitem. Etwas stockend in der Redeweise, hatte Robert die unangenehme Angewohnheit, in den Sprechpausen seinen Mund verzerrt zu öffnen, sodaß man die vergilbten und schadhaften Vorderzähne betrachten konnte.
"Sag mal, Robert", fragte ihn Willi, nachdem er ihm die feuchte Hand gedrückt hatte, "kannst du mir helfen Mr. Salzburger und deinen Freund Peter vom morgigen Unterricht fernzuhalten?" Hastig erklärte er ihm den Grund dafür. "Glaubst du, es läßt sich machen?" bat er nochmals.
"Ganz einfach", gab ihm Robert zur Antwort, "beide liegen in meinem Cubicle. Ich stelle erstens die Weckeruhr zurück, und wenn sie dann in den Vortrag gehen wollen, entdecke ich plötzlich, daß es schon viel zu spät ist. Peter spielt außerdem gerne Schach, so kann ich ihn leicht im Zimmer halten bis die Stunde vorbei ist!"
Und so kam es auch.
Gespannt wartend saß Willi Punkt 9 a.m. im Klassenzimmer. In Zeitungspapier eingewickelt lag ein Bildband seiner Heimat vor ihm, den er Beryl zeigen wollte. Um neun Uhr zehn war sie noch immer nicht aufgetaucht, da Willi wußte, aus welcher Richtung sie gewöhnlich kam, ging er diesen Weg entlang. Kaum war er draussen, trippelte sie eilfertig herbei, er blieb stehen und begrüßte sie erwartungsvoll.
"You are alone?" erkundigte sie sich, zu ihm aufsehend. Er bemerkte sofort, daß sie diesmal rotlackierte Fingernägel trug. Außerdem wies sie eine neue Frisur auf, hatte sie sich vielleicht einen Freund zugelegt? Eifersüchtig konstatierte er diese Eindrücke.
"Ja, es ist niemand im Klassenzimmer", antwortete er.
"Sie haben mir etwas mitgebracht?" erkundigte sie sich neugierig und blickte auf das Buch in der Zeitungshülle. Sie schwankte eine Weile, und zu einem Entschluß gekommen meinte sie: "Gut, begeben wir uns eine Zeitlang in das Klassenzimmer." Kokett zog sie die Schuhe aus, legte die tadellosen Beine übereinander und begann in der Publikation zu blättern. Nicht allzu lustvoll, anscheinend weilten ihre Gedanken ganz wo anders. Bei passender Gelegenheit brach sie ab und begann Willi aus ihrem Leben zu erzählen. Den Ehering trage sie nur, meinte sie, um den Nachstellungen durch Männer aus dem Lager zu entgehen, ansonsten liege ihr nicht mehr allzu viel an dem Symbol. Ehering? Zweifelnd blickte Willi Höger auf ihre Linke. Sie begriff sofort und lachte: " Der wird in anglosächsischen Ländern an der linken Hand getragen!"
Vor einigen Jahren habe sie im Vorderen Orient gelebt, ihr Vater sei dort beruflich tätig gewesen, dort habe sie einen australischen Architekten kennengelernt und sich verliebt. "Aber seine Entwürfe waren nicht sehr gut." Sie kräuselte verächtlich ihre vollen Lippen. Oha, schloß Willi, gar so begeistert scheint sie nicht von ihm zu sein. "Wir sind dann nach Australien übersiedelt und haben geheiratet. Dann fing er zu trinken an und ließ mich schließlich sitzen. Momentan wohne ich in Albury. Von dort pendle ich mit dem Auto jeden Tag zum Unterricht..."
Der junge Mann und die um fünf Jahre ältere, wesentlich reifere Frau schwiegen betreten, die Minuten verflossen ungenützt. Er fühlte ihr nervöses Zittern und eine leichte sexuelle Erregung nahm auch von seinem Körper Besitz.
Sie griff nochmals nach dem Band und betrachtete die herrlichen Kunstdrucke, und sich ihr näherbeugend erklärte Willi Einzelheiten der Fotos.
Sie sah auf die Uhr, die Stunde war zu Ende: "Very nice." Sehr hübsch, das war alles, was sie dazu äußerte. Dann klappte sie den Deckel zu und erhob sich.
Wenn ich sie jetzt nicht um ein Wiedersehen bitte, ist es endgültig vorbei, dachte er, doch er brachte nicht den Mut auf, sie darum zu fragen. Sie schien dies zu ahnen, denn wie selbstverständlich entnahm sie ihrer Handtasche ein Stück Papier und notierte ihre Adresse drauf.
"Für den Fall, daß Sie mir schreiben oder mich besuchen wollen!" Der junge Mann bedankte sich überglücklich. Dann verließen sie gemeinsam den Raum.