2. Kapitel: Die
Landung
Die letzte Stunden vor der Landung in Fremantle verbrachten die
Auswanderer ruhelos, genauso wie in allen anderen Häfen.
Unablässig schlugen Türen auf und zu, Menschen eilten an
Deck und blickten zur Küstenlinie hinüber, die sich im
Schimmer der Sterne am Horizont abzeichnete. Die Flamingo kreuzte
solange mit leichter Fahrt vor dem Hafengewässer, bis sie um
zwei Uhr morgens die Erlaubnis zum Einlaufen erhielt.
Niemand dachte an Schlaf.
Hocherfreut die lange Reise endlich hinter sich zu haben,
kleideten sich die Passagiere mitten in der Nacht vollständig
an, bereiteten Personalpapiere, Briefe und Fotoapparate vor, um
für den langersehnten Augenblick des Anlegens in Australien
gerüstet zu sein.
Als die Sonne aufging, verfärbte sich der Himmel blutrot und
ließ die Umrisse der Küste deutlich hervortreten. Wie
Flakgeschütze ragten die Hafenkrane in die Luft, geisterhaft
still lag das Land da, nur das sanfte Plätschern der gegen
die Mole anlaufenden Dünung unterbrach die Totenstille.
Unwillkürlich schweiften die Gedanken der Menschen, die da
fröstelnd in der frischen Luft des anbrechenden Tages
ausharrten, zurück zu den Häfen Aden, Port Said,
Messina, Triest überall dort war der Pulsschlag des Lebens
auch des Nachts zu spüren gewesen...
Gegen acht Uhr glitt das Schiff parallel zu einer steinbewehrten
Mole in ihre endgültige Position. Auf den Verladeplätzen
lehnten einige Hafenarbeiter müde gegen ihre Schaufeln und
lugten apathisch zur Menschenmenge an Bord der Flamingo
hinüber. Auswanderer, die zaghaft hinüberwinkten, gaben
es bald auf, denn keine Hand rührte sich zum
Willkommensgruße.
Dieser allererste Eindruck von Eintönigkeit, Verlassenheit
und Lahmarschigkeit stellte eine große Enttäuschung
dar, denn man hatte aufgrund der offiziellen Auswandererprospekte
Leben und nochmals Leben erwartet...
Scharen von Beamten der australischen Einwanderungsbehörde
nahmen im Salon Platz, uniformierte Beamte der Hafenpolizei
stellten sich breitbeinig vor den Saaltüren auf und
ließen mit lässigen Handbewegungen die Europäer
einzeln eintreten, die in einer endlosen Schlange bis zum Heck des
Schiffes und wieder zurück warteten. Karl Holzner und Willi
Höger hatten die Absicht, möglichst rasch zum
Fremdenpaß zu kommen, denn sie wollten gleich in die Stadt
Fremantle eilen, da bereits um 2 p.m. wiederum die Anker gelichtet
würden, um nach der Durchquerung der Großen
Australischen Bucht den Bestimmungshafen Melbourne anzulaufen.
Wütend beobachteten sie, wie Italiener das fürchterliche
Gedränge ausnützten, um sich nach vorne zu schwindeln.
Da die Reihen der Wartenden mehrfach parallel liefen, wechselten
sie einfach in die nächste Reihe und übersprangen auf
diese Weise gleich 30 bis 50 Personen. Die endlosen Stunden des
Wartens, die sie auf so unangenehme Weise in der prallen Sonne
stehend, brennend vor Ungeduld verbrachten, grub sich
unauslöschlich in aller Gehirnwindungen ein. Und die Itaker
verscherzten sich die letzten Sympathien bei den
Österreichern was ihnen vermutlich vollkommen egal war.
Der Beamte sah von den Papieren auf und blickte Willi kurz an,
nachdem der ihm Paß, Internationalen Impfschein und ein
Portraitfoto überreicht hatte.
"Name?" "Willibald Höger."
"Height?" Der Mann von der Behörde rechnete die Angaben mit
Hilfe einer Tabelle in Inches um, musterte Willi nochmals von Kopf
bis Fuß und trug dann "Five feet nine inches" in die blaue
Legitimation ein. Das schien Höger etwas über den Daumen
gepeilt zu sein, aber er schwieg.
Alarmiert war er nur, als der Australier ohne eine Sekunde zu
zögern, in die Rubrik Profession "Labourer" eintrug, ihm
blieb einfach die Luft weg. Stempel knallten auf die Seiten, ein
Tintenkuli fetzte eine Unterschrift aufs Papier und schon hielt
Willi Höger seinen Fremdenpaß in der Hand.
"Next please!" hörte er noch, wandte sich zum Gehen und
stieß auf Karl, der mit geistesabwesenden Blick seinen
Ausweis durchblätterte. "Sag mal", drang Willi vorsichtig in
ihn, "was hat man bei dir als Berufsbezeichnung eingetragen?"
"Ich verstehe das alles nicht...", stotterte der Freund. "Ich bin
doch im Besitz sämtlicher Papiere, die beweisen, daß
ich Schlosser gelernt habe und den Beruf seit Jahren ausübe.
Und der tragt so mirnichts dirnichts Arbeiter in das Dokument
ein!"
"Ich glaube, die wollen uns elegant verarschen, aber vielleicht
hat das alles herzlich wenig zu besagen?"
"Auf jeden Fall ist es eine Herabsetzung jedes Facharbeiters, ihn
einfach als labourer zu bezeichnen, was ja einen manuell
tätigen Schwerarbeiter laut Lexikon bezeichnet!" meinte Karl
noch immer verstört.
Gegen die Mittagszeit hin waren endlich alle Formalitäten
erledigt und unsere Freunde und der kleine Bäckergeselle
eilten über die Gangway nach unten.
Ihr Füße berührten noch kaum zum ersten Male
australischen Boden, erfuhren sie über eine offizielle
Durchsage, daß die Flamingo erst um 23 Uhr respektive 11
p.m. auslaufen würde. In der Stadt erzählten ihnen
später Landsleute, die Hafenbehörden hätten bei
einer Überprüfung der Rettungsboote auf den ersten Blick
gravierende Mängel festgestellt. Erst nach Abschluß der
Reparaturen dürfe das Schiff die gefürchtete
Australische Bucht überqueren.
Der Bäckergeselle begann bereits nach wenigen hundert
Schritten auf dem fremden Boden zu jammern: sie würden sehen,
das Australienabenteuer ginge ganz bestimmt schief, es wäre
zwecklos in die Stadt hineinzurennen, man solle besser sein
bißchen Geld zusammenhalten. Auch mit den
Arbeitsmöglichkeiten sehe es nicht so rosig aus, wie ihnen
Miss Green an Bord geschildert habe am liebsten würde er auf
der Stelle umdrehen und zurückfahren. Die beiden anderen
achteten nicht auf sein Gejammer, sondern schritten rüstig
vorwärts.
Kurz danach brauste eine Dampflokomotive mit einem langgezogenen,
sirenenartigen Geheul unter der Brücke durch, die sie gerade
überquerten, was Willi aus den englischen Kriminalfilmen
bekannt vorkam. Also zumindest der Pfiff ist vom Mutterland
übernommen, bemerkte Willi leicht amüsiert. Auch die
Backsteinbauten und die erste Kirche, die sie erblickten,
erinnerten stark an den altenglischen Stil. Die Burschen
schlenderten zu einer Bushaltestelle und stellten sich neben eine
Mädchenschar, die, wie sie mit Staunen registrierten, in
Schuluniformen gekleidet war.
Die Verständigung mit der Schaffnerin in dem
überfüllten Bus klappte einwandfrei, nur etwas fiel
ihnen auf, eine Redewendung, deren Sinn sie nicht sogleich
verstanden: "Six pence, thank you!" Warum bedankte sie sich noch
bevor sie ihr das Geld ausgehändigt hatten? Da sie leichtes
Hungergefühl verspürten, hielten die drei nach einem
Restaurant Ausschau und blickten vorerst unentschlossen durch die
Scheiben eines Lokals, bevor sie einzutreten wagten. Nachdem sie
Vegetable soup, Steak and eggs, Salad und anschließend Tea,
Bread and butter zu ihrer Zufriedenheit vertilgt hatten, ging's
ans Zahlen, wobei zu ihrer Überraschung die Zeche für
alle addiert wurde und die Kellnerin ohne ein weiteres Wort die
Rechnung dem nächstbesten zuschob. "Die machen sich ihren
Dienst aber leicht", murrte einer, als ihnen dasselbe auch in den
städtischen Autobussen passierte. Verwundert bemerkten sie,
wie der Schaffner einer Mutter mit Kind beim Aussteigen half, das
Lenkrad verließ, sich zum Heck des Autos begab, ein
zusammenklappbares Sitzwägelchen von einem Haken herunter hob
und es der wartenden Mutter freundlich zuschob, die sogleich ihr
Kind darin verstaute.
"Mensch, das ist ja famos!" entfuhr es einem der jungen
Männer. "Zuhause muß eine Frau froh sein, wenn ein
Kinderwagen überhaupt transportiert wird! Da können sich
die Unseren aber eine Menge abgucken!"
Minute für Minute entdeckten sie nun neue Dinge, die ihnen
entweder unverständlich fremdartig oder irgendwie
bewundernswert vorkamen.
Inmitten eines Postamtes, das überfüllt, heiß und
schwirrend von Wortfetzen der Wartenden war, geschah es, daß
sie Bruchstücke ihrer Muttersprache auffingen, die
offensichtlich von einer Frau mittleren Alters ausgingen, die sich
da mit einer hageren Jüngeren unterhielt: "Ach, es scheint
heute mal wieder richtig heiß zu werden, was denken Sie,
Frau Buske?"
"Zu toll, und ich muß noch viel Shopping gehen... How are
you going, Miss Bainbridge?" Die jüngere Dame unterbrach kurz
ihren Redefluß, um eine vorübergehende Australierin zu
begrüßen und fuhr dann im gleichen Tonfall fort: "Mein
Husband kommt diese Woche nämlich früher nach Hause, da
er Morning shift arbeitet. Ich werde..."
Interessiert lauschten die drei Österreicher der regen
Unterhaltung der beiden deutschen Einwandererfrauen. Beim Bezahlen
des Luftpostbriefes in die Heimat vernahm die eine Frau den harten
deutschen Akzent in Willis Englisch, sie blickte herüber und
erkundigte sich herzlich: "Na, ihr seid wohl noch nicht lange im
Lande, nicht wahr?" "Ja, diesen Morgen mit der Flamingo
angekommen, die noch im Hafen liegt", gab Karl freudig Auskunft.
"Und Österreicher auch noch, das merkt man aber gleich.
Wartet ein Weilchen, ich werde bald fertig sein, dann können
wir uns ein wenig unterhalten. Ihr habt doch soviel Zeit,
wa'?"
"Gerne, wir begeben uns nur inzwischen auf die Straße hinaus
hier herinnen halte ich es nicht mehr lange aus!" erwiderte Willi.
Die mollige Rheinländerin in einfachem dunklen Kleid kam
ihnen nach, und gemeinsam spazierten die Vier die belebte
Geschäftsstraße entlang. "Ihr müßt schon
entschuldigen, aber in den sechs Jahren, die wir nun hier leben,
habe ich bereits viele deutsche Ausdrücke verschwitzt.
Manchmal, besonders an heißen Tagen wie heute, muß ich
in meinem Gedächtnis direkt nach Vokabeln fischen! Englisch
spricht sich auch leichter wie das Deutsche, zumindest das
Alltägliche... Meine Tochter ist mit einem Italiener verlobt,
ein sehr netter Mensch übrigens. Da mein Mann und ich uns in
der Sprache nicht unterhalten können, sind wir eben gezwungen
dauernd englische Konversation zu führen..."
Die Burschen berichteten ihr von ihren Erlebnissen mit den
italienischen Schicksalsgenossen an Bord, worauf sie meinte: "Das
stimmt, die Italiener sind auch hier alles andere als beliebt.
Aber wie überall gibt es unter ihnen gute und schlechte
Charaktere, ziemlich gleich verteilt!"
Die Neuankömmlinge erkundigten sich, wie es denn mit der
Erziehung der australischen Jugend stünde, die zu beobachten
sie bereits Gelegenheit hatten.
"Ach wißt ihr, mit Education nein das stimmt nicht ganz mit
der Erziehung, genauer gesagt dem Benehmen, ist es nicht weit her.
Sie wirken alle ein wenig flegelhaft und ungehobelt..."
Mehr als eineinhalb Stunden führten die vier, an einer
Straßenecke vor einem Obstgeschäft stehend, informative
und inhaltsreiche Gespräche, wobei öfters die Rede auf
Europa kam, auf die wirtschaftlichen Verhältnisse oder die
noch immer bestehende politische Unsicherheit.
"Wir sind ja ganz zufrieden mit unserem Los hier, wenn einem auch
manches abgeht, das in Deutschland wohl als
selbstverständlich gilt..." Ihre Miene nahm für einen
Augenblick einen seltsam gefassten Ausdruck an, eine nachdenkliche
Pause lang starrte sie vor sich hin: "Hoffentlich ergeht es euch
gut. Viel Glück! Besonders für den Anfang, es ist nicht
leicht!" setzte sie hinzu und diktierte Willi dann ihre Adresse.
"Es würde mich wirklich freuen, von euch wiedereinmal ein
Lebenszeichen zu erhalten, wäre gespannt wie es euch
ergeht!"
Lange blickte sie noch den drei jungen Menschen nach, als diese
ihre Entdeckungsreise noch vollkommen unbelastet fortsetzten, so
gut wie ahnungslos, was die Verhältnisse auf diesem riesigen
Kontinent Australien betraf.
Die halboffizielle Bezeichnung "Newaustralians Neuaustralier", wie
man die Einwanderer allgemein betitelte, traf nicht im mindesten
auf sie zu. Es waren Europäer, die da den ersten Kontakt mit
dem australischen Leben aufnahmen, keine New-Australians, eine
Bezeichnung, die Europäer selbst nach langem Aufenthalt zum
Widerspruch reizte und die denkende Einheimische als falsch oder
unzutreffend ablehnten. Der Wunsch, die Neuankömmlinge
möglichst rasch in der australischen Volksmasse aufgehen zu
lassen, war der Vater dieser Bezeichnung, die Absicht, sie
möglichst bald und nach Belieben dem eigenen Sozialverhalten
unterzuordnen, jegliche eventuelle Neuerung, deren Wurzeln am
alten Kontinent Europa zu finden war, im Keim zu ersticken.
Von dieser Erkenntnis unbelastet, schritten die Österreicher
der Innenstadt zu. In der Sonnenglast lagen die niedrigen,
einstöckigen Häuserzeilen menschenleer da. Eine
dünne Staubschicht schien sich beim Aufkommen des geringsten
Windhauches von der Straßenoberfläche abzuheben, um
sich dann in der Luft fein zu verteilen. In den
Geschäftsstraßen konnten sie sich fast ununterbrochen
im Schatten eigenartiger Vordächer weiterbewegen, die aus
rostigen Wellblech, abgestützt mit verschnörkelten
Holzsäulen oder altmodisch wirkenden gußeisernen
Säulen, bestanden. Als sie schließlich durch eine
fußfreie Schwingtüre einen Pub betraten und sie eine
Welle von Rauch und Alkoholdunst umspülte, deren Urheber, in
breitrandigen Hüten an der ovalen Theke lümmelnd,
riesige Quantitäten Bier durch die Kehlen jagten, kam ihnen
dies alles wie die Dekoration zu einem Wildwestern vor.
Später gelangten sie in eine noblere Gegend, denn saubere
Einfamilienhäuser reihten sich ununterbrochen aneinander.
Familienväter sprengte eifrig die kleinen Rasenflächen
vor den schmucken Häuschen oder begnügten sich damit,
die Sprinkleranlagen bedächtig zu überwachen. Hie und da
knatterten Rasenmäher, und nur auf solcherart gepflegten
Flächen leuchtete den Dreien das Grün entgegen, das sie
aus ihrer Heimat bereits in schmerzlicher Erinnerung hatten.
Bei diesem ziellosen Herumwandern stießen sie auf eine
weitere Gruppe von Landsleuten, unter ihnen auch Dietrich, dem
Frauenheld. "Also hörst, die Weiber da sind nicht schlecht
ziemlich schlank gewachsen!" urteilte er begeistert, als ihn Willi
scheinheilig um seine Meinung fragte, wohl wissend, daß kaum
ein anderes Thema auf Erden Dietrich mehr reizen konnte. "Aber die
Zeit ist ungünstig, die meisten werden noch im Büro
sitzen... Wißt ihr was? Wir fahren geschlossen nach Perth
rüber, ist ja angeblich eine der schönsten Städte
Australiens."
Im Bus ließ sich Dietrich sogleich neben einer auffallend
charmanten jungen Dame nieder, während Karl und Willi
dahinter Platz nahmen und sofort in drängendem, völlig
ungezwungenem Ton auf den Casanova eindrangen: "Mensch, so sprich
sie doch schon an! Frag sie doch, wie weit es bis Perth ist oder
noch besser lad' sie gleich ins Kino ein!"
"Wenn ich nicht kann! Glaubst du, ich geh' mich blamieren? Die
lacht mich doch aus mit meinen Englischkenntnissen!" Er drehte
sich um und tippte gegen die Stirn. Keiner der Burschen brachte
den Mut auf das erste weibliche Wesen, das ihnen in Australien
über den Weg lief, anzuquatschen.
Perth hielt was man ihnen darüber erzählt hatte,
brauchte keinen Vergleich in Schönheit und Anmut mit einer
europäischen Kulturstadt scheuen. "Schaut doch! Ein
Volkswagen!" Die Freude, auch hier Produkte aus Übersee zu
finden, war riesengroß. An den Kreuzungen beobachteten sie
den Linksverkehr, und jedesmal stockte ihnen der Atem, wenn ein
Fahrzeug um die Kurve fegte und der Zusammenprall unvermeidlich
schien. Um fünf Uhr öffneten sich die Tore der
Büropaläste und heraus strömten in hellen Scharen
Frauen und Mädchen, so gepflegt und puppenhaft wirkend, wie
sie es zuhause noch nie gesehen hatten. Zu zweit und dritt
stolzierten die australischen Evastöchter auf Beinen daher,
die jedem Werbeplakat für Strümpfe Ehre eingelegt
hätten. "Und da heißt es immer, Australien leidet unter
Frauenmangel! Die Girls auf unserem Kahn können ruhig
einpacken, ich schau' keine mehr an, so wahr ich Lämmel
heiße!
Na, vielleicht Miss Flamingo, das wäre aber auch schon
alles", verkündete Dietrich mit erhobener Stimme. "Und jetzt
nichts wie ran!"
Leider fehlte im Augenblick jede Gelegenheit dazu, so beschlossen
sie, sich vorerst mal Mut anzutrinken. "Hallooo, da ist schon so
eine Spelunke, nichts wie rein ins Vergnügen!"
verkündete Dietrich flott wie immer und trat als erster ein.
Ein großer Saal tat sich vor ihnen auf, an dessen
Wänden entlang kleine Tischchen aufgebaut waren. Ein
geräumiges Tanzpodium mit einem verlassen dastehenden
Klavier, eine Registrierkasse mit einem älteren Fräulein
dahinter und dazwischen vereinzelte Pärchen füllten den
Raum aus.
Da sich nichts rührte, wurden sie unruhig und einer aus der
Runde rief: "Heh! Wirtshaus!". Allerdings so zaghaft, daß es
kaum bis in die nächste Ecke drang. "Da ist doch so ein
schöner weißer Porzellanknopf angebracht! Drück'
den mal kräftig, vielleicht kommt dann jemand", riet
Dietrich, und Karl zögerte nicht lange. Gespannt blickte
alles umher, die Wirkung war in der Tat verblüffend: Aus
einer Seitenloge tauchte ein Mann auf, sandte fragende Blicke auf
die Gäste hernieder, rückte den Stuhl am zittrigen
Flügel zurecht und begann eine Tanzmelodie zu spielen.
Immense Heiterkeit von Seiten der Einwanderer war die
natürliche Reaktion darauf.
Auf dem Weg zum Schiffsanlegeplatz begegnete ihnen Fritz, der von
Giftzwerg begleitet wurde. Nach dem Begrüßungshallo
erkundigte sich Willi nach den ersten Impressionen über ihr
neues Heimatland, die Antwort war für ihren Giftzwerg
typisch: "Ja weißt du, mir gefällt es ganz gut. Aber
eine blöde Gewohnheit haben die Leute hier die reden ja
dauernd Englisch!" meinte der leichthin, allerdings im besten
Kärntner Dialekt.
"Ihr braucht euch mit dem Heimkommen überhaupt nicht zu
beeilen wir laufen auch um 23.30 Uhr nicht aus", teilte ihnen
Fritz noch mit, als sie eine schnellere Gangart einschlagen
wollten. "Die Ausbesserungsarbeiten sind derartig umfangreich,
daß mit dem Auslaufen nicht vor morgen Mittag zu rechnen
ist!"
Sie drehten nochmals um und kehrten erst mitten in der Nacht
zurück auf das Schiff, das ihnen wie ein sicherer
Zufluchtsort vorkam.
Während die vielen hundert Italiener, Österreicher und
einige wenige Jugoslawen aus der Gegend um Triest einem neuen Tag
mit neuen Entdeckungen entgegenträumten, tauchte aus dem
westlichen Horizont wiederum ein mächtiger, schlanker
Schiffskörper auf, dessen Decks von neugierigen,
erwartungsvollen Menschen wimmelte, meist Westdeutschen und
zahlreichen Maltesern.
Als der Koloß endlich festgetaut im Hafen von Fremantle lag
und die letzten Kommandorufe verhallt waren, begaben sich die
Passagiere des eben eingelaufenen Auswandererschiffes
fröstelnd wieder zurück in die Schlafräume, denn
die Stille konnte sie nicht zum Wachbleiben verleiten.
Zwei junge Männer, von denen der eine mit leicht gekraustem
Haar gegenüber seinem Begleiter mit dem Gardemaß von
1.85 Meter recht klein wirkte, sahen zur Flamingo hinüber,
die etwa 50 Meter weiter vorne vollkommen ruhig dalag.
"Scheint ebenfalls ein Migrant-Transport zu sein. Der Kahn sieht
kleiner aus als der unsere, wird auch kaum komfortabler sein.
Hoffentlich ist wenigstens die Fresserei besser...." Der Lange gab
mit keinem Wort zu erkennen, daß er überhaupt
zugehört hatte. Der andere sagte gähnend: "Bin
neugierig, ob die auch nach Bonegilla oder wie das Camp
heißt, eingeliefert werden. Komm, laß uns
hinuntersteigen in das elende Massenquartier!"
Eine Ratte lief das armdicke Seil entlang, das durch die
Ankerklüsen aufs Vorschiff führte. Als sie nicht
weiterkonnte, kletterte sie vorsichtig den gleichen Weg
zurück, bis ein massiver gußeiserner Verankerungsblock
ihr festen Boden unter den Füßen verspüren
ließ.
Aus dieser Entfernung formten die Buchstaben am Bug des Schiffes
einen sinnvollen Namen: "Skaubryn" lautete das Wort.
* * *
Frisch ausgeruht und zu neuen Taten bereit trieb sich Willi
Höger auf der Flamingo herum. Der Verbindungsweg zwischen den
Sonnendecks erwies sich als gesperrt und zeigte einen ungewohnten
Anblick: die hölzernen Rettungsboote lagen dickbäuchig
auf den Planken, und Handwerker bohrten, hämmerten und
meißelten, daß die Späne nur so flogen.
Ein gutmütig aussehender Australier mit einer
Lederschürze um den Leib gebunden, die Hemdsärmel
aufgerollt, wischte mit dem Handrücken die
Schweißtropfen von der Stirn. "Ein heißer Tag heute,
nicht wahr?" begann er jovial ein Gespräch. "Yes, indeed",
gab Willi zögernd zur Antwort. Er wußte nicht weiter,
was sollte er sagen? Doch, es fiel ihm etwas ein: "How long are
you working here?" Der Aussie blickte ziemlich verständnislos
drein. Nein, das war falsch ausgedrückt, er verbesserte sich:
"How long will this job...ah, ah, take you to finish?" Nun war es
wohl richtig heraussen, eine schwere Geburt.
"Oh, ich denke wir werden mit diesem bloody Job kaum vor Freitag
Morgen fertig werden, die ganzen Rettungsboote sind durch und
durch verfault. Es ist eine Schande, denk dir bloß aus, was
passieren hätte können, wäre euer Schiff in Seenot
geraten! Ihr wäret wie neugeborene Katzen elendiglich
abgesoffen. Look down there!", er wie auf die
Meeresoberfläche hin, und Willi beugte sich folgsam vor. Die
ausgeschwenkten Boote hingen an Stahlseilen tief Wasser, obschon
unbelastet drang dreckiges Hafenwasser durch die morschen Bretter,
welche die Deckhands so schön weiß lackiert hatten um
die schadhaften Stellen für das Auge verschwinden zu lassen.
Das durfte man in der Tat als eine unverzeihliche Sorglosigkeit
betrachten, da hört sich die alte Walze von italienischer
Lebensfreude und Unbekümmertheit aber auf, fand Willi und so
dachten Gott sei Dank auch die hiesigen Hafenbehörden.
Der Zimmerman erzählte ihm, daß die
Einwanderungsbehörden von der Schweinerei Wind bekommen
hatten und auf kompletten Ersatz aller Rettungsboote
längstens nach dem Einlaufen in Sydney bestünden.
Schadenfroh wandte sich Willi ab, diese Blamage und die Stange
Geld für die Reederei gönnte er den Itakern.
Am Kai verwickelte der junge Österreicher einen Arbeiter, der
Löcher in die Holzbohlen drillte, in eine interessante
Diskussion. "Ich stamme aus Essex und lebe seit etwa acht Jahren
hier in Fremantle", erklärte der so bedächtig und
deutlich artikulierend, daß Willi , der begierig
zuhörte, jedes Wort mitbekam.
"Mein Sohn besucht in Perth die Universität, geht ins
College", erwähnte er mit sichtlichem Stolz. "Welchen Beruf
hast Du gelernt?" erkundigte er sich dann, ohne von der Arbeit
hochzublicken. "Ich habe ebenfalls ein technisches College
besucht, aber die Ausbildung nicht abgeschlossen", gab Willi
Höger wahrheitsgetreu zur Antwort.
"Dann würde ich dir raten: Sieh' dich um einen Job um, wo du
das Gelernte verwerten kannst vor allem aber nicht vergißt,
spare fleißig, fahr' nach zwei Jahren wieder nach Europa
zurück und beende dein Studium!" Verwundert nahm Willi das
Gehörte auf, der Alte bemerkte das und setzte fort: "Du
staunst über meinen Vorschlag, das kann ich mir denken. Well,
was glaubst du, warum ich diese blödsinnigen Löcher da
rein bohre? Weil ich nichts anderes kann?
Nein, mein Freund! In England arbeitete ich als perfekter
Modelltischler, hier verdiene ich bei der einfachen Tätigkeit
mehr, als ich hierzulande in meinem Beruf erhalten würde.
Für genaue Arbeiten haben die wenig übrig, hier
mußt du möglichst billig herstellen auch wenn sich das
Produkt hinterher als Dreck erweist!
Ist Dir denn nicht aufgefallen, wie primitiv die Dinge um dich
herum sind? Wenn ein Aussie etwas Präzises braucht, so wie
etwa diesen Metallmaßstab", er reichte ihn Willi zur
Ansicht, "dann bezieht er es von Old England oder vielleicht
Germany!"
Ja, der Mann dürfte recht haben, sagte sich Willi. Die
Telegrafen- oder Strommasten zum Beispiel laufen kreuz und quer,
daß einem frisch importiertem Elektriker vermutlich die
Grausbirnen aufstiegen. Oft dachte er, die Aussies hängen die
Kabel sicherlich nur an die verkrüppelten Maste, weil die
Befestigung an den Dachrinnen auf Schwierigkeiten
stößt.
Zusammen mit seinen Freunden besichtigte er nochmals Perth, wobei
er vornehmlich in den Botanischen Gärten herumstreifte, da er
dort seiner Kamera die gebührende farbenfrohe Umgebung bieten
konnte. Größte Heiterkeit rief der Anblick einiger
weißgekleideter Damen mit großen, breitrandigen
Hüten unter ihnen hervor, die auf gleichmäßig
exakt geschnittenen Rasenflächen in tiefem Ernst
braunlackierte Holzkugeln über ein Feld schoben. Da den
Österreichern Frauensport, mit Ausnahme von
Winteraktivitäten oder eventuell Leichtathletik oder
Wassersport, ziemlich unbekannt war, kam ihnen Bowling höchst
komisch vor; und so guckten sie mit unverhülltem
Vergnügen dem Treiben zu.
Bald jedoch sollten sie am eigenen Leibe erfahren, daß
Kleider Leute machen und aus dem ortsüblichen Fallendes im
allgemeinen als Lächerlich empfunden wird.
Konrad aus der Kabine XII hatte sich in seine beste Schale
geworfen, um mit anderen Tanzlustigen "die Lage in Perth einmal
richtig zu sondieren", wie er sich auszudrücken pflegte.
Obwohl er nur einfacher Maurer war und sozusagen ohne höhere
Ambitionen, verfügte er über sehr gute Umgangsformen.
Umso erstaunter nahm die Belegschaft der Kabine abends seinen
Lagebericht auf:
"Wir bemühten uns in der üblichen Art und Weise Damen zu
ergattern, um unsere eingerosteten Knochen im Takte der Musik
aufzulockern. Vollkommen vergeblich! Kaum sahen die Girls unsere
engen Röhrlhosen, wandten sie sich mit Grausen ab und wir
hatten das Nachsehen. An die zehnmal erging es mir so. Nach all
den Körben reichte es mir aber, ich ließ die
eingebildeten Puten stehen und suchte den nächsten Pub
auf...
Beim Saufen wird man hier scheinbar am ehesten als Mensch
akzeptiert, denn ich fand bald einen Gesprächspartner soweit
man bei mir überhaupt vom Englischsprechen reden kann!"
setzte er grinsend hinzu.
"Was nicht ist, kann noch werden!" tröstete ihn einer der
Kameraden, wobei er offen ließ, ob er Konrads
Sprachkünste meinte oder dessen Erfolge bei der einheimischen
Damenflora.
* * *
Endlich, in der vierten Nacht nach ihrer Ankunft in Fremantle,
lief die Flamingo dem Bestimmungshafen Melbourne entgegen.
Der neueste Bordklatsch, abgesehen vom Schicksal der schwangeren
Frau des Tirolers, der nun ganz offen mit der bewußten
blonden Italienerin poussierte, und die sich in ihrer Verzweiflung
ins Wasser stürzen wollte, drehte sich um die fünf
Flamingo-Passagiere, die in Fremantle die Abfahrt versäumt
hatten.
"Kein Grund zur Sorge, denke ich", meinte Karl. "Die gelangen
früher nach Melbourne als wie wir. Noch dazu steht ihnen eine
spannende Bahnreise durch die Südaustralische Nullarbor-Ebene
bevor. Den Fahrpreis bekommen sie sicherlich von den
Einwanderungsbehörden vorgestreckt..."
Spiegelglatt lag die See vor ihnen, nur zeitweise getrübt
durch ein leichtes Kräuseln der Oberfläche. Minutenlang
segelten mächtige Albatrosse ohne einen einzigen
Flügelschlag durch die Lüfte. Kindergeschrei
ertönte beim Auftauchen einer Wasserschildkröte, die in
Richtung der nicht allzuweit entfernten Küste schwamm, die
sich flach und hellschimmernd hunderte von Meilen dahinzog.
"Sieht aus wie Schnee!" kommentierte einer.
"Ist aber hundertprozentig Sand, darauf kannst du Gift nehmen!"
ließ ein anderer verlauten. "Angst um mangelnde
Badegelegenheiten brauchen wir nicht zu haben. In Queensland
allein soll sich herrlichster Strand tausend Meilen weit
erstrecken!" "Ob es da drinnen auch Haie gibt?" Nachdenklich
betrachteten sie das friedliche Gewässer.
"Und ob! Jedes Jahr enden drei bis vier Menschen durch diese
Bestien, habe ich gehört", ereiferte sich Karl.
"Wenn man annimmt, daß die Hälfte der Bevölkerung
die Küstengebiete bewohnen also etwa fünf Millionen, ist
die Wahrscheinlichkeit äußerst gering, daß gerade
du dürre Latte gefressen wirst!" rechnete ihm Willi vor, was
gebührenden Beifall hervorrief.
"Was ist denn das da drüben? Seht ihr die vereinzelten
Rauchsäulen?" Eine lebhafte Debatte um die Bedeutung dieser
Erscheinung entbrannte unter ihnen. Buschfeuer? Nein, die
würden sich über ein größeres Gebiet
erstrecken. Also was sonst?
Nasenferdl, der Deckoffizier, schlenderte auf die Gruppe zu,
offensichtlich in vergnügte Stimmung. Für ihn stand ja
das Ende aller Ärgernisse knapp bevor wenn nämlich das
ganze Auswandererpack in Melbourne das Schiff verlassen
würde. Die Burschen deuteten auf die Rauchsäulen und
baten in gebrochenem Italienisch um eine Interpretation.
Da legte der Gute theatralisch die flache Hand auf den Mund, nahm
eine tänzerische Pose ein und begann in grotesken
Sprüngen um ein imaginäres Feuer zu hüpfen:
"Kangaroo! Kangaroooo!" stieß er dabei im höchsten
Diskant hervor und drehte gleichzeitig mit der Linken den nicht
vorhandenen Bratspieß. Die jungen Männer blickten ihn
aus weit geöffneten Augen an, da wurde er sich plötzlich
seiner Würde als Offizier bewußt, rückte die
verrutschte Dienstmütze zurecht und schritt unter dem
Beifallsgebrüll der Passagiere breitbeinig von hinnen.
Also Eingeborene braten dort die erlegte Jagdbeute. Schade,
daß kein Fernglas zur Hand war.
Wiederum vergingen Tage.
In großem Bogen war das Land zurückgewichen und nur das
Meer zu sehen, so weit das Auge reichte. Auf der Flamingo
herrschte Aufbruchstimmung: Ausgeliehene Bücher wurden
retourniert, der Zahlmeister öffnete den Safe und stellte
Geld, Wertgegenstände und Dokumente wieder den
Eigentümern zur Verfügung, und Miss Green verteilte die
Zeugnisse an die Kursteilnehmer.
In Anwesenheit eines Regierungsbeamten hielt sie einen letzten
Informationsvortrag, um an Hand der erteilten Antworten die
Fortschritte ihrer Schüler zu demonstrieren. Da man ihre
Vorliebe für gemeinsam gesungene Lieder zum Abschluß
jeder Veranstaltung kannte, verdrückten sich weniger
Interessierte noch vor der Beendigung. Krampfhaft bemühte sie
sich, die Verbliebenen zum Singen zu animieren: "My Bonny is over
the Ocean, my Bonny is over the Sea..." Aus Leibeskräften
einstimmend trug Willi seinen Teil dazu bei, die Situation zu
retten, Miss Green hatte das gewiß verdient.
In den Gängen und Kabinen der Flamingo begann ein
geheimnisvolles und eigenartiges Treiben wie in einem arabischen
Basar. Wintermäntel, Schuhe und Rasierapparate tauschten
ihren Besitzer, wurden in knisternde Pfundnoten umgesetzt man
benötigte doch Geld! Bargeld!
Die ganze Um- und Aufbruchszenerie äußerte sich zum
Teil in heftigen Reaktionen, so konnten die beiden Freunde Karl
und Willi zufällig beobachten, wie ein Mann unter heftigen
Protest seiner Angetrauten deren Wintermantel in die See warf.
"Was sollen wir uns damit noch belasten?" schrie der Ehemann in
seinem Zorn. "Wir werden ihn ja doch nicht mehr benötigen.
Und damit basta!" rechtfertigte er sich vor seiner heulenden
Gattin.
"Das wird sicherlich ein guter Australier", bemerkte Willi
ironisch. Karl fragte verwundert: "Warum glaubst du das?"
"Nun, der gute Mann versucht wirklich alles über Bord zu
werfen, was ihn noch an Europa erinnern könnte. Die Idee
finde ich nicht schlecht, schließlich haben schon andere
Eroberer ihre Boote hinter sich verbrannt bloß, ich werde
erst mal sehen ob es sich überhaupt lohnt!"
"Du bist ein Philosoph und ein elender Skeptiker", gab im Karl zu
Antwort, fuhr aber abschwächend fort: "Aber ich
schließe mich deiner Meinung an." "Ein wenig Zweifel kann
kaum schaden", gab Willi ernsthafter zu bedenken. Ob er recht
behalten sollte?
Man wußte, daß die nächste Station Bonegilla, das
Auffanglager in Victoria sein würde, somit drehten sich viele
Mutmaßungen über ihre nächste Zukunft um diesen
Punkt. Angeblich würden sie in Einbettzimmer untergebracht,
und innerhalb einer Woche bekämen sie Arbeit, hieß
es.
Willi machte sich so seine Gedanken über die Ausflüsse
der Gerüchtebörse. Das mit den Einzelzimmern ist
sicherlich nur ein Wunschtraum der Leute hier an Bord, jeder sehnt
sich nach ein klein wenig privater Sphäre. Innerhalb einer
Woche einen Job? Mir soll es recht sein, ich wünsche es mir
sogar, überlegte er. Aber im großen und ganzen
ließen ihn diese Latrinengerüchte kalt. Langsam glitt
er wieder in ein depressives Stadium hinüber, denn das ewige
Rauschen und Pfeifen in seinen Ohren trieb ihn sukzessive zur
Verzweiflung, oder noch schlimmer in die völlige Apathie.
Änderte sich an seinem Zustand etwas wesentliches, wenn er
ein Zimmer für sich bekam? Oder, ob es eine oder vier Wochen
dauerte, bis sie ihm einen Job zuwiesen?
Gleichmütig nahm er die Dinge hin, wie sie kamen.
Seine äußere Ruhe wurde von seinen Kabinenkollegen als
Gelassenheit schlechthin gedeutet: So hatte sich Norbert erst
kürzlich gewundert, daß Willi im Bette liegend einen
Reisebericht von Traven lesen konnte, während um ihn herum
Jubel und Trubel herrschte und ihr Haustrompeter kräftig die
Posaune blies. "Bei dem Lärm bringst du das fertig?" hatte er
ihn gefragt. Wenn der wüßte! Je größer der
Lärm, desto lieber war es ihm, desto weniger störte ihn
der verfluchte Tinnitus.
Das Abschiedfeiern nahm immer krassere Formen und Auswüchse
an, es erinnerte irgendwie an Torschlußpanik, obwohl niemand
so genau sagen konnte, warum eigentlich. Als Willi Höger
jüngst bei Tag an sein Stockbett trat, fand er den Raum
abgedunkelt und nur die blaue Lampe leuchtete. Aus einer Ecke
hörte er geheimnisvolles Raunen und Tuscheln: Konrad lag mit
Hilde, der Aushilfslehrerin, engumschlungen im Bett und
überwand so seinen Trennungsschmerz. Willi tat, als ob er
nichts bemerkt hätte und schloß die Kabinentür
sanft von außen. Also auch hier drinnen fing es nun an,
vielmehr, hier in den Kabinen endete es: Letzter Abend an Bord der
Flamingo!
Eine Ansprache jagte die andere: Der Migration Officer,
Mr.Schneefuß und schließlich Miss Green richteten
wohlgemeinte Worte an die gespannt Lauschenden. Mit ungeheurem
Beifall beklatschte man die Verabschiedung ihrer australischen
Englischlehrerin, man dankte ihr auf diese Weise für die
Mühe, die sie sich auch mit dem störrischsten Esel
gemacht hatte.
Dann war es soweit!
Gepackt standen Koffer und Seesäcke in den Kabinen, auf
Gängen und am Deck herum. Schwimmgürtel, Papierfetzen
und Ski lagen am Boden, Ansichtskarten wanderten von einer Hand in
die andere: Jeder verewigte sich mit seiner Unterschrift. Endlich,
endlich war alles getan, was getan werden konnte und mußte,
nun hieß es einfach warten.
Hermann holte seine Gitarre vom Schrank herunter und griff in die
Saiten: Leise summten die Burschen mit, im Stehen, im Liegen, mit
den Gedanken weiß der Himmel wo weilend. Kabine Zwölf
war in den fünf Wochen zur See zu einer Gemeinschaft
verschmolzen. Würde man sich je wiedersehen? Keiner
wußte, wohin ihn das Schicksal in wenigen Tagen tragen
würde...
Mitten unter den dicht gedrängt wartenden Passagieren stand
Erwin ungeduldig auf einem der höchst gelegenen Punkte des
Schiffes, um Ausschau zu halten. Seine näheren Freunde
erkundigten sich, besorgt über dieses ungewöhnliche
Verhalten, ob er denn hier, mitten im Hafenbecken, jemand
suche?
"Ja, einen Bekannten von mir, immens reich. Betreibt in Melbourne
eine Textilfabrik. Ich habe ihm ein Radiogramm mit der genauen
Ankunftszeit übersandt. Er besitzt ein Motorboot und ich
bemühe mich ihn rechtzeitig zu entdecken. Er holt mich sicher
ab, meine Zukunft wäre bei ihm gesichert." Höger
fühlte leichten Neid in seiner Herzgrube, ihn erwartete kein
Mensch auf diesem Kontinent. Zwar wußte er, daß eine
Freundin seiner Mutter ihre Bekannten in Sydney von seiner
Auswanderung unterrichtet hatte, aber was half das schon? Ja, bald
hätte er Paul vergessen, den Jugendfreund, der ihm den Brief
nach Salzburg geschrieben hatte. Aber auch der wohnt in Sydney,
dachte er resigniert. Auch andere seiner Bekannten hier am Schiff
wurden von persönlichen Freunden am Kai erwartet, so etwa das
Ehepaar Meier. Die Unannehmlichkeiten eines weiteren Lagerlebens
standen ihnen vermutlich nicht bevor, und da für Wohnung und
Arbeit bereits vorgesorgt war, würde ihnen der Start ins neue
Leben nicht zu schwer fallen. Eigentlich ist es mir sogar lieber,
überlegte Willi, wenn ich mir aus eigener Kraft heraus etwas
erarbeiten kann und nicht auf fremde Hilfe angewiesen bin.
Als eine Viertelstunde nach der anderen verrann, ohne daß
sich das bewußte Motorboot gezeigt hätte, sanken Erwins
Hoffnungen und sein Gehabe wurde wesentlich ruhiger. "Sicherlich
erwartet er mich auf der Pier, er hat es ja versprochen",
wiederholte er des öfteren, als wollte er seinen Glauben
damit erhärten.
Wiederum schoben kräftige, gedrungen gebaute Schleppdampfer
mit riesigen Polstern am Bug bewehrt, die Flamingo vorsichtig
parallel an die Kaimauer heran. Etwa zweihundert Menschen
drängten dem kleiner werdenden Zwischenraum zwischen dem
langsam herandriftenden Schiff und dem Kai näher. Noch bevor
ein leichter Stoß das endgültige Anlegen anzeigte,
flogen Schokoladetafeln gegen die Wände des Schiffes hoch,
wurden von Händen erhascht oder klatschten in das trübe
Hafengewässer. In Zellophanhüllen verpackte Blumen
sollten erste Grüße sehnsüchtiger junger
Männer an die Bräute auf der Flamingo sein, die
häufig nur matt zurücklächelten, denn knapp daneben
lehnte schon ein anderer junger Mann, der die neuerworbenen
Besitzerrechte zwar nur für die unmittelbare Nachbarschaft
sichtbar, aber unmißverständlich durch einen Griff an
das verlängerte Rückgrat der jeweiligen Holden
klarstellte.
Kaum war die Landungsbrücke angelegt, versuchten die
Wartenden das Schiff zu stürmen, aber vorläufig
mußten sie sich mit Zurufen begnügen, denn die
Zollbeamten verstanden keinen Spaß. Langsam leerte sich das
Promenadendeck von den angestauten Koffermassen, nur hie und da
saß ein kleiner Bengel inmitten der Familienhabe und
plärrte nach seiner Mutter. Während die Auswanderer der
Kontrolle ihrer Habseligkeiten harrten, begannen Freunde nur noch
durch einen hohen Drahtzaun getrennt ein erstes freudig erregtes
Gespräch, und so mancher eben noch hoffnungsvolle
Bräutigam ließ traurig die roten Rosen zu Boden sinken,
um wortlos in der Menge zu verschwinden oder brüllend vom
gegenwärtigen Liebhaber seiner Verlobten wenigstens Ersatz
für die Schiffspassage zu fordern.
Karl Holzner und Willi, auf gemeinsamer Entdeckungsreise,
beobachteten teils erheitert, teils gespannt und aufmerksam ihre
Umgebung. Auf der gegenüberliegenden Seite des
Zollgebäudes ankerte die "Himalaya", bevölkert von
australischen und indischen Luxuspassagieren. Australische
Millionärsgattinen traten leutselig an das Gitter heran,
steckten den Kindern der Einwanderer aufmunternd lächelnd
Münzen zu und erkundigten sich nach dem Herkunftsland der
zukünftigen Bürger.
Unser kleiner Held Willi passierte die Zollkontrolle, wurde am
ganzen Körper abgetastet und begab sich anschließend
nach unten, wo ein wackeliger roter Zug der Neuaustralier harrte.
Nach langem Herumpassen ruckte die Lokomotive an, und zwar so,
daß der Holzaufbau in allen Fugen krachte. Natürlich
stürzte alles an die Fenster, um sich ja keinen Blick auf
Melbourne entgehen zu lassen.
"Langsam bekomme ich den Eindruck, daß wir hier in eine
verkehrte Welt, eine Welt hinter dem Spiegel gekommen sind",
äußerte Willi dem Freund Karl gegenüber,
später, als der Mond am Himmel stand und er aufgrund der
Oberflächenstruktur erkannte, daß auch der gut alte
Trabant der Erde herumgedreht am Nachthimmel hing. "Ist ja kein
Wunder, schließlich sind das ja die Antipoden Europas!"
meinte er lachend.
Nach kurzer Fahrt durch die City Melbournes schaukelte der
"Wüstenexpress", wie das Bähnlein bereits wenige Stunden
später getauft worden war, mit neunzig Stundenkilometer eine
schnurgerade Strecke entlang. Sanft gewellt lag die Landschaft vor
ihnen, vereinzelt wuchsen Eukalyptusbäume auf spärlichen
Grasflächen, hie und da tauchte ein schmutziger Tümpel
umgeben von grasenden Rindern auf. Von Zeit zu Zeit rasten
Güterzüge, vollgepfropft mit stinkenden Schafen vorbei,
unzählige unbeschrankte Bahnübergänge leiteten
Straßen in kleine Ansiedlungen, deren eigenartige Bauweise
ihnen bereits in Fremantle aufgefallen war. Jede kleine Station
lag an einem in Tritthöhe angelegten Bahnsteig aus Holz, an
dessen Ende irgendwo ein verrostetes Turmgerüst mit einem
Wasserbehälter drauf stand.
In Saymore kreischten zum ersten Male die Bremsen des wild
schaukelnden Zuges, ungefähr der halbe Weg lag hinter ihnen.
Ein Wartesaal, der in ein Büffet umgewandelt war, nahm sie
auf. Frauen in blauen Kleidern und weißen Schürzen
schleppten immer neuen Vorrat an Sandwiches und Kaffee heran. Dann
setzten sie sich wieder in den Wüstenexpress und brausten
dahin, bis sich die Sonne hinter den Bäumen versteckte,
Grillen ihr Abendkonzert begannen und wohltuende Frische aus der
vorbeiflitzenden Landschaft atmete.
Auf bereitgestellte Autobusse verladen, gelangten einige hundert
Menschen in ein Lager, das in völliger Dunkelheit dalag, da
sich schwere Wolkenbänke vor den Mond geschoben hatten und
elektrische Außenbeleuchtung anscheinend nicht vorhanden
war. Fluchend irrten die Einwanderer im Finstern umher, bis
endlich jedermann das zugewiesene Quartier gefunden hatte. Hermann
der Gitarrespieler, Achmed die Ruine und Willi der Alleswisser
mußten sich zu dritt einen Raum in einer der Baracken
teilen.
Die Strahlen der Morgensonne drangen durch die kleinen
Klappfenster, durch die groben Ritzen in den Holztüren und
beleuchteten die vielen hundert Wohnzellen dieses ehemaligen
Militärlagers, tasteten sich über die Gesichter der
Schlafenden, huschten über in wüster Unordnung
herumliegende Habseligkeiten, geradeso, wie sie eben von den
erschöpften Menschen vergangene Nacht liegen gelassen worden
waren.
Eine Donnerstimme riß die Schlaftrunkenen mit
plötzlicher Gewalt aus dem Trancezustand des Halbschlafes, wo
noch selige Träume den nun zaghaft die Augen Öffnenden
die Angst vor einer brutalen Realität versüßten:
"Es wird bekanntgegeben, daß das Frühstück um acht
Uhr morgens einzunehmen ist. Teller, Trinkschale und
Eßbesteck liegen in jedem Cubicle auf und sind mit dem
ebenfalls vorhandenen Tablett von den Essenholenden mitzubringen.
Mahlzeiten dürfen nur in den Kantinen eingenommen werden.
Thank you!"
Einer der Lautsprecher mußte direkt vor der Baracke
angebracht sein, Willi blinzelte dem Sonnenlicht verschlafen
entgegen, das durch die Öffnungen zwischen den
kärglichen Vorhanghälften hereinstrahlte. Kein
großartiger Anfang, überlegte er. Aber immerhin bereits
ein Vorhang, sogar mit Blumenmustern drauf. Ein Fortschritt
gegenüber der Kabine an Bord, zweifellos. Ein-Mann-Zimmer
haben sie uns nun nicht beigestellt, der Gedanke war ihm ja gleich
absurd erschienen. Wenn die Zeit fortschritt und das tat sie ja,
würde er es sicherlich noch zu einem eigenem Raum bringen. Zu
einem sonnigen, leuchtenden, das war ja bereits als Student immer
sein Wunsch gewesen. Leider erwies sich meistens eines dunkler und
kälter als das andere.
Ach, da hing ja die komische Schnur von der Decke herab.
Vergangene Nacht hatten sie eine Ewigkeit vergeblich im Dunkeln
danach geangelt, wenn er da nicht die Taschenlampe mit dabei
gehabt hätte! Einen Zugschalter direkt an der Lampe
anzubringen bedeutete Kabeleinsparung und weniger
Installationsaufwand. Gute Idee!
Seine Gehirnwindungen arbeiteten präzise wie immer:
Bloß einen leichten Metallring werde ich an der Schur
befestigen, dann finden wir dich leichter, du Biest,
überlegte er schnell.
Sieh da! Ein kleiner Holzschrank! Sein Blick wanderte in dem
dürftig eingerichteten Raum umher. Wie gerne möchte ich
meine Kleider lüften, seit sechs Wochen stecken sie im
Koffer. Wahrscheinlich werde ich das weiter aufschieben
müssen. Ja, da lehnt das Klapptischchen mit den zwei Sesseln,
etwas wackelig, aber lange werden wir es ohnehin nicht
benützen.
Er fand sich nun hellwach, der Magen knurrte
unüberhörbar.
Hermann! Achmed! Auf ihr faulen Kerle, wir müssen Essen
gehen! Sie kleideten sich rasch an und eilten ins Freie, konnten
nun zum erstenmal kritisch die neue Umgebung mustern.
Baracke reihte sich an Baracke, die auf den rotgestrichenen
Türen als einziges Zeichen der Individualität
Kennziffern aufwiesen, sonst glichen sie wie ein Ei dem anderen.
Auf den Treppen zu den auf Pfählen ruhenden Holzbauten
balancierten allerorts die Einwanderer mit dem Eßgeschirr in
den Händen. Eine lange Menschenschlange wies ihnen den Weg
zur Messe. In einer herzlichen Atmosphäre man war wieder
unter sich, das heißt die Italiener unseligen Angedenkens
bevölkerten einen anderen Teil des Lagers schmeckte das
Frühstück wunderbar.
Sein erster Weg führte Willi auf die Commonwealth Savings
Bank, wo er seine englischen Pfunde in gültige australische
umzutauschen gedachte. Vorerst suchte er jedoch Karl auf, dessen
Heimstätte ihm wesentlich größer erschien und
vorher von einem Künstler bewohnt gewesen sein mußte,
dessen Kritzeleien Willi ungemein fesselten: Interessante
Bleistiftzeichnungen nackter Frauen in allen Posen, sowie Schiffe
und Landschaftsbilder verzierten die lichtgrün gestrichenen
Preßpappenwände. Ein Frauentorso, in kunstgerechten
Schattenstrichen ausgeführt, verriet die Gedanken und
Gefühle seines Schöpfers, denn eine verschnörkelte
Schrift quer über die Umrisse Italiens kündete in zwei
dürren Worten, was für den Zeichner den Inbegriff des
Glücks bedeutet haben mochte: " Italia bella". Schönes
Italien! Herrliche Geliebte, die Du dort auf mich wartest! Ich
sehne mich nach Dir!
Die Zeichnungen und Inschriften der Deutschen und
Österreichern, die wartende Menschen in flüchtigen,
einsamen Minuten hingeworfen hatten, wiesen kaum auf eine
poetische Ader hin, ließen dafür aber in ihrer
Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. So hatte ein
junger Mann seinem Freund ein paar gut sichtbare Zeilen an der
Wand hinterlassen, die trotz der Kürze alles über die
Gefühlssituation der Angekommenen aussagte: "Wiedersehen 1957
am Rhein, Kurti!" Willi dachte sinnend nach:
Wie erklärte sich dieser Pessimismus, der augenscheinlich
auch in jedem einzelnen ihrer Schar steckte, dieser feste Vorsatz
oder die vage Hoffnung, eines Tages in das Heimatland
zurückzukehren, bereits nach wenigen Tagen des Aufenthaltes
auf diesem Kontinent Australien, dem Terra incognita, dem
unbekanntem Land?
War es mangelndes Selbstvertrauen? Hegten die meisten Auswanderer
überhaupt nicht die Absicht hier eine feste Existenz
aufzubauen, waren alle bloß Abenteurer?
Oder flößte die ungeheure Weite des Kontinents, die
Fremdartigkeit von Fauna und Flora ihnen allen geheime Furcht ein,
die tief ins Unterbewußtsein gerutscht war und sich nur
blitzartig in kurzen Äußerungen enthüllte?
Gedankenverloren starrte Willi Höger die grüne Wand an,
bis die Konturen der Objekte vor den Augen zu verschwimmen
begannen; er fand sich nicht in der Lage auf dieses Phänomen
eine zufriedenstellende Antwort zu finden. Die Eindrücke in
seinem Hirn manifestierten sich nur mosaikartig in den Millionen
Nervenzellen, reichten nicht aus, um ein klare Erkenntnis in
seinem Bewußtsein zu generieren.
Er betrat den Bankraum allein, angelte nach Worten, die sein
Begehren klarstellen sollten. Die Verständigung funktionierte
zu seiner Überraschung klaglos, und freundlich erkundigte
sich die beiden Angestellten, mit welchem Schiff er gekommen sei.
Ein junges Mädchen saß an der Schreibmaschine und
hörte aufmerksam zu, als Willi von dem Skandal mit den
Rettungsbooten berichtete, die Zuhörer erinnerten sich der
Zeitungsnotiz und auch die niedliche Kleine griff in das
Gespräch ein. Willi bedauerte es, keinen Grund zu finden, um
die Unterhaltung weiterzuführen. Stolzerfüllt über
den ersten erfolgreichen Kontakt mit Australiern verließ er
den Bankschalter.
Eine Begrüßungsansprache stand auf dem Programm, so
beeilte er sich in das Bonegilla-Theatre zu gelangen. Die
üblichen Willkommensansprachen der verschiedenen Vertreter
der Öffentlichkeit verströmten über die
vielhundertköpfige Menge. Angenehm registrierte man,
daß der Leiter des Unterrichts ein ehemaliger
Österreicher war, der seit dreissig Jahren in Australien
lebte; eine gewisse Genugtuung darüber hätte man nicht
nur bei Willi Höger feststellen können. Ansonsten
lauschte das Gros des Flamingo-Transportes gläubig den Worten
wie "Herzlich willkommen in einem neuen, aufstrebendem Land,
...Wegbereiter für eine bessere Zukunft Ihrer Kinder...", und
was sonst noch alles an die Herzen zweifelnder Menschen zu
appellieren vermag.
* * *
Mit einigen Freunden, darunter Erwin, der von seinem wohlhabenden
Bekannten schmählich im Stich gelassen worden war,
durchstreiften sie die nähere Umgebung, die entfernt an die
Hügellandschaften ihrer Heimat erinnerte. Der ausgedehnte
Stausee des Hume Reservoirs lud zum Baden ein, doch vorläufig
verzichteten sie auf das Vergnügen. Ihr Weg führte sie
durch hochsprießende Grashalme, die struppig und
ausgetrocknet in der Nachmittagshitze unter ihren Tritten
knisterten. Gelegentlich huschten kleine Eidechsen über den
Weg und einmal glaubten sie sogar die zuckenden Bewegungen einer
schwarzen Schlange zwischen den staubtrockenen Grasbüscheln
erkannt zu haben. "Also woaßt, do einilegn mecht i mi net,
do woaßt ja nia, obst net mit aner zwa Meta longen Schlongan
uman Hols aufwochst! Do geh i liaba daham Bleamal brockn!"
ließ der braungebrannte Fritz hören. Wie immer trug er
einen leichten roten Pullover um den Hals, den er über der
Brust verknotete. "Und wozua i meine Brettl mitgnumman hob, is ma
net kloar. A zweite Kleidabürstn tet ma do sicherlich mehr
nutzen!"
Unter derlei vergleichenden Monologen gelangte die Schar munterer
Burschen zu einem Gebäudekomplex, wo ihrer Lunge eine
Röntgenuntersuchung harrte. Auch einige Wohnbaracken für
das Lagerpersonal standen in Reih und Glied ausgerichtet da.
Kinder spielten vor offenen Haustüren und nasse Wäsche
flatterte an Drähten im Wind.
Auf einem niederen starken Baum kletterten einige etwa
siebenjährige Buben, in Blue Jeans beziehungsweise Lederhosen
gekleidet, herum.
"Come down, Ted! Listen, deine Mutti ruft dich schon eine ganze
Weile!" Und im gleichem Atemzug fortfahrend, schrie der Junge
schon wieder: "Ted, that's really unfair, come down and give me my
pocketknife, will you?" Die Burschen lachten: denen fiel das
Englische aber nicht schwer, die lernen's tatsächlich im
Spiel.
Eine Frau in einfacher Haartracht, mit Kummerfalten im Gesicht,
schob ihr Baby im Kinderwagen vor sich her. Als sie merkte,
daß sie Landsleute vor sich hatte, sprach sie die jungen
Männer an. Sie führte vergrämt aus, sie lebe
bereits seit einigen Monaten hier im Lager, ihr Mann sei in der
Nähe als Elektriker tätig. Sie erwähnte, daß
manche Einwanderer Wochen oder Monate im Camp zubringen
müßten, bis ihnen endlich ein Job zugewiesen wurde. Von
Zeit zu Zeit kehrten auch ledige Burschen aus den weit entfernten
Städten ins Camp zurück, wenn sie die Arbeitsplätze
verloren oder sonst irgendwie in der Sackgasse steckten,
behauptete die junge Frau verbittert.
Das ist unmöglich, wir können das einfach nicht glauben,
wir wollen das nicht glauben, rief es in ihrem Inneren. Man hat
uns doch Arbeit innerhalb e i n e r Woche versprochen, ganz
abgesehen davon, daß es ja ein Überangebot an freien
Stellen gibt! Es muß uns ja eine Möglichkeit geboten
werden, unseren Lebensunterhalt zu verdienen. Wir haben uns doch
in fünf Wochen an die zwanzigtausend Kilometer von unserer
Heimat entfernt, wir können doch nicht so einfach
umkehren!
Alarmierend schlug eine Angstwelle hoch. Nur für einen kurzen
Augenblick, dann ebbte sie wieder ab. Trotzdem, ein leichter
Schock blieb, unbemerkt, aber wirksam.
"Die Frau scheint etwas mit den Nerven herunter zu sein, man sieht
es ja an ihrem ganzen Gehaben. Sie redet Unsinn, ist ja
lächerlich, was sie da behauptet", pochte es in den Herzen
der jungen Auswanderer.
Viele der europäischen Migrants, die man irgendwo in den
Busch gesteckt, mitten in die Einöde des Flachlandes, seien
verrückt geworden! Da sie etwa in einer Großstadt
aufgewachsen, an die Zivilisation von Ländern mit
großer Bevölkerungsdichte gewohnt waren, sei ihnen das
Leben in der trostlosen Einsamkeit unerträglich
geworden...
Welche Ungeheuerlichkeit behauptete diese junge Mutter da? Durfte
man ihr Glauben schenken? Irgendwie erschüttert
verabschiedeten sich die Burschen freundlich und nachsichtig
lächelnd von ihr. Wenn dies wirklich stimmte, waren es
gewiß Einzelschicksale gewesen, einem unter Zehntausenden
mag soetwas widerfahren sein. Die Frau schien unter der
Nachwirkung der Geburt zu leiden, das würde wieder vergehen.
Gewiß lag der Fall so, man durfte das Erzählte nicht
ernstnehmen.
Willi gab das nutzlose Grübeln auf und wandte sein Denken
realeren Angelegenheiten zu. Heute ist Donnerstag, das Arbeitsamt
will die Vermittlungstätigkeit erst Dienstag aufnehmen? Na,
nur nicht ungeduldig werden, sagte er sich. Immerhin lassen sie
sich Zeit, sprach eine andere Stimme in ihm. Du mußt dich ja
sowieso ausruhen, du bist ja garnicht kräftig genug, nach all
den sauren Wochen! Genieße doch die erzwungene Ruhe und sieh
dich in der Nachbarschaft ein wenig um!
Er trottete neben dem Haufen einher.
"Warum bist du denn auf einmal so schweigsam?" wurde er gefragt.
"Was ist dir über die Leber gelaufen?"
"Ach nichts, fast garnichts!" gab er mit einer Flucht ins
Lächerliche zur Antwort. Nur keine depressive Stimmung
aufkommen lassen, das konnte nicht gutgehen.
* * *
Als die Nacht über Bonegilla hereinbrach und die Junggesellen
rauchend oder plaudernd auf den Stiegen vor den Wohnzellen
saßen und in das Dunkel hinausblickten, gewahrten sie einige
helle Lichtbündel in der leichten Senke, die zum Hume
Reservoir abfiel. Sie spazierten in diese Richtung und waren in
der Lage die annähernd 100 Quadratkilometer bedeckende
Wasserfläche zu überblicken.
Einige Autos waren nahe des Ufers geparkt worden und beleuchteten
den See im engeren Umkreis. Im Lichte der Scheinwerfer ragten die
Spitzen einiger Zelte deutlich sichtbar in die Höhe.
Giftzwerg meldete sich als erster: "Jetzt weiß ich, wie wir
die Freizeit verbringen werden! Fischen gemma, genauso wie die da
unten!" Rasch hatte das kleine Kerlchen eine dünne
Nylonschnur organisiert, einen Angelhaken aufgetrieben und eine
Rotte johlender Gestalten eilte den Pfad zum Stausee entlang.
Im Nu hatten fünf Fische angebissen, der Kleine steckte
kunstgerecht Stäbchen hindurch, streute einige Körner
Salz darauf und bald brutzelten sie über dem inzwischen
entfachten Feuer. Das Zeug schmeckte nicht mal so schlecht.
"Wir können uns so einige Wochen mit Fressen eindecken, falls
die Herren hier einmal nicht mehr wollen sollten!" war die
überschwengliche Meinung der eifrig Kauenden.
Herrlich riesengroß und so orangefarben, wie sie Willi noch
nie gesehen hatte, stieg die Mondscheibe nahezu plastisch greifbar
über den Hügel am Himmel empor und ließ die
bizarren Formen der Bäume immens klar hervortreten. In der
anderen Richtung schimmerten die Lichter aus den Gebäuden,
und von ferne her ertönten Ziehharmonikaweisen, die der
Abendwind an ihr Ohr trug.
Auch diese Landschaft ist von eigenen Reizen beseelt, die zwar
spärlich verteilt sind, aber durch die Weitläufigkeit
nur umso intensiver wirken, überlegte Willi Höger und
teilte sich seinen Kameraden mit. Man stimmte schweigend zu und
begab sich langsam wieder auf den Heimweg.
* * *
Die freien Tage, das heißt das Wochenende bis Dienstag hin,
wo der Ernst des Lebens für sie beginnen sollte, verflossen
in bunter Folge. Zuerst suchten sie das Lagergelände
gemeinsam nach intakten Tennisplätzen ab, denn einige
Burschen ließen sich durch nichts an der Fortsetzung ihres
Trainings stören ganz egal wie die allgemeine Lage beurteilt
wurde. Willi fand zwar, daß dies die richtige Einstellung
war, aber er gehörte leider nicht zu jenem Menschentyp. Er
fand sein größtes Vergnügen im Betrachten der
Vorgänge und Leute um ihn herum. Und zu sehen gab es genug
und immer wieder Neues.
Da hatte ihr guter Käpten seine naturwissenschaftlichen
Kenntnisse überzeugend unter Beweis gestellt, indem es ihm
ohne viel Aufregung gelungen war eine Blake Snake zu fangen, eine
der giftigsten Schlangen die im australischen Busch umherkriechen.
Dann wieder tauchten Bekannte eines Österreichers zu einem
kurzen Besuch auf. Sofort war der VW von Neugierigen umlagert,
jeder wollte doch hören, was in der Außenwelt vor sich
ging.
Nun, man durfte beruhigt sein, nach den Angaben der Neuaustralier
zu schließen, gab es genug Arbeit. Das Arbeitstempo sei
allgemein niedrig. Heftige Überraschung rief die Mitteilung
hervor, daß man bei allzu krampfhaften Anstrengung innerhalb
eines Betriebes kurzerhand an die Luft gesetzt würde. Diese
Nachricht schlug wie eine Bombe ein, denn man konnte sich beim
besten Willen eine solche Verfahrensweise nicht vorstellen. Einige
frohlockten, andere schüttelten ungläubig den Kopf.
Höchst bedenklich schien ihnen die Tatsache, daß der
Berichterstatter nach eigenen Angaben zwar gelernter Kaufmann,
doch hier einige Zeit als Schweißer gearbeitet habe eine
Kunst, die er angeblich in einem Dreitagekurs gelernt hatte. In
der Folgezeit sei er sogar Mechaniker gewesen und maloche nun als
Dreher. Für europäische Begriffe erschien ihnen dies
alles nahezu undenkbar. Kaufmann und Dreher! Hatte man derartiges
je vernommen? Verstohlen lachten einige der Burschen, die da in
kurzen Hosen und Buschhemden barfüßig herumstanden.
Ein höchst sonderbares Land, dieses Australien!
Ein anderer Besucher des Camps, der von einem nahegelegenen
Kraftwerksbau gekommen war, prahlte mit seinen fünfzig bis
sechzig Pfund Löhnung in zwei Wochen. Das fanden die
Neuankömmlinge schon recht beachtlich, doch hatte man die
feste Absicht, mindestens ebensoviel zu verdienen.
Schließlich wollte man den weiten Weg in das gelobte Land
nicht umsonst angetreten haben.
* * *
Freitag abends begann es leise zu regnen. In der Frühe
goß es bereits in Strömen, doch es gab keine andere
Wahl als dem Magen zu seinem Recht zu verhelfen. In langen
Schlangen reihten sich die Auswanderer um das Frühstück
ein, während der Regen niederprasselte. Anschließend
begab sich Willi in die große Canteen zum Einkaufen, er
benötigte dringend einen dreipoligen Stecker für den
Rasierapparat. Eine Rotzpipe von einem Verkäufer, ebenfalls
ein Einwanderer, fand es hier in Australien nicht mehr für
notwendig, die Kunden anständig zu bedienen und knallte Ware
und Wechselgeld einfach aus einiger Entfernung auf die Budel.
Zuhause hätte er sein Bündel sofort schnüren
können, hier schoß der junge Ladenschwengel in seinem
Bestreben, sich der Landessitte anzupassen, weit übers Ziel
hinaus. Leider wurden immer zuerst die üblen Sitten eines
Volkes kopiert...
Beim ersten Besuch des Bonegilla Theatre, das für die
Einwanderer mit Preisermäßigung erschwinglich wurde,
erlebten sie als besondere Überraschung einen Kulturfilm
über die Hofreitschule in Wien. In der Folgezeit
gewöhnten sie sich an die Vorführungen in dem
geräumigen Kino, das wie alles hier in einer Holzkonstruktion
ausgeführt war. Von einer Vorstellung zur anderen merkten sie
deutlich ihre Fortschritte in der Fremdsprache. Bald verstand
Willi achtzig Prozent aller Dialoge, soferne nicht zu schnell oder
im Slang gesprochen wurde.
Auf gutes Zureden Rosas schwang sich Höger am Sonntag sogar
dazu auf, der Heiligen Messe beizuwohnen. Der Geistliche predigte
in Englisch und Holländisch, seine Psalmen hallten von den
Wellblechwänden des Kirchleins wider und vermischten sich mit
dem Gemurmel der Gläubigen aus der weiteren Umgebung.
Schweren Herzens spendete der junge Österreicher einen Penny,
das große Kupferstück fiel in die Opferschale, als ob
er weiß Gott welche Münze hineingeworfen hätte. Er
fand es wirklich lächerlich, daß man dem Geldstück
mit dem kleinsten Wert den größten Durchmesser gegeben
hatte. Na, den halben Penny gab es ja auch noch, der war wiederum
kleiner keine Ordnung in dem ganzen Münzsystem, dachte er
verächtlich.
Nachmittags wanderte der ganze Klub zum See hinunter. Sich in der
Sonne rekelnd lag Willi neben Rosa auf der Decke, während
Hubert angestrengt die Überschriften der Tageszeitungen zu
enträtseln versuchte. Schäumend teilten sich die Wellen
unter den Kielen der Motorboote, die pfeilschnell
Wasserskiläufer nachzogen. Weiter draussen lag ein Segelboot
hart am Wind, und eben ruderte einer der jungen Tiroler mit einem
defekten Ruderboot vorsichtig mitten in den See hinaus. Solange er
auf der rückwärtigen Bordwand hockte, ragte das Loch im
Bug heraus und schöpfte kein Wasser, aber etwa 200 Meter vom
Ufer entfernt versank der Kahn urplötzlich. Die Kollegen ,
die den Unfall vom Strand aus beobachtet hatten, brüllten vor
Schadenfreude auf.
Der junge Höger begab sich nun an den Teil des Uferrandes, wo
die Wasserskiläufer mit elegantem Schwung aufsetzten. Die
Frauen und Mädchen, ausnahmslos Australierinnen, gefielen ihm
außerordentlich. Sonnengebräunt, schlankgewachsen,
hochbeinig und mit dem typischen Hals der Engländerinnen
versehen, hantierten sie an den Sportgeräten herum.
Eigentlich zum ersten Mal in seinem jungen Leben tauchte impulsiv
der Wunsch nach einer Gefährtin in ihm auf. Es mußte
schön sein an der Seite eines jener herrlichen Geschöpfe
diese erregenden Wochen und Monate seines Aufenthaltes in dem
neuen Land zu erleben!
In diesem Zeitpunkt beneidete er Hubert maßlos, nicht gerade
um seine Rosa, aber um dessen Stand als Bräutigam. Ingrimmig
überlegte er, daß das Eingehen einer Verlobung
schließlich auch das Ende der Schererei mit
Wäschewaschen und Bügeln bedeutete.
* * *
Möglicherweise durch das kühle Naß es war nun
immerhin April geworden, und der Herbst, soweit man davon sprechen
konnte, zog langsam in Victoria ein begannen seine oberen
Schneidezähne zu schmerzen, so begab er sich schnurstracks
auf dem Weg zum Hospital.
Der diensthabende Arzt erklärte, er müsse morgen wegen
des Röntgens wiederkommen. Ein bedeutender Teil des
Beamtenapparates setzte sich Osteuropäern, wie Polen,
Tschechoslowaken oder Rumänen zusammen, die von den
Österreichern verallgemeinernd Polacken genannt wurden,
zusammen. So kam es, daß die ehemaligen D.P.s, die Displaced
Persons, ihn nun lächelnd und etwas hintergründig, wie
Willi vermeinte, in Empfang nahmen.
Eine barsche Oberschwester holte ihn in den Röntgenraum, wo
ihm der altmodische schwarze Klapperatismus in der
weißgetünchten Umgebung auffiel: Auf
überdimensionierten Schienen lief die X-Ray-Kanone,
fingerdicke Kabel nach sich ziehend, knirschend und ächzend
dahin. Der Knabe, der das Monstrum bediente, saß in seinem
weißen Mantel gehüllt, rauchend und vergnügt seine
Fußspitzen im Takt der Schlagermusik wippend, in einem
gesonderten Abteil. Willi glaubte mit Sicherheit annehmen zu
dürfen, daß zuhause höchstens die
Schuhdurchleuchtungsgeräte derartig veraltet waren aber
daß der Spezialist nebenbei das Radio laufen ließ, wo
gab's denn soetwas? "Alright", meinte der, die Zigarette
lässig im Mundwinkel, "you are alright, cheerio!" Dann lehnte
er sich mit gespreizten Beinen weit zurück und rekelte sich,
daß die Knochen knackten.
Tief erschüttert trottete Willi zum Arzt zurück. Der
Medical Officer betrachtete die Aufnahmen eine Weile wortlos, dann
wandte er sich an ihn und fragte: "Wollen Sie sich die Zähne
reißen lassen?" Da der junge Mann zwar Schmerzen, aber keine
unerträglichen, verspürte, andererseits das Resultat der
Durchleuchtung erfahren wollte, antwortete er logischerweise und
in exaktem Englisch: "Ist es denn unbedingt notwendig?"
"Also was wollen Sie tun?" bellte der andere, der noch immer das
Negativ prüfte. Doch dessen Sicherheit und Überlegenheit
erschien Willi Höger mehr vorgetäuscht, so lenkte er
ausweichend ein: "Wenn möglich werde ich mir die Zähne
in der Stadt ausbesseren lassen!"
"Sie bekommen die Röntgenbilder morgen, wenn sie trocken
sind", meinte der Arzt kurz und entfernte sich.
Verdattert blieb Willi allein zurück, nun wußte er erst
recht nicht, woran er war. Das mit dem Trocknen war doch ein
aufgelegter Schmäh, man sollte ihn doch nicht für so
dämlich halten. Mißtrauisch beäugte er das
Personal, das hier seinen Pflichten nachgehen sollte. Weiß
ich denn, ob der Haß gegen alles Deutsche ausgelöscht
ist oder ob er nicht doch noch unter der mehr oder minder
freundlichen Oberfläche weiterschwelt? Ich werde mich
vorsehen, beschloß er.
Als er am folgenden Tag die Negative abholte, lieferte man wie
erwartet keinen Kommentar dazu.
Er hatte sich an diesem Tag mit Erwin zu einer Fahrt nach Albury
verabredet, in der Hitze des Gefechtes riß er sich die
Schnürlsamthose am Bein auf. Verschämt die Hand vor das
Loch pressend, betrat er in Begleitung seines vergnügt
grinsenden Freundes einen Woolworth-Laden, um schüchtern die
Reihen der hübschen Mädchen zu durchqueren, wobei er
verstohlen nach Nadel und Zwirn Ausschau hielt. Wie eine Nadel auf
Englisch hieß, wußte er, aber den Zwirn konnte er nur
beschreiben. "Oh, you mean a thread! What colour do you want?"
Schmunzelnd überreichte ihm die Hübsche einen braunen
Faden.
Der Park gegenüber lud zum Sitzen ein, hungrig begannen sie
ihren Reiseproviant zu futtern. Und nachdem die beiden
ungefähr ein Pfund Bananen vertilgt hatten, war auch das Loch
in der Hose einigermaßen vernäht. Auf die Blicke der
herumsitzenden Damen, der zeitunglesenden Pensionisten und
neugierig gaffenden Schulkinder bemühte sich Willi
möglichst nicht zu achten. Daß ihm das passieren
mußte.
Ach wie peinlich ihm das war!
Obwohl man den jungen Österreicher nicht als
Muttersöhnchen bezeichnen konnte, fehlte ihm doch jene
gewisse Unbekümmertheit, die aus einem gesundem
Selbstbewußtsein erwächst. Erst nach monatelangem Kampf
mit seiner Umwelt und sich selber würde er langsam jene
Sicherheit in seinem Auftreten und Handlungen erreichen, ohne die
kein Fortkommen im Leben möglich ist...
Beim Umherstreifen in der nett angelegten Provinzstadt Albury,
einem Eisenbahn-Umladeplatz zwischen Melbourne und Sydney,
begegneten sie einem bereits länger hier ansässigen
Landsmann, der im Laufe der Unterhaltung erwähnte (Willi
hatte ihm gerade von der bisher erlebten wohlwollenden Behandlung
berichtet), daß der Australier zwar allgemein als
freundlicher und hilfsbereiter Mensch anzusehen wäre, er aber
die eindringenden europäischen Volksgruppen fürchte, da
sie sparsamer und vermutlich fleissiger wären also schwere
Konkurrenten für die Einheimischen darstellten.
Daß es Australier mit kaum verhüllten
Haßgefühlen gab, sollten die beiden Burschen sehr bald
am eigenen Leibe erfahren. Auf dem Weg ins Lager versuchten sie um
Geld zu sparen, vorüberzischende Wagen auf dem Highway zu
stoppen. Da ihnen dies nicht gelang, marschierten sie einfach die
Straße entlang, bis endlich ein Personenwagen anhielt. Sie
stürzten hin und baten höflich um einen "Lift". "Ihr
seid von Bonegilla gekommen?" erkundigte sich der Fahrer
entgegenkommend aus dem offenen Wagenfenster heraus.
"Yes, that's right!" gab Willi zur Antwort und freute sich
über das wohlwollende Verständnis.
"Well", stieß der Aussie zynisch hervor, "dann könnt
Ihr auch dorthin zurück g e h e n!" Schob den Gang rein, gab
Gas und verschwand hinter einer Staubwolke.
Stumm sahen sich die beiden jungen Männer an, stoppten den
nächsten Bus und fuhren betreten in das Lager
zurück.
Er ist also nur stehen geblieben, um uns zu zeigen wie sehr er die
Migrants haßt, bohrte es in Willi unaufhörlich.
* * *
Das Anlaufen der Englischkurse brachte neue Farbe in die
Eintönigkeit des Alltags. Selbstverständlich war Willi,
aber auch Karl, Fritz und Erwin und noch weitere seiner Freunde,
in die Gruppe der Fortgeschrittenen eingeteilt worden. Etwas
lustlos erwartete Willi die erste Unterrichtsstunde, allzu viel
Neues würde er wohl nicht erfahren. Aber bald war er eifrig
bei der Sache, denn die Lehrerin erwies sich als attraktives
Persönchen: Schlank, beinahe mager zu nennen, eine volle
Brust, die ein enger Pullover umspannte, ein englischer
Schwanenhals auf dem sorgfältig gepuderten jedoch nicht allzu
jungem Köpfchen, was der ganzen Erscheinung eine Mischung aus
anglosächsischem und slawischen Typus als eigenen Reiz
verlieh.
Die rötlich schimmernden Haare schmiegten sich eng ums Haupt,
um sich dann in der Nackengegend nach außen zu rollen. Ganz
dunkle Augen bildeten einen wunderbaren Kontrast zum Glitzern der
türkisgrünen Ohrklipps.
Schon nach ihren ersten Worten fiel dem Absolventen einer
Mittelschule, Willibald Höger, die Präzision des
Ausdrucks, genauer gesagt des Akzents und der Aussprache auf, die
er bei den Sprechern der BBC-London immer schon bewundert hatte.
Was da über ihre roten Lippen floß, war reinstes
King's-Englisch.
Gewohnheitsmäßig sah er nach ihren Fingern und bemerkte
einen schmalen Goldring an der linken Hand. Sie stellte sich als
Engländerin vor und ließ durchblicken, daß sie
verheiratet war. In ihrem Einführungsvortrag erklärte
sie der aufmerksam lauschenden Zuhörerschaft einige Sitten
und Gebräuche der Bevölkerung des Bundeslandes Victoria,
schließlich kam sie auf die Menschen als solche zu sprechen.
Unser junger Held horchte überrascht auf, als sie die
Männer hierzulande als faule und dumme Kerle bezeichnete. Das
fand er ungewöhnlich, blitzschnell folgerte er daraus,
daß ihr Verhältnis zur Männerwelt an sich
angeschlagen sein mußte. Sie ließ ihren Groll einfach
generell an den australischen Männern aus.
Ebenso eigenartig berührte ihn ihre Feststellung, daß
sie die Sitte, öffentliche Trinkstuben um 6 p.m. zu
schließen, als lächerlich bezeichnete. Da muß ihr
Unwille tiefer gehen, folgerte er, vielleicht ist sie mit einem
Australier unglücklich verheiratet? Ich sehe Gespenster,
sagte er sich dann. Wenn sonst noch jemand dieselben
Überlegungen angestellt hätte, würden sicherlich
bereits einige Bemerkungen umherschwirren. Das wäre etwas
für meines Vaters ältesten Sohn, dachte er
vergnügt. Dabei fiel ihm ein, daß er von zuhause Post
erwartete, die schon lange Zeit überfällig war. Das
vertrieb sofort seine augenblicklich gute Laune und sein Gesicht
nahm wieder den gewöhnlich ernsten Ausdruck an.
Die Postverteilung in diesem Lager grenzte an das Katastrophale.
Oft waren die Lagerinsassen gezwungen, die lang ersehnten
Schreiben ihrer Lieben in anderen Blocks suchen zugehen, wo sie
tagelang herumkugelten, bis sie endlich in die richtigen
Hände gelangten. Er fand die ganze Warterei höchst
ermüdend, so beschloß er zwei Briefe zu schreiben:
Einen an die Adresse in Melbourne, die er von Europa mitbekommen
hatte, den anderen als Bewerbung auf eine Annonce in der
"Age".
* * *
Zusammen mit den drei Kärntnern, die er am Bahnhof von
Salzburg kennengelernt hatte, ausgesprochene Spaßvögel
wie sich immer wieder erwies, eilte er an den See hinunter, wo sie
sich die Sonne auf die Bäuche scheinen ließen. Einige
Holländerinnen, so an die 13 oder 14 Jahre jung, lagerten
nicht unweit von ihnen auf einer bunten Badedecke. Ihre
Körper waren schon sehr weiblich entwickelt und moderne
Badezüge betonten die weichen Formen ihres Geschlechtes. Die
rotbemalten Mündchen plapperten und kicherten drauflos, dann
immer frecher werdend begannen ihnen die Mädchen Worte
zuzurufen, die sie zwar nicht verstanden, in deren Klang aber
unverkennbar eine Aufforderung lag. Dem jungen Mann wurde
verdächtig schwül, sollte er etwas unternehmen? Unsinn,
das sind doch noch Kinder, redete er sich ein.
"Angeblich entwickeln sich die Holländerinnen schneller...",
unterbrach einer der Burschen die Stille.
"Nach dem, was die da aufführen, kann's stimmen!" gab ein
anderer trocken zur Antwort.
"Wißt ihr, wenn ich nicht eine so gute Erziehung gehabt
hätte...", versuchte ein dritter zu scherzen, aber es klang
irgendwie verkrampft, und die anderen merkten es. Alle blickten
ein wenig betreten zu Boden.
"Verscheucht's die Groppn, oder ich garantier' für nichts!"
rief einer urplötzlich aus. "I glaub', die woll'n uns
aufziagn ah no!"
"Besser, wir gehen von hier weg", meinte einer, und so packten sie
ihre Siebensachen zusammen und verrollten sich an eine Stelle, wo
ihnen keine Tantalusqualen drohten.
Doch von hier aus konnten sie gut beobachten, wie eine Gruppe von
Südeuropäern sich kurz nach ihrem Abzug mit den
Minderjährigen anfreundete und bald darauf handgreiflich zu
schäkern begann...
Nun fuhr Willi endlich nach Albury, um einen Dental Surgeon
aufzusuchen. Der Arzt, ein breitschultriger Mann, der
vertrauenserweckend hinter den Gläsern einer dicken
Hornbrille hervorblickte, erklärte ihm, daß der Kiefer
entzündet sei und die wirkungsvollste Maßnahme die
Extraktion des vereiterten Zahnes darstelle. Wenn Willi eine halbe
Stunde warten wolle, könnte er für ihn die nötige
Zeit erübrigen. Das kam ihm sehr gelegen und er sagte zu.
Nach kurzer Wartezeit holte ihn eine kleine zierliche Gehilfin in
den zweiten Ordinationsraum, der vor Sauberkeit nur so blitzte.
Mit wenigen Handgriffen bereitete sie alles Nötige vor und
stellte sich dann neben dem Operationsstuhl. Neugierig
beäugte sie Willi aus den Augenwinkeln, und es gefiel ihm,
wie sie da so leicht verlegen wartete und sorgsam ihre
Fingernägel betrachtete.
Weil ihm nichts besseres einfiel, erkundigte er sich: "Fällt
bei euch im Winter eigentlich Schnee?"
"Oh, nur sehr selten, und er bleibt dann nicht lange liegen. Die
Temperaturen sinken kaum unter 41 Grad Fahrenheit herunter",
erklärte sie rasch, als hätte sie nur darauf gewartet
von ihm angesprochen zu werden.
"Das ist aber schade!" meinte Willi und dachte, jetzt muß
ich aber etwas auf den Tisch hauen: "Ich fahre nämlich
leidenschaftlich gerne Ski." "Oh, dann kommen Sie aus Norwegen?"
erkundigte sie sich treuherzig (vermutlich befand sich unter ihren
Bekannten ein Skandinavier).
"Nein, ich bin vor zwei Wochen aus Austria gekommen."
"That's nice! Oh, from Austria!" wiederholte sie. Sie tat ja
geradeso, als ob ihr das ein vertrauter Begriff wäre.
Argwöhnisch erkundigte sich Willi: "Warum, kennen Sie denn
Österreich?"
"Oh no! Aber vor einigen Monaten gastierte in Albury der Vienna
Singing Boys Choir, der Chor der Wiener Sängerknaben! It was
wonderful!" rief die Kleine begeistert aus. Der junge Mann aus
Österreich fand diese Neuigkeit schlechthin verblüffend,
schließlich war Albury nicht London, Tokio oder New
York!
Leider beendete Dr. Sure diese sich anbahnende
Völkerverständigung ganz radikal mit der
Beißzange.
Noch lange nachher klang in Willis Ohren die letzte Bemerkung des
kleinen australischen Fräuleins nach: "Ich habe mir gedacht,
Sie leben schon länger in Australien, Ihr Englisch ist so
gut!" Wenn die Frauen doch wüßten, wie sehr sie einen
Mann durch ein kleines Lob anfeuern können, überlegte er
vergnügt. Eigentlich überlegte er dies garnicht es war
nur ein angenehmes Gefühl, das ihn sanft umschmeichelte, als
er auf die Straße hinaustrat.
Eine Stärkung war nun fällig, er betrat eine Milk
Bar.
Zufällig stieß er dort auf einen jungen Wiener, der
halb über die Theke gelehnt den Kopf auf dem abgewinkelten
Arm abstützte und mit einer Angestellten schäkerte. Nach
dem üblichen "Wie geht's?" erkundigte sich Willi bei dem
Mann, wie lange er bereits in Australien weile, und er solle ihm
die indiskrete Frage nicht krumm nehmen wieviel er auf der Bank
liegen habe.
"Ooch", meinte der gelassen, "ein Jahr!" Und grinsend teilte er
dem Neuankömmling mit: "Erspart habe ich mir ganze achtzig
Pfund." Willi war gelinde gesagt entsetzt. In einem Jahr, da
muß ich aber mindestens Fünfhundert auf der Bank haben,
dachte er und rief laut: "Was, so wenig? Ja warum denn?"
"Na, du wirst schon selber sehen", antwortete der Wiener
gutmütig. "Im Busch ist es auf Dauer zu öde, na, und in
der Stadt schenkst du's den Weibern sonst kannst du ja garnicht
leben!"
Er würde in einem Jahr anders dastehen, das schwor er sich.
Wieder im Camp, erkundigte er sich zu allererst nach der Post, er
fürchtete, Lillis Brief würde ihn zu spät
erreichen, erst nachdem er Bonegilla bereits verlassen haben
würde. Aber er wartete vergeblich, seine flatterhafte
weibliche Bekanntschaft ließ nichts mehr von sich
hören, zumindest nicht in den nächsten Monaten.
* * *
Nachdem sie nun seit vierzehn Tagen beschäftigungslos im Camp
herumgelungert waren, begann man das Arbeitslosengeld auszuzahlen,
10 Shilling, die gerade für Kino oder Zigaretten reichten, je
nach dem. Täglich verließen nun Einwanderer auf eigene
Faust das Wartelager, kümmerten sich nicht um das Gerede,
daß man ohne Ausgangsstempel "draussen" keinen Job erhalten
könne.
Es wurde nun merklich kühler in diesem Teil Victorias,
häufig prasselten subtropisch anmutende Regengüsse
nieder. An solchen Tagen benützte Willi Höger die
Bibliothek des Lagers, um sich technische Fachausdrücke
einzuprägen.
Beim Essenholen fiel ihm der jüngste der drei kärntner
Freunde durch sein wütendes, hochrotes Gesicht auf. Sonst wie
seine beiden Dorfkumpane alles auf die leichte Schulter nehmend,
machte er nun den Eindruck, als habe ihn wirklich etwas in
tiefster Seele getroffen. Stockend nach Worten ringend
erzählte er den anderen Burschen ganz entrüstet seine
Story:
"Mir haben die Kerle vom Arbeitsamt eine Stelle als
Bahnsteigwärter bei der Eisenbahn angeboten, na gut und
schön. Aber stellt euch das mal vor was glaubt ihr, was mir
die als Lohn geboten haben?" Zornrot brüllte er es in die
gespannte Stille hinein: "Acht Pfund elf pro Woche!!! Weil ich
noch nicht einundzwanzig Jahre alt bin! Das würde ich beinahe
drei Jahre hindurch verdienen, bis ich eben Volljährigkeit
erreicht habe!
Wenn ich davon nur einen einzigen lumpigen Pfund auf die hohe
Kante legen kann, ist das viel. Das macht in drei Jahren zirka 150
Pfund aus das erspare ich mir ja zuhause in einem einzigen!" Seine
Stimme drohte vor Erregung überzuschnappen, als er
hämisch weiterfuhr: "Aber das ist noch lange nicht alles,
meine Herren Auswanderer! Das Schönste folgt noch!
Einige andere, die noch kräftiger gebaut sind wie ich,
wollten sie für das Schwellenlegen anwerben, irgendwo im
verdammten Busch für lumpige 13/10 Pfund.
Aber jetzt kommt's: Da werdet Ihr erst zu richtigen Männern
gemacht, hat einer aus der Anwerbe-Kommission ironisch bemerkt!
Das sind Erpressermethoden der übelsten Art! Die Kanaken
haben uns glücklich herübergelockt nun sitzen wir in der
Tinte und müssen einfach die Suppe auslöffeln!"
"Er hat recht, wir werden nicht als Menschen betrachtet
Rindviecher sind wir auf jeden Fall!" bekräftigte einer.
Den ganzen Tag über konnte sich der Achtzehnjährige
nicht erholen, jedem erzählte er brühwarm seine
Geschichte.
Am späten Nachmittag traf Erwin wieder in Bonegilla ein, ohne
Geld und ohne Erfolg. Vor zwei Tagen war er urplötzlich
aufgebrochen, um sich in Melbourne eine Stelle zu suchen.
"Englischkenntnisse sind vom Arbeitgeber natürlich sehr
erwünscht, man verdient dann gleich mehr. Ich hätte
sogar in einer Textilfabrik anfangen können, aber sprachlich
reichte es angeblich nicht. Einen ganzen Tag lang kutschierte mich
ein Taxidriver von einem großen Betrieb zum anderen, aber
ich hatte kein Glück. Zweimal übernachtete ich im Freien
einmal auf einer Bank im Park, das andere Mal auf der Beach im
Sand. Heute hat mich glücklicherweise ein Fernlaster
kostenlos bis Albury mitgenommen."
Er guckte ziemlich deprimiert aus der Wäsche, der liebe
Erwin. Auf dem Schiff war er so zuversichtlich, so voller
Pläne gewesen.
Nun, der erste Schock würde wieder vergehen.
Willi bewunderte seinen Freund ob dieser Courage, er hätte
sich dieses Unternehmen nicht zugetraut.
Ein begeisterter Skifahrer und Tennisspieler unter ihnen sah
dagegen sehr fröhlich aus der Wäsche. Schon morgen
verließ er das Lager, da Arbeitsstelle und Zimmer durch
einen Freund organisiert worden waren, er durfte sogar seinen
Handelsberuf weiter ausüben.
So sah also die banale Realität aus.
Keine Illusionen mehr, oder nur mehr wenige.
Einige Glückliche trafen es gut, die meisten von ihnen hatten
mit dem vorlieb zu nehmen, was ihnen von australischer Seite
geboten wurde, und das war oft genug herzlich wenig. Vielleicht
war es unvernünftig mehr zu verlangen.
Wenn nur vorher nicht so große Erwartungen gehegt und
geschürt worden wären...
* * *
"Erwin Achat, Hermann Kugler, Willibald Höger, Gregor
Trischl, Thomas..."
Der Lautsprecher im Wohnblock spie die Namen der zur
Arbeitsvermittlung Vorgeladenen aus. Hermann, der gerade wieder
einmal auf der Gitarre klimperte, stoppte sein Spiel und horchte
auf, Willi schrie begeistert: "Hurra! Hurra! Endlich kommen wir an
die Reihe! Los, heb' dich Hermann, in einer Viertelstunde
müssen wir drüben sein."
Ein nackter, kahler Raum empfing sie: außer einem Tischchen,
mehreren Sesseln und einem Ofen in der Ecke entdeckte Willi
keinerlei Anzeichen, die auf die Massenvermittlung von
Jobsuchenden, an zum Teil weitentfernte potentielle Arbeitgeber,
hingedeutet hätten. In der Nachbarbaracke wurde die
Registrierung der ankommenden Migrants durchgeführt, da
hämmerten Schreibmaschinen, klingelten Telefone in den
diversen Kojen, Papier raschelte...
Hier hingegen fehlten jegliche Organisations- und
Kommunikationsmittel.
Als Einleitung wurde ihnen mitgeteilt, die Südaustralische
Eisenbahnverwaltung benötige dringend Kräfte, denen eine
große Karriere als Bahnsteigwärter oder Maschinenputzer
bevorstünde. Einen kleinen Hacken habe die Sache jedoch: da
sie eine Ausbildung absolvieren würden, bekämen sie
selbstverständlich geringeren Lohn.
"Die betreffenden Bahnhöfe liegen sämtlich in der
Nullarbor Plain, etwas einsam, aber man gewöhnt sich bald
daran", meinte der Beamte gelassen. Schaudernd erinnerte sich
Willi der Bilder, die er davon gesehen hatte, an das 500 Kilometer
lange einspurige Geleise ohne eine einzige Kurve in der
Sandwüste, weit und breit kein Baum, kein Strauch. Ganz zu
schweigen von Bergen, von geliebten Bergen wie in seiner Heimat.
Einfach undenkbar, daß sich Hermann, in dessen Ländchen
steile Gipfel himmelhoch aufragten und sanfte Almwiesen zum
Träumen anregten, jemals in einer solchen Landschaft
wohlfühlen würde.
Aber das war ja sicherlich nicht das Anliegen der drei Herren vor
ihnen. Die Railway benötigt zehn billige Arbeitskräfte,
zehn Idioten, die das Einerlei und die Trostlosigkeit ihrer
Umgebung nicht zum Wahnsinn treiben würde.
Für die australischen Beamten endete der Job, sobald die
bockigen Kerle auf den rohen Holzbänken unterschrieben haben
würden.
"Was überlegen sie eigentlich noch? Well?
Sie werden kaum Aussichtsreicheres finden, ist ihnen das klar?"
Forschend sah der Australier die Reihe entlang, fand jedoch
offensichtlich nicht die gewünschte Resonanz. Das trifft
fairerweise sicherlich auf manche zu, überlegte Willi, denn
viele können nur einen angelernten Beruf aufweisen, waren
praktisch Hilfsarbeiter. Das Angebot dürfte tatsächlich
eine Chance für sie bedeuten, allerdings nicht für
ihn.
"Also wir zweifeln an eurer Intelligenz!" ließ einer der
Beamten nach einer angemessenen Pause vernehmen. Niemand
rührte auch nur ein Glied, denn zwei Faktoren hielten die
Burschen ab die saumäßige Entlohnung und die
gefürchtete Einsamkeit.
"Übrigens, sie mit der Brille! Wie ist ihr Name?"
"Hoeger, Willy Hoeger, Sir!"
"Sie können gehen, die Eisenbahn beschäftigt keine
Brillenträger."
Hocherfreut sprang Willi auf die Beine und verließ
leichtfüßig den Raum, das ließ er sich nicht
zweimal sagen! Wohl zum ersten Mal in seinem kurzen Leben wurde er
ob seiner Kurzsichtigkeit beneidet.
Draussen traf er auf einen Vater zweier minderjähriger
Töchter, einen äußerst angenehmen und ruhigen
Menschen, der still und nachdenklich an der Wand lehnte und seine
Pfeife paffte. "Ich bin mit meiner Familie herübergekommen,
weil ich hoffte es würde mir möglich sein ein Stück
Land und Boden zu kaufen, eine kleine Farm aufzubauen. Ich will
den Kindern eine ruhige und schöne Zukunft bereiten.
Aber ich sage Ihnen ganz ehrlich, ich bin durch die Aspekte, die
sich jüngst eröffnet haben leicht beunruhigt",
erwähnte er Willi gegenüber. Der Mann vermochte kaum
seine Erregung zu bändigen, der Adamsapfel glitt ihm die
Kehle auf und ab. "Das Land ist ziemlich teuer, ich habe mich
schon erkundigt. Zuerst habe ich mir gedacht, die Regierung stellt
mir vielleicht zu günstigere Bedingungen ein Stückchen
Boden zur Verfügung, das ist aber nicht der Fall. Mit dem
Lohn, den ich bei der mir soeben angebotenen Arbeit erhalten
würde, kann ich kaum meine Familie ernähren, das habe
ich mir schon ausgerechnet..."
Der Mann tat ihm verflucht leid, deutlich war ihm die Sorge um die
unmittelbare Zukunft seiner Familie anzumerken. In deiner Haut
möchte ich auch nicht stecken, dachte Willi, der Junggeselle.
Ich trage wenigstens nur für meine Person die
Verantwortung...
* * *
Überraschenderweise gestalteten sich der Englischunterricht
äußerst interessant für Willi Höger, der,
ohne daß die Kollegen etwas ahnten, mit der hübschen
Lehrerin zu flirten begann. Auf etwas ungewöhnliche Art: Da
wurden zum Beispiel Fragesätze gebildet, jeder der
Schüler hatte sich einen Satz zurechtzulegen. Willi
erkundigte sich bei dem zierlichen Persönchen, ob sie in
England studiert habe, eingedenk ihrer exzellenten Aussprache und
des überragend weiten Horizonts ihrer Anschauungen. Sie hielt
eben ein Stück Kreide in der Hand, und halb der Tafel
zugewandt, bejahte sie kurz und ohne auf ihre Ausbildung
näher einzugehen. Da sie ihn später über seine
Berufsausbildung befragte, registrierte er zumindest ein gewisses
Interesse, doch vermied sie es klugerweise persönliche Dinge
in den Unterricht miteinzubeziehen. Resignierend rechnete sich
Willi aus, daß es trotz alledem eine aussichtslose
Angelegenheit war, würde er doch noch höchstens eine
Woche in diesen Gefilden weilen.
Hubert und Rosa suchten ihn überglücklich auf, sollten
sie doch in Bälde eine Hauswartstelle in einem kleinen
Krankenhaus einige Meilen außerhalb Melbournes antreten,
gemeinsam und zu äußerst günstigen Bedingungen 17
Pfund die Woche und dazu Kost und Quartier frei. Nun stand ihrer
baldigen Verehelichung nichts mehr im Wege.
Einer der drei kärntner Freunderl flog heute nach Tasmanien
ab, wo bereits eine Stelle in einer Formerei auf ihn wartete. So
verschwanden alle aus ihrem Transport langsam aber sicher aus dem
Lager. Einigen war es sogar gelungen auf eigene Initiative in den
umliegenden Ortschaften Fuß zu fassen am erstmöglichen
Wochenende kamen sie dann zu ihren ehemaligen Schicksalsgenossen
zurück und teilten ihre ersten Erfahrungen mit.
Ein Möbeltischler, der in einer kleinen Werkstätte in
Albury Beschäftigung gefunden hatte, beschrieb seinen
Arbeitsplatz nicht gerade in leuchtenden Farben. "Die Bude ist
fürchterlich rauchig, arbeiten tun's wie die ersten Menschen,
eine Hobelbank ist anscheinend überhaupt unbekannt, denn
alles wird am Boden zusammengeschleudert.
Bis heute habe ich nur einen Hammer verwenden müssen, von
meiner Ziselierkunst wird wohl kaum etwas übrig bleiben, wenn
das so weiter geht. Wo man geht und steht liegen Glasscherben,
Fetzen, verrostete Federn und Betteinsätze herum.
Wenn du dir bei den Kollegen Respekt verschaffen willst,
mußt du dich mit ihnen mal zuerst prügeln Zustände
wie im Wilden Westen!" meinte er bedeutungsvoll und fuhr dann
fort:
"Ich wohne bei einer Familie, wo sie Deutsche ist beziehungsweise
war. Er ist gebürtiger Pole ich weiß nicht, ob er
bereits die australische Staatsbürgerschaft besitzt ein
ehemaliger Lehrer, der hier bei der Müllabfuhr jobbt. Findet
natürlich keinen geistigen Anschluß bei seinen
Kumpels.
Erheiternd ist nun folgendes, das heißt, man könnte
darüber eigentlich weinen: Gegenüber wohnt ein
russischer Emigrant, und die beiden reden nicht miteinander, die
Narben zwischen den beiden Völkern sind noch nicht vernarbt.
Die Frau des Russen hat für sieben Kinder zu sorgen und
bekommt kaum das nötige Haushaltsgeld, da der Gatte alles
versäuft. Sie ist vollkommen verzweifelt. In Deutschland, wo
wir uns kennengelernt haben, verhielt er sich anständig und
hat für uns gesorgt, hat sie mir einmal weinend
erzählt."
"Na, denn Prost Kinder!" schloß er seinen Bericht als
Augenzeuge für die Welt außerhalb der Grenzen ihres
Camps. Wortlos erschaudernd registrierten die Lagerinsassen den
Report über die Wirklichkeit, die ihnen bevorstand.
Bereits am nächsten Morgen verließen zwei Busse
vollgepackt mit Einwanderern das Lager, als alles noch im tiefem
Schlaf lag.
Hermann der Gitarrespieler hatte sich den
Überredungskünsten der Beamten nicht länger
widersetzt und sich zur Railway gemeldet, ebenso Achmed.
Seiner Stubengenossen verlustig gegangen, träumte Willi
Höger die letzten Stunden bis zum Frühstück allein
vor sich hin. Allmählich breitete sich eine immer intensiver
werdende Stille über den ehemals von Betriebsamkeit
erfüllten Wohnblock aus, nur selten drang Radiomusik aus
einen der Fenster. Verloren hockten einige Burschen herum und
warteten ab, bis auch ihre Stunde geschlagen hatte.
Auf dem Weg zum Schulblock passierte Willi das Bonegilla Theatre,
wo eben vielen hundert Neuaustraliern aus Holland der
Willkommensgruß entboten wurde. Das Lager würde sich
wieder füllen, der Zirkus ging weiter, unerbittlich auch ohne
ihn, ohne seine vielen Bekannten und Freunde, die nun bereits
irgendwo in weiter Ferne an ihren Arbeitsplätzen weilten.
Ist das eine Einbildung von mir, oder liegt da wirklich eine
versteckte Aufforderung drinnen, fragte er sich zweifelnd, als
"seine" Miss als Beispiel für eine korrekte Satzstellung
dozierte: "That man was very rough to me yesterday".
Das war doch sicherlich nicht einfach aus der Luft gegriffen! Wenn
ich sie richtig verstehe, will sie damit andeuten, daß sie
zwar einen Freund hat, der sie aber nicht sehr rücksichtsvoll
und zärtlich genug behandelt, beziehungsweise, daß sie
sich nach angenehmerer Gesellschaft sehnt...
Wenige Tage später war die Schar der Kursteilnehmer auf
wenige Mann zusammengeschmolzen. Zwangsläufig erwuchsen
daraus engere persönliche Kontakte zwischen Schülern und
Lehrer, private Gespräche, selbstverständlich in
Englisch, waren an der Tagesordnung. Man unterhielt sich angeregt
über das Thema Nationalitätenunterschiede, anfangs
zwischen italienisch- und deutschsprachigen Menschen. Dann
schwenkte die Diskussion auf die zurückliegenden
Kriegsereignisse über, worauf Willi seiner Lehrerin
erzählte, daß er als kleiner Junge mitbekommen habe,
wie sein Vater hinter dem Haus mit australischen Kriegsgefangenen
eine Unterhaltung geführt habe, Australien also für ihn
schon damals mit gewissen konkreten Vorstellungen verknüpft
gewesen sei.
"Das war aber in Österreich?" hatte sie sich drauf
vergewissert.
Leicht verärgert gab ihr Willi Antwort die glaubte wohl, alle
Deutschen sind die Barbaren, als die man sie in der
Weltöffentlichkeit anzusehen geruhte. Als ob es freundliche
und gutherzige Menschen nur in Österreich gegeben hätte,
einfach lächerlich.
Sie überreichte ihm eine der auf leichtem Flugpostpapier
gedruckten Zeitungen, und während der Rest bei der Tür
rausdrängte, hielten sie beide verlegen inne, so, als wollten
sie sich noch etwas mitteilen. "Aber bringen Sie sie mir
zurück, ich brauche sie noch!" trug sie ihm auf, während
sie sich Mr. Salzburger zuwandte, der noch im Klassenzimmer auf
eine Information wartete. "Na, wir sehen uns sowieso morgen Abend,
nicht wahr?" flüsterte sie Willi leise zu, indem sie sich aus
dem Türrahmen neigte, als wolle sie den davoneilenden
Kollegen nochmals kurz nachblicken.
Überrascht blickte der auf und ging verwundert weg. Was sie
wohl damit gemeint haben mochte? Wieso gerade morgen? Und wo?
Er wußte ja nicht einmal genau, ob sie nun Pearl oder Beryl
oder so ähnlich gerufen wurde, ob sie hier im Lager oder
irgendwo in der Umgebung ansässig war. Keine Ahnung! Was
sollte also die hingehauchte Bemerkung? Möglicherweise hatte
er sie nicht richtig verstanden.
Bald darauf befielen ihn arge Magenschmerzen, eine alte, nicht
ausgeheilte Gastritis machte ihm zu schaffen. Freitag blieb er dem
Unterricht fern. Nach dem Mittagessen wurde angekündigt,
daß im Block 19 diesen Abend eine Tanzveranstaltung
über die Bühne gehen würde, zu der neben dem Staff
auch die Lagerinsassen herzlichst eingeladen seien. Als die
Lautsprecher die Nachricht verkündeten, die Durchsage wie
üblich mit einem lässig artikuliertem " ank you"
abbrach, lag Willi gerade einsam in seinem Bett.
Der Wind rüttelte an der wackeligem Barackenkonstruktion, die
Sonne strahlte durch die Glasscheiben, an denen Regentropfen vom
letzten Schauer glitzerten. Die Tür klemmt seit einigen
Tagen. Entweder ist das Holz aufgeschwemmt, oder die Hütte
hat sich verzogen da die Pfähle eingesunken sind.
Bedächtig verarbeitete sein Gehirn diese kleinen
unbedeutenden Eindrücke, plötzlich durchzuckte es ihn
wie mit einem elektrischen Schlag, mit einem Mal war ihm die
rätselhafte Bemerkung Pearls (zum Teufel, er kannte nicht
einmal ihren Vornamen) klar: Sie erwartete ihn beim Tanz.
Bei dem Gedanken an ein überfülltes Tanzparkett stieg
ihm eine noch stärkere Übelkeit hoch, als er ohnehin
verspürte. "Du verdammter Narr! Du Idiot!" schalt er sich
wütend, "Bei jeder intelligenten Frau hast du Chancen. Aber
durch diese blödsinnige Schüchternheit, diese Feigheit
jawohl, das ist es nämlich bringst du dich um jeden
Erfolg!"
Ganz überraschend beorderte man ihn einige Stunden
später zur Arbeitsvermittlung: "Mr. Willy Hoeger, Mr. Werner
Benke and Mr. Hugo Prattert please! Number 7, thank you!"
Gleichzeitig mit Willi eilten aus der Masse der Wartenden noch
zwei junge Männer der Koje Nummer 7 zu. Der kleinere der
beiden drängte sich an den Tisch heran, lehnte sich über
die Akten und begann im fließendem Englisch, wie es
Höger erschien, auf den Beamten einzureden, während der
größere sich mit abwartender Miene daneben aufpflanzte.
Willi fand Muße genug, um dessen Profil in Ruhe betrachten
zu können es wirkte hager mit einem asketischen Ausdruck.
Brünette Haare bildeten einen spärlichen Scheitel, und
wenn sich sein Gesicht Willi einen Augenblick zuwandte, sah er ein
paar knapp nebeneinander liegende blaue Augen zwischen der spitzen
langen Nase hervorstechen.
"Nun, Ihr drei!" richtete der Australier sein Wort an sie. "Eine
Elektrizitätsgesellschaft benötigt zur Bewältigung
ihrer Aufgaben es handelt sich dabei um einen Dammbau und die
Verlegung einer Pipeline", setzte er erläuternd hinzu, "-
noch einige Männer. Und zwar sollen diese Leute z i e m l i c
h gute Englischkenntnisse mitbringen, wurde mir schriftlich
mitgeteilt.
Da ich aus Euren Personalakten ersehen kann, daß sie diese
Qualifikation erfüllen, schlage ich ihnen vor, diese Stelle
anzunehmen." Er überreichte ihnen einige Werkfotos zum
Ansehen und fuhr dann in seinen Erläuterungen fort.
Abschließend meinte er noch: "Ich bin sicher, es wird ihnen
dort sehr gut gefallen. Sie werden auch viele ihrer Landsleute
antreffen. Sie werden es nicht bereuen, wenn sie diese Formulare
hier unterschreiben ansonsten ich nicht garantieren kann,
daß sie dieses Camp vor Ablauf von weiteren drei Wochen
verlassen werden."
Die drei erbaten Bedenkzeit und berieten daraufhin gemeinsam. Der
kleinere mit dem leicht gekräuseltem Haar stellte sich
flüchtig vor: "Werner Benke mein Name, ehemals Dresden, von
Beruf Heilmasseur. Und das ist mein langjähriger Freund Hugo
Prattert, ebenfalls Dresden Pfleger am selben Krankenhaus, wo auch
ich beschäftigt war. Wir sind zusammen nach Westdeutschland
getürmt", setzte er lächelnd hinzu, legte den Kopf
leicht zur Seite und betrachtete sein Gegenüber mit einem
Silberblick, der manchmal an Willis Konturen vorbeizuschielen
schien.
Auch Höger stellte sich vor und bemerkte, daß er die
Skaubryn in Fremantle ankern sah. "Ach Mensch, hör doch auf
mit dem Kasten überlegen wir lieber, was wir tun sollen!"
Kurz und gut, des langen Lagerlebens müde, unterschrieben sie
den Arbeitskontrakt und wurden angewiesen kommenden Dienstag von
Albury aus den Bus in das entlegene Tal zu besteigen.
Kann etwa zehn Pfund pro Woche sparen, das reicht für den
Anfang, überlegte Willi, zufrieden und erleichtert über
den Entschluß.
Daß sie alle drei auf einen einfachen psychologischen Trick
des Australiers , der an ihre "sehr guten Englischkenntnisse"
appelliert hatte, hereingefallen waren, das kam ihnen momentan
nicht zu Bewußtsein.
* * *
Von heftigen Magenschmerzen gequält, begab sich Willi
anschließend nochmals ins Hospital und erhielt eine
große Flasche einer übelschmeckenden Medizin in die
Hand gedrückt. So kam der Zeitpunkt heran, den er seit
einigen Stunden entgegengefiebert hatte, hin und hergerissen von
widerstrebenden Gefühlen. Natürlich wünschte er die
nähere Bekanntschaft mit dieser charmanten und interessanten
Frau, seine Minderwertigkeitskomplexe, soweit sie
gesellschaftliche, soziale Aspekten betrafen, hingen aber wie ein
Bleigewicht an ihm und verurteilten ihn zu grüblerischer
Untätigkeit.
Obwohl er fest entschlossen war, sich aufzuraffen und ungezwungen
heiter diesem kleinem geselligem Beisammensein beizuwohnen als die
Stunde näher rückte lag er mit verkrampften Magennerven,
sich selbst ob seiner Feigheit und Platzangst verhöhnend
allein in dem drei mal drei Meter messenden Cubicle und wartete
bis die Dunkelheit einbrach.
Er gedachte der schrecklichen Wochen und Monate vor seiner Flucht
aus der vertrauten Heimat: Wie er vermeinte, niemals wieder zu
klaren Entschlüssen gelangen zu können.
Er erinnerte sich, wie er einmal Schuhe kaufen wollte, vor dem
Geschäft mit dem Geld in der Tasche gestanden war und nicht
wagte, den Verkaufsraum zu betreten, aus Angst, man könnte
ihm die innere Unsicherheit anmerken. Wie er unverrichteter Dinge
wieder in die kalte, unfreundliche Studentenbude geflüchtet
war, und mitten auf dem Weg von einer derartigen Panikattacke
erfaßt wurden, daß er geglaubt hatte, er müsse
augenblicklich in den Boden versinken oder wie von Furien gehetzt
nach Hause laufen...
Diese Krisenzeit, die wohl im Leben eines jeden Menschen
irgendwann in ähnlicher Form auftreten mochte, war nun im
Abklingen, dessen war er sich bewußt. Die Momente des
grauenvollen Entsetzens traten nicht mehr auf, er fühlte sich
verhältnismäßig wohl, weitaus besser jedenfalls,
als vor seiner überstürzten Abreise.
Was er nicht bedachte, war, daß die gegenwärtige
Situation, das heißt also die einigermaßen gesicherten
und geregelten Verhältnisse im Camp diese Rekonvaleszenz
stabiler erscheinen ließ, als sie tatsächlich schon
gediehen war.
Waren doch Essenszeiten, Schlaf, Spiel und ein wenig Unterricht
genau eingeteilt, hatte ihn der strikte, nahezu militärisch
geregelte Tagesablauf jeglichen tieferen Nachdenkens enthoben.
Und gerade das war es ja, was sein seelisches Gleichgewicht
langsam aber sicher wieder auf die Beine stellte.
Gegen 10 p.m. schlich sich Willi an den Block 19 heran, wo er
bereits von weitem Musik und gelegentliche Lachsalven vernahm, die
Unterhaltung lief also auf vollen Touren. Die blödsinnige
Hoffnung, das ersehnte Weib möge ihm zufällig über
den Weg laufen, erfüllte sein gequältes Hirn, aber keine
Menschenseele ließ sich blicken.
Unentschlossen kämpfte er mit sich, bis er an der Behausung
eines Angestellten des Employment Service vom Lager anklopfte, der
ihm Informationen über die Anerkennung von im Ausland
abgelegten Prüfungen versprochen und zu sich eingeladen
hatte.
Der Deutsche spuckte wie gewöhnlich große Töne,
demonstrierte an Hand eines Schnellkochtopfes die Minderwertigkeit
der hierzulande hergestellten Produkte und mußte später
kleinlaut zugeben, er sei mit heutigem Tag als Beamter des
Arbeitsamtes entlassen worden und werde morgen verreisen, um sich
eine neue Anstellung zu suchen. Seine Frau mit den beiden Kindern
würden inzwischen im Lager bleiben.
Er bedauerte den Mann nicht im geringsten, denn dieser Angeber
hatte sich bei den Einwanderern durch seine anmaßende
Haltung in kurzer Zeit unbeliebt gemacht.
Aber offensichtlich nicht nur bei denen, denn die Australier
hatten ihn kurzerhand an die Luft gesetzt. Nun war ihm die
fällige Rechnung präsentiert worden.
Neugierig erkundigte sich Willi am Samstag Vormittag, ob seine
heimlich Angebetete die Tanzveranstaltung besucht habe. Leo, der
Wiener mit den eingedrückten Vorderzähnen, hinterbrachte
ihm haarklein, daß sie allein aufgetaucht sei, angetan mit
einem entzückenden knallroten Kleid, das allgemein Aufsehen
erregte.
Ein Italiener habe vergeblich versucht ihre besondere
Aufmerksamkeit zu erringen, sie eng umschlingend habe er jeden
zweiten Tanz mit ihr aufs Parkett gelegt.
Sie habe sich aber offensichtlich nicht viel aus ihm gemacht, denn
bereits nach zwei Stunden verließ sie die Festivität,
und zwar ohne Begleitung!
Willi nahm diese Mitteilung zwar mit Befriedigung auf, war aber
über sein jüngstes Versagen so deprimiert, daß er
sich jeder Äußerung dazu enthielt. Außerdem hatte
der andere sicherlich nicht mitbekommen, wie eingenommen er von
dieser roten Schlange war.
* * *
In Albury ließ sich der verbliebene Rest der ganzen Blase in
einem Espresso nieder, zwei nette junge Australierinnen in den
typischen Sportjacken mit eingesticktem Vereinsemblem nahmen in
ihrer Nähe Platz, und die beiden Parteien betrachteten sich
heimlich, doch nicht minder konzentriert. Obwohl beide Gruppen
reges Interesse füreinander hegten, traute sich doch keiner
den ersten Schritt zu machen. Als dann die Burschen des Abends
durch das hellerleuchtete Städtchen bummelten, kam ihnen ein
Schwarm junger Damen entgegen und Willi drehte sich um, denn er
glaubte eine der Sportlerinnen aus der Espressobar erkannt zu
haben. Im gleichen Augenblick wandte auch das schlanke Girl den
Kopf und lächelte ihn an. Doch die Boys schritten weiter was
für einen Sinn hatte es, hier eine Tändelei
anzufangen?
Und dann trafen die drei Burschen, Leo, der Mittlere der
hinreichend bekannten kärntner und Willi auf ihren
Käpten, der umgeben von seiner zusammengeschmolzenen
Mannschaft auf dem Gehsteig daherwankte. Der kleine Freche
wackelte ebenfalls schwankend dahin und der Steuermann, der lange
Lulatsch, hielt eine Flasche Bier in der Hand, die er glucksend
leerte.
Der Käpten in seinem üblichen Aufzug mit Regenmantel und
verdrückter Marinemütze, knöpfte sich gerade ein
paar australische Soldaten vor, die aus einem der Trainingscamps
stammen mußten.
"Wa-wa-was bist du denn für eine komische Nummer in dieser
Khakikluft da, ha?" säuselte er einem der verständnislos
dreinblickenden Jungs ins Ohr, den er am offenen Kragenaufschlag
gepackt hielt und nun näher an seinen Schnurrbart zerrte.
"Hast wohl noch nichts von Disziplin gehört, was? Mensch,
Schlappschwanz, schließ den Kragenknopf an deiner Uniform
binde die Gamaschen etwas enger, sonst fallen sie dir zum
Schluß noch über die genagelten Latschen, hahahahaaa!"
brüllte er nun los.
"Weißt du überhaupt, wie ein Maschinengewehr knattert?
Ha? Wenn es auf dich schießt? Ha?" Laut lachend über
seinen vermeintlichen Witz zog er weiter los auf die grinsend
herumstehenden jungen Soldaten: "Und streif mal den Riemen deines
Sonnendaches unters Kinn, oder du bekommst einen Anschiß von
mir! Hahahaaa!" grölte er weiter und versuchte den
breitrandigen Diggerhut in die vorgeschriebene Position zu
bringen.
Die jungen australischen Burschen verstanden von dem ganzen
Gegröle natürlich kein Wort, sondern ergötzten sich
nur ungeniert an den besoffenen Gestalten.
Da Käptens Heiterkeitsausbrüche zufolge kräftiger
innerer Organe zu beträchtlicher Stärke anschwollen,
daß es die Straße nur so rauf und runter hallte,
blieben wohlsituierte Bürger an der Seite ihrer Gattinnen
daherspazierend, erstaunt und entrüstet stehen, um die
torkelnden Figuren zu betrachten. Deutlich war ihnen anzumerken,
welche Gedanken sie dabei bewegten:
Entsetzlich, diese haltlose Brut , die da aus Europa zu uns
herüberschwappt. Früher war Albury so ein ruhiges und
angenehmes Plätzchen zum Leben. Jetzt aber streichen Horden
immer neuer, unverständlicher, zudringlich in alle Dinge ihre
freche Nase steckende Menschen durch unsere Stadt. Was diese
Ausländer nur von unseren braven Soldaten wollen? Wenn man
bloß verstünde, was die da brüllen und
gestikulieren!
Kopfschüttelnd wandten sie sich ab und führten ihre
gepflegten und behüteten Frauen weg von der
gräßlichen Szene.
Als schließlich die Betrunkenen ihrer Bekannten ansichtig
wurden, stieg erst recht ein ungeheures Gelächter zum Himmel,
worauf die drei entsetzt und beschämt in eine Seitengasse und
weiter in ein Lokal flüchteten und die Radaumacher allein
stehen ließen.
Der holländische Ober schenkte ihnen australischen Wein ein,
zum ersten Male sah Willi ein Hotel von innen. Das einheimische
Produkt schmeckte ihnen, nur erzeugte es bereits nach wenigen
Schlucken einen Schwips, was ihnen aber diesmal nicht ungelegen
kam. Angenehm animiert suchten sie dann noch einen der
Kinopaläste auf, wo ein Krimi lief. Die Sitte der
Einheimischen, selbst Kleinkinder in die letzte Nachtvorstellung
mitzunehmen, störte zwar das Vergnügen, aber was soll's,
dachten sie.
Der Bus brummte die Landstraße entlang und hielt an. Im
Schein der Neonleuchten aus den Schaufenstern Wodongas, wie dieses
Township hieß, sahen sie zwei Männer zusteigen, welche
die drei schlaftrunkenen Freunde sofort erkannten: Der lange
Steuermann und der kleine Obermaat stolperten die Bustreppe herauf
und lösten beim Fahrer ihr Ticket. "Wo habt ihr Käpten
gelassen?" wurden sie angesprochen. Trotzdem eine deutliche
Alkoholfahne vor ihnen herwehte, schienen die beiden
merkwürdig gefaßt und nüchtern, vom tollen
Überschwang des Nachmittags war nichts mehr zu merken.
Eindeutig und stereotyp kam die Antwort: " Der sitzt im
Häfen, die Polizei hat ihn wegen Ruhestörung
eingelocht...
Wir haben in einer Pub getrunken, da hat auf einmal ein Aussie
behauptet, Käpten hätte ein Nazi-Käppi am
Schädel. Immer heftiger haben sie sich ereifert, uns als
getarnte Faschisten beschimpft, die hier ihr Unwesen weiter
treiben wollen. Schließlich erschien die Polizei und setzte
unseren Käpten hinter Schloß und Riegel..."
Das war das letzte, was Willi von und über ihren Käpten
aus Kabine XII jemals wieder hörte. Für den Mann bestand
keine Hoffnung mehr, sein Start im fünften Kontinent war
mißglückt...
Am folgenden Tag wanderte Willi noch einmal durch das ganze Lager,
etwas wehmütig spazierte er durch die ehemals so belebten
Straßen. Er lenkte seine Schritte in Richtung Bibliothek,
und da saß unter einem riesigen Baum ein bärtiger
junger Mann, die langen Beine weit von sich gestreckt und las
angestrengt und ohne auch nur einmal aufzublicken in einem Buch.
Als Willi näher kam, vermochte er den Titel zu entziffern:
"The Evolution of Species" der Deutsche studierte Darwin!
Das also ist Urvieh, sagte sich der Österreicher
vergnügt und rieb sich im Geiste die Hände. Werner
Benke, sein zukünftiger Arbeitskollege, hatte ihm von diesem
interessanten Exemplar der Weiterentwicklung des Affenmenschen
erzählt das soll nicht etwa heißen, daß Urvieh
dumm war! Ganz im Gegenteil.
Nur, sein Lebensprinzip verlangte es, nirgendwo länger als
höchstens eine Woche in einem Arbeitsverhältnis zu
stehen, dann packte er für gewöhnlich seine Tasche, die
er als einzigen Luxus auf dieser Welt mit sich führte, und
machte sich auf die Socken. Urvieh hatte bereits alles auf diesem
Globus erkundet und probiert, was in zwei Lebensjahrzehnten nur
irgend möglich gewesen war. Vom Krankenkassebeamten (mit
Reifeprüfung) bis zum Bergarbeiter, über Steinklopfer
und Milchausträger bis zum Lokheizer reichte die Skala seiner
Beschäftigungen und Talente.
Doch all dies bedeutete geregelte Arbeit und ehrliche
Anstrengung.
Am liebsten ging er einer anderen Form der Beschäftigung nach
nämlich solide Bürger zu erschrecken. Dazu hatte er auf
der Skaubryn zum Beispiel Gelegenheit und Muße genug
gefunden. Da legte er sich etwa auf einen Liegestuhl, der von
einem ehrwürdigem älteren Herrn für die Dauer der
Überfahrt und selbstverständlich gegen harte Devisen
gemietet worden war, ebenso lässig, wie er eben hier unter
dem Baum lehnte. Hinter der entfalteten Zeitung versank dann die
Umwelt für ihn. Kam der Mieter und machte ihn höflich
aber bestimmt darauf aufmerksam, daß dies sein Stuhl sei,
sah Urvieh gewöhnlich nur kurz auf, um dann seelenruhig
weiter zu lesen. Inzwischen schwollen dem Widerpart bereits die
Schläfenadern an, heftig pochte er auf seine Rechte. Dann
pflegte Urvieh gewöhnlich einen vernichtenden Blick auf ihn
zu werfen und beleidigt wegzugehen. Doch nein, er ließ sich
einfach nebenan nieder, wenn es möglich war und hielt die
nackten, nicht immer nach Eau de Cologne duftenden Füße
in unmittelbarer Nähe des nun friedlich in seinem Liegestuhl
Ruhenden...
"Sie Herr! Was erlauben Sie sich eigentlich?" mochte der
empört losbrüllen ja, das waren dann für Urvieh die
erhebensten Augenblicke seiner Existenz, dafür lohnte es sich
zu leben...
Schmunzelnd begrüßte ihn Willi und verwickelte ihn in
ein langes Gespräch, das sich vornehmlich um die lokalen
Zustände drehte. Am Ende erwähnte Urvieh, daß er
dieses Landes bereits überdrüssig sei, es interessiere
ihn kaum noch. Urvieh kratzte sich ein wenig nachdenklich zwischen
den zündholzlangen Borsten, gähnte einmal laut und
ausgiebig, worauf er den Schlußsatz pointierte: "Das
einzige, was mich wirklich noch reizen könnte, wäre die
Fahrt zum Mond alles andere habe ich schon ausprobiert."
Vielleicht würde ein Girl in Australien noch etwas an seiner
Einstellung ändern?
Dienstag würde er also dieses Camp verlassen, versunken in
diverse Überlegungen schritt Willi über den Saumpfad in
der Wiese seinem Wohnblock zu.
Zu gerne würde er mit Beryl, seiner Englischlehrerin, in
nähere Beziehungen treten, wie man sich so ausdrückt.
Wie sollte er dies einfädeln? Morgen Montag war die letzte
Chance, die allerletzte Gelegenheit ein Pantscherl
anzuknüpfen, sagte er sich. Wiederum würden Mr.
Salzburger, Robert Buchner, der Apothekergehilfe der übrigens
als vierter im Bunde mit in die Berge zog und dessen Freund Peter
den Unterricht besuchen.
Als er sich dem Schlagbalken näherte, der einen Teil des
Lagers von der Hauptstraße abtrennte, schlüpfte eben
Robert unter der Schranke durch und begrüßte Willi
schon von weitem. Etwas stockend in der Redeweise, hatte Robert
die unangenehme Angewohnheit, in den Sprechpausen seinen Mund
verzerrt zu öffnen, sodaß man die vergilbten und
schadhaften Vorderzähne betrachten konnte.
"Sag mal, Robert", fragte ihn Willi, nachdem er ihm die feuchte
Hand gedrückt hatte, "kannst du mir helfen Mr. Salzburger und
deinen Freund Peter vom morgigen Unterricht fernzuhalten?" Hastig
erklärte er ihm den Grund dafür. "Glaubst du, es
läßt sich machen?" bat er nochmals.
"Ganz einfach", gab ihm Robert zur Antwort, "beide liegen in
meinem Cubicle. Ich stelle erstens die Weckeruhr zurück, und
wenn sie dann in den Vortrag gehen wollen, entdecke ich
plötzlich, daß es schon viel zu spät ist. Peter
spielt außerdem gerne Schach, so kann ich ihn leicht im
Zimmer halten bis die Stunde vorbei ist!"
Und so kam es auch.
Gespannt wartend saß Willi Punkt 9 a.m. im Klassenzimmer. In
Zeitungspapier eingewickelt lag ein Bildband seiner Heimat vor
ihm, den er Beryl zeigen wollte. Um neun Uhr zehn war sie noch
immer nicht aufgetaucht, da Willi wußte, aus welcher
Richtung sie gewöhnlich kam, ging er diesen Weg entlang. Kaum
war er draussen, trippelte sie eilfertig herbei, er blieb stehen
und begrüßte sie erwartungsvoll.
"You are alone?" erkundigte sie sich, zu ihm aufsehend. Er
bemerkte sofort, daß sie diesmal rotlackierte
Fingernägel trug. Außerdem wies sie eine neue Frisur
auf, hatte sie sich vielleicht einen Freund zugelegt?
Eifersüchtig konstatierte er diese Eindrücke.
"Ja, es ist niemand im Klassenzimmer", antwortete er.
"Sie haben mir etwas mitgebracht?" erkundigte sie sich neugierig
und blickte auf das Buch in der Zeitungshülle. Sie schwankte
eine Weile, und zu einem Entschluß gekommen meinte sie:
"Gut, begeben wir uns eine Zeitlang in das Klassenzimmer." Kokett
zog sie die Schuhe aus, legte die tadellosen Beine
übereinander und begann in der Publikation zu blättern.
Nicht allzu lustvoll, anscheinend weilten ihre Gedanken ganz wo
anders. Bei passender Gelegenheit brach sie ab und begann Willi
aus ihrem Leben zu erzählen. Den Ehering trage sie nur,
meinte sie, um den Nachstellungen durch Männer aus dem Lager
zu entgehen, ansonsten liege ihr nicht mehr allzu viel an dem
Symbol. Ehering? Zweifelnd blickte Willi Höger auf ihre
Linke. Sie begriff sofort und lachte: " Der wird in
anglosächsischen Ländern an der linken Hand
getragen!"
Vor einigen Jahren habe sie im Vorderen Orient gelebt, ihr Vater
sei dort beruflich tätig gewesen, dort habe sie einen
australischen Architekten kennengelernt und sich verliebt. "Aber
seine Entwürfe waren nicht sehr gut." Sie kräuselte
verächtlich ihre vollen Lippen. Oha, schloß Willi, gar
so begeistert scheint sie nicht von ihm zu sein. "Wir sind dann
nach Australien übersiedelt und haben geheiratet. Dann fing
er zu trinken an und ließ mich schließlich sitzen.
Momentan wohne ich in Albury. Von dort pendle ich mit dem Auto
jeden Tag zum Unterricht..."
Der junge Mann und die um fünf Jahre ältere, wesentlich
reifere Frau schwiegen betreten, die Minuten verflossen
ungenützt. Er fühlte ihr nervöses Zittern und eine
leichte sexuelle Erregung nahm auch von seinem Körper
Besitz.
Sie griff nochmals nach dem Band und betrachtete die herrlichen
Kunstdrucke, und sich ihr näherbeugend erklärte Willi
Einzelheiten der Fotos.
Sie sah auf die Uhr, die Stunde war zu Ende: "Very nice." Sehr
hübsch, das war alles, was sie dazu äußerte. Dann
klappte sie den Deckel zu und erhob sich.
Wenn ich sie jetzt nicht um ein Wiedersehen bitte, ist es
endgültig vorbei, dachte er, doch er brachte nicht den Mut
auf, sie darum zu fragen. Sie schien dies zu ahnen, denn wie
selbstverständlich entnahm sie ihrer Handtasche ein
Stück Papier und notierte ihre Adresse drauf.
"Für den Fall, daß Sie mir schreiben oder mich besuchen
wollen!" Der junge Mann bedankte sich überglücklich.
Dann verließen sie gemeinsam den Raum.
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