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3. Kapitel: Der Busch


Der altmodische Bus machte eine scharfe Wendung und blieb dann mit einem Ruck stehen. Müde und zerschlagen kletterten die vier Passagiere heraus und rekelten sich in der Abendluft.
"Bedeutend kühler hier, Mensch", sagte einer und kletterte nochmals zurück ins Wageninnere, um die Gepäckstücke herauszureichen. Sie standen vor einem Holzbau, durch dessen hell erleuchteten Scheiben man in ein Bürozimmer blicken konnte. Ein kleines, sehr dünnes Männchen schlenderte langsam heraus und blieb zwischen dem Türrahmen stehen. "Ihr seid die vier aus Bonegilla, nicht wahr?" begrüßte er die Burschen, die an ihren Koffern und Seesäcken herumhantierten. "Ja, das sind wir", antwortete Werner, dessen Englisch am leichtesten verständlich war. "Und hier sind gleich meine Einweisungspapiere. Dürften wir Sie bitten, uns zuerst die Zimmer zuzuweisen? Wir möchten das Gepäck gerne sicher unterbringen". An dem sicheren Auftreten und der verhältnismäßig gepflegten Ausdrucksweise erkannte der Australier sogleich, daß er es offensichtlich mit einigermaßen gebildeten Menschen zu tun hatte.
"Na, ihr werdet nicht lange hier bleiben. Es wird euch kaum vierzehn Tage gefallen. Trotzdem viele eurer Landsleute über die ganzen Baustellen verstreut arbeiten – das ist nichts für euch!" Bestimmt und sicher urteilte der Verwalter, etwas bestürzt blickten ihn die jungen Männer an, die im Halbkreis um ihn standen. Waren das Begrüßungsworte am Vorabend der Arbeitsaufnahme? "Ja warum denn?" fragte einer der vier.
"Es würde euch mit der Zeit krank machen – ihr müßt sobald wie möglich in eine Stadt!" gab der Aussie ruhig zur Antwort. "Worauf du dich verlassen kannst", murrte Werner auf deutsch, "mir gefällt es jetzt schon nicht mehr hier". "Na, na!" fiel Willi dazwischen, "soweit ich das um die Tageszeit feststellen kann, sieht es garnicht so übel aus: Alles sauber und zweckmäßig angelegt!"
Der Australier räusperte sich kurz, um die Unterhaltung zu unterbrechen. "Ihr bleibt morgen noch in Mt. Beauty herunten...ist nämlich ein Feiertag. Später wird man euch nach Howman's Gap transportieren, wo ihr euch eine Zeitlang aufhalten werdet."
"Na, da hast du es ja schon", ereiferte sich Werner, "hinauf in die Berge, Juchhe! Das wird den Österreichern wieder gefallen! Was meinst du, Hugo?"
Der Lange, der schweigsam zugehört hatte, lenkte ein. "Ich finde es garnicht so uninteressant. Endlich komme ich Flachländer dazu, meinen ersten Berg zu besteigen". "Ach, komm schon! Berg oder nicht Berg! Wenn ich an die Arbeit mit Krampen und Schaufel denke, wird mir jetzt schon schlecht", maulte der Apothekergehilfe. "Mit d e m Werkzeug haben wir schließlich alle noch nicht unser Brot verdient", meinte Willi besänftigend. "Und w o l l e n tun es zumindest zwei auch nicht!" konterte Werner schlagfertig.
Das leichte Geplänkel wurde unterbrochen, als der Australier die Zimmerschlüssel verteilte. Da die Kantine bereits geschlossen war, aus einiger Entfernung aber deutlich "Restaurant" herüberleuchtete, beschlossen sie notgedrungen wiedereinmal ihre privaten Säcklein zu öffnen. Für diesen entlegenen Ort fanden sie ein bemerkenswert sauber und modern eingerichtete Lokal vor. Während sie Steak and Eggs unter diversen Kommentaren hinunterwürgten, machten sie sich allmählich mit dem Gedanken vertraut, in dieser Gegend einige Monate zubringen zu müssen.
"Zum Sparen dürfte es ja nicht schlecht sein...Man braucht nicht viel: ihr habt gehört, wir müssen Essenmarken kaufen. Drei Shilling pro Mahlzeit! Wenn man bedenkt, daß man anderswo kaum unter sechs Kröten ein Dinner bekommt...Übrigens, was macht die Rechnung pro Mann und Nase aus? Sh 5/6? Na, da wollen wir mal großzügig sein und sechs Pennies Trinkgeld dazulegen. Werden mich ja kaum wiedersehen in dem Laden, von jetzt an wird eisern gespart!" Auf Werners Winken schlurfte die ältliche Kellnerin heran und stellte die Rechnungen aus, für jeden separat und einzeln. "Aha, das hat sie schon gelernt", registrierte Willi vergnügt. Als Werner bei der Herausgabe des Wechselgeldes großzügig abwinkte, stieß sie ein "What's this!?" aus und schob die Augenbrauen abrupt in die Höhe.
"Na, das Trinkgeld! Gehört dir!" ließ Werner Benke etwas ungeduldig hören. Ihr Gesicht glättete sich wieder. "In Australien nimmt man keine Trinkgelder", erklärte sie stolz. "Das gilt hierzulande als Beleidigung", vernahmen die Männer verblüfft.
"Die dachte wohl, ich will sie für 'nen halben Shilling kaufen", spöttelte Benke. "Wenn es so weitergeht, werde ich bald mein letztes Pfund für sie spenden. Schön langsam wird es mal notwendig – obwohl es gegen mein Prinzip geht, Frauen zu kaufen". "Beruhige dich etwas, Werner, wenn ich bitten darf!" warf Hugo der Schweigsame ein. Derartige Ausprüche hörte er nicht gerne, er hielt viel von Wohlerzogenheit und guten Manieren.
Sie verabschiedeten sich und begaben sich anschließend nachdenklich und müde zu Bett.

* * *


Dröhnende Blechmusik und marschierende Kolonnen erinnerten Willi daran, daß heute der nationale Heldengedenktag der Australier, der Anzac-Day, gefeiert wurde. Er beeilte sich mit seiner Morgentoilette und kam gerade noch zurecht, um das Ende der Ansprache zu hören: "...der Name Anzac wird für immer als ein Symbol australischer Courage und militärischer Durchschlagskraft weiterleben!!" Die Reihen der Jungen und Mädchen in Pfadfinderkleidung und anderen, äußerst bunt gemischten Uniformen, jubelten auf. "Na bitte", dachte er. "Ähnliches habe ich schon mal in meiner Jugend gehört."
Die Soldatenveteranen und Mitglieder örtlicher Sportvereine strömten vom Platz ab, und die uniformierten Kinder liefen ihren Müttern rotbackig vor Begeisterung in die ausgebreiteten Arme. Bald lag der Ort wieder so ruhig da wie ehedem, nur ein Kranz frischer Blumen blieb am Gedenkstein zurück.
Willi blickte um sich, vor ihm stand das mächtige Verwaltungsgebäude der S.E.C., der State Electricity Commission of Victoria. Das einzige Bauwerk mit einem ersten Stock, soweit das Auge reichte. Der Hauptstraße entlang erblickte er Grocery Stores, Milk Bars, einen Zeitungskiosk und eine Drogerie . Ganz oben, am Ende der Straße, kündigten bunte Plakate die neuesten Kinofilme an. Ja, und links an der Kreuzung lag das Postamt. Weiter hinten erstreckten sich langsam ansteigende Hügelketten, die mit vielen Einfamilienhäusern bedeckt waren. Alle diese Bauten bestanden aus schachtelförmigen Holzkonstruktionen, in vielen bunten Farben bemalt. Und von ganz, ganz ferne grüßte eine Bergkuppe weißglänzend von Schnee herunter ins Tal, in der Morgensonne glitzernd. Er stellte sich die äußerst dichte und undurchdringliche, blaugrüne Bewaldung etwas aufgelockert und weniger eintönig vor – ein Anblick fast wie zuhause! Sogar ein See schimmerte hinter den Wohnbaracken, allerdings ein künstlich angelegter, der vom Abwasser der Turbinen gespeist wurde. "Hier müßte es doch auszuhalten sein", dachte er.
Willi beschloß, Werner aufzusuchen. In den Grünanlagen trafen die beiden dann auf einen einheimischen Arbeiter, der die Feiertagsstille zum Ausruhen verwendete. Er erkundigte sich nach ihrer Nationalität. "Ach Deutsche", meinte er und erzählte, daß er in Afrika gegen Rommel gekämpft habe. "Verflucht harte Kämpfer, die deutschen Soldaten." Er erhob sich aus der bequemen Ruhelage, stellte sich mit vorgestrecktem Knie auf, täuschte durch die Armhaltung ein Gewehr in Nahkampfposition vor und sprang stoßweise auf einen unsichtbaren Gegner zu. "Wir mochten angreifen soviel wir wollten – unaufhaltsam, Schritt für Schritt kämpften sich die Deutschen mit aufgepflanzten Bajonetten vor!" Er schloß seine lebendige Demonstration mit "...It was a bloody hard fight with these fucken Germans!!".
Nicht ganz im klaren über die Bedeutung einzelner Adjektive dieses Satzes, fühlten die beiden Immigranten doch eine gewisse Anerkennung und Hochachtung aus diesen simplen Worten. Wenn auf dieser Basis eine gegenseitige Verständigung zustandekam – ihnen war im Grunde alles recht.

Um ein wenig mehr von der Natur zu sehen, folgten die Neuankömmlinge dem Weg, der sich in zahllosen Kurven höherwandt. In den Zweigen der dünnstämmigen hohen Bäume flatterten unentwegt buntfarbige Wellensittiche, so häufig wie zuhause die frechen Spatzen. Bisher hatten sie solche Vögel höchstens im Käfig bewundert. Die Überzahl und Menge in der freien Natur kam ihnen langsam wie eine Umwertung der Begriffe vor. "Die alten Weiber daheim, mit ihren Kanarienvögeln, würden ja ganz närrisch werden, wenn sie plötzlich tausende davon herumhüpfen sehen könnten...", meinte Buchner der Apothekergehilfe sinnend. Es stimmte auffallend, was Robert da von sich gab, er hatte unbewußt den richtigen Ausdruck verwendet:"...närrisch werden". Menschen können vor Freude durchdrehen, aber auch, wenn zuviel neue Eindrücke auf sie einstürmen, wenn ihnen niemand hilft, das fremde, ungewohnte in ihrer neuen Umgebung in Ruhe zu verdauen. Und gerade dies geschah in diesem "Wahnsinnsland Australien", eine Bezeichnung, die den Männern vollkommen unbekannt war, die sie aber wie hunderttausende anderer Einwanderer, diesem Kontinent bald instinktiv verleihen sollten...
Nach dem Abendessen in der Kantine trafen sich die vier in Werners Cubicle, wie die kleinen Zimmer genannt wurden. Ein großer blonder, etwa zwanzigjähriger Berliner gesellte sich ihnen zu, der unbeholfen die Story seines Australienaufenthaltes erzählte.

Vor zwei Jahren herübergekommem, war er sofort im Busch gelandet und seither nicht mehr losgekommen von dieser Gegend. Ob er wenigstens etwas Geld erspart habe, damit er bei passender Gelegenheit abhauen könne?
"Nee, wißt ihr", sagte er, "ich laß' es mir gutgehen. Ich arbeite zwar schon die längste Zeit im Tunnel – verdiene auch ganz schön dabei. Aber wann immer es geht, verzichte ich auf unsere Gemeinschaftsküche – ich lasse mir im Restaurant sogar gelegentlich Leberpasteten backen. Kostet natürlich 'ne Menge Geld, aber das haben wir ja!"
Der Junge hielt den Kopf leicht gesenkt. Die blicklosen Augen erschienen groß und weit geöffnet, die oberen Lider hingen beinahe über die Pupillen herab. Er bewegte sich nur langsam und sehr bedächtig. Die Arme hielt er weit abgespreizt vom Körper, geradeso, als wolle er balancieren, um das Gleichgewicht zu bewahren.
Werner und Willi blickten sich kurz und bedeutungsvoll an. "Wie lange bist du nun schon hier?" erkundigte sich Werner. "Zwei Jahre. Hab' ich doch schon erwähnt, oder nich'?"
"Wäre es nicht besser für dich, wenn du jetzt wieder nach Deutschland zurückkehren würdest?" suggerierte Willi ganz sachlich. "Nee, das geht nich'. Das heißt, ich will garnicht! Mir gefällt es sehr gut hier. Nee, ick bleib' schon hier!"
Als schließlich alle bis auf Willi das Zimmerchen verlassen hatten, ließ Werner nur ein Wort fallen: "Bekloppt!".
Willi nickte nur geistesabwesend. Erst viel später erfuhren sie einige Hintergründe des Dramas: Der Junge zog es eher vor, hier vor die Hunde zu gehen – als zu seiner Mutter zurückzukehren – die eine Nutte war...

* * *


Die Temperatur sank weiter, je höher hinauf sie der Bus brachte. In ihren zivilen Klamotten, sie hatten sich nicht warm genug angezogen, drängten sie fröstelnd in die Bauhütte. "Wartet hier solange, bis wir euch wieder holen. Und heizt den Ofen ein!" Bluebird, ihr australischer Vorarbeiter, stapfte davon. Trotz der Kälte trug der schmächtige Mann nur eine gestrickte Leibweste.
"Worauf du Gift nehmen kannst! Hier, sieh mal, Willi: Holz genug zum Verheizen!" Anheimelnd prasselte bald Feuer im Kanonenöferl. "Was ist denn das?" fragte Willi neugierig, hob eine große Blechbüchse in die Höhe und schnupperte daran. "Na, Dieselöl, ist doch klar", sagte Robert. "Riecht doch typisch danach."
Hugo Prattert, der Lange, stand wie immer wortlos herum und betrachtete die Vorgänge um ihn stoisch, ohne jemals den Versuch zu machen, selbst einzugreifen. "Mensch, her damit", rief Werner begeistert aus. "Jetzt wird es aber gleich warm sein. Los, schüttet das Zeug rein ins Feuer!" Willi reichte ihm den Behälter mit der Bemerkung: "Mach doch selbst, ich gieße das Öl nicht rein!" Ein halber Liter plantschte in das Feuer, dumpf brodelnd schossen Stichflammen empor. Das Spiel bereitete ihnen Vergnügen, bald breitete sich angenehme Wärme im Raum aus.
"Also gar so eilig scheinen es die Herren nicht zu haben", stänkerte Werner nach einiger Zeit des Wartens. "Uns kann's nur recht sein". "Die werden früh genug mit unserer Arbeitskluft auftauchen. Bei dem Regen, und überhaupt, bin ich garnicht heiß auf die Dreckarbeit. Übrigens, ziemlich müder Betrieb, wie mir scheint. Robert, reich mir bitte das Magazin herüber!"
"Die 'Australasien Post'?" "Na, das Druckpapier ist wahrlich nichts besonderes", stellte Willi fest, als er die dicken Blätter der Zeitschrift betrachtete.
"Sollen mal die 'Quick' lesen, oder den 'Stern'. D a s ist 'ne Wucht. Qualitätspapier gegen den Dreck hier!" Unangenehm berührt registrierte der Österreicher diese herablassenden Bemerkungen seines Kumpels. Dauernd quasselte er von deutschen Wundern. "Schließlich gibt es ja auch bei uns billige Magazine", warf er ein, "und das hier kostet ja wirklich nicht viel".
"Laß sehen, Willi. Was'n das?" Begierig lugte Hugo über seine Schulter. Eine exotische Schönheit lehnte verführerisch am ruppigen Stamm einer Palme, ein neckisch zerfranster Bikini bedeckte die schwellenden Glieder des Mädchens. "Northern Belle" lautete die Überschrift zu dem Bild. "Nicht von schlechten Eltern. Wenn alle Eingeborenen-Girls so gebaut sind, lege ich mir sofort eine zu!" Sein Asketengesicht glühte förmlich auf und seine blauen Augen begannen lüstern zu funkeln. Werner zog ihn sogleich auf: "Du wirst jetzt mal zuerst schön mit der Schippe deine überschüssigen Energien abführen, mein lieber Hugo...Aber was ist denn das? Das ist ja noch weit interessanter! Lest doch!" Ein anderer Artikel fesselte ihre Aufmerksamkeit: "Wache auf, Australien!" übersetzte Werner gleich ins Deutsche.
"Einmal, es war in Kalifornien, als ich stolz einem Hamburger-Verkäufer erzählte, daß ich ein Australier bin, glaubte der, ich stamme aus Austria". Werner konnte seine kleinen Sticheleien nicht lassen. "Da siehst du es wieder deutlich, daß man anderswo keinen großen Unterschied macht zwischen Austria und Australia, diesem Kanakenland. Mit Germany weiß jeder, was gemeint ist, das verwechselt keiner!"
"Ist aber auch nicht gerade dein Verdienst, Werner!" Willis Einwand klang ungewohnt scharf. "Laßt es gut sein", schaltete sich Robert ein. "Lies weiter, Werner".
"...Er war ein ungebildeter Mensch. Wenn aber sogar gutinformierte Amerikaner Australien mit einer lässigen Handbewegung einfach abtun und sagen 'Euer Land ist unbedeutend, zu weit weg vom Rest der Welt und außerdem fast unbekannt', dann beginne ich mich aber aufzuregen..." Und als Beweis, daß Australien doch nicht so uninteressant sei, führte der Autor einige der Naturschönheiten und seltenen Tierarten an und beendete seinen Aufruf mit folgenden Worten: "Wacht auf, alle mitsammen! Selbstverständlich ist Australien bedeutend, und allen denkenden Menschen der ganzen Welt gut und als beachtenswert bekannt!"
"Also ehrlich, ich hab' sehr wenig davon gewußt", murrte Werner schon wieder. "Und man kann mich nicht gerade ungebildet nennen. Allerdings, je mehr ich erfahre, um so weniger möchte ich darüber wissen. Was haben die schon groß aufzuweisen? Ein paar lumpige Schafe und viel Sand in der ganzen Gegend. Den Urwald hier lasse ich mir nicht mal schenken!"
An allem und jedem fand Werner etwas auszusetzen. Es lag nicht bloß Überheblichkeit in diesen Bemerkungen, wie man den Einwanderern immer wieder vorwarf, es lag einfach an der vollkommenen Unkenntnis der Lage um sie herum. Erst langsam und schrittweise nahmen die Dinge Formen und Werte an. Zaghafte Ansätze dazu fanden sich in ernsthaften Überlegungen, die sie an solche Aussprüche knüpften.
Das mit dem Busch stimmt schon, unsere Wälder sind schöner. Willi überdachte die Angelegenheit sorgsam. Aber hatte Werner auch miteinbezogen, daß es sicherlich keine geringe Leistung darstellte, die Straße von Mt. Beauty bis hierher zu bauen? Durch das unwegsame Gelände? Er erinnerte sich der Autofahrt über die grobe Schotterstraße. Durch unzählige Kurven, eng, unübersichtlich, nur etwas breiter als der Wagen, war der Fahrer mit einem Affentempo sondergleichen geflitzt. Einen romantischen Filzhut am Kopfe, hatte er seine rote Schnapsnase (vielleicht angeheitert) häufig dem Beifahrer zugewandt. Manchmal hatte er das Lenkrad beim Gestikulieren losgelassen, sodaß er, Willi, nur noch bebend vor Angst die entsetzlichen Abgründe neben dem ungesicherten Straßenrand im Auge behielt. Streckenweise hatte die Straße meterlange, durch Regen ausgeschwemmte Abbröckelungen aufgewiesen. Es war sicherlich nicht leicht gewesen, diese Straße durch diese Wildnis zu legen.
"Was heißt hier Leistung?" ließ Werner wieder von sich hören. "Die arbeiten an dem Projekt doch schon zwanzig Jahre, wie man mir erzählt hat!" Daraufhin fiel Willi Höger keine Entgegnung mehr ein. Allmählich verstummten die Gespräche. Jeder vertiefte sich in die herumliegenden halbzerfetzten Illustrierten. In einem Punkte stimmte die Meinung aller überein: man bewunderte die herrlichen Frauengestalten. Eine wie die andere schien einem Modejournal entsprungen. "Fantastisch, die Weiber! Und hier ist weit und breit keine zu sehen". Den Frauen war jeder Zutritt in ihre Welt verboten.
"Hello boys! Come on! Eure Arbeitskluft liegt bereit". Bluebird steckte den Kopf durch den Türspalt herein. Die Burschen bedauerten, den nun wohltemperierten Raum verlassen zu müssen und stiegen fröstelnd in den nebeligen Tag hinaus. Der Weg, mit großen Felstrümmern übersät, war glitschig. Dünn nieselte der Regen herab. Ohne sich nach ihnen umzudrehen rannte Bluebird auf seinen kurzen Beinen vor ihnen her. "Werde euch in meine Hütte führen, wo ihr euch umkleiden könnt. Ein Landsmann wird die Konfektionsgrößen umrechnen – die Stiefel werden dann in einer halben Stunde von McKay heraufgebracht, sobald ich die Schuhgrößen telefonisch durchgegeben habe."
"Das hättest du schon längst erledigen können", maulte Werner. Fluchend turnte er von einem großen Stein zum anderen. "Ich werde doch nicht meine guten Halbschuhe für Australien opfern!" Werner meinte es gewöhnlich nicht ganz so ernst, wie er es hervorbrachte. Es konnte ihnen doch egal sein, wie lange es dauerte, bis sie die Klamotten beisammen hatten." Wenn die Aussies soviel Zeit haben – wir haben noch mehr", dachte Willi und zog ingrimmig an seinem Schuh, der im Dreck hängengeblieben war. Eine kleine Holzhütte, kaum gesichert und auf zwei am Boden liegende Balken gestellt, erwies sich als Bluebirds Hauptquartier. Die winzige Hütte klebte buchstäblich am Rande eines Abgrundes, der etwa hundert Meter tief abfiel.
Ein junger, braungebrannter Mann in einem Schutzanzug, mit Gummistiefel an den Beinen, kam ihnen entgegen. Seine Hände steckten in rauhledernen Handschuhen, und auf dem Kopf saß keck ein – modischer Steirerhut! "Also, welche Schuhnummer, meine Herren?" "Nummer 43", sagte einer. "Number seven and a half", übersetzte der Mann mit dem Steirerhut. "Allright", meinte Bluebird, "go on!"
"Was hast du denn?" erkundigte sich Hugo bei Willi, der sichtlich unbehaglich in einer Ecke lehnte. "Die Bude gefällt mir nicht. Ich möchte mich da herinnen nicht allzu lange aufhalten...Die steht mir zu nahe an der Schutthalde". Die anderen lachten ihn aus. "Du siehst Gespenster", meinte Werner herablassend. "Ist gut." Beleidigt wandte sich der jüngere ab.
Mittlerweile war die Mittagszeit herangebrochen.
Ein langgezogener, minutenlanger Pfiff ertönte. Sie begaben sich alle zur beheizten Bauhütte zurück. Bald strömten an die zwanzig abenteuerliche und eigenartige Männer herein. Einige der älteren Typen wiesen beträchtliche Leibesfülle auf, aber die meisten erschienen den Europäern mager und ausgemergelt. Selten trug einer auch nur ein überschüssiges Gramm Fett am Leib. Nachdem sie die Überkleider abgelegt hatten, leuchtete die gebräunte Haut der Männer, die kaum dreissig Jahre zählen mochten, sie wirkte faltig und wie gegerbtes Leder. Ein Jeep fuhr vor und brachte ein gut schmeckendes, komplettes Mittagessen in Containern mit, inklusive Teller und Besteck.
"Die lassen es sich aber etwas kosten! Ich glaube, bei uns würde man mit Barabern nicht soviele Geschichten machen. Da müßten die Burschen wahrscheinlich ihre mitgebrachten Speckbrote wickeln und Kaffee aus der Thermosflasche trinken", äusserte Willi erstaunt. "Schon möglich", meinte Werner, aus vollen Backen kauend. "Ganz gehöriger Aufwand jedenfalls!"
"Sieh' mal an! Deutsche, wenn ich nicht irre?" Zwei junge Männer vom Nachbartisch lugten freundlich herüber. Der eine war bärtig, gutmütig aussehend, festgebaut – ein Koloß von Gestalt, mit einer Lederweste bekleidet, der die Beine in den Lederstiefeln lang unter dem Tisch ausgestreckt hielt. Auf den ungekämmten Haaren saß ein zerfranster und verbeulter Sombrero aus Leder. Der andere war ein schmalhüftiger Mann mit blondem Flaum im jugendlich wirkendem Gesicht. Ohne sich im geringsten beim Zerschneiden der Würstchen am Teller behindern zu lassen, wiederholte der Jungenhafte: "Deutsche, wenn ich nicht irre? Hummel-hummel, übrigens, wir stammen beide aus Hamburg. Ich bin Eddi, und der Dicke da wird Hans genannt. Allerorten bekannt als Suicide-Driver, Kamikaze- oder noch besser Selbstmord-Fahrer, falls ihr nicht wissen solltet, was das heißt. Wir sind beide erst heute mit unserem Wagen angekommen".
"Du meinst wohl in meinem Wagen", warf Hans voller Besitzerstolz ein. "Ach, bilde dir doch auf dein Fetzenflugzeug nicht soviel ein!" tat ihn Eddi kurz aber freundschaftlich ab. "Wie lange seid ihr denn schon in diesem schönen Land?" Eddi sah vom Teller fragend hoch. Werner führte wie immer das große Wort und berichtete alles Wissenswerte. An seine nächsten Nachbarn gewandt, die schweigend an ihrem Kraut würgten und die rege Unterhaltung der Einwanderer über ihre Köpfe hinweg mit stummer Mißbilligung anhörten, erwähnte Eddi geschmeidig auf Englisch: "Ich hoffe, ihr habt nichts dagegen, wenn wir uns ein wenig in unserer Muttersprache unterhalten. Die Boys beherrschen eure Sprache leider noch nicht so gut. Ich weiß, es ist unangenehm für euch, aber wir reden wirklich nur privates Zeug". Einer der angesprochenen Männern murmelte nur "It's allright". Die übrigen kauten schweigend weiter. Die sechs Deutschsprachigen rückten näher zusammen.
"Wißt ihr, wir sind bereits das vierte Jahr in Australien und haben so unsere Erfahrungen gemacht. Die glauben immer, weiß Gott was wir über sie reden, wenn wir in unserer Muttersprache quasseln!"
Der Vorarbeiter erhob sich nun vom Tisch, warf seine Windbluse über die Schulter und verließ den Raum, und der ganze Haufen folgte ihm gruppenweise. Als sie unter dem Betonmischturm hindurchschritten, sahen sie schon den Wagen des Schrägaufzuges am Portal wartend stehen. Eine Gruppe von zehn Mann nahm in dem hölzernen Gefährt Platz, während der Rest in die dunkle Tunnelöffnung verschwand. Schnurgerade fielen die Schienen des Aufzuges ab, unheimlich lang und steil wartete der Hang auf sie, und tiefer unten lösten sich sämtliche Konturen der Landschaft im Nebel auf.
"Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste", dachte Willi und setzte sich rittlings so auf die Seitenwand, daß er notfalls im Bruchteil einer Sekunde abspringen konnte. "Wat denn, wat denn! Da soll'mer runter? So'nen Berg hab' ich bisher ja nur im Film gesehen! Was hältst du von dem Seil, Willi, du Maschinenmensch? Ist es nicht ziemlich dünn?" Zweifelnd blickte Werner auf jenes inch-starke Drahtgeflecht, dem sie ihr Leben anvertrauen mußten. Jeder reagierte anders auf die bevorstehende Talfahrt. Eddi sprudelte lustig drauflos: "Wir kommen bestimmt runter, Jungs! Keiner bleibt oben wenn das Seil reißt!" Hans versicherte ihnen, er werde demnächst die Bremsen aus seinem Ford in die Karre hier einbauen, er müsse nur vorher die Bremsbeläge erneuern. "Momentan ziehen sie nicht besonders", erklärte er treuherzig. Robert und Hugo schauten nur stumm in die Tiefe, ohne ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen.
Rumpelnd setzte sich das Gefährt in Bewegung, die Räder ächzten über die Schienen mit dem unregelmäßigen Gleisunterbau. Linker Hand baute sich eine hohe Erdwand auf, nach rechts hin verlief das Terrain eben, nur von tiefen Erdspalten durchzogen, durch die wohl bei stärkeren Regengüssen das Wasser schoss.
Alles sehr lockeres Erdreich, bin neugierig, wie die hier feste Fundamente gründen wollen. Denselben Weg runter wird wohl auch die Pipeline, die Druckwasserleitung, nehmen. Aha, da war schon so ein mächtiges Loch im Boden, von etwa fünf Kubikmeter Größe. Und bis obenhin mit dreckigem, braunen Wasser gefüllt. "Ist doch der reine Wahnsinn", überlegte Willi in diesem Augenblick," derartig mächtige Gruben monatelang vor dem Betonieren auszuheben."
"Sag Herbert...", der junge Mann mit dem Steirerhut drehte sich um, "wann wurden diese Löcher bereits ausgebaggert?"
"Vor drei Monaten etwa – hübsch, nicht wahr? Aber das beunruhigt hier niemand, hier wird alles mindestens zweimal gemacht. Wirst dich schon daran gewöhnen!"
Der Wagen machte plötzlich einen Ruck und schlug seitlich hin und her, beinahe verlor Willi das Gleichgewicht. Sie rollten eben über ein Gleisstück, das völlig frei in der Luft hing, die Schwellen waren vom Regen freigespült worden.
"Da, seht euch das an! Hier, an dieser Stelle habe ich schon mehrmals denselben Schaden ausbessern müssen. Jetzt kommt ihr an die Reihe. Aber das Grundübel beseitigt man nicht. Mir ist es egal, ich bekomme mein Geld so oder so", setzte Herbert gleichmütig hinzu. Sie rollten nun auf horizontalem Boden, die Geschwindigkeit lag bei etwa einem halben Meter pro Sekunde. Ein älterer Arbeiter sprang ab, lief zu einem im Boden eingerammten Pfahl mit aufmontierter Telefonbox und drückte auf einen Knopf. In diesem Augenblick stoppte der Windenführer ein paar hundert Meter weiter oben den Motor. Das Seil, durch den weiterrollenden Wagen gespannt, schoß in die Höhe, bis es etwa 15 Meter vom Boden entfernt einen Augenblick zur Ruhe kam. In die Gleichgewichtslage auspendelnd, rollte der Wagen mit den Insassen noch mehrmals vor und zurück, bis die Ausschläge nur noch minimal waren. Jetzt stieg ein Mann nach dem anderen aus, was immer neue Oszillationen verursachte: Jede Fahrt mit dem primitiven Vehikel gestaltete sich auf diese Weise äußerst spannend und unterhaltsam.
Man bedeute ihnen, die Grasnarben, die ausgestochen in großen Haufen lagerten, in den Wagen zu laden. Oft hingen zwanzig Zentimeter Erdreich an den Büschen, die, von Wasser vollgesogen, beträchtliches Gewicht aufwiesen. Die Männer bildeten eine Kette und warfen sich die schweren, patzigen Brocken zu. Beim Auffangen stoppten sie die Grasnarben mit der Brust, denn sie wären ihnen ansonsten aus den Händen geglitten.
Der vollbeladene Hunt wurde dann an der nächsten Steigung angehalten und mühselig wieder entleert. Da die Stiefel kaum festen Halt fanden und die jungen Männer in halb gebückter Haltung die Arbeit verrichten mußten, wurden die Neuankömmlinge bald von heftige Kreuzschmerzen geplagt. Sie kamen rasch dahinter, daß außer den Australiern, Deutschen und Österreichern, auch Polen und Italiener der Gang angehörten.

Bis in die Knochen zerschlagen, sanken sie abends in die Polstersitze des Bedford Bus, der sie vom Tunnelportal weg in einer Viertelstunde schneller Fahrt zum Barackenlager zurückbrachte. Wie sie aussahen, naß, dreckig und zum Umfallen müde, bannte sie Willi noch schnell als Gruppenbild auf die Platte. Wann immer er später dieses Bild betrachtete, mußte er über die trostlosen Mienen, mit denen sie aus den Krägen der Schutzanzüge hervorsahen, herzlich lachen.
Samstag morgen klöhnte Willi bis 8 a.m., nachdem er herrlich tief geschlafen hatte, was seit seiner Abreise von Zuhause nicht mehr der Fall gewesen war. Sämtliche Glieder schmerzten ihm, so blieb er vorläufig im Bett liegen und studierte eine Zeitschrift, die er von Werner ausgeliehen hatte. Auf das Frühstück in der Kantine verzichtete er einfach. Er nahm sich vor, jeden nur erübrigbaren Penny zu sparen, da er wußte, daß man doppelte Portionen erhielt, wenn man wollte. So schob er die Sättigung bis zum Mittagessen auf. Nachmittags haute er sich wieder aufs Ohr und verschlief einige Stunden.
In den Abendstunden begab er sich zu Werner, um ein wenig Radio zu hören und lange Gespräche über ihr neues Heimatland Australien zu führen. "Tja, die Zollkontrolle meiner Koffer in Melbourne war so 'ne Sache", erzählte Werner, der um einige Jahre älter war als Willi und die Kriegsgefangenschaft bei den Franzosen und Amerikanern überlebt hatte. Mit allen Salben geschmiert, nahm er sich kaum ein Blatt vor dem Mund.
"Du weißt ja, ich bin Heilmasseur von Beruf. In meinem umfangreichen Handgepäck – das Großgepäck kommt erst nach – hatte ich etwa 50 Kapseln für eine spezielle Hormon-Abmagerungskur mitgebracht. Ich erhoffe mir damit einigen Erfolg bei den australischen Damen. Na, jedenfalls, nun kommt der Zollbeamte, verstehst du, wühlt und wühlt immer tiefer rein. Legt alles raus, was ich mühselig und haargenau in den Koffer reingebracht habe. Auf einmal sieht er die Phiolen, stutzt und ruft sofort einen zweiten Beamten hinzu, und ein großes Palaver beginnt. Die haben natürlich vermutet, ich schmuggle Morphium, oder so etwas ähnliches.
Mensch, und dann entdeckt er noch zu allem Überfluß die zugehörige Injektionsspritze. Da sind ihm aber die Augen übergegangen! Natürlich haben sie alle anderen Gepäckstücke aufgerissen und haben reingeguckt, fanden aber nichts Verdächtiges mehr. Weißt du, wie ich mich rausgeredet habe? Habe denen die Spritze gezeigt und erklärt, ich müsse mir selbst jeden Tag eine Injektion geben, da ich an einer lebensgefährlichen Krankheit leide und auf der Stelle tot umfalle, sollten mir einmal meine Phiolen ausgehen.

Die waren vielleicht fertig! Vermutlich dachten sie, was schicken uns die für Krüppel herüber aus Europa!... Der Zug nach Bonegilla wartete inzwischen abfahrbereit am Kai. Ich war einer der letzten, der durchsucht wurde – nun war ich der Allerletzte. Na warte, Bürschchen, dachte ich, als ich den fetten Beamten auf die Uhr schauen sah. Bedächtig legte ich Stück für Stück zurück in den Koffer, versuchte den Deckel zu schließen, ging aber leider nicht. Ruhig und langsam packte ich wieder aus, den komplett Inhalt! Mit einem leichten Achselzucken entschuldigte ich mich bei dem Dicken, der jetzt bereits drängte, denn jeden Augenblick konnte der Zug abfahren. Sorgsam überlegend, schlichtete ich wieder alles rein. Kofferdeckel geht nicht zu! Der Beamte will mit seinem ganzen Gewicht draufspringen, ich wehre natürlich empört ab. Ich nehme die ganzen Dinger wieder raus, da höre ich, wie der Zug mit den Einwanderern abfährt, ohne mich. Jetzt wurde mir leichter. Da hast du es nun, verfluchter Kerl, sagte ich mir.
Der hat vielleicht einen Anschiss bekommen, Junge, Junge! Mir wurde unter Entschuldigungen ein Eisenbahnbillet für den nächsten Zug nach Bonegilla in die Hand gedrückt!"
Willi lachte laut auf, und Werner setzte mit leichter Entrüstung seine Story fort. "Ich habe ja nichts dagegen, wenn der Zollbeamte seine Pflichten erfüllt, weißt du, aber mutwillig, mutwillig die wenigen Klamotten der Einwanderer zu zerstören, so wie ich das mit eigenen Augen ansehen konnte, das geht denn doch über die Hutschnur!"
Ja, auch Willi erinnerte sich, daß ihm einige Immigrants von zerstörtem Porzellangeschirr, zersplitterten Kistendeckeln und zerrissenen Büchern erzählt hatten. Zerstörungen, die erst bei der Kontrolle erfolgt waren.

* * *


Entschlossen, seinem Leben eine neue Richtung zu geben und jede sich bietende Chance auszunützen, nicht wieder in die alte Trägheit zurückzufallen, setzte er sich am Sonntag Vormittag hin und schrieb einen kurzen Kartengruß an Beryl. Er gestand ihr, wie beeindruckt er von ihr gewesen sei und fragte zugleich an, ob er sie gelegentlich besuchen dürfe. Dann warf er das Schreiben zusammen mit drei anderen Briefen in den Schlitz neben der Tür des kleinen Ladens, der zugleich als Postamt fungierte.
Unsere vier Helden wanderten nachmittags bei strahlendem Sonnenschein nach Falls Creek, wo die farbenprächtigen Hütten des Bogong Skiing Club in die Hänge hineingebaut waren. Leider trafen sie nicht den österreichischen Skilehrer an, von dem man Willi erzählt hatte – die Chalets waren momentan unbewirtschaftet. So stiegen sie noch höher hinauf und konnten bald das ganze Hochplateau überblicken, das von Preiselbeer- und Erikastauden überwuchert war. Kleine Bäche rauschten zu Tal, gespeist von den vielen Schneeflecken, die hier noch vereinzelt lagen und dem neuen Winter entgegenträumten. In der Ferne grüßten Berge herüber, deren Wälder von hier aus gesehen einen starken Blaustich aufwiesen. Darüber thronten farbige Wolken, von rosenrot bis ins blauviolette irisierend.
Wenn sie die Blicke den Windungen der Straße entlanggleiten ließen, sahen sie inmitten des giftgrünen Urwaldes, dessen Bäume dicht nebeneinander in die Höhe schossen, unzählige starke, angekohlte Baumstrunke, deren abgestorbene Arme gespenstisch gegen den Himmel ragten. Da Willi derselbe Anblick bereits am Hume Reservoir aufgefallen war, wußte er, daß hier ein furchtbarer Buschbrand gewütet haben mußte. Vor Jahrzehnten waren große Teile von Victoria und New South Wales dem Feuer zum Opfer gefallen – also Gebiete etwa so groß wie das kleine Österreich! "Daher auch der Name Howman's Gap", dachte Willi. "Gap bedeutet ja Lücke, eine Lichtung im Urwald! Könnte genauso gut irgendwo in Sibirien liegen", überlegte er ernüchtert.
Seine Gedankengänge schlugen unaufhaltsam eine immer depressivere Richtung ein. Was suche ich hier eigentlich, ich Dummkopf, schalt er sich im Stillen, während er zunehmend schweigsamer neben seinen Gefährten hertrottete, die ebenfalls immer verdrossener dreinsahen. Jemand unterbrach die Stille. "Schöner Tag heute. Wird für die kommenden Monate wohl so bleiben wie es ist. Bißchen langweilig wird es schon..." Finster blickte Robert auf seine schmalen Hände: "Habe meinem Freund Joe nach Melbourne geschrieben. Wenn ich eine positive Antwort erhalte, haue ich in zwei Wochen ab."
"Und ich werde weiter im Dreck wühlen wie ein Maulwurf, statt mich daheim auf die Examina vorzubereiten, wie es meine Freunde tun. Statt dessen...Ach, ist ja alles egal." Vollkommen entmutigt kletterte Willi abends in Bett und beobachtete traurig, wie der Himmel langsam ins Graue wechselte, bis auch die Umrisse der hohen Bäume im kleinen Fensterausschnitt verschwanden und das Licht aus der nächsten, höher gelegenen Baracke über die grobe Bettdecke fiel, die er nun über die Ohren zog, um zu vergessen.

* * *


Strahlende Sonne beleuchtete tags darauf die dahinbrummenden Omnibusse. Dieser Tag sah wieder ganz anders aus, alle Gesichter lachten dem Licht entgegen. Heute würde die Arbeit Spaß machen, und sie machte Vergnügen. Kaum noch wurden sie von Kreuzschmerzen und Muskelkater geplagt. Hans und Eddi, die gestern mit dem Auto unterwegs gewesen waren, blödelten, daß es eine Freude war. Die sechs deutschsprachigen Männer kamen aus dem Lachen garnicht mehr heraus. Einzig und allein Robert blickte nach wie vor düster drein.
Bluebird, ihr Vorarbeiter, wies die Gruppe auf die Gefahren in ihrer Umgebung hin. "Passt auf, wenn ihr die Erde mit bloßen Händen angreift. Sie ist mit Bakterien verseucht! Selbst bei kleinsten Hautverletzungen dürft ihr niemals ohne Handschuhe arbeiten!" Er wies auf ein Grasbüschel, das mit der Muttererde nach oben am Boden lag. "Und seht euch das ganz genau an! Da hockt eine Black Widow, eine Schwarze Witwe. Ein Zufall, daß wir hier eine finden, aber – ich warne euch: ihr Biß kann für Menschen sehr gefährlich sein!" Die Burschen beugten sich über die Erdscholle und betrachteten mit leichtem Gruseln die dünnen, behaarten Beine des daumennagelgroßen Insekts, das, durch die Störung aufgescheucht, langsam weiterkrabbelte. "To Hell with you, you bloody bastard!!" zischte Bluebird zwischen den Zähnen hervor und zerquetschte die Spinne mit der scharfen Kante seiner Stechschaufel.

Innerhalb der Arbeitsgang bildeten sich bald Spezialisten heran. Am augenscheinlichstem im Falle des einzigen Italieners welcher der Gruppe angehörte. Mit unnachahmlichen Skill verpflanzte er Stück um Stück der Grasnarben am Steilhang. "Here I need a bigger piece – tat one is too littel!" Wie die Mehrzahl seiner Landsleute, tat er sich mit der Aussprache gewisser Worte schwer. Aber der grammatikalisch richtige Satzbau offenbarte seine Intelligenz. Ein an sich geringfügiger Zwischenfall erregte den wohl intensivsten Heiterkeitsausbruch, der je von dem grünen Laub der Eukalyptuswälder in dieser Gegend zurückgeworfen worden sein mag: Ihr Vorarbeiter Bluebird, ein zwar einfacher, aber gebildeter Australier, verwechselte, nachdem er es hundertmal vom Italiener gehört hatte, einmal "little" mit "littel", als er besagtem Arbeiter eine Anweisung gab.
"Verdammt und zugenäht!" brüllte er los. "Jetzt bin ich mir bald selber nicht mehr der richtigen Aussprache sicher!"
Ja, hier also reihte der Italiener sorgsam Grasnarbe an Grasnarbe. Genauso gekonnt, wie begabtere und glücklichere Landsleute von ihm bunte Mosaiksteinchen oder Glassplitter zu bewundernswerten Kunstwerken zusammengesetzt haben, jahrhundertelang.
"Paisano", wie ihn Willi in Erinnerung an die Rufe der Händler in Port Said getauft hatte, blickte kurz von seiner Tätigkeit auf, strich sich den Rücken glatt und rief den eifrig hinhauenden Deutschen, mit ein wenig Spott in der Stimme, ein "Arbeiten, viel arbeiten!" zu. "Halt den Mund, Paisano!" fuhr ihn Eddi an. Jungenhaft keck, mit einem flachen grauen Filzhut auf dem kurzgeschnittenem strohblonden Haar, stand er da auf der Ladefläche des Huntes. Mit einer reflexartigen Bewegung zog er von Zeit zu Zeit seinen Hosenbund in die Höhe, der über die nicht vorhandenen Hüften zu gleiten drohte. "Halt die Schnauze, Paisano, oder die bösen 'tedesci' marschieren wieder in 'bella Italia' ein und saufen den Chiantiwein aus..." Ununterbrochen zogen sich die Europäer gegenseitig auf und vertrieben sich so die Langeweile. Gelegentlich steuerte auch der Pole unter ihnen einige Bemerkungen in hartem Akzent auf deutsch bei und lachte über die Witze der fröhliche Bande. Obwohl er sich nicht recht getraute, wußte er doch nicht, ob ihn nicht die Australier als eine Art Verräter betrachteten, wenn er mit den Deutschen und Österreichern mitlachte, die sich ungeniert ihrer Sprache bedienten. Oder war eher Schweigen Gold?

* * *


Bluebird stand breitbeinig vor der herumlungernden Gruppe der Gang und richtete schließlich das Wort an Eddi, der zufolge seiner langen Wanderjahre in Australien den Slang ausgezeichnet beherrschte.
"Ich möchte wissen...", er räusperte sich, "welchen Beruf jeder einzelne von euch hat. Ihr seht nicht so aus, als ob ihr dauernd mit Krampen und Schaufel gearbeitet hättet. Was hast du zum Beispiel früher gemacht, Eddy, would you tell me, please?"
"Ooch, in Deutschland war ich kaufmännischer Angestellter. Zuerst habe ich versucht, hier gleichfalls einen solchen Job zu finden – aber es gelang mir nicht. Ich bin momentan quite happy mit der Arbeit an der frischen Luft hier!" Verbindlich lächelnd grinste Eddi den Vorarbeiter an.
Der blickte ihn etwas zweifelnd an und wandte sich dem nächsten in der Gruppe zu. Hans lag hingestreckt auf einem großen Betonrohr, die Lederweste als Kopfpolster untergelegt, den verwitterten Lederhut halb übers bärtige Gesicht geschoben. Im Mundwinkel hing wie immer eine glimmende Zigarette.
"Ich? Ich bin Karosseriespengler, Panelbeater, weißt du, Bluebird!
Aber ich kann einfach keine Beschäftigung finden, jedenfalls nicht auf Dauer. Nach kurzer Zeit fliege ich immer raus...Aber spielt keine Rolle. Ich hab' meinen Ford, der mich schnell und bequem in eine neue Gegend bringt, wo ich wiederum Geld verdienen kann. Schweres Geld – wie hier!"
Lachend entblößte er seine fauligen Kauruinen und setzte noch sein "Jojo, da kann man nichts machen!" hinzu. Gemütlich steckte er wieder den Glimmstengel zwischen die Lippen.
Später erklärte er dann seinen Kumpeln, warum er so häufig rausflog aus dem Job.
"Der Australier gibt mir ein Probestück zum Bearbeiten. Ich ergreife den Hammer, haue zielsicher drei – viermal drauf. So: Peng-peng, nich', und schon ist die Beule raus! Der Aussie macht große Augen, sagt brav thank you und öffnet mir bereitwillig die Türe, die direkt ins Freie führt. Ein Landsmann und Kumpel hat mir einmal gesagt, wenn du das so angehst, ist das ganz klar! Du mußt eine Viertelstunde schön dran herumhämmern – das freut den Aussie – und macht die anderen nicht arbeitslos".
Bluebird schüttelte nur den Kopf und wandte sich nun den Neuankömmlingen zu.
"That's Hugo, isn't it?" "Das stimmt, er ist es", bekräftigte Werner. "Ich werde für ihn sprechen, Mr. Bluebird, sein Englisch ist noch nicht gut genug."
Sie zeichneten Bluebird, ihren Partieführer, mit dieser respektvollen Anrede aus. Seine Persönlichkeit und die Fürsorge für die ihm anvertrauten Männer waren allgemein bekannt und geschätzt. Üblicherweise hielt man nicht viel von solchen "Formalitäten".
"Hugo hat fünf Jahre Praxis als Pfleger in einem der bedeutendsten Krankenhäuser Berlins", erklärte ihm Werner. "Bonegilla hat ihn hierher eingewiesen!"
"Can't get that", murmelte Bluebird unsicher. "Und du selbst?" fragte er Werner. "Ich war im selben Krankenhaus als Heilmasseur angestellt. Kann alle meine Zeugnisse vorweisen".
"Ihr solltet etwas anderes tun, als hier im Dreck herumgraben. Mit der Zeit werdet ihr euch die Hände ruinieren", meinte Bluebird.
"Und was ist mit dir?" Er blickte auf Robert den Apothekergehilfen, der ihm seine persönliche Geschichte brühwarm hinterbrachte. Bluebird erwiderte kein Wort mehr. Er sah dann Willi nur fragend an, der ihm bereitwillig Auskunft gab, auf sein abgebrochenes Technikstudium, die Erfahrungen als technischer Zeichner und die Praxis in der Elektroindustrie verwies. Jetzt reichte es dem armen Bluebird, erschüttert brach er immer wieder in den gleichen Ruf aus: "Jesus Christ! Jesus Christ!...Sind denn die in Bonegilla wahnsinnig?"
Die jungen Männer gaben keine Antwort. Sie wußten es nicht.

Bluebird versprach ihnen hoch und heilig, alles in seiner Macht stehende zu tun, um ihnen wenigstens im Rahmen dieses Unternehmens geeignetere Positionen zu verschaffen. Bereits in den nächsten Tagen wolle er deshalb bei der Bauleitung vorsprechen. Die Boys dankten ihm und betonten ihre Freude darüber.
Später stöberte man eine Black Snake auf, das tödliche Biest. Ein paar Knüppelhiebe von Eddi erledigten das Reptil. "Kleine Fische, soetwas!" kommentierte er trocken. "Schließlich sind wir schon mal im Busch gelandet, vor vier Jahren, als wir rüberkamen. Damals allerdings nicht freiwillig".
"Erzählt doch etwas davon", baten die vier Neuankömmlinge. "Nein, nicht jetzt. Vielleicht bei einer anderen Gelegenheit", schnitt Eddi ihnen kurz die Rede ab. Sein Grinsen verschwand für einen Augenblick und wich einer angespannten Starrheit...

* * *


Das Wetter gestaltete sich zunehmend kühler, es ging dem Winter entgegen. Bereits am Vormittag nieselte es, nun aber goß es in Strömen. Die Wellblechhütte bot kaum Platz für die vielen Männer. Ein paar Aussies fütterten den Ofen mit klobigen Holzscheiten. Ausnahmsweise schnatterten heute die Englischsprechenden drauflos. Seit neuem stießen auch Irländer, Schotten und Engländer zu ihnen, alles alte Buschhasen, die schon jahrelang in der Gegend hausten. Zwangsläufig folgte Willi der Unterhaltung. Sein Ohr empfand es furchtbar hart, den Slangausdrücken und dem austalischen Englisch zu folgen und einen Sinn zu verleihen. Aber soviel bekam er mit: Anscheinend gefiel ihnen der Regen, oder vielmehr die Ruhepause in der Hütte.
"Nicht verwunderlich, bei ihren alten Knochen", dachte er, "ich möchte ja auch nicht draussen im Regen stehen". Jedes dritte Wort lautete 'bloody' oder 'fucking', was Willi etwas unangenehm berührte. Bildeten diese Schimpfworte einfach Füllwerk in einem Satz, wie etwa 'Ah' oder 'Äh'? Erst später, als er im subtropischen Sydney lebte, verstand er diese scheinbare Gedankenlosigkeit, die nichts anderes war, als eine Reaktion auf die zeitweise unmenschliche Hitze. Er gedachte der Geschichten über die Amokläufer im pazifischen Raum: Plötzliche Anfälle sinnloser Wut, wahnsinniger Gereiztheit, die sich entladen mußte.
Die Deutschen schwiegen an diesem Nachmittag beharrlich vor sich hin und blickten nur gedankenverloren in den Regen hinaus. Der Pole Stan in ihrer Mitte beherrschte ihre Sprache ganz gut, wenn er wollte, die Jahre als Fremdarbeiter waren nicht spurlos an ihm vorbeigegangen. "Ich habe sogar eine Deutsche geheiratet und lebe ganz glücklich mit ihr, deshalb kann ich es so gut!" meinte er stolz. Der Pole klärte die jungen Burschen über so manches auf, was sie bisher kaum geahnt hatten, Zusammenhänge zwischen Dingen, die auf dem ersten Blick nichts miteinander gemeinsam hatten. "Siehst du", erklärte er dem gespannt lauschenden Willi an seiner Seite, "wenn zum Beispiel ein Russe mit einem Tschechen, oder ein Rumäne mit einem Polen eine Unterhaltung führen wollte in diesem Land, wichen sie auf Deutsch aus, denn Englisch sprach weder der eine noch der andere...Ja, und so kam es, daß das Deutsche beinahe als zweite Landessprache angesehen werden konnte und kann!" Das dies nicht nur Vorteile für die hier lebenden Germans gebracht hatte, verschwieg der liebe Stan allerdings.
Eintönig trommelte der Regen auf das Wellblechdach. Stan deutete nach oben: "Da begreifst du vielleicht, warum die meisten Australier auf uns Einwanderer einen Krampf haben – wenn sie es auch nicht offen zeigen. Noch vor wenigen Jahren wäre es undenkbar gewesen, daß ein 'fair dinkum Aussie', ein richtiggehender, waschechter Australier, bei derartigem Sauwetter auch nur das Lager verlassen hätte. Arbeitskräfte waren rar, so blieb er einfach daheim, wenn es ihm nicht paßte. Entlassen hat man ihn deshalb noch lange nicht. Und heute...? Den ganzen Vormittag haben wir bei dem Sauwetter geschuftet. So ändern sich die Zeiten!" "Jetzt fang bloß nicht an zu seufzen und auf die bloody migrants loszuziehen!" neckte ihn Willi. Stan lachte nur.
Ein neuer Mann in der Gang fiel völlig aus dem Rahmen. Ganz selten tat er den Mund auf, genaugenommen hatte Willi von ihm überhaupt noch keine Äusserung gehört. Während der Teepause saß er, freundlich lächelnd, von den übrigen etwas abgesondert. Sein Teint schimmerte dunkelbraun, und die Haare glänzten bläulich schwarz. Höger, genauso wie seine Kameraden, hatten ihn anfangs für einen Süditaliener gehalten. Aber sie alle mußten ihre Meinung revidieren: Sie sahen einen "Halfcast", einen Mischling als Produkt eines weißen Australiers mit einer Eingeborenen, einer Aboriginal-Frau, vor sich. Obwohl ihn hier das keiner spüren ließ, wußte er genau, daß er für den Rest des Lebens ein Aussenseiter bleiben würde. Bedauerlich, aber unabänderlich.
In Albury waren ihnen bereits einige dieser Eingeborenen-Frauen aufgefallen. Abgesehen von den meist nicht sehr ansprechenden Gesichtern, wiesen sie durchwegs annehmbare Formen auf, rundherum sozusagen. Man konnte sich gut vorstellen, daß ein Buschläufer, der monatelang keine Frau mehr gesehen hatte...In der Not frißt der Teufel Fliegen, heißt es. Und das waren sogar sehr nette Käfer...
Ankunft im Lager, raus aus dem Bus und rein in den Gemischtwarenladen, war eins. In Sekundenschnelle füllte sich die kleine Bude, die alles führte, was man in dieser Einöde wohl benötigen würde. Von der Zahnpasta über Zeitungen, Diggerhüten, Nagelschuhen bis..., nun bis zur täglichen Post eben. Begierig überflogen die abenteuerlich gekleideten Männer die Empfängeradressen, rasch griffen die Hände zu, ein kleiner Aufschrei folgte.
"Na siehste", sagte Werner befriedigt, mit glänzend dunklen Augen unter dem Kraushaar. "Gleich vier Stück. Alle von Bonegilla nachgesandt! Nichts für dich? Na, dann eben morgen. Komm, gehen wir zuerst in die Kantine!"

* * *


Das Schlechtwetter wollte und wollte kein Ende nehmen, stundenlang hockten sie in der Hütte. Sobald der Regen etwas nachließ, trieb sie Bluebird raus, für eine halbe Stunde oder weniger, bis es wieder stärker niederprasselte. Willi hatte in den Ferien so manchen Schilling am Bau dazuverdient. Er stellte stille Vergleiche zwischen den Barabertypen von damals und seinen australischen Arbeitskollegen von heute an, und kam zu dem Schluß, daß deren Ausdrucksweise zwar einfacher war, jedoch bei weitem keine derartigen schweinischen Bemerkungen wie zuhause die Runde machten. Und als Folge der Pionierzeit in Besiedelungsperiode dieses Kontinents, wo Frauen eine kostbare Rarität dargestellt hatten, nahmen sie auch in der heutigen Vorstellungswelt der Männer eine hehre und unantastbare Position ein. Wegen dieser respektvollen Einstellung zum anderen Geschlecht entfielen schon fünfzig Prozent aller Witze, den Rest führte er auf mangelnde Phantasie zurück.
Abgesehen von dieser betrachtenden, rein mentalen Beschäftigung, hatte Willi absolut nichts zu tun, genauso wie der übrige Haufen.
Nur die Zeit verrinnt, das Sparkonto wächst ein wenig – sonst geschieht nichts, absolut nichts!
Wo bleibt der zum Entwickeln eingesandte Film?
Warum kommt keine Post für mich?
Trübselig hingen alle ihren großen und kleinen Problemen nach.

Ein Rattern und Poltern kam näher, das Wellblech begann klirrend zu rütteln. Ratlos und erstaunt blickten sich die Männer an. Auf einmal – ein furchtbarer Stoß, der das Holzfachwerk in der Ecke zersplitterte, das Blech in Fetzen herausriß und den ganzen Bau aus den Grundfesten rüttelte. Im wüsten Durcheinander flog alles Bewegliche umher.
Als die Schrecksekunden vorüber waren und die Kumpel bleich und zerkratzt über das Gewirr von Schaufeln, Seilen und Zementsäcken ins Freie drängten, prallten sie gegen die breiten Raupenketten einer Monster-Erdbewegungsmaschine.
Wild fluchend kletterte der Fahrer eben vom Führersitz. "Somebody hurt, mates?" stieß er keuchend hervor. "Could'nt control that bloody bastard of a fucken Dozer!!" schimpfte er sich den Schock von der Seele. Etwas blass stand er so vor ihnen, ein langer, dürrer Australier mit dem typischen, breitrandigen Schlapphut am Schädel. "Sorry, mates! Gut, daß nichts passiert ist!" Der baumlange Junge kletterte wieder in den Kontrollstand, zog an einigen Hebeln, und das Ungetüm brauste mit hunderten von Pferdestärken in wildem Dröhnen davon.
Von den Kumpeln, den "Mates", hatte kein einziger ein böses, vorwurfsvolles oder gar drohendes Wort gegen den Fahrer fallen gelassen, obwohl einige sicherlich gerade knapp dem Tode entronnen waren. Eine Raupenbreite tiefer, und es wäre um sie geschehen gewesen! "Allright m a t e s", dachte Willi, "jetzt dürft ihr ruhig mal drauflosschimpfen." Aber nichts dergleichen geschah. Vollkommen ruhig, als würden sie die letzten Resultate des Pferderennens rein akademisch diskutieren, besprachen sie den Vorfall. Unter "Verdammter Idiot, paß doch auf!!" wäre es daheim nicht abgegangen.
Ein eigenartiges Völkchen, diese Aussies. Kopfschüttelnd trat er zu seinen Freunden. "Jetzt reicht es aber!" Bluebird rief die Leute vorzeitig zum Aufbruch. "Zur Rampe rauf! Ich telefoniere um die Busse!" "Ich wette mit dir einen australischen Schilling, hörst du Werner – du weißt, was das bei meiner Sparsamkeit bedeutet, daß heute für mich ein Brief gekommen ist!" "Den Shilling nennt man hierzulande 'Bob', merk dir das endlich", antwortete ihm Werner. "Du weißt schon, Assimilation ist das große Schlagwort in Australien. Liest es jeden Tag in der Zeitung!" "Ja, aber immer erst einen Tag später!" grinste der Österreicher. "So wie du, übrigens." Das hatte natürlich seinen ganz bestimmten Grund.
Da ihnen die Truth zu teuer war, bezogen sie die Zeitung immer einen Tag nach der Ausgabe – aus dem Koloniakübel.
Also Werner ging tatsächlich auf die Wette ein, mit saurer Miene überreichte er seinem Freund den Shilling, nachdem sie das Postamt verlassen hatten. So wie er war, in dreckiger Kluft und kotigen Händen, riß Willi den Umschlag auf. Aha, die Beantwortung seiner Anfrage an einen Staatsbetrieb in Melbourne. Begierig überflog er die Zeilen:
"Sehr geehrter Mr.Hoeger!
Wir bedauern Ihnen mitteilen zu müssen..."
Nichts. Achtlos ließ er das Schreiben zu Boden gleiten. Wäre zu schön gewesen, kann ja garnicht so glatt gehen... Das zweite Schreiben stammte von dem Bekannten in Melbourne, der eigentlich keiner war. Willis Gesichtszüge hellten sich auf. Er reichte den Brief weiter an seine Freunde. "Hat 'nen guten Humor, der Mann", lachte einer. Da stand zu lesen: "Sehr geehrter Herr Höger! Willkommen im Lande der unbegrenzten Unmöglichkeiten!"
Ich werde diese Leutchen erst garnicht mit einen Besuch belästigen, beschloß Willi, etwas enttäuscht von dem Wischi-waschi des Schreibens.

* * *


In der zweiten Woche begannen sie bei schönstem Wetter die Abflußrinnen am Hang einzubetonieren. Über eine improvisierte Rutsche aus Wellblech, dem Material, aus dem fast alles hier fabriziert wurde, sollte das teigige Gemisch aus Zement, Schotter, Sand und Wasser hinunterfließen. Bereits nach kurzer Zeit erschöpften sich die Kräfte der Männer, die versuchten, das ganze mit Hilfe von Schaufeln zum Rutschen zu bewegen. Unerbittlich rollten neue Ladungen mit Fertigbeton heran. Wie die Wilden hauten sie hin, und die ganze Partie fluchte drauflos, aber das Tempo durfte nicht verringert werden. Die ungewohnte Anstrengung riß an allen Muskelpartien des Körpers. Mit heimlicher Freude und Stolz bemerkte Willi, wie sein Bizeps im Laufe der Tage anwuchs. Schon lange hatte sich gewünscht, harte körperliche Arbeit verrichten zu können, um seinen durch jahrelanges Sitzen erschlafften Körper so richtig widerstandfähig und hart zu machen. Nun war die Gelegenheit dazu da...
Am späten Nachmittag sank das Tempo automatisch, als plötzlich ein schwarzer Buick auftauchte, der mit seinen verhängten Fenstern eine starke Ähnlichkeit mit einem Leichenwagen suggerierte. "Payday", Zahltag war das Losungswort, das auch den müdesten Kumpel wieder auf die Beine brachte. In langen Reihen standen die Gestalten vor den gepanzerten, bläulich schimmernden Scheiben und blickten ungeduldig nach drinnen, wo neben dem Fahrer zwei uniformierte Beamte saßen. Im Fond der Kassier, der in einer umfangreichen Blechkassette hunderte schmaler Lohntüten aufbewahrte. Gewichtig, mit ernsten Mienen, beobachteten die Uniformierten die Szene, die Hand leicht auf der Pistole am Ledergürtel placiert.
Das erste selbstverdiente Geld in Australien! Die Auszahlung für die zwei Tage der ersten Arbeitswoche. Willi drehte und wendete die Scheine mit der grünlichen Farbtönung. Das Portrait der Königin Elisabeth und das Wappen Australiens, Kangaroo und Emu, zierten die eine Seite. Er wendete den Schein.
"Na, du kannst dich ja kaum von dem Anblick losreißen, Willi!
Gefallen dir sie Scheinchen? Dann heb' sie bloß gut auf. Mach's nicht so wie wir – vier Jahre Australien und nicht mal den lumpigen Wagen abgezahlt!" Eddi trat näher heran und sprach weiter. "Du wirst es ja erleben, was unsere lieben Freunde, die Kumpels hier, damit anfangen werden. Du fährst Samstag mit uns runter in den Pub? Anschauungslektion, mein Lieber, das tut gut!"
" Gerne, wenn ihr mich mitnehmt?" Willi reichte Eddi Feuer für die Zigarette. "Willst du auch eine?" "Ja, ich gewöhne mich langsam daran. Früher waren's zehn im Monat, jetzt rauche ich beinahe zehn Stück pro Tag. Das heißt am Abend, wenn ich allein in der Bude sitze."
Nach einer kurzen Pause: "Wieso habt ihr euch nicht mehr erspart? Seid ihr immer zusammen umhergezogen?"
Eddi rückte seinen grauen, tellerflachen Hut etwas nach hinten. "Tja, Junge, das ist bereits der zweite Wagen, den Hans zuschanden fährt. Wir gondelten immer gemeinsam herum auf diesem Kontinent. Wenn es uns irgendwo nicht mehr gefiel, packten wir einfach unsere Siebensachen zusammen, und ab ging die Post. Bis irgendwo ein Wind wehte, der uns gefiel. Von Melbourne nach Sydney, von Sydney nach Brisbane, von dort aus nach Darwin – alles schon hinter uns gebracht. Tausende Kilometer. Haben uns einen Gaul gehalten, mit allem Zeug das dazugehört, wie eleganten Sattel, Rüstzeug, Stiefel, Sporen, und so weiter. Nicht zu vergessen, eine richtige Gun! Da haben wir drauflos gepfeffert, was das Zeug hielt, Hans und ich. Zeige dir gelegentlich Fotos davon."
Er schwieg nachdenklich und rief sich die verflossenen Zeiten noch einmal vor Augen, wo sie ihre Jungenträume Wirklichkeit hatten werden lassen: Einmal richtig Wildwest spielen zu dürfen, von galoppierenden Pferden herunter Old Man Cangaroos und Emus zu jagen...
"Jedenfalls haben wir damals mehr von unserem Leben gehabt, als im Krieg, den ich als blutjunger Flakhelfer miterlebte." Er lächelte etwas gezwungen. "Und ihr müden Brüder werdet wahrscheinlich ewig bei der Erdbewegungsfirma bleiben, was?" Willi versuchte, seinen Standpunkt zu erläutern.
"Du hast doch selbst vorgeschlagen, ich soll meine Kröten sparen. Eben hast du zugegeben, daß ihr beim Herumzigeunern eine Menge Geld verbraucht habt. Ich würde nichts lieber tun, als mir dieses verdammte Land näher anzusehen. Ich möchte in vier Jahren aber auch nicht so dastehen, wie ihr beide heute! Das muß dir doch einleuchten."
"Klar, du hast recht!" Eddi klopfte ihm auf die Schulter. "Manchmal überlege ich ja, ob wir beide, Hans und ich, nicht doch alles total falsch gemacht haben. Möchte gerne einmal nach Old Germany zurückkehren. Langsam wird dieses Vagabundenleben sinnlos. Und wie mir scheint, sind wir auch nicht in das richtige Land ausgewandert...
Hier kommt keiner zur Ruhe. Du glaubst garnicht, wie sehr sich Hans nach einem netten Mädel und einer eigenen Familie sehnt. Er kennt eine Australierin in Sydney. Aber das haut nicht so recht hin. Sie hat ein lediges Kind, das würde ihm überhaupt nichts ausmachen. Aber... Es wird sich schon eine finden, auch für ihn. Er verdient es."
Hans war wirklich ein patenter Bursche. Wann immer jemand etwas brauchte, sich in einer kleinen Klemme befand: Hans war immer zur Stelle. "Jojo, wird gemacht, mein Junge!" Und er tat es.
Allzuviel wurde an diesem Tag nicht mehr geleistet. Willkommenen Anlaß zum Ausruhen gaben Sprengungen, die in der Nähe durchgeführt wurden. Die Boys hockten dann in den Erdschächten, die für die Entwässerungsrinnen ausgehoben worden waren. Mit hellem Klirren prasselten die Gesteinssplitter auf die Wellblechabdeckung hernieder.

* * *


Morgen Freitag würde also das erste "Long Weekend" anbrechen. Das Lager selbst bot nur wenige Zerstreuungsmöglichkeiten. Freitag abends trafen sich regelmäßig einige Lagerinsassen in der Sporthalle, wo einfache Tische zum Ping-Pong Spiel einluden, sowie Wurfringe und das Pfeilwurfspiel Darts bereitlagen. Willi fand sich mit seinen Freunden inmitten einer Schar nachlässig gekleideter, herumlungernder Männer wieder. Niemand mochte sich anscheinend entschließen, mit einer Aktivität den Anfang zu machen. Unsere Helden starteten schließlich ein rasantes Tischtennis-Match zu viert. "Jetzt reicht es mir. Will jemand anderer probieren?" Der junge Höger legte den Schläger hin. Man wollte.
Er sah Paisano, den Italiener, neben dem Radiogerät hocken, das dauernd durch Wackelkontakte ausfiel. Heute jedoch war es ihm gelungen den Apparat in Betrieb zu setzen. Bei jedem heftigeren Trompetenton, der aus dem Lautsprecher quoll, flackerte das Skalenlämpchen zwar beängstigend, aber dieses Wunder der Technik verströmte anheimelnde Musik. "Italienische Serenade?" erkundigte sich Willi freundlich bei dem Achtundzwanzigjährigem, der zusammmengekauert nahezu in den Lautsprecher hineinkroch. Ja, natürlich, was sollte ein Italiener denn sonst anhören.
"Wie lange bist du schon im Lande?" Unvermeidliche Frage aller Auswanderer. Der junge Mann antwortete: "Seit vier Jahren. Und nächstes Jahr fahre ich zurück. Zurück nach Neapel, wo meine süße Braut wartet." Seiner Brieftasche entnahm er das Foto einer jungen Dame und reichte es Willi hin. "Das ist sie, feurig und rassig wie alle Italienerinnen. Nicht so cool wie die Girls hierzulande!" Wehmütig weilte sein Blick auf dem Bild. "Scheinen Limonade im Blut zu haben... Hast du keine Braut?" Forschend sah er Willi an. "Ja, natürlich habe ich eine Freundin in der Heimat. Leider hat sie mir bis jetzt noch nichteinmal geschrieben...", setzte er traurig hinzu. "Santa Maria", entfuhr es dem Italiener. "Ich kenne eure Mädchen. Die sind viel zu lebendig, um länger ohne Mann dazustehen. Fast so temperamentvoll wie unsere Mädchen... Aber mach' dir nichts draus, du findest wieder eine andere!" Verbindlich lächelnd verabschiedete sich Willi von dem Italiener.
Seine Freunde umringten einen in zerlumpten Anzug und Filzpantoffeln herumschlurfenden weißhaarigen Alten, der, in einiger Entfernung vor der Darts-Scheibe, die welke, knochige, leicht zitternde Hand mit dem gefiederten Pfeil erhoben hatte. "Welche Zahl soll ich treffen?" fragte er herausfordernd den Kreis um ihn herum. Eddi zog rasch an seinem Hosenbund: "Get number five!" forderte er den Alten auf, und blinkerte den anderen aus rotumränderten Augen verständnisheischend zu.
Der Weißhaarige legte den Kopf leicht schräg, visierte kurz das Ziel an, und mit einer raschen Bewegung aus dem Handgelenk flog der schwere Messingpfeil mitten ins gewünschte Feld. "Hurra! Bravo!" riefen einige der Burschen, ehrlich begeistert von der Treffsicherheit, aus und klatschten Beifall.
"Ich treffe jedesmal – todsicher!" behauptete der Alte nun mit verhaltenem Stolz und schickte sich an, wegzuschlurfen. Werner und Eddi unterhielten sich angeregt mit ihm. Willi beneidete seine Freunde um die Leichtigkeit, mit der sie neue Bekanntschaften anknüpften. Gewiß, er konnte sehr aufgeschlossen sein, aber der Beginn einer Unterhaltung mit Fremden fiel ihm furchtbar schwer. Die Ungezwungenheit und Selbstverständlichkeit, mit der dies anscheinend bei den anderen vor sich ging, fehlte ihm.
Er hörte die Lebensgeschichte des Alten mit gemischten Gefühlen mit.
Vor dreissig Jahren habe er zum ersten Male den Fuß auf Australiens Erdboden gesetzt. Heute sei es sein Traum, noch einmal das Heimatdorf in England zu sehen. Aber nun sei er bereits 65 Jahre alt und wisse nicht, ob er noch genügend Geld zusammenkratzen werde können, um eine Übersiedlung wagen zu dürfen. Und von den Angehörigen lebte niemand mehr.
Welchen Sinn hat das Leben dieses alten, gebeugten Mannes eigentlich gehabt?" fragte sich Willi wehmütig beklommen. Wozu hat er dreissig Jahre in der Fremde zugebracht? Warum muß er seinen letzten Lebensabschnitt einsam und verlassen in einem entlegenen Camp zubringen? Darts allein konnte doch unmöglich den Lebensinhalt dieses Menschen darstellen! Welch' geheimnisvollen, unverständlichen Mächte leiten uns durch dieses irdische Jammertal, wenn solche Schicksale gelebt werden müssen? Er erschauerte: Wieviel bedeutet jenen höheren Mächten ein einzelnes Menschenleben – wieviel mein eigenes, junges, das noch vor mir liegt?

* * *


"Startklar? Dann nischt wie auf die Tube gedrückt!!"
Hans, der Selbstmordfahrer, rückte auf dem Fahrersitz zurecht und gab Gas, daß der klapprige Auspufftopf tief röhrte. Fünf Mann saßen im Wagen, drei zitterten um ihr Leben. "Eigentlich ein Glück für uns, daß es am Morgen geregnet hat...", bemerkte Willi hämisch und sah Werner von der Seite an. Verkrampft und zusammengekauert preßte der sich eng an die Wagentür, da Hugo zwischen ihnen Platz genommen hatte. "Da klebt der Schotter wenigstens am Lehmboden. Wichtig vor allem in den Kurven...", plauderte Willi harmlos weiter. Im Powerslide, im rasantem Schuß, fegte Hans durch die Kurven, sodaß bald die Werkssiedlung auftauchte, die, inmitten eines flachen Beckens erbaut, seltsam friedlich dalag. Der See glänzte herauf, weiße Schäferwolken und die Silhouetten der niederen Bergketten spiegelten sich im klaren Wasser.
Der schwarzgelb gestrichene Schlagbalken hielt sie kurz auf. In langsamer Fahrt glitten sie durch die Ansiedlung. Erblickten schmucke Holzhäuschen mit spielenden Kindern davor, die Wohnbaracken, das Kino, die Geschäfte – alles leicht gebaut, aus dünnen Balken und Brettern zusammengenagelt.
"Ein einziger Wirbelsturm, und der ganze Ort ist weggeweht, gone with the wind", dachte Willi. Ein Sturm der Geschichte, und nichts mehr würde späteren Generationen Kunde davon geben, daß hier der Homo Sapiens gelebt hatte. Vielleicht, daß ein Autowrack oder eine unter meterhohen Lehmschichten begrabene Staumauer Spuren einer menschlichen Existenz erkennen lassen würden. Raubritterburgen haben bereits Jahrhunderte überdauert, und die Cheops-Pyramide ist viertausend Jahre alt. Was war das im Vergleich dazu? Leichte Schaumbäckerei, nichts sonst. Eine andere Vision drängte sich ihm auf. Er sah hunderttausende Menschen fleissig die Hände regen, sah Industrien emporwachsen, solide Städte entstehen, deren Einwohner durch Eisenbahn und Flugzeug miteinander in Kontakt traten. Menschen, die an allen Errungenschaften teilhaben konnten, die Zivilisation und Kultur zu bieten haben. "Alle Vorausetzungen dazu sind gegeben", grübelte der junge Europäer. "Vor allem Wasser und Elektrizität, eine annehmbare Landschaft, freundlich und sanft, wie geeignet für eine Besiedlung. Freilich, Schwerindustrie würde sich hier kaum entwickeln, wäre auch schade um die herrliche Gegend. Aber sicherlich existieren hundert Möglichkeiten, dieses Gebiet zu entwickeln", dachte er.
"Doch, eines fehlt, das wichtigste von allem: Menschen, viele, viele Menschen. Aber woher werden die Millionen Menschen jemals kommen? Aus Europa? Unmöglich!" Er überlegte fieberhaft:
"In den vergangenen zehn Jahren sind ungefähr eine einzige Million eingewandert, vorwiegend aus Europa. Weitere zehn- bis zwanzig Millionen könnten nach den Schätzungen von Wissenschaftlern Platz und Bleibe finden. Jetzt mal abgesehen von der natürlichen Zuwachsrate... Wird man diese Zahl jemals von – Europa bekommen?
Also nicht aus Europa, man wehrt sich ja anscheinend ohnehin gegen die einströmenden Immigrants. Die Zeit drängt aber, politische und ökonomische Wechsel vollziehen sich rasch im 20. Jahrhundert. Was also bleibt? Woher werden die Millionen kommen, die diesen Kontinent endgültig unterwerfen werden...?"
"Wir sind da, Jungs! Los, raus! Ich will den Wagen absperren. Das Bier wartet schon auf uns!" Hans drängte zur Eile. Einige Meilen außerhalb der Kleinstadt nahm sie ein Pub auf. Unrasiert, wie gewöhnlich in seinem Wildwest-Aufzug, breitbeinig in seinen blankgeputzten Stiefeln voranschreitend, stieß Hans die Tür zum Saloon auf.
Dichtes Stimmengewirr besoffener Männer drang ihnen entgegen. Blaue Rauchschwaden stiegen von den qualmenden Zigaretten hoch, hemdsärmelig und in schlecht gebügelten Konfektionsanzügen lehnten die Boys an der Theke. Meistens Junggesellen, oder zumindest Männer, deren Frauen nicht in der Nähe lebten. Die Beschwipsten hauten sich gegenseitig auf die Schultern und tranken sich zu.
"Da! Je ein Middy für die fünf bloody Germans!" brüllte einer der Angeheiterten dem Barkeeper zu, der, ohne auch nur einmal aufzusehen, die Bestellungen entgegennahm, die wie ein Trommelfeuer an seine Ohren brandeten.
"How are you going, mate, o'right?" Der Betrunkene drängte sich an Werner heran. Bald sah sich Willi in ein anregendes Gespräch mit einem Aussie verwickelt, den er vom Sehen aus kannte. Rund um die Theke herrschte ein solches Gedränge und Geriß um die gefüllten Biergläser, daß er sich gegen die Wand hin zurückzog. Halblaut unterhielt er sich dabei mit Hugo, der, wie schon erwähnt, einen ausgewachsenen Anständigkeitsfimmel besaß und die Vorgänge um ihn herum mit rügenden Bemerkungen kommentierte.
"Entsetzlich, die saufen ja wie die Tiere. Und da drüben unser Partieführer Bluebird. Am liebsten möchte ich garnicht hinsehen – mir ist das höchst unangenehm. Natürlich, Werner hat schon wieder jemand gefunden, mit dem er quasseln kann!"
Und nach einer Weile: "Jetzt trinkt er bereits das dritte Bier! Aha, nun muß er eine Runde spendieren, wird ihm aber leid tun!" In diesem Tonfall ging es weiter. Obwohl ihre Charaktere sehr grundverschieden waren, gefiel ihm Hugo Prattert ganz gut. Für Hugo war in dieser Welt alles vollkommen gesetzmäßig und regulär aufgebaut. Seine Lebensanschauungen standen festgefügt da, systematisch in die Umwelt eingebettet und waren beinahe doktrinär zu nennen. In seiner Bude zum Beispiel besaß jeder Gegenstand seinen genau zugeordneten Platz, und wehe, jemand wagte diese Ordnung zu verletzen! Willi bewunderte diesen tadellos und heimelig eingerichteten Raum. Vorhänge und Tischdecken verschönten das Zimmer, an der Wand hing ein Barometer und eine große Weckeruhr tickte auf einem Gesims – nichts fehlte zur Behaglichkeit. Und allmorgendlich holte Hugo einen Zerstäuber vom Kasten herunter und sprühte sorgfältig ein Desinfektionsmittel in seine Mundhöhle. Beileibe nicht, weil ihn etwa Entzündungen plagten, nein, aus reiner Vorsicht.
Erst nachdem er einigemale gezwungen gewesen war, einen fremden Trinkbecher zu benutzen und mit schmutzigen, erdbedeckten Händen sein Marmeladebrot zu verzehren, da erst gab er diese hypochondrische Vorsichtsmaßregel auf. "Man sollte doch in allem ein natürliches Leben leben...", hatte er verschämt Willi von seinem heroischen Entschluß berichtet. Wie sehr doch die Menschen durch ihre Umgebung geformt werden.
Ja, so war es. An diesem Samstag nahm er die erste Flasche Bier ins Lager mit hinauf. Zwei Liter Gerstenbräu ließen ihn in einen traumlosen Schlaf versinken, aus dem er erst bei Einbruch der Dunkelheit erwachte. Er zündete sich eine Zigarette an und vertiefte sich in einen Reisebericht, den er im "Reader's Digest" fand. Ein amerikanischer Schriftsteller berichtete da über das "Backout", das Hinterland in den gottverlassensten Gegenden Australiens.
"Ich hier kann nicht wiedergeben, was mir die Burschen dort erzählt haben", schrieb der Amerikaner. "Wir verdienen Geld, gutes Geld! Aber wozu? Wozu, frage ich Sie, mein Herr! Weit und breit keine Frau, die bereit ist, sich mit dir hier endgültig niederzulassen. Alles drängt in die Stadt, um sich zu vergnügen, etwas vom Leben zu haben." Ob er nun die Cowboys auf einer der riesigen Schaffarmen interviewte, oder in Wüstengebieten Arbeiter aus Uranbergwerken oder aus Stahlwerken befragte, überall bekam er diesselbe Antwort: "Wir verdienen gut, aber was sollen wir mit unserem Geld? Wir finden ja doch keine Frau. Wo sonst sollen wir unsere Freizeit verbringen, die reichlich bemessen ist – als im Pub oder beim Kartenspiel? Selbst mit dem Flugzeug braucht es eine geraume Zeit, um nur in die nächste Stadt zu gelangen, wo man ein Mädel finden könnte. Wenn auch nur für eine Weile..."
Aber es dürfte auch schwer fallen, die Auswüchse derartiger, für manchen jahrelang dauernden Isolierung von der Außenwelt, mitzuerleben, ohne dabei nicht seine fünf Sinne zu verlieren.
Draussen vor der Tür, im Gang der Baracke, hörte er Jack den Irländer herumgröhlen. Seine eingerostete Kehle krächzte stoßweise und abgebrochen in schauerlichem Crescendo ein Wiegenlied aus seiner Kindheit, die wohl an die fünf Jahrzehnte zurückliegen mochte.
Montag würde er wieder still und ruhig seiner Beschäftigung nachgehen, die Signalknöpfe für die Scip zu bedienen. Um dann nächstes Wochenende wiederum die Zeit mit endlosen Räuschen zu überdauern. Und diesem Jack vertraute man sozusagen die Sicherheit ihres Lebens an, kein sonderlich beruhigender Gedanke!
Kaum vermochte er sich auf das Gedruckte zu konzentrieren. Verdammt, es muß etwas geschehen, sagte er sich. Irgendetwas sinnvolles, abgesehen von dem ewigen Lesen oder Briefeschreiben. Man versank ja in Passivität.
Lernen? Englische Spezialausdrücke, Redewendungen aus der Zeitung? Kein schlechter Gedanke. Eifrig griff er nach dem Revolverblättchen, das vor ihm lag, und durchkämmte es systematisch nach nützlichen englischen Ausdrücken. Unruhig rauchte er eine Zigarette nach der anderen. Was sollte das heißen? Unter der Rubrik "Glossen" stand da unter anderem folgendes:
"...Und das junge Mädchen entnahm 'Crybaby' das Taschentuch mit dem eingesticktem Monogramm, worauf..." Wo sollte ein junges Mädchen schon ihr Taschentuch herausnehmen? Wenn nicht aus ihrem Handtäschchen, dann wohl nur aus dem Busenausschnitt, das war doch wohl klar! Er schrieb also in sein Notizbuch: "Crybaby – Busenausschnitt (?)." Bei der nächsten Gelegenheit würde er einem Mädchen, Sheila nennt man das auf original-australisch, schmunzelte er in sich hinein, mit diesen Kenntnissen imponieren. Das nahm er sich jedenfalls vor.

* * *


Das Radio auf Werners Tisch spielte an diesem Sonntag Vormittag zum zweiten Male den Popular Hit "Johnny's coming home." Schmelzend rührselig erklang die Stimme von Johnny Ray. Ein Lied, das Heimweh und Sentimentalität in ihnen hervorrief. Die Stimme des Ansagers meldete sich: "Get y o u r Television Set today. No deposit! It cost's you nothing, absolutely nothing!" Bin nur neugierig, wann die Firma verlauten läßt, daß man noch etwas geschenkt erhält, wenn man ihr erlaubt das Gerät aufzustellen...
Werner ärgerte sich. "Da, lies mal den Artikel über die 'Fortschritte' in der Gastronomie – das ist ja zum Kotzen, wie die Selbstverständlichkeiten als Fortschritt darstellen. Daraus kann man schließen, wie rückständig dieses Land in vielen Belangen noch ist." Jede Zeitungsmeldung gab ihnen Anlaß zu endlosen Diskussionen, machte sie immer vertrauter mit den Problemen des Landes.
Eine Stille sondergleichen lag nachmittags über dem Lager. Willi marschierte in die Waschküche, heizte den Kessel an und begann seine Leibwäsche zu kochen. Sinnend überdachte er diverse Probleme: Bei ein wenig Organisationstalent könnte man das doppelte Arbeitspensum ohne größere Anstrengung schaffen, das wäre doch nur wünschenswert in einem 'Pionierland' wie Australien. Oder fühlen sich diese Männer nicht als Pioniere, sondern nur als Nutznießer eines, nach immensen Anfangsschwierigkeiten erkämpften, materiellen und geistigen Durchschnittslebens? Unseren Europäern drängte sich häufig die Überzeugung auf, daß der Australier lieber in Wellblechhütten träge dahinleben möchte, vom Zeitgeist und dem Weltgeschehen unberührt, um sich nur der paradiesischen Ruhe hinzugeben. Ungeachtet der drohenden Gewitterwolken, die da im Norden aufsteigen...
"Laßt uns doch unseren australischen Lebensgewohnheiten nachgehen. Wir w o l l e n nicht wissen, was außerhalb unserer Insel vor sich geht!"
Wie oft hörten hunderttausende Migrants diese Bemerkung, die ein Vorwurf gegen das unaufhaltsam Neue darstellte, das mit dem Eintreffen jedes neuen Einwandererschiffes in Australien zu wirken begann.

* * *


Einmal kam Willi eine glänzende Idee als die Gang wieder mühselig den zähen Zement-Brei die Wellblechrutsche hinunterbeförderte. Er stieg bis zum Eingußtrichter hoch, nahm einen breiten Besen zu Hand und schwang sich in die Rutsche hinein. Mit einem kurzen, kräftigen Anlauf schob er nun das Betongemisch vor sich her, sein ganzes Körpergewicht als Triebkraft einsetzend. Nahezu mühelos beförderte er den Strom in kurzer Zeit bis zu den Wasserabflußrinnen, die es einzubetonieren galt. Zwanzig Schwerarbeiter entlang der Rutsche rissen die Augen auf, staunten und freuten sich unbändig.
"That's a bloody good idea!" Allein schaffte er nun spielend die Arbeit für zwanzig andere, die inzwischen ihre schmerzenden Wirbelsäulen massieren konnten. Als man an die Demontage der Rutsche schritt, begannen die Leute die Teile auf den Köpfen balancierend, etwa zweihundert Meter den Hang hinunter zu tragen. Ein mühseliges Geschäft, das ungemein erschöpfte. Diesmal schritt Eddi ein, das "Fliegenbein", wie sie ihn wegen seiner spindeldürren Beine getauft hatten. "Komm, Hans", meinte er lässig, "mir stinkt das Bergsteigen. Schließlich stammen wir ja aus dem flachen Norddeutschland. Faß' mal am anderen Ende an!" Sie stellten sich breitbeinig beiderseits des Schienenstranges auf und hielten ein Blechstück schleuderbereit in den Händen. "So, und nun nichts wie runter damit!" Das Blech schlitterte die Schienen entlang und flog dann in weitem Bogen durch die Luft, binnen weniger Minuten beförderten die beiden Originale so sämtliche Tafeln auf diese elegante Weise den Hang hinunter.
Stumm sahen die anderen zu. "Diese verdammten Deutschen sollen zur Hölle fahren!" knurrte einer aus dem Haufen heraus, aber die meisten lachten nur. Jedoch Bluebird blickte finster drein, sein Programm für heute war damit endgültig umgeworfen. Was sollte er mit der Gruppe für den Rest des Tages anfangen? Bluebird, der seine Leute manchmal ohne ersichtlichen Grund antrieb, oft wie ein Verrückter mit den Händen im Dreck wühlte, halbfertiggestellte Arbeiten stehen ließ und dann wiederum tagelang idiotischen Kleinkram von der ganzen Gruppe verrichten ließ. Eine offensichtliche Plan- und Kopflosigkeit herrschte bei sämtlichen Vorhaben. Selbst Werner, der Masseur, der für technische Dinge kaum Verständnis und Interesse besaß, ärgerte sich über die Schildbürgerstreiche. Denn anders ließen sich die Vorkommnisse kaum bezeichnen.

* * *


Eines Abends saß Willi in seiner Bude und blätterte gerade die "Tageszeitung von Gestern" aufmerksam durch, als er plötzlich ein lautes Brummen, wie von einer riesigen Hummel, vernahm. Das Geräusch schien direkt vor dem geschlossenen Fenster zu entstehen. Das ist doch unmöglich, so ein riesiges Insekt kann ja garnicht existieren, sagte er sich und öffnete das Klappfenster. Er blickte auf den Boden, bemerkte jedoch nur die löchrigen Socken, die er am Vortag dort einfach hingeworfen hatte. Nein, das Gebrumm drang eindeutig aus dem hellerleuchteten Fenster der höherliegenden Baracke gegenüber. Ein Flugmodell hing da in einer Ecke, das konnte er deutlich erkennen. Er schlüpfte in seine Schuhe und eilte zu Hans hinauf. So ein Heimlichtuer, hatte ihm nichts von diesen Bastelstunden erzählt!
Er fand den Hamburger inmitten eines Gewirrs von Drähten, Leimtöpfen und halbfertigen Flugzeugteilen aus Balsaholz vor, wie er an einem Miniatur-Dieselmotor hantierte, der mit höchsten Tourenzahlen summte. "Der läuft jetzt aber!" meinte Hans und sperrte die Treibstoffzufuhr ab. Willi inspizierte mit gebührender Bewunderung die fertige Me 109 droben in der Ecke.
Das Gespräch verlagerte sich automatisch auf den vergangenen Krieg, Hans berichtete von den furchtbaren Bombenangriffen auf Hamburg, die er als Flakhelfer erlebt hatte, genauso wie Eddi. "Ich habe mich nach unserer ersten Buschzeit mit einer Australierin verlobt, einer Farmerstochter", erzählte er nun und zeigte Willi ihr Bild. "War 'nen nettes Mädel. Manchmal hat sie zu mir gesagt, ich versteh' dich nicht, wie kannst du nur so roh über diese und jene Dinge Witze reissen? Ich war zum Beispiel kaum berührt, als wir einen Autounfall sahen, und die Leichname der Insassen einigermaßen ramponiert herumlagen. Sie konnte das einfach nicht verstehen. Sollte ich ihr erzählen, daß ich als Junge haufenweise verkohlte Leichen aus verbrannten Ruinen wegräumen mußte?
Ich habe ihr diese Terrorangriffe kurz geschildert. Da hat sie mir vorwurfsvoll entgegnet, auch Sydney hätte schließlich Fliegerangriffe erlebt. Später wurde sie dann ganz still."
Hans verstummte nachdenklich.
"Die Leute hier haben nichts derartiges mitmachen müssen, können aus eigener Anschauung heraus nichts beurteilen und begreifen unsere Denkungsweise daher nur sehr schwer. Man darf ihnen diese Unwissenheit nicht übelnehmen – wenn es auch manchmal verdammt schwer fällt!"

* * *


Am Dienstag geriet Robert vor lauter Freude über den Brief von Joe aus Melbourne aus dem Häuschen. Er kündigte auf der Stelle und verzichtete damit auf die Auszahlung der Stehwoche, da er den richtigen Zeitpunkt versäumt hatte. "Das ist mir egal, ich reise ab!" rief er immer wieder aus. Das Postauto brachte ihn zu Tal, man trauerte ihm nicht allzusehr nach. Monate später traf ihn Willi zufällig in der Hauptstadt. Robert war mit seinem Schicksal sehr zufrieden, er hatte eine Stelle bei einem österreichischen Unternehmen gefunden, Australien fand an ihm einen neuen, zuverlässigen Bürger.
Die übriggebliebenen Fünf (der junge Mann mit dem Steirerhut wohnte in einem anderen Lager) fuhren wieder mit Hans nach Mt. Beauty, oder Little Hollywood, wie sie es nannten. Nach ihrem monatelangen Eremitendasein hoch oben in den Bergen, beeindruckte sie dieses Nest wie eine Großstadt, und die wenigen Frauen und Töchter der biederen Angestellten schienen ihnen begehrenswerter als so mancher Star einer Filmmetropole.
Wie sie so durch die Straßen bummelten, fielen ihnen die Verkaufsstände auf, die da aufgebaut waren. Einige ältere, stark gepuderte Damen, versuchten zu Gunsten einer Wohltätigkeitsveranstaltung armselige Kekse in Pappkartons zu verkaufen. Sie schlenderten daran vorbei, begutachteten das kümmerliche Backwerk und warfen schließlich ein paar Sixpence-Stücke in die Büchse, ohne die Dinger auch nur zu kosten. Die Menschen hier taten ihnen direkt leid, die würden ja vor Neid erblassen, wenn sie die wunderbaren Mehlspeisen zuhause auch nur riechen könnten. "Eigentlich müssen sie ja alle ungemein glücklich sein in ihrer ahnungslosen Einfachheit", meinte einer aus ihrer Mitte. "Das ist es ja gerade, was die Europäer unzufrieden stimmt – wir haben zuviel gesehen und zuviel erlebt. Unbewußt wehren sich die Menschen hier dagegen. Und nicht ganz zu Unrecht", schloß er seine Betrachtungen.
Die Fünf tätigten ihre kleinen Einkäufe und Besorgungen. Am Samstag Vormittag herrschte immer reger Betrieb. Farmer kamen mit ihren Familien von weit her mit dem Auto angerückt, die Geschäfte waren vollgestopft mit Menschen. Während die jungen Männer geduldig warteten, bis sie an die Reihe kamen, gab das Fliegenbein so manche Schnurre zum Besten. Er machte die Greenhorns in seiner Begleitung auf die gleichmäßig freundliche oder auch gleichmäßig gleichgültige Bedienung aller Kunden aufmerksam. "Vor fünf Jahren, hat mir ein Banatdeutscher erzählt, lief das noch wesentlich anders ab. Wenn man sich da in einem Laden auf Deutsch unterhielt, lief man Gefahr angespuckt zu werden, so intensiv hatten die Medien die Verhetzung der Leute betrieben. Die Angestellten weigerten sich die Deutschen zu bedienen, oder sie hatten zu warten, bis alle anderen Kunden abgefertigt waren. Also, merket! Auch in Australien ändern sich die Zeiten. Schließlich haben sie auch hier einsehen müssen, daß die Germans annehmbare Kerle sind. Insbesondere, wenn man sie fair behandelt."
Trotz der netten weibliche Bedienung ärgerte sich Willi im Drogerieladen über die geringe Auswahl an Rohfilmen, über die mindere Qualität der Ausarbeitung und die Tatsache, daß sie hier keine Kontaktabzüge herstellen konnten. Sollte er etwa wie Hugo die Negative nach Hause senden? Ein zwar langsames, aber immerhin lohnendes Verfahren.
Jack der Irländer veranstaltete mit seinen Kumpanen eine der üblichen Sauforgien. Die Lagerverwaltung hatte ihm bereits mehrmals mit Entlassung gedroht, deshalb drosselte er die Lautstärke der Gröhlerei gerade soweit, daß die Barackenbewohner gerade noch einzuschlafen vermochten, wie Willi, der eben nochmals den Kinofilm im Geiste abspulen ließ. Na, die Kumpels hatten vielleicht in kindischer Freude aufgeheult, als der kriegsgefangene amerikanische Offizier die plumpe deutsche Wachmannschaft auf den Leim geführt hatte. "So hat eben jeder von uns seinen Spaß", dachte er noch im Einschlafen. "Aber spannend war 'Stalag 17', das muß man den... lassen..."

* * *


Die ganze Nacht heulte der Sturm mit vehementer Gewalt um das Arbeitslager. Wütend verbiß er sich in den freien Platz zwischen den endlosen Wäldern, stöhnend und ächzend boten ihm die Bauten Widerstand. Mehrmals riß der Wind Willi aus dem Schlaf. Er spürte, wie sich die Baracke bewegte, an den Grundfesten rüttelte und sich unter den Windstößen förmlich zusammenduckte.
Am Morgen war der ganze Spuck wieder vorbei.
Die Fünf bestiegen den Ford, um auf das Hochplateau zu fahren. Oben angekommen, brüllten sie vergnügt in den Sturm, der hier noch immer wütete. Schneeflecken versperrten ihnen zuletzt den Weg, sodaß sie bald in das warme Wageninnere zurückschlüpften, um sogleich umzukehren. "Wißt ihr was? Wir besuchen unsere Arbeitsstätte!" schlug Eddi vor.
Bald gähnte ihnen das Tunnelloch entgegen, der mobile Betonmischturm ragte verlassen gegen den grauen Himmel, ein orangefarbener Tournadozer hockte dort mit mannshohen Reifen wie ein Untier. Aber irgendetwas fehlte in der Szenerie, aber was? "Die Hütte von Bluebird steht nicht mehr da!"
Sie liefen zum Abgrund. Zerschmettert, in kleine Splitter aufgelöst, lagen die Trümmer über den ganzen Hang verstreut. "Hab' ich es euch nicht gesagt?" trumpfte Willi auf. " Die war zu schwach befestigt. Jetzt hat sie der Sturm hinuntergeblasen! Diese Australier!"
Der Panzerschrank mit den Arbeitspapieren, Bauplänen und sonstigem Papierkram, lugte zwischen einigen Gebüschen hervor, gerade dort, wo ein Gebirgsbächlein in die Tiefe schoß. "Jungs, sehen wir doch nach, ob wir nicht ein paar Essenmarken finden können!" schlug Eddi sofort begeistert vor. "Das wäre ein Schlager – ausgesorgt für die nächsten Wochen!"
Aber ihre Hoffnung wurde herbe enttäuscht, alles war sicher im Safe verstaut. Während der Rückfahrt malten sich die jungen Männer fantasievoll die Verwunderung aus, die Bluebird beim ersten Anblick befallen würde.
"Wenn die sich überall so dämlich anstellen, sind sie mit dem Kram hier in weiteren zwanzig Jahren noch nicht fertig", meinte Hans verdrossen. "Oder es fällt von selbst in sich zusammen."

* * *


Knirschend stieß er Spaten auf einen Gesteinsbrocken. "Der geht aber hart rein", bemerkte Willi zu Werner, der schon die längste Zeit auf sein Werkzeug gelehnt herumlungerte. Er wischte sich die Schweißtropfen von der Stirne. "Was schuftest du auch wie ein Wilder! Warte doch, bis der ulkige Bagger wieder in Ordnung gebracht ist. Dann erübrigt sich die ganze Schinderei."
"Ich arbeite nur aus Wut, merk dir das endlich!" fuhr ihn Willi grob an. "Glaubst du, ich weiß nicht, daß die Anstrengungen von uns zehn Idioten nur einen Tropfen auf den heißen Stein darstellen? Vollkommen sinnlos, was wir hier tun. Da pfeife ich auf die gute Bezahlung! Was ich mache, muß Hand und Fuß haben. Der Bagger schafft in zwei Tagen, was wir alle zusammen nicht in drei Wochen hinkriegen." "Paß auf, daß dich nicht ein Buschkoller packt!" warnte Werner grinsend. "Übrigens darfst du Schluß machen, die Teepause beginnt!"
Mit dem Becher in der Hand schlurfte Willi langsam in Richtung Löffelbagger, an dem ein junger Mann in Schlosserkluft hantierte.
"Wann wird der Apparat wieder einsatzfähig sein?" erkundigte er sich auf englisch.
"Du kannst ruhig reden, wie dir der Schnabel gewachsen ist. Ich stamme aus Karlsruhe", gab der junge Mann zu Antwort. Der Mechaniker reinigte die Hände von Schmieröl und begann seine Brötchen zu verschlingen. "Wie gefällt es dir in Australien?" erkundigte sich der Österreicher nach einer Weile.
"Oh, danke, ganz gut. Werde wohl hierbleiben. Habe ein einheimisches Mädchen gefunden und möchte sie heiraten. Das heißt, ich will, sie will – bloß den Eltern gefällt die Idee nicht." "Ja, warum denn nicht?" rief Willi erstaunt aus.
"Ja, haben sie mir erklärt: Bei einem Russen oder Polen weiß man, daß sie niemals mehr in ihre Heimat zurückkehren können. Aber bei euch Deutschen, Österreichern oder Italienern liegt die Sache anders, da gibt es viele Rückwanderer. Und da sollen wir unsere Tochter hergeben?
Außerdem, so argumentierten sie weiter, bist du vielleicht bereits in Deutschland verheiratet, und brauchst nur für die Zwischenzeit eine Frau! Viele der Befürchtungen mögen ja zu Recht bestehen, das gebe ich zu", bestätigte der Karlsruher. "Aber wir lieben uns und werden notfalls warten, bis sie einundzwanzig geworden ist. Die Kleine ist es Wert", bekräftigte er seine Überzeugung.

Nanu, was haben die vor? Die ganze Arbeitspartie wandte einige Stunden später die Köpfe in Richtung Bulldozer, der gerade vorsichtig in den ausgewaschenen und aufgeweichten Einschnitt des Bahndammes hineinfuhr, den es auszubessern galt. Natürlich erreichte er nichts: Die zehn Tonnen schwere Maschine grub sich tiefer und tiefer in den Schlamm ein, die breiten Raupen wirkten wie eine Mischmaschine und verrührten das Erdreich zu einen schmutziggelben Brei, aus dem es kaum mehr ein Entkommen gab.
"Das ist ja zum Verrückt werden, diese hirnlosen Arbeitsmethoden. War vorauszusehen bei dem weichen Boden!" Willi ereiferte sich maßlos. Langsam wurde ihm speiübel, wenn er diesen sinnlosen Einsatz von Mensch und Material beobachtete. Wer hatte ihm vor der Abreise nach Australien geraten, niemals nach Sinn und Zweck einer Anordnung zu fragen, sondern nur brav und bieder Folge zu leisten? Ach ja, der Rückwanderer in Triest. Nun gut, er würde keine Bemerkung fallen lassen. Genaugenommen besaß er überhaupt kein Recht, denen Ratschläge zu erteilen. Laut Lohnliste war er ein Batterman, und sonst nichts. Ein Mann also, der Krampen und Schaufel mit bestmöglichstem Skill zu handhaben hatte, nichts sonst.
Bluebird hatte in der Vergangenheit zwar wiederholt beteuert, er werde sich um bessere Stellen für sie bemühen, bis dato habe er aber noch keine Gelegenheit dazu gefunden.
Das beste wird sein, ich schicke ein schriftliches Ansuchen an die Leitung des Unternehmens. Noch heute Abend, überlegte er. "Do it now! Da steckte einige Lebensweisheit dahinter".

* * *


Hinter Werner Benkes Großspurigkeit verbarg sich im Grunde genommen ein unsicherer und ängstlicher Charakter. Er versuchte bei jeder Gelegenheit, seine Person groß herauszustellen und tat dies immerhin in so geschickter und unaufdringlich-freundschaftlicher Weise, daß ihn die Australier bald als den führenden und brillanten Kopf der kleinen deutschsprachigen Gruppe anerkannte. Wenn ihm dies zweckdienlich erschien, verdrehte er auch ruhig Tatsachen. Hauptsache, es befriedigte seinen Geltungsdrang. Höger erfuhr von ihm, daß in Berlin eine junge Dame auf ein Zeichen von ihm wartete, die er sogar zu heiraten erwog.
"Leider ist Gudrun nicht sehr gebildet. Jedenfalls nicht so, wie ich es mir wünsche", meinte er etwas abschätzig. "In ihrem Job aber hat sie was los. Du weißt ja, daß ich die Absicht habe meinen Beruf zu wechseln und Journalist zu werden, den Heilmasseur hänge ich einfach an den Nagel. Siehst du, und da hege ich gewisse Bedenken. Gudrun paßt dann vielleicht nicht so richtig zu mir. Schließlich hat sie nur eine Berufsschule absolviert. Was meinst du dazu?"
Er zog die Schutzhandschuhe aus, lehnte sich auf seine Schaufel und sah Willi leicht flehenden Blickes an. "Sie will nachkommen. Den ganzen Papierkram für die Auswanderungsbewilligung hat sie bereits beisammen. Ich muß mich sofort entscheiden!"
Forschend sah in der junge Höger an, ausgerechnet bei ihm suchte er einen Rat in dieser Angelegenheit? "Diese Gudrun tut mir jetzt schon leid", schoß es ihm durch den Kopf. "Sie liebt dich also? Sie übt einen Beruf aus, sie gefällt dir - was gibt es da noch zu überlegen? Schließlich bist du auch nicht mehr der Jüngste. Und die Frau wird immer etwas zu dir aufblicken – was immer sie für eine Veranlassung hat bei dir." Werner, dessen Augen bei dieser Bemerkung unruhig zu flackern begannen, konterte sofort die Anspielung.
"Auf meine Arbeitsleistung bei dem Verein bilde ich mir wirklich nicht viel ein. Deswegen wird sie mir schwerlich begeistert die Arme um den Hals werfen. Aber sonst...? Du kennst meine Vergangenheit zu wenig!"
"Aber umso besser deine Gegenwart", dachte Willi.
"Schließlich, falls du glaubst, daß du dir bei den Kanaken für die blindwütige Plackerei einen Orden verdienen wirst, du kleiner Verrückter, irrst du dich gewaltig!" Sein Ton war noch freundschaftlich wohlwollend, doch deutlich konnte man seine Verärgerung heraushören.
"Fangt doch nicht zu streiten an, Stammesbrüder!" spottete Eddi. "Was werden die Aussies von uns denken?"
"Das ist mir Scheißegal!!" schrie ihn Werner daraufhin an. "Ach sieh' doch! Ansonsten bemühst du dich aber sehr um ihre Gunst", stichelte Eddi weiter. "Übrigens, da Willi den Orden – den er zweifellos verdient hat, nicht von den Aussiebrüdern erhält, schlage ich die feierliche Ernennung dieses Bürgers der Zwergrepublik Österreich – äh -durch die zwei geflüchteten Ostdeutschen Kapitalistenlehrlinge Werner Benke und Hugo Prattert zum – äh – 'Stachanow II' vor!"
"Es lebe Stachanow II !!" Brüllend standen die vier Deutschen mit emporgestrecktem Arm da. Die eine Hand zur Faust geballt, mit der anderen das Arbeitsgerät umkrampfend, imitierten sie vor den verblüfften und verständnislos dreinblickenden Augen der übrigen Kumpel eherne Monumente marxistischer Arbeitersolidarität. Die Australier starrten Willi Höger wie den Heiligen Geist an, sie begriffen nur, daß er im Mittelpunkt einer Ehrung stand, deren Sinn ihnen leider völlig verborgen blieb.
"Genossen! Ich danke Euch allen bewegten Herzens für die mir erwiesene Ehre, und kann Euch nur versichern, daß ich alles in meinen Kräften stehende tun werde, um auch dieses Überbleibsel dekadent-kapitalistischer Ausbeutermethoden - äh – baldigst in ein Paradies der Werktätigen umzuwandeln. Als ersten Schritt in diese Richtung fordere ich die Abschaffung des Langen Wochenendes!!"
"Hurra, hurra!!" johlten seine Kollegen los.
Bluebird starrte bereits wütend herüber, so nahmen sie alle wieder eine lockere Grundhaltung ein und schaufelten gemächlich weiter, um nun in völlig verändertem Tonfall die Unterhaltung weiterzuführen. Nur Stan, der Pole, grinste über das ganze Gesicht, und auch Paisano hatte mitbekommen, daß die Germans einfach gute Miene zum bösen Spiel machten.
"Crazy Germans", brummte ein Aussie in den Bart hinein und deutete gegen die Stirne. "Verrückt in ihrer Arbeitswut, und noch verrückter, wenn ihnen zu Wohl zu Mute ist!"
"Laß gut sein, Kanake", murmelte Werner wütend. "Lieber verrückt leben, als so stumpfsinnig dahinzuvegetieren!"
Ein unbeteiligter Beobachter hätte die erheiternde Tatsache registriert, daß nicht die Minderheit der Europäer von den Australiern die Umgangsformen, ja selbst die Sprache annahmen, sondern eher das Gegenteil eintrat. Am meisten überrascht davon zeigten sich die Australier selbst. Eine einseitige Form der Assimilierung fand jedenfalls nicht statt...damals, hoch droben in den australischen Alpen.

* * *


Endlich trafen die langersehnten Briefe ein. Das Brautpaar Finze berichtete von ihrer Anstellung in dem Provinzspital.
"Das Personal besteht aus Italienern, Deutschen, Slowenen, Polen und Australiern, die uns nicht besonders zugetan sind", schrieb Rosa Egger, die den Schreibkram verrichtete, da ihr Hubert in dem Punkt etwas schwerfällig war. Sie setzte fort: "Aber wir machen uns nichts draus. Wir verrichten unsere Arbeit und sind froh, wenn der Zahltag kommt. Die australischen Vorgesetzten sind sehr nett und beaufsichtigen uns kaum. Wir werden uns freuen, von Deinem Treiben wieder zu hören..."
Interessant war auch das Schreiben von Erwin, dem Textiltechniker, den es auf eine einsame Insel vor Tasmanien verschlagen hatte.
"Also arbeitest auch Du mit Krampen und Schaufel", schrieb er. "Nicht das angenehmste, aber was soll man tun? Mit den guten Zeiten, wie wir sie noch auf dem Schiff erträumten, ist es vorbei. Seit ich hier bin, war es mir nicht möglich einen Friseur zu finden. So laufe ich schon mit einer Mähne herum wie weiland Robinson Crusoe. Nebenbei, wenn der Job besser bezahlt würde, bliebe ich gerne länger auf der Insel. Aber so werde ich bald nach Melbourne übersiedeln..."
Der dritte Brief, Willi traute kaum seinen Augen, stammte von Beryl. "Lieber Mr.Hoeger," lautete die Anrede, "ich danke Ihnen sehr für Ihr Schreiben. Ich war überrascht, es zu erhalten, aber nichtsdestoweniger war es eine freudige Überraschung. Ich hätte wirklich nicht gedacht, daß ich bei Ihnen irgendeinen besonderen Eindruck hinterlassen habe."
Na, da hast du es ja wieder, sinnierte der junge Mann vor sich hin. Du hältst mit deinen Gefühlen viel zu sehr hinter dem Berg. Begierig verschlang er jede Zeile: sie erkundigte sich über die Arbeitsbedingungen, erzählte ihm von interessanten Filmen und sogar über ihre nächsten Zukunftspläne. Am meisten berührte ihn der letzte Absatz, der sehr private Gedanken dieser tollen Frau enthielt.
Das offensichtliche Vertrauen, das ihm entgegengebracht wurde, verwirrte ihn ein wenig:
"Ich fühle mich gegenwärtig sehr rastlos und vom Leben ziemlich gelangweilt. Am liebsten würde ich einen anderen Teil der Welt aufsuchen..." Sie schloß mit der Bemerkung, daß sie sich über seinen Besuch sehr freuen würde.
"Fast noch ein ganzer Monat bis zu dem vorgeschlagenen Termin! Wovon werde ich in der langen Zeit träumen", überlegte er resigniert. Er versuchte sich ihre Figur vorzustellen, die Art wie sie sich kleidete. Ob sie wohl manchmal ein CafeUbesuchte, die Blicke der Männer gelassen auf sich ruhen ließ, und heimlich und verstohlen einen Kamm aus dem Handtäschchen nahm, um damit durch die roten Haare zu streifen? Er wußte so wenig über sie Bescheid. Oder ob sie wohl mit übergeschlagenen Beinen, den eleganten Rock bis knapp über die Knie gezogen im Klubsessel lehnte, und mit zwei Fingern vornehm und zurückhaltend die glimmende Zigarette zum Kirschenmund führte? Verflucht, wie lange habe ich soetwas nicht mehr gesehen? Und doch sind es nur zwei Monate, die ich in dem Lager verbringe.
Hier unter diesen Baraber-Typen gab es nichts Feines, Vornehmes zu finden. Alles war klobig, voll Dreck, zerrissen. Viele heruntergekommen zu einer grotesken Parodie von Männern. Jetzt verstand er, warum man sich Pinup-Girls an die Wand nagelte: Zarte Frauen und Mädchen in duftigen, leichten Nylonhemdchen, die mit strahlendem Lächeln durch die weißen, vollkommen gewachsenen Zähne, verführerisch die Netzstrümpfe über die jugendglatten Beine ziehen. Nein, es war nicht das rein Erotische an diesen Bildern. Diese Fotos von herrlichen Geschöpfen in adretter Aufmachung zeigten den Männern einfach, daß außerhalb ihrer trostlos eintönigen Welt der betrunkenen Quartalsäufer, die mit rotumränderten, glasigen Augen und brummigen Schädel ihr "bloody irgendetwas" gröhlten, noch andere Wesen existierten, die man mit Freude betrachtete – und mit Verlangen.
Hans hatte ihnen wieder eine längere Fahrt mit dem Wagen in Aussicht gestellt. "Aber diesmal wird gesoffen, daß sich die angesammelte Spannung lösen kann", nahm sich der junge Mann vor. Unbewußt, langsam, verfiel er in den gleichen Trott, den nur die stabilsten Charaktere in diesem Land widerstanden: durch unmäßiges Trinken der Unwirtlichkeit der Umgebung und der Ruhelosigkeit des Herzens zu entfliehen.

* * *


Die zwei Tage vor dem Long Weekend verregnete es buchstäblich. Die Arbeitspartien hockten trübselig in den Bauhütten und starrten auf die Nebelfetzen, die von den Wäldern aufstiegen. Unsere fünf Helden hatten sich einer spannenden Unterhaltung zugewandt, die sie stundenlang in Atem hielt: einem Streichhölzchenspiel, bei dem jeder die Anzahl der Hölzer in der geschlossenen Hand des jeweiligen Gegners erraten mußte. Der Sieger durfte den ganzen Einsatz einstreifen. Der "Kampf" nahm zunehmend "nationale" Formen an, denn die beiden Österreicher – Willi und der Mann mit dem Steirerhut – erwiesen sich als hartnäckige Spielgegner. Erst als die ersten Schneeflocken zaghaft zu Boden sanken, unterbrachen die Burschen den Wettkampf. Oben beim Tunnelportal, hundert Meter höher, schneite es wesentlich heftiger, wie sie von hier aus feststellen konnten. Vor der Abfahrt ins Lager begannen die sechs Europäern noch eine lustige Schneeballschlacht. Bis Bluebird eingriff, der die zunehmend autonome Haltung dieser Clique mit steigendem, wenn auch verhaltenem Unwillen verfolgte.
"Was willst du denn", stellte ihn Hans zur Rede, "wir malochen zur Zeit ja doch nicht. Laß uns wenigstens die kleine Freude..."
Sie konnten den anderen Kumpels an der Nasenspitze ansehen, daß die sich gerne an dem Bombardement beteiligt hätten, jedoch nicht getrauten.
Tief unten im Tal lag Mt. Beauty im Sonnenlicht. Von hier aus sah das Städtchen wie ein weitentfernter Wunschtraum aus.

* * *


Eddi das Fliegenbein ließ verlauten: "Diesmal alles in Schale werfen!" Als Hans am Freitagmorgen sorgfältig rasiert und gekämmt, in nagelneuem Anzug mit leuchtend blauweißer Krawatte und glänzend gewichsten Lackschuhen die Kantine betrat, schauten die eifrig Kauenden so entgeistert, so perplex drein, als sei ihnen ein Phantom erschienen. Niemals zuvor hatten sie Hans anders als in seiner wüsten Texas-Uniform erblickt. Der Hamburger tat so, als bemerke er die Blicke garnicht und setzte sich behäbig hin, um den Kaffee auszuschlürfen. Man konnte am kleinen Finger seiner rechten Hand einen Siegelring blitzen sehen, der im Wettstreit mit einer echt vergoldeten Krawattennadel lag.
"Mensch, Hans! Was ist in dich gefahren? Du hast dir ja sogar die Fingernägel geputzt!" rief Eddi in scheinheiliger Überraschung aus, als er sich neben Hans niederließ und vorsichtig den heißen Tee aus dem Aluminiumhäferl schluckte. "Jojo, heut' werden wir ganz bös' ausfahren", meinte der drauf. "Wir wollen den langhaarigen Dunnerschlägen doch lange in Erinnerung bleiben, nicht wahr?" Schlagfertig gab es ihm Eddi nocheinmal: "Da hättest du besser deine Cowboy-Kluft anbehalten sollen. Soetwas bekommt man nicht alle Tage zu Gesicht!"
Mit fünfzig Meilen pro Stunde rasten sie ins nächstgrößere Kaff. Zwei Mann begaben sich zum Friseur, der ihnen sogleich den australischen Einheitshaarschnitt verpasste: Blumentopf aufgesetzt und die überstehenden Haare abgeschnitten. Im gleichen Laden deckten sie sich auch mit Zigaretten ein.
Die restlichen Jungs waren inzwischen in einen Pub geeilt und verfrachteten vorsorglich einen Karton Bier im Gepäcksraum des Wagens. Anschließend besorgten sie ihre Einkäufe, wobei sie merkten, wie billig sie im Lager lebten. Allein, wenn sie die Lebensmittelpreise verglichen. "Aber wir gehen nur ganz einfach essen, Hans!" Werner bangte bereits um seine Moneten. "Tja, am besten ist ddie Counter Lounch im Albion Hotel – nur zwei Bob, meine Herren! Und dazu noch als kleine Überraschung - 'ne mollige Berlinerin spielt dort die Barmaid! Vielleicht läßt sich etwas ganz Spezielles für einige von uns arrangieren..." Dieses Lockangebot führte zwar zu keinem konkreten Ergebnis, aber das Essen erwies sich tatsächlich als preiswert und gut. Ja, und dann tranken die Fünf mal ganz bös, wie Hans die Situation beurteilte. Bier, Schnaps, Liköre, wie es ihnen gerade einfiel.
Schwankend verließen sie das Lokal, wehmütig blickte Werner nochmals zu Berlinerin zurück. Er hatte es versucht, war aber abgeblitzt. "Ist ja klar", jammerte er, "zu fünft werden wir in Punkto Liebe nie etwas erreichen." Sogar Hugo der Asket enthüllte eine beachtliche Neigung zu alkoholischen Getränken. Er schleppte auch bei diesem Ausflug seine komplette Fotoausrüstung mit sich herum, die ihm so manchen leisen Spott seiner Kollegen einbrachte. Im ganzen und großen wußten sie nicht allzuviel anzufangen, so rasten sie gegen Abend wieder Mt. Beauty zu. Auf dem Wege dorthin gelangten sie zu einen hellerleuchteten Pub, wo an die dreissig Fahrzeuge parkten.
"Da muß bös' was los sein, Jungs. Ich denke, hier liegen wir richtig. Endlich können wir tanzen gehen!" dachte Hans jedenfalls. Er stieg auf einen Mauervorsprung und spähte ins Innere, die anderen folgten seinem Beispiel.
Drinnen lungerten ungefähr hundert Männer herum – alle sternhagelbesoffen. Arg bedrängt von der Meute, hockten dazwischen sechs Frauen. Sie zählten nochmals – ganze sechs Vertreterinnen des weiblichen Geschlechtes. Einer ihrer australischen Arbeitskollegen lehnte draussen an der Hausmauer, anscheinend war ihm speiübel. Das Licht aus dem Fenster fiel quer über Hans's zivilisiertes Gesicht. "You have had a shave!" "Du hast dich rasiert!" das war alles, was er hervorbrachte, eine erschütternde Neuigkeit auch für ihn. Dann sackte er in die Knie und begann selig zu schnarchen. Ein armer, verlassener Junge.
Ein Österreicher wankte aus dem Dunkel hervor, wo er gerade Wasser gelassen hatte. Eine meterlange Alkoholfahne wehte ihm voraus. "Nichts zum pudern – nur Bier!" Eine Feststellung, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ. Die Fünf hauten ab.
In Mt. Beauty angekommen, stellten sie fest, daß heute kein Film lief. Tanz war für 9 p.m. angesagt, jetzt war es sieben Uhr dreissig. Solange herumlungern? Nein, rasch hinauf ins Lager. Wozu hatten sie schließlich das Bier gekauft?
Der Wagen stieg im Scheinwerferlicht die Kurven hoch. Gespenstisch standen die Baumstämme im tastenden Schein der Lampen wie eine Mauer vor ihnen.
"Da haben wir uns also vergeblich gefreut, viel war nicht los!" unterbrach Hugo die Stille im Wagen.
"Mein lieber Hugo", begann Eddi, ungewöhnlich ernst. "Ihr Grünschnäbel habt es hier so schön, wie ihr euch das garnicht vorstellen könnt. Wir beide, Hans und ich, fingen vor vier Jahren bei der Railway an. Nicht wahlweise, gezwungenerweise, mein Freund. Zwei Jahre lang, wie es im Arbeitsvertrag stand. Ihr könnt jederzeit von hier abhauen, soferne ihr erst mal die Schneid dazu aufbringt..."
"Was heißt hier Schneid? Vorerst benötigen wir Geld", unterbrach ihn Willi wütend, jedoch Eddi ging nicht darauf ein. "Tja, und dann schufteten wir, mein Lieber", meldete sich nun Hans. "Nicht arbeiten, regelrecht schuften, sowie die Galeerensträflinge vor zweihundert Jahren!"
"Könnt ihr euch das vorstellen – Schwellen tragen bei 110 Grad Fahrenheit? Wenn dir der Schweiß in Sturzbächen die Haut runterrinnt? Nee, das könnt ihr nicht." Fassungslos hörten die Burschen, wie ihr sonst so lustiger und freundlicher Eddi immer erregter loslegte. "Bei jeder Kleinigkeit fluchten die Männer zum Gotterbarmen, bei der geringsten Ungeschicklichkeit eines Kameraden brüllte man den Kerl an und stellte ihn wütend zu Rede.
Und der Boß? Der ließ kein Sterbenswörtchen dazu verlauten, er wußte, er würde dafür gesteinigt. Und Steine gab's genug. Die Schienen durfte man nur mit Handschuhen anfassen, man hätte sich sonst die Finger verbrannt.
Und der Staub dazu, der überall in diesem Lande herumfliegt - es war die reinste Hölle!
Abends, nach dem Essen am Lagerfeuer, löste sich diese unmenschliche Anspannung allmählich. Am leichtesten wurde uns, wenn wir auf die Arbeit geflucht hatten, auf Australien, und uns gefragt hatten, warum wir überhaupt in dieses gottverdammte Land gekommen waren. Das Zusammenleben wurde uns überhaupt nur mehr durch dauernde, gegenseitige Beschimpfungen erträglicher.
Drum Jungs, wenn euch etwas nicht paßt – brüllt es euch gegenseitig mal kräftig in die Ohren, dann geht's gleich wieder. Das ist mein Ratschlag, die Erfahrung Fliegeneddis aus Hamburg. Nicht wahr, Hans?" Und er haute den am Lenkrad Sitzenden auf die Schulter, daß der zusammenzuckte. "Jojo", meinte Hans, einfach "jojo".
"Aber weil ihr so brav seid, erzähle ich euch noch einige Buschgeschichten", nahm Eddi nach einer Weile seinen Monolog wieder auf. Langsam wurde ihnen fad, bis zum Camp lag noch eine gute Stunde Weges vor ihnen. Stellenweise bedeckte Neuschnee die Straße, Hans war gezwungen, langsamer zu fahren.
"Da hatten wir einen Australier, etwa 38 Jahre alt, in unserer Gang", begann Eddi seine Erzählungen. "Die ganze Woche über erwies er sich als nüchterner, fleissiger und zuverlässiger Kamerad. Aber über Samstag – Sonntag verkroch er sich in sein Zelt, sperrte sich, soweit dies ging, von der Umwelt ab. Vorher ließ er sich gewöhnlich durch 'nen Taxi etwa 20 Flaschen Wein, zwei Kisten Bier und einige hundert Zigaretten holen. Jedesmal passierte das gleiche: Nahezu allein soff er den vielen Alkohol aus und rauchte dazu einen Glimmstengel nach dem anderen. Wenn er dann vollgeladen war, brüllte er wie ein Stier, tobte in der Gegend herum und ging schließlich mit dem Messer auf uns los – bis er weinend zusammenbrach. Seine Geschichte ist ebenso traurig wie dramatisch.
Als Soldat im zweiten Weltkrieg in Afrika kämpfend, kehrte er eines Tages in die Heimat zurück, nachdem er fast drei Jahre von zuhause weggewesen war. Seine Frau erwartete ihn damals am Bahnhof – und lief vor seinen entsetzten Augen in einen Gegenzug. Sie war sofort tot.
Damals hat sein Buschleben begonnen..."
Es war auffallend ruhig geworden im Wagen. Nur das dunkle Brummen des Motors erfüllte das Innere. Tiefe menschliche Anteilnahme hatte in den Worten ihres lustigen Eddi mitgeschwungen.
Solche menschlichen Tragödien waren Willi früher nie zu Ohren gekommen. Gelegentlich las man soetwas in der Zeitung, oder ein Gerichtssaalbericht enthüllte ähnliche Konflikte. Aber nie zuvor war er mit Augenzeugen eines solchen Dramas in Kontakt gewesen. "Und nun stecke ich mitten drinnen im eigenen Erleben", dachte er.
"Wer wird je darüber berichten, wer wird erzählen, wie die Gegenwart in Australien für Zehntausende von Einwanderern aussieht?
Es hat sich alles grundlegend geändert, ich muß mich daran gewöhnen". Die alte Schwermut überfiel ihn plötzlich mit drückender Gewalt, drohte ihn in einen Strudel hinabzureißen, aus den er erst nach Tagen wieder emportauchen würde. Es war doch alles sinnlos, was hier geschah, was er hier tat. "W a s, zum Teufels Namen, habe ich unter all' diesen Typen verloren...?"
"Damit ihr wieder etwas happier dreinseht, etwas erfreulicheres, eine pikante Story." Eddi drehte sich auf dem Beifahrersitz neben Hans halb zu den dreien im Fond um und begann zu erzählen:
"Einmal schlugen wir unsere Zelte in der Nähe einer Mission auf. Eingeborenenmädchen wurden dort in einer Schule erzogen und zu sonst nützlichen Dingen angehalten. Nachts, wenn wir heimkehrten, leuchteten uns die Brüste der fünfzehnjährigen Gören aus unseren Pfühlen entgegen, schwarz wie Ebenholz. Bei Einbruch der Dunkelheit stahlen sich regelmäßig einige aus der Mission weg, um uns zu beglücken, waren recht nette Dinger. Wünschte, es wären einige hier im Lager. Natürlich ist eine derartige Verbindung streng verboten, aber Australierinnen waren natürlich weit und breit keine da... Außerdem, so billig hätten's die sicherlich nicht gemacht!"
Im Wagen wieherte es laut auf. Eddi schmunzelte nur.
So gelangten sie nach Howman's Gap. Einer der Kumpel hatte Willis Post abgeholt, auch ein Brief seiner Mutter war dabei: "Ich freue mich, daß Ihr da unten regelmäßig Tee trinkt", schrieb sie. "Setze nur immer Deinen Hut auf, damit Du dich nicht erkältest. In Australien weht ja ständig ein Lüftchen."
"Was ihr da in Europa alles über Australien wißt, ist ja dramatisch", dachte er zynisch. Doch in dieser Hinsicht mußte sich Mama keine Sorgen machen, für sein leibliches Wohl war gut vorgesorgt.

* * *


Der Samstag Vormittag verging wie üblich – mit Zeitungslesen. Dann bereitete sich Willi intensiv auf das bevorstehende Treffen mit Beryl vor und studierte seitenweise moderne amerikanische Literatur, an Hand von Kurzgeschichten der Autoren Scott G. Fitzgerald, E. Hemingway, W. Faulkner und anderen. Sie hatte ihm brieflich von ihren Lieblingsschriftstellern vorgeschwärmt, und er wollte ihr doch mit seinen Kenntnissen imponieren. Sorgfältig malte er sich die Dinge aus, die sie seiner Ansicht nach für ihn einnehmen konnten. Am Abend gab es eine kleine Sensation, als ihm Werner ein Telegramm unter die Nase hielt. Es war in Berlin aufgegeben worden und enthielt nur vier Worte: "ich liebe dich stopp gudrun stopp."
"Mensch, ist das ein verrücktes Ding", wiederholte Werner mehrmals leise. "Weißt du, ich habe in meinem letzten Brief an sie einiges Mißtrauen in ihre Treue angedeutet. Mir sind da durch meine Mutter verschiedene Dinge zu Ohren gekommem, die mich stutzig gemacht haben. Das Telegramm hat bestimmt drei Pfund gekostet, wenn nicht mehr."
Willi waren Werners qualvolle Zweifel wohlbekannt. Immer ging es um die Frage, soll ich sie nachkommen lassen, soll ich nicht? "Du hast ja selbst erfahren, wie es auf den Schiffen zugeht. Und die Hand möchte ich für sie auch nicht gerade ins Feuer legen. Das soll nicht heißen, daß sie leicht ist, aber viel zu berechnend!" Werner kramte unter den zahlreichen Briefen. Von allen Lagerinsassen empfing er bei weiten die meisten. Das war weiter nicht verwunderlich, korrespondierte er doch gleichzeitig mit drei Freundinnen. Offensichtlich war Gudrun jedoch klare Favoritin.
"Lies selbst! Hier die Stelle etwa." Die Buchstaben standen klar und deutlich vor Willis Auge, nichts deutete auf Unklarheiten hin, das gesamte Schriftbild lag wie aus einem Guß da. Beim Überfliegen der Zeilen gewann er den Eindruck, daß die Schreiberin mit jedem hingesetzten Wort genau wußte, was sie damit erreichen wollte. Und auch nicht die geringste Absicht hegte, irgendetwas zu verschleiern. Er zögerte seine Antwort hinaus. "Wenn du, Werner, auf meine freimütige Äusserung Wert legst – auch ich gewinne den Eindruck, daß sie, sagen wir es mal so, zumindest sehr zielstrebig ist."
Er setzte einen Augenblick aus, sah Werner an, dessen blauviolett durchäderten Lider nervös zuckten, und bemerkte, wie unsicher und erwartungsvoll er auf einen Schlußsatz wartete: "Was ja nicht unbedingt einen Nachteil darstellt!" Erleichtert entspannte sich Werners Haltung. Irgend eine Entscheidung wollte er hören, egal welche. "Du hast recht", antwortete er, sichtlich gelöster. "Ich denke, ich werde ihr schreiben: Sie soll die Koffer packen!"

* * *


Es war schauerlich, wie ungeschickt sich die Leute bei der Arbeit anstellten. Bluebird hatte offensichtlich keine Ahnung, was am vordringlichsten zu erledigen war. Und alles wurde nur zusammmengeschleudert und so dem baldigen Verfall preisgegeben. Da die Schienen mangelhaft ausgerichtet worden waren, entgleiste zehn Minuten vor Schichtschluß die Scip, der Schrägaufzug. Einer der Kumpels hatte Stan auf die potentielle Gefahr aufmerksam gemacht, der als leading hand eine gewisse Verantwortung trug, aber man ließ es dabei bewenden. Als der Wagen aus dem Geleise hüpfte, rannte Bluebird nervös herum, alle anderen krabbelten wie aufgescheuchte Ameisen aus dem Vehikel.
Neuerdings wurden die Verschalungsarbeiten von einem älteren, klugen Briten geleitet. Die Europäer freuten sich insgeheim über das gespannte Verhältnis zwischen den beiden dominierenden englischsprachigen Stämmen. Am Anfang ihrer Tätigkeit gingen sie davon aus, daß sich Aussies und Pommies doch gut verstehen würden, war doch England das Mutterland Australiens. Die eingewanderten Tommies glaubten auf gewisse ideelle Rechte pochen zu können und beanspruchten für sich natürlich von vorneherein eine bessere beziehungsweise bevorzugte Behandlung. Was zwischen den Australiern und anderen europäischen Einwanderern eine Frage des großmütig erteilten "Fair-go", der gelegentlich zugebilligten, gleichwertigen Chance war – lief bei den Engländern auf einen reinen Kompetenzstreit hinaus. Genauer gesagt, ging es nur darum, wer von den beiden Gruppen mehr zu sagen hatte, die Australier oder die Engländer. Leider wurde diese Meinung von den Aussies nicht geteilt, die sich natürlich nicht bevormunden lassen wollten, weder von den Europäern, noch von den Engländern.
Bert, der Engländer, hegte leider keine besonders große Achtung vor den Aussies, sodaß er ebensooft wie die übrigen Migrants mit Schimpfworten bedacht wurde – in seinem Falle also mit Pommy. Erstaunlich fanden die jungen Männer nur, daß selbst die Königin von England mit denselben obszönen Ausdrücken bedacht wurde wie sie selbst. Ihre australischen Kollegen schienen weder vor sich selbst noch vor anderen irgend eine Achtung zu empfinden.
Wegen der vielen Schlechtwettertage fand man Willi nun öfter in Gesellschaft von Bert, wobei die beiden im Lager lange Diskussionen führten, deren Inhalt sie im Streifzug durch die ganze Welt führten. Berts Kenntnisse der deutschen Geschichte überraschten Werner und Willi immer aufs neue. Er erklärte den beiden, daß er sich als alter Sozialdemokrat eben besonders für den Werdegang der deutschen Arbeiterbewegung interessiert habe, wobei er unvermeidlich auch die historische Entwicklung mitbekam. Der Österreicher gestand ihm, daß er da wenig mitreden könne. Werner dagegen, mit seinen journalistischen Ambitionen, durfte hier sein Licht leuchten lassen.
Um Berts Interesse zu wecken, das sich naturgemäß mehr Werner zuwandte, dessen Neigung in Richtung Politik er zu würdigen verstand, überlegte Willi, ob er Bert von einer Spionagegeschichte berichten solle, die er seit längerem mit sich herumtrug. Er unterließ es jedoch, da ihm ohnehin niemand geglaubt hätte.
Ein Bekannter, Ingenieur von Beruf, hatte Willi einmal bei einem feuchtfröhlichen Heurigen anvertraut, daß ihm einige Spionageringe in Wien das Leben sauer machten. Man bot ihm Unsummen (und drohte ihm gleichzeitig mit Mord), wenn er nähere Angaben über die Forschungsarbeiten der Sowjetrussen auf dem Gebiet der Raketentechnik machen würde. Während der Kriegsgefangenschaft hatte er als einfacher Arbeiter aufgrund seiner Kombinationsgabe, seiner technischen Kenntnisse und den Erzählungen seiner Leidensgenossen, einen gewissen Einblick in die Triebwerksversuche der Sowjets bekommen. Es war ihm damals vorteilhafter erschienen, seine Ingenieurausbildung geheim zu halten – und so war ihm tatsächlich gelungen, dem Vaterland aller Werktätigen nach wenigen Jahren mehr oder wenig unbeschadet zu entkommen. Die Erzählungen dieses Mannes erschienen Willi damals unglaublich, der da zum Beispiel von Hunden, die in kleine Kammern gesperrt in große Höhen hinaufgeschossen worden seien, berichtete. Nach seiner Rückkehr aus der Gefangenschaft 1948 machte Ingenieur M. dann darüber eine vertrauliche Mitteilung an einen britischen Major von der MJ 5, der nur mitleidig gelangweilt gelächelt habe. Allerdings, einige Jahre später, als die Angelegenheit aktueller wurde, rannten ihm die Amerikaner, die Engländer und Franzosen die Türe ein, um Details zu erfahren. Da aber hatte M. bereits eine sichere Anstellung im Staatsdienst gefunden und war nicht mehr bereit, seine Erfahrungen bei den Sowjets weiterzugeben.
Willi war der Meinung, daß dies Bert sicherlich auch interessieren würde, aber er unterließ es, davon zu erzählen, man hätte ihn ja doch nur als kleinen Wichtigmacher betrachtet.
Ungefähr ein Jahr später sah er dann mit eigenen Augen die majestätisch glänzende Kugel des ersten Erdsatelliten über den nachtdunklen Himmel Australiens ziehen...Made in USSR.
Doch vorläufig ärgerte er sich über Werner, ärgerte er sich über diesen "Idiotenklub", wie er das Unternehmen nannte, und fühlte, wie langsam die Zeit heranreifte, wo er aus dieser Enge ausbrechen würde.

* * *


Die übrigen Österreicher, mit denen er in Verbindung stand, werkten nun im Tunnel. Sie verdienten dabei 49 Pfund in vierzehn Tagen, was gegen die 29 Pfund, die er erhielt, natürlich einen großen Unterschied bedeutete. Er überlegte hin und her, ob er sich nicht auch für die Arbeit unter Tage melden sollte, aber wenn er die erschöpften und bleichen Gesichter der aus dem Tunnel wankenden Männer sah, beschloß Willi doch, an der frischen Luft zu bleiben und vorerst auf das Mehreinkommen zu verzichten.
Eines Tages, es war knapp vor fünf Uhr, die Busse warteten bereits auf die Tunnelpartie, ließ ein dumpfer Schlag das Berginnere erzittern. Aus dem Portal knallte ein leichtes Explosionsgeräusch heraus, sonst war nichts außergewöhnliches zu bemerken. Doch dann kamen keuchend und gestikulierend einige Mann herausgelaufen und bellten unzusammenhängende Wortfetzen in die Luft. Den wartenden Kumpeln im Autobus krampfte es die Kehle zusammen. Allmählich strömten mehr und mehr Arbeiter aus dem dunklen Loch im Berg heraus und überbrachten die traurige Nachricht: Das herabstürzende Gestein hatte einem Österreicher ein Bein abgeknickt, und das schlimmste, ein Deutscher liege noch unter den Schuttmassen. Eine Sprengladung war durch einen unglücklichen Zufall zu früh ausgelöst worden und hatte so die Katastrophe verursacht.
Am Abend noch erfuhren sie die ganze Wahrheit: Der Deutsche hatte nur noch tot geborgen werden können. Die Augen seien weit geöffnet gewesen, als man ihn freigelegt hatte. Die blonden Haare hingen ihm in das völlig unversehrte, leicht lächelnde Gesicht: Es hatte Klaus erwischt, den Berliner, der so furchtbar gerne teure Leberpasteten gegessen hatte...

* * *


Am Wochenende langte endlich das gelbe Päckchen mit den Farbdias ein, auf die Willi schon so lange und so sehnsüchtig gewartet hatte. Zusammen mit Hugo, dem Meisterfotografen, beguckte er sie eingehend. Der Deutsche äusserte kein Wort dazu, er war einfach platt. "Bis jetzt habe ich auf Schwarz-weiß geschworen", meinte er schließlich, "jetzt werde ich nur mehr farbig knipsen."
"Paß auf, Sonntag nachts, nach dem Hauptfilm, zeige ich den Kumpels im Kino die Dias", begeisterte sich Willi. "Ich spreche heute noch mit dem Filmvorführer. Das ist ein prima Kerl, der besorgt mir bestimmt einen Projektor!"
Die Nacht von Freitag auf Samstag schlug alles bisher Erlebte. Jack der Irländer und sein Kumpan "Genosse Paradiesvogel", wie ihn Werner wegen seines grotesken Aussehens getauft hatte, zechten diesmal bis zum Morgengrauen. Paradiesvogel oder Spatzenkopf, war ein dürrer Australier, auf dessen mageren, runzeligen Hals ein auffallend kleiner, mumienartiger Kopf saß, dessen dürftiges Haupthaar am Hinterkopf in kleinen Büscheln wegstand. Unglücklich verheiratet, bildete er mit einigen Schicksalsgenossen den harten Kern einer Trinkergemeinschaft, von der ein ganzer Pub hätte existieren können. "Diese verdammte Sau", hatte er einmal in der Kantine gebrüllt, "versucht mir zehn Pfund pro Woche abzuknöpfen! Aber ich werde ihr zeigen, wer der Herr im Haus ist!" Er ballte die Faust am zittrigen Arm und schrie: "Ich werde es ihr zeigen – ich schneide ihr einfach die Gurgel ab, so!" Mit einer ruckartigen Bewegung des Armes hatte er den Akt zu demonstrieren versucht und war zufolge seiner Trunkenheit aus dem Gleichgewicht gekommen und zu Boden gestürzt. Das nachfolgende Gelächter der Kumpane hätte beinahe das Dach zum Einsturz gebracht...
Und Jack?
Jack war ein wohlerzogener und gesitteter Mensch, solange er keinen Alkohol roch. "Jetzt gebe ich das Saufen auf, du wirst sehen!" hatte er Willi noch vor einigen Tagen versichert. "Ich brauche dringend eine neue Hose, aber bis jetzt, also in drei Jahren, ist es mir in dem bloody Camp nicht gelungen, das Geld dafür zusammenzubekommen. Aber paß auf! Dieses Wochenende trinke ich nicht." Wie oft schon mag er sich das geschworen haben, wie oft schon war er von der Lagerleitung verwarnt worden – es half alles nichts.
Nun gröhlten sie wieder los in seiner Bude, brüllten auf wie Ochsen, stampften mit den Füßen am hölzernen Barackengang, daß die Wände zitterten. Voller Empörung öffnete Willi seine Türe und blickte in den Gang hinaus, der im Halbdunkel lag und nur durch niedrig angebrachte Notlichter nur dürftig beleuchtet wurde.
Wie Hunde krochen einige Gestalten am Fußboden herum, zogen ihre Kleider im Staub hinter sich her, bellten und winselten dabei jämmerlich wie Hunde.
Voll Grauen warf der junge Mann die Tür zu, aber er konnte nicht einschlafen, das Konzert draussen war zu höllisch laut. Mitten in der Nacht ging die unversperrte Tür auf, eine Hand griff zum Schalter, und durch das aufflammende Deckenlicht halb geblendet, sah Willi Genosse Paradiesvogel mit hängender Kinnlade und glasigen Augen im Zimmer herumschwanken. Ein entsetzlicher Gestank, der von ihm ausging, hing in der Luft.
"Oh God, it is'nt my room!" murmelte er mehrmals zwischen seinem Speichelwasser hervor und wackelte winselnd wieder hinaus. Willi sprang aus dem Bett, warf den Riegel vor und drehte das Licht ab. Für einige Stunden umfing ihn bleischwere Tiefe.
Noch einmal wurde er durch lautes Gepolter an den dünnen Barackenwänden aus dem Schlaf gerissen. "Wake up, fucken Germans, a new day began!" trompetete Jack draussen herum. Dann ertönte ein dumpfer Fall und es herrschte endgültig Stille.
Als er in den Morgenstunden zum Waschraum ging, gelangte er an eine offenstehende Tür, die ihm Einblick in eine Cubicle freigab. Der Raum war fast völlig abgedunkelt, mit schmutzigen Fetzen das Fenster verhängt. Unzählige Kartons und Schachteln stapelten sich im Zimmer. Ein infernalisch süßlicher Geruch wehte heraus, der ihn augenblicklich zum Erbrechen reizte. Umgeben von einem Dutzend leerer Bierflaschen lag ein Mann am Boden, den Hut halb über das Gesicht geschoben, inmitten einer Lache von Alkohol und Exkrementen. Willi konnte nicht erkennen, wer es war, aber es war auch völlig gleichgültig. Unbezwingbar stieg der Wunsch ihn ihm hoch, diesem Horror zu entfliehen. Doch vorerst hieß es noch ausharren, noch besaß er nicht genügend Geld. Noch konnte er es nicht wagen, in die Stadt zu ziehen.
Später am Tag entschuldigte sich Jack bei jedem Einzelnen in der Baracke. Artig anklopfend trat er ein und erklärte, es tue ihm leid, in der Nacht soviel Lärm gemacht zu haben. Ja, Jack wußte, was sich gehörte.
Abends ging's mit den Freunden ins Kino. Der Dia-Projektor war tatsächlich mit den Filmspulen mitgeschickt worden, und der Operateur half ihm nach der Vorstellung bei der Show. Der Koch aus der Kantine war ihm bei der Abfassung des Textes zu den einzelnen Bildern hilfreich zur Seite gestanden. Eben zeigte Willi eine Aufnahme, wo der Suezkanal und im Vordergrund links Erwin und rechts ein junges Mädchen mit windzerzaustem Röckchen zu sehen war. Er kommentierte: "A friend of mine..." Da ertönte ein Zwischenruf: "Which one, that right or that left one?" Alles brüllte vor Lachen, größer hätte der Erfolg garnicht sein können.

* * *


Über dem Arbeitsgelände lag Schnee. Bevor die Sonne hinter dem Bergrücken hervorkroch, biß die Kälte direkt an ihren Füßen.
"Die Arbeit wird bereits unangenehm", meinte Eddi zu den im Halbkreis um einen primitiven Ofen stehenden Kollegen. "Da werden wir zwei wohl bald das Weite suchen müssen?"
"Das kannste wohl annehmen", bejahte Hans, während er sich die Hände warm rieb. "Aber n o c h nicht, mein Junge. Ich habe noch nicht einmal die Schulden beim Onkel Doktor bezahlt und bekomme dauernd Mahnbriefe nachgesendet, wohin wir auch fahren. Der Kerl ist hartnäckig. Möchte nur wissen, wie er immer so schnell unsere Adresse rausbekommt?"
"Schafskopp!" erwiderte Eddi schlagfertig, "siehst du denn nicht, daß die Polizei hinter uns her ist? Schaut mal da rüber!" Er wies mit dem Daumen lässig nach hinten. Den anderen blieb der Atem weg, zwei Polizisten kletterten eben aus einem Wagen und schickten sich an, auf die Gruppe zuzuschreiten. "Wat denn, wat denn? Das soll wohl ein schlechter Witz sein, oder...?" Fast kläglich klang die unausgesprochenen Frage Werners. "Was glaubst d u denn von uns?" gab Eddi etwas verärgert zurück. "Die holen einen ab, das ist sicher. Aber nicht uns, mein Kleiner!"
"Billy Bligh?"
Kurz und drohend stieß einer der Bullen den Namen hervor. Ein auffallend bleicher und struppiger Geselle aus ihrer Mitte löste sich von der Gruppe und ging zu den Polizisten rüber. Eine Handschelle klappte zu, eine Wagentür fiel ins Schloß, der Motor heulte auf und verklang allmählich hinter den Straßenkehren. Was war da eben los? Bestürzt sahen sich die Arbeiter an. "Nichts besonderes. Billy wurde von der Gesellschaft als entlassener Sträfling aufgenommen, von Melbourne zur Arbeit hierher überwiesen. Jetzt hat man ihn neuerdings des Kameradschaftsdiebstahls überführt. Erfuhr heute, daß man ihn um ca. 10 a.m. abholen wird. Deswegen habe ich auch die Teepause etwas länger hinausgezogen. So, und jetzt geht wieder an die Arbeit!" Fast widerwillig hatte ihnen ihr Foreman die Auskunft erteilt.
"Na, da sind wir ja in feiner Gesellschaft, das muß ich schon sagen", klagte Hugo, der Feinfühlende. "Brauchst bloß an uns zwei denken!" blödelte Eddi und blickte Hans vergnügt aus den Augenwinkeln an. Der lachte nur übers ganze unrasierte Gesicht und ließ die Zahnruinen seines Pferdegebisses blecken. Zusammen mit den beiden Jungs aus Hamburg erschien die Arbeitszeit manchmal direkt vergnüglich kurz.
Der Partieführer rief ihnen zu, sie sollten ruhig allein weitermachen, er fahre mit dem Jeep zur Bauleitung hinunter. Sobald er sich entfernt hatte, schnatterten die Männer drauflos und ließen die Arbeit ruhen. Bert der Engländer steuerte einige Bemerkungen bei, die den Burschen aus Mitteleuropa die Situation etwas erläutern sollten. "Der australische Arbeiter hat noch viel zu lernen", meinte er. "Er macht den Mund nur auf, wenn der Boß gerade von der Bildfläche verschwunden ist. So kommt es, daß ein Großteil der führenden Männer der Trade- Union, der Gewerkschaften, eben aus gebürtigen Engländern besteht."
Die jungen Männer hörten ihm aufmerksam zu, das Thema interessierte sie außerordentlich. "Ich glaube, Bert hat damit recht", meinte Willi später zu Werner. "Meiner Ansicht nach drückt sich darin aus, daß dem australischen Arbeiter der Mut zum Handeln überhaupt fehlt. Das sieht man bereits in seiner Einstellung zur Arbeit selbst. Sie wollen nur schaffen, wenn sie auch andere in Tätigkeit sehen. Ob das wohl überall im Land so ist?" Werner antwortete kurz und bündig: "Das darfst du getrost annehmen. Ein Freund von mir, der in der Stadt beschäftigt ist, schreibt mir genau dasselbe. Meiner Meinung nach wird der eingesessene Australier entweder seine führende, das heißt genauer gesagt seine dominierende Rolle, an vitalere Elemente abgeben müssen, oder die ganze Insel fällt über kurz oder lang den Asiaten zum Opfer."

* * *


Der Freitag in acht Tagen war als Stichtag für die Übersiedlung des gesamten Lagerpersonals nach McKay Creek festgelegt worden. Von dort aus war der Anmarschweg zur Arbeitsstätte kürzer, das Lager Howman's Gap würde komplett aufgelassen werden. Aus diesem Grunde war für Donnerstag Abend eine Abschiedsfeier, sprich behördlich genehmigter Saufabend, angekündigt worden. Willi trug sein Scherflein dazu bei – garnicht wenig, wie es ihm schien. Aber er tröstete sich damit, daß 'man' sich nicht ausschließen könne. Und schließlich fand er selbst immer mehr Gefallen am exzessiven Trinken.
Und für just diese Wochenende hatten sich unsere Fünf etwas ganz Großes vorgenommen: ihren ersten Ausflug nach Melbourne, der Hauptstadt des Bundeslandes Victoria und zugleich zweitgrößte Stadt Australiens. Voll Reisefieber packte Willi Höger die notwendigsten Utensilien in seinen Seesack. Er wußte von einigen Bekannten, die Werner dort besuchen wollte, somit waren sicherlich neue Verbindungen zur 'Zivilisation' zu erwarten. Ein Umstand, der in ihrer jetzigen Situation garnicht hoch genug bewertet werden konnte.
Freitag um acht Uhr fuhren sie also los, fein herausgeputzt, und mit einer tüchtigen Ladung Schnee auf dem Autodach. Nach der üblichen Höllenfahrt bis Little Hollywood, tankten sie erst mal Benzin. Hausfrauen holten sich für ihre Kleinen begeistert Schneebälle vom Wagendach, denn hier unten bekamen sie das fleckige Weiß nur alle heiligen Zeiten mal zu Gesicht. Schmunzelnd reichte er der kleinen fünfjährigen Dame einen Schneeball, die ihn mit großen Augen ein wenig ängstlich betrachtete und neugierig zusah, wie er in der Hand langsam dahinschmolz.
Nochmals ging's über eine Hügelkette, bis sie nach einer äußerst gefährlichen Fahrt endlich ins Flachland gelangten. In herrlichem Gelb und Orangenrot blühten die Sträucher an den Wegrändern. Der Herbst war im Ausklingen und der Winter würde bald einsetzen, wenn auch hauptsächlich in Form langer Regenperioden. Für Werner war eine Kiste seines Großgepäckes in einem verträumten Nest eingelangt. So beschlossen sie zuerst den kleinen Umweg zur Bahnstation zu nehmen, denn es war nicht sicher, ob sie am Sonntag auf der Rückreise den Schalter auch noch geöffnet vorfinden würden. Außer Werner betraten alle ein Gemischtwarengeschäft, das von einem älteren Ehepaar geführt wurde. Die beiden Australier waren offensichtlich heilfroh in diesem abgelegenen Örtchen Fremde anzutreffen. Insbesondere der Mann wollte und wollte nicht zu sprechen aufhören. Als er vernahm, daß die Burschen aus den Bergen heruntergekommen waren, erzählte er ihnen sofort begeistert von den Pferderitten, die er in früheren Zeiten dorthin unternommen hatte. Die alte Dame warf etwas verlegen ein, daß das die jungen Leute wahrscheinlich kaum interessieren werde, er solle doch aufhören. Doch die jungen Männer hörten aufmerksam und höflich den nostalgischen Erinnerungen des alten Herren zu. Alle vier standen wie erstarrte Bildsäulen vor der Budel. Eddi, mit dem flachen Hut auf dem Kopf, die Hände vor dem Bauch gefaltet, schwadronierte dann von seinen Reitererlebnissen im Busch, bis Werner den Kopf bei der Türe hereinstreckte und ihnen zurief, daß alles in Ordnung sei. In den Geschäften entlang der Hauptstraße begegneten sie nur freundlich gesinnten Menschen. Nirgendwo befiel sie das Gefühl, in diesem Land unerwünscht zu sein.
Gegen fünf Uhr erreichten sie die Stadtgrenze von Melbourne. Je näher sie der City kamen, desto wüster entwickelte sich der Verkehr. Hans schlängelte sich durch wie ein gewiegter Slalomfahrer. Willi wäre mit einem Fahrzeug in diesem Großstadttrubel rettungslos verloren gewesen.
"Left Turn only".
"No Turn", "Stop", "Go", "Don't walk" und weiß der Teufel, was sonst noch, tauchte in Rot, Grün, Weiß oder Orange vor den Kreuzungen auf. Nachdem sie einen Häuserblock mehrmals umfahren hatten, rollten sie über eine Brücke und stoppten vor einem mehrstöckigem Gebäude.
"So, da wären wir", lachte Hans vergnügt. Ihm hatte die tolle Irrfahrt anscheinend Spaß bereitet. "Wo sind wir?" stieß Willi wütend hervor. Er fühlte sich von den vielen neuen Eindrücken überwältigt und erledigt. "Na, vor dem YMCA-Gebäude. Der Unterkunft des 'Vereins Christlicher Junger Männer'!" Er fügte hämisch hinzu: "Das ist das billigste Hotel. Und ihr sitzt ja auf euren Geldsäcken! Also Sonntag um drei Uhr nachmittags gibt es hier ein Wiedersehen!"
Die Burschen bekamen im vierten Stock zwei Zellen zugewiesen, die, von grünlackiertem Wellblech umgeben, mit einer Vielzahl anderer in einem geräumigen Saal standen. Über die Stockbetten spannten sich grobmaschige Drahtnetze, auf denen Apfelreste und Papierknäuel ein vertrocknetes Dasein führten. Außer einer Lampe an der Wand und einem Stuhl enthielt dieses Zimmer keinen Luxusgegenstand. Werner und Hugo hatten nebenan gemeinsam Platz gefunden, so stellte Willi vorsorglich seinen Seesack bei ihnen unter, da er seinen zukünftigen Mitbewohner ja nicht kannte. Daher eilte er ahnunglos, mit dem Schlüssel Nr.443 in der Tasche, mit seinen Freunden durch die Empfangshalle ins Freie, wo ihn tausende Lichter und Leuchtreklamen schlagartig vor Augen führten, daß sie nicht länger in der unwirtliche Einöde vegitierten. Als sie nun die Yarra auf der Princess-Bridge zu Fuß überquerten und die Menschen in dichten Scharen aus den Stadtbahnstationen hervorquollen, wurde ihnen direkt unheimlich zu Mute. Nach der monatelangen Abgeschiedenheit im Busch waren sie menschenscheu geworden. Sie bestiegen eine Straßenbahn und betrachteten linkisch die großstädtischen Menschen, die in Feiertagsstimmung den Wagen füllten. Betont höflich erkundigte sich Werner beim mürrisch dreinsehenden Schaffner, wie sie die Adresse seines Freundes am besten erreichen würden.
"Seid ihr nicht Deutsche?" erkundigte sich der Mann leise, emsig hantierte er dabei mit seiner Zwickzange. "Ja, aus Berlin" gab ihm Werner ebenso gedämpft Antwort. Der Uniformierte reichte ihnen schweigend die Fahrscheine. Vorsichtig, im Vorbeizwängen, flüsterte er Werner leise zu: "Berlin ist 'ne Wolke." Seine Augen leuchteten kurz auf, dann verfiel er wieder in seine Alltagsmaske.
Sie schlichen über die Treppen des Hauses. Leichter Modergeruch schlug ihnen entgegen, trübe beleuchtete eine Lampe den geräumigen Gang, der mit billigen Teppichen ausgelegt war. Am finsteren Ende stießen sie gegen einen Türrahmen und verharrten horchend. Abwechselnd erhob sich eine Männer- und eine Frauenstimme. "Er ist es!" sagte Werner leise, dann klopfte er energisch an. "Come in!" ertönte eine Männerstimme.
Werners Bekannter ruhte auf einem Sofa. Seine australische Freundin kauerte neben ihm und betrachtete gerade Dias, die sie gegen einen Lampenschirm hielt. Werner verwickelte Gerhard in ein persönliches Gespräch. Nach den ersten Sätzen ihres neuen Bekannten blickten sich Hugo und Willi unauffällig von der Seite an, geringschätzig die Lippen kräuselnd. Der hagere lange Mann gab offensichtlich vor, nach vier Jahren im Lande nicht mehr akzentfrei Deutsch sprechen zu können. Wenn das nicht Angabe in Reinkultur war!
Die Australierin hatte sich inzwischen zum Gasherd gestellt, um Teewasser für die Burschen zu bereiten. Sie wies eine beachtliche Länge auf, war aber etwas zu mollig gebaut. Das Gesicht erschien Willi gutmütig im Ausdruck, wirkte aber leicht schwammig. Das Zimmer paßte durchaus nicht zur Renommierei von Gerhard, es war alt, abgeschabt, düster und in verschlampten Zustand. Der Inhaber dieses Domizils erklärte später, eine Kartenspielrunde aufsuchen zu müssen und entschuldigte sich bis nacher, Judith werde ihnen inzwischen ein wenig die Stadt zeigen. Vorher begaben sich noch alle kurz zu Gerhards Wirtin auf einen Höflichkeitsbesuch.
Die Endfünfzigerin bewohnte einen großen Salon, wo sie kettenrauchend das Abendprogramm im Radio anhörte. Ein zierliches Hündchen, mit einer großen roten Schleife um den Hals, kauerte auf ihrem Schoß. Inmitten einer Unmenge von Nippesfiguren prangten frische Blumen, und ober dem Kamingesimse hing ein Portrait von Winston Churchill.
"Fiffi hat heute Geburtstag" erklärte sie den Besuchern und streichelte zärtlich den Rücken ihres Lieblings. Hundertprozentig ehemaliger englischer Mittelstand, wenn nicht High Society, schätzte Willi sie kurz ein. Nach einem flüchtigen Kuss Gerhards kutschierte sie Judith dann mit ihrem Wagen durch die Straßen von Melbourne. Willi verhielt sich am Anfang abwartend und ruhig, riß dann aber die Unterhaltung an sich. Obwohl er bei dem Tempo, das Judith vorlegte, jeden Augenblick einen Zusammmenstoß befürchtete, brachte er Werners laut geäußerte Nervosität mit einigen gutgezielten Bemerkungen zum Schweigen. "Just sit back and relax!" meinte er gelassen. Wahrscheinlich hatte er diesen Ausspruch in einer Zeitung aufgeschnappt, die Australierin lachte nur glucksend auf.
Nach einem Restaurantbesuch schlug Willi vor den Lunapark zu durchstreifen. Judith war sofort Feuer und Flamme: Schon jahrelang sei sie nicht mehr hier gewesen. Zurück in Gerhards Domizil, führten die Gespräche bald zu Vergleichen zwischen Deutschland und Australien.
"Ich habe natürlich der Hetzpropaganda gegen die Deutschen geglaubt", räumte Judith ein. "Erst seit ich Gerhard kenne, der mir manches über die Hintergründe dieser Darstellungen erzählte, begann ich auch die deutsche Seite zu verstehen. Und jetzt habe ich sogar Marschmusik auf Lager. Da, hört!"
"Pack die Badehose ein..., nimm dein kleines Schwesterlein...", tönte die flotte Weise aus dem Plattenspieler, belustigt übersetzte Willi ihr den Text.
"Ich war gegen Kriegsende ein halbwüchsiges Mädchen", erzählte Judith später weiter, "da wurde in der Schule ein Film über die 'Hitler Children' gezeigt." Deutsche Mädchen und Frauen als Gebärmaschinen, von brutalen SS-Männern beschattet, sei der Inhalt des drastischen und dramaturgisch hervorragend inszenierten Films gewesen.
"Ich war damals maßlos empört über die furchtbaren Methoden Hitlers und seiner Soldaten!" gestand sie treuherzig. "Und ich konnte in jedem Deutschen nur eine Bestie sehen."
Verlegen sahen sich die Burschen an, was war Wahrheit, was üble Hetzpropaganda daran gewesen? Sie wußten es selbst nicht.
Gegen Mitternacht erschien Gerhard wieder und brachte sie zur YMCA zurück. Willi holte den dosischen Schlüssel aus der Rocktasche und sperrte die Tür seines "Appartements" auf. Ein leichter Schimmer des Lichtermeeres der Stadt fiel vom Fenster in das Kabinett: Im unteren Teil des Stockbettes lag ein Mensch. Als er Willis Schritte hörte, schreckte er hoch. Wirre Blicke, zerzaustes Haar. "Was machst du hier!" fuhr er Höger an. Einigermaßen verwundert, antwortete der: "Ich habe die Absicht, mich hier schlafen zu legen."
"Oh! Oh! Oh!" jammerte das Individuum im wahrsten Sinne des Wortes los. "Du bist ein Neu-Australier, nicht wahr?"
"Ja, aus Austria", antwortete Willi merklich reservierter.
"Oh Gott, Oh Gott! Mir gefallen diese Leute nicht – fucken Germans, verdammte Brut!!!" winselte sein Zimmerkollege weiter. Ohne noch ein weiteres Wort zu verlieren, entkleidete sich Willi und legte sich ins obere Bett. "Oh! Oh!" ging es inzwischen unten weiter. Der Österreicher blickte vorsichtig über den Bettrand: Schmerzerfüllt verzog der Mann sein Gesicht, eine verzerrte Fratze wälzte sich im Kissen hin und her. Nach einigen Minuten erhob sich der Mann vom Lager, schnappte seinen Anzug und verschwand zur Tür hinaus. Nun ging es draussen erst richtig los: Ein Hund bellte los, laut und abgehackt. Nein, es mußte wohl sein Schlafgenosse sein. Eine Litanei von Flüchen gegen mindestens zehn Nationen ergoß sich wie ein dreckiger Strom gegen die Türe des Kabinetts. Willi empfand deutliche Angst bei dem Gedanken, der Verrückte, den nur um einen solchen konnte es sich handeln, könnte ihn im Schlafe überraschen. Entschlossen stieß er den Riegel vor und sah in den nächsten Stunden ungerührt zu, wie diverse Personen, wohl auch Bedienstete dieses Nobelhotels, an der Klinke zerrten.
Am Morgen würgten die drei Freunde die zusammengeschmorten Würstchen und die verhungerten Spiegeleier hastig hinunter und machten sich sofort auf den Weg in die City. Die Stadt lag im Tageslicht einigermaßen graziös da. Solange sie sich in der Innenstadt aufhielten, gab's überall hohe und guterhaltene Gebäude. Doch gleich außerhalb des Stadtkerns huschelten verbogene, schiefe und zerfallende niedrige Häuser auf den sanften Hügeln hin.
Gerhard hatte Werner brieflich zugesagt, sich ein wenig um Arbeitsplätze für sie umzusehen. Als er sie so nebenbei fragte, ob sie die Age mitgebracht hätten, wußten sie bereits wieviel es geschlagen hatte. Allmählich entpuppte er sich als ein notorischer Angeber und Aufschneider.
Kann mir nicht erklären, wie der zu dieser netten Freundin gekommen ist, fragte sich Willi verwundert. Wahrscheinlich hegte sie für ihn Muttergefühle – wesentlich älter als Gerhard war sie ja. "Wird ja hoffentlich bald merken, was mit ihm los ist", dachte er hämisch. Er entdeckte, daß sie direkt gegenüber Gerhards Zimmer einen Raum bewohnte.
Der gab nun vor, daß er in Healesville ein Grundstück besitze und wegen des Bäumefällens einen Kontrakter aufsuchen müsse. Mit dem viersitzigen Wägelchen rasten sie dem Wasserreservoir und Touristenausflugsort in der Nähe der Stadt entgegen. Draussen führte er sie zwischen mannshohen Gräsern und Hecken herum, die auf seinem Grund und Boden wucherten, keine Rede mehr vom Aufsuchen eines Kontakters. Als sie dann bei einem Espresso saßen und teure Tortenstücke verzehrten, die Gerhard großzügig für sie bestellt hatte, führte er ihnen seine Zukunftsprojekte, die mit der Verwertung bestimmter Farmprodukte zusammenhingen, plastisch vor Augen. Und speziell zu Willi gewandt, der ihm mit steigendem Interesse zuhörte, meinte er: " Und dann, das kann ich dir versichern, gehört ganz Melbourne uns!"
Sie alle besaßen zu diesem Zeitpunkt noch viel zu wenig Einblick in das australische Leben und die Alltagswirtschaft, um die Ideen dieses zumindest unternehmenslustigen jungen Mannes richtig beurteilen zu können. Gerhard versuchte sie zu einer finanziellen Beteiligung an seinen Visionen zu bewegen. Willi kam die Angelegenheit nicht einmal so fantastisch vor wie sie klang und versprach für seine Person das Projekt bis zu seiner Übersiedlung nach Melbourne zu überdenken. Werner meinte später: "Gerhard ist ein Spinner. Der denkt wie ein Industriekapitän – viel zu großzügig, aber nicht konsequent genug. Er kann doch nicht alles auf einmal durchsetzen, er muß den Plan doch Schritt für Schritt verwirklichen! Außerdem kommt mir die Sache ziemlich übertrieben vor."
Der Österreicher verfiel in einen nachdenklichen, dozierenden Ton. "Gegen die Idee möchte ich nicht einmal etwas einwenden, im Gegenteil. Was mich bei deinem Bekannten stutzig macht, ist, daß er offensichtlich der Wirklichkeit entrückt scheint. Er lebt nicht mit den nackten Tatsachen, sondern mehr in der Rolle, die er sich ausgedacht hat: die eines erfolgreichen Managers, der über eine Unzahl von Unternehmen und ganze Flotten von Kraftfahrzeugen verfügt, und der kaum noch Zeit zur Kontrolle seiner Betriebe findet. Ich verstehe nicht allzuviel von moderner Seelenheilkunde, aber ich glaube Psychopath dürfte der richtige Ausdruck für diese Art von Menschen sein." Fragend sah er Werner an. Hugo, der das Gespräch aufmerksam verfolgt hatte, streute nun seinen Senf dazu bei: "Da kann ich ein Wörtchen mitreden. Ist ja selten – aber ich besitze auch ein medizinisches Handbuch, wo wir näheres über dieses Thema nachschlagen können!"
"Das werden wir machen", sagte Werner, "doch schon der gesunde Menschenverstand sagt dir in diesem Falle mehr als jedes Fachbuch: Gerhard ist eindeutig ein Psychopath!"
In diesem Augenblick verfielen die drei Männer der unheilvollen, unverständlichen und entsetzlichen Entwicklung jedes in diesem "Wahnsinnsland" länger lebenden Menschen: Den Mitmenschen auf jede eingebildete und tatsächlich vorhandene Abnormität des Gefühls- oder Verstandeslebens schärfstens zu beobachten und krasseste Schlüsse daraus zu ziehen.
Eine Tatsache, der sich keine denkende und fühlende Person in diesem Lande verschließen konnte, und gerade durch die große Zahl insbesondere intellektueller Menschen, die diesem Lande aus gerade diesem Grunde voll Abscheu den Rücken kehrten, bewiesen wurde. Immer wieder grübelte unser junger Held in der Folgezeit über jenes beängstigende Phänomen dieses Kontinents nach, versuchte in unzähligen Diskussionen im Kreise seiner Freunde die Entstehungsursachen für eine solch ungesunde Geisteshaltung im australischen Leben herauszuschälen, ohne jedoch zu einem wirklich befriedigenden Ergebnis zu gelangen.
Selbstverständlich hatte er auch in Europa eigentümliche oder exzentrische Existenzen angetroffen, aber entweder waren sie von vorneherein als Schwachköpfe in ihrer Umgebung bekannt, und keiner kümmerte sich weiter um sie. Oder besonders ausgefallene Menschen wurden wegen ihrer Exzentrizität belächelt. Aber niemand wäre im Ernst auf den Gedanken verfallen, diese Exemplare kaltlächelnd als – verrückt oder gar wahnsinnig zu betrachten. Man billigte ihnen einfach das Recht auf Eigenart zu.
Es wäre traurig um diese Welt bestellt, würde man die vielen liebenswerten Individuen, die kernigen Originale, verschrobenen Alten oder genialen Künstler kaltblütig und dumm mit wissenschaftlichen Etiketten versehen, die von der Allgemeinheit mißverstanden und jegliche Menschenwürde in engherzige, gelehrte Schablonen zu kleiden versuchen, die das Ebenbild unseres Schöpfers auf die gleiche Ebene mit fallweisen Mutationen oder unerwünschten Auswüchsen einer Unkrautpflanze stellen... Welch Armutszeugnis für eine Bevölkerung, die unendliche Vielfalt des Menschen und seiner Seele auf einige wenige, genormte und langweilige Prototypen festzulegen, denen allein es offensichtlich erlaubt werden soll, den Ablauf des Geschehens zu kontrollieren und jede Entgleisung oder Entartung eines Individuums mit den strengen, puritanischen und beschränkten Rufen "He is mad!" zur allgemeinen Uniformität zurückzurufen!
Glauben diese Australier, daß sie jemals große Leistungen auf technischem oder kulturellem Gebiet hervorbringen können, wenn nur halbtote Schafsköpfe, denen Himbeerwasser anstatt rotes Blut durch die verkalkten Arterien fließt, erlaubt wird, kümmerliche Lebenszeichen von sich zu geben?
Was sollen diese Sittengesetze aus der Epoche der Königin Victoria, diese lächerlichen, absurden Verbote und Verordnungen, mit denen sich die Bevölkerung auf dieser Insel gegenseitig das Leben sauer macht? Jawohl! Sich gegenseitig bis zum Kotzen anwidern und belauern, ob sie beim Nachbarn nicht vielleicht doch ein Anzeichen von Madness, von Verrücktheit entdecken? Kein Wunder, wenn diese Krankheit bei sensibleren Naturen auf Grund dieser zerstörerischen Umgebungseinflüsse dann tatsächlich ausbricht!
" Die einzigen Menschen, die in diesem Lande im wahrsten Sinne des Wortes 'leben', nicht nur in biologischer Hinsicht dahinvegetieren, sind die 'Bodgies and Widgies', die Halbstarken Australiens – die vögeln wenigstens anständig!"
So der wütende Ausspruch eines Einwanderers.
Und der Mann hatte recht, verdammt recht damit.

* * *


Samstag Abend warfen sich alle in den besten Anzug, rückten die Krawatten zurecht und strichen mit den Fingern nochmals durch die Haare. Dann holten sie mit Gerhard dessen Freundin Judith und eine Bekannte von ihr ab, die ungeduldig wartend in einem roten Kleid an einer Straßenecke, unter einer Laterne in einer Allee stand. "Dorothy ist ein dummes, 19jähriges Mädchen!" erwähnte Judith auf die neugierigen Fragen der Burschen. Als die Kleine einstieg, ohne die hinten sitzenden Burschen auch nur eines Blickes zu würdigen, merkten sie bald, daß sie eine billige Ausgabe vor sich hatten. Zuerst nahmen sie noch an, sie sei nur scheu, aber bald erkannten sie, daß wirklich nicht viel los war mit ihr. Trotz Torten und Bier hob sich die Stimmung in Gerhards Luxusappartement kaum merklich. Judith erkundigte sich ungeniert, was denn heute in sie gefahren sei, gestern noch hätten sie alle wesentlich fröhlicher aus der Wäsche geguckt. Die drei Burschen schwiegen betreten. Sollten sie ihr sagen, daß sie über Gerhards Nichteinhalten der Versprechungen verstimmt waren? Daß der gestrige Tag völlig nutzlos verstrichen war, was die Arbeitssuche anbetraf? Im Grunde waren sie die 200 Meilen aus den Bergen heruntergekommen, um die Fühler wegen eines Jobs auszustrecken.
Willi meinte, nun eben sei der Augenblick gekommen, den aus der Zeitung aufgeschnappten Ausdruck Cry-Baby anzubringen, was ja seiner Meinung nach nur Busenausschnitt bedeuten konnte. "Hallo Judith, du hast heute aber einen tief ausgeschnittenen Cry-Baby!" rief er ihr herausfordernd zu und wartete gespannt auf ihre Reaktion. Sie starrte ihn nur verständnislos an. "Tiefausgeschnittenen Cry-Baby ??" wiederholte sie langsam mehrmals. Der Österreicher erklärte ihr, wie er zu diesem Slangausdruck gekommen war. Hellauflachend erklärte sie ihm dann prustend, daß damit – der Schlagersänger Johnny Ray gemeint sei, da er seine Hits meist unter schmelzend rührseligem Weinen vortrug. Der Bann der unguten Stimmungsathmosphäre war damit gebrochen, und als Gerhard nach einiger Zeit wieder auftauchte, drängten die Girls solange, bis sich die Burschen entschlossen, mit ihnen ein Nachtlokal aufzusuchen. Ein zweifelhaftes Vergnügen wie ihnen schien, denn die Pfunde schwammen gleich so weg.
Die Musik wurde als überraschend gut empfunden. Die Kapelle setzte sich aus Osteuropäern zusammen, wie sie aus der Physionomie der Musiker schließen konnten, da sie unmittelbar neben dem Klavier Platz gefunden hatten. Das wenige Publikum gehörte anscheinend den besten Gesellschaftschichten an. Werner forderte Dorothy zum Tanzen auf. Am Parkett fiel ein Tanzpaar besonders auf: Die Dame trug ein dunkles, weitausgeschnittenes Kostüm, das in der Kniegegend besonders eng geschnitten war. Die ruckenden und zuckenden Bewegungen schienen aus der Epoche zu stammen, in der die Filme laufen lernten. Völlig fasziniert verfolgte Willi jede Drehung des eleganten Weibes mit dem Bubikopf-Schnitt, der vollkommen stilecht zur Charleston – Impression paßte. Judith erkundigte sich bei ihm erheitert, was ihn denn so an der Tänzerin fasziniere? Er erzählte ihr von seinem Charleston-Traum, und sie stimmte begeistert zu. Vollkommen glücklich sank sie nach einem Tänzchen mit Werner wieder neben ihm in den Sessel. Da Willi bedauernd erklärt hatte, er sei leider mit zwei linken Beinen auf die Welt gekommen, hatte Werner widerwillig mit ihr einen Foxtrott getanzt.
"Es war wunderbar!" erklärte sie mit strahlenden Augen. Schon lange habe sie keiner Unterhaltung mehr beigewohnt. Insgeheim fragte sich Willi, ob Gerhard niemals auf den Gedanken gekommen war, Judith mal auszuführen. Gerhard fehlte in ihrer Mitte, nachdem er Kopfschmerzen angemeldet hatte. "Flucht in die Krankheit!" hatte Werner dem Willi zugeflüstert. Der dritte in ihrem Bunde, Hugo, hockte die ganze Zeit wie ein Ölgötze in der Ecke und verzog sein Gesicht in höchst bedauernswerte Falten. Er kam sich fehl am Platze vor, zumal sein Englisch noch immer mehr als dürftig war. Dorothy und Werner nahmen indessen immer engeren Kontakt miteinander auf. Sie tanzten so eng aneinandergepreßt, daß ein Blatt Papier zwischen ihren Körpern kaum zu Boden gefallen wäre. Einer ließ eine diesbezügliche Bemerkung fallen, worauf Dorothy erstaunt erwiderte: "Das haben wir so in der Tanzschule gelernt!" Sie begriff offenbar den versteckten Sinn dieser Anspielung nicht, wohl aber Judith, die ein Lächeln kaum verbeißen mochte.
Beim Verlassen des Lokales half Willi der Freundin Gerhards natürlich in den Mantel, was diese mit einem charmanten "Danke schön" auf Deutsch quittierte. " Leider kann ich nicht mehr auf Deutsch sagen", fügte sie entschuldigend hinzu. In dem kleinen Viersitzer zwängte er sich neben sie.
Gerhard steuerte natürlich den Wagen. Am Beifahrersitz kauerten Judith und Willi, im Fond saß Dorothy in der Mitte, flankiert von Werner und Hugo. Langsam rückte Judith mit ihrem Schenkel Willi auf dem Leib, der naiv genug war, um anzunehmen, sie sitze nur unbequem. Er drückte sich noch enger an die Fahrertür und schielte zu Gerhard hinüber, der unbeweglichen Anlitzes auf die Fahrbahn starrte. Merkte er etwas? Judith nahm ihren Oberschenkel wieder herunter und hauchte: "Entschuldige bitte." Da erst begriff er, woran er bei ihr wahr. Er getraute sich aber beileibe nicht, die Situation so auszunützen, wie er dazu in der Lage gewesen wäre. Offensichtlich machte Werner bedeutende Fortschritte, denn unaufhörlich stießen Knie gegen die Rückenlehne. Willi äugte vorsichtig und kurz nach hinten, konnte aber außer einigen schemenhaften Umrissen nichts erkennen. Dann wurden die Stöße immer heftiger, und zuweilen übertönte ein unterdrücktes Stöhnen aus dem Hintergrund die Fahrgeräusche, bis alles ein abruptes Ende fand.
Bald darauf erreichten sie die City. Hugo und Willi drängten ins Freie und wollten sich von ihren neuen Bekannten verabschieden. Im Scheine der Straßenbeleuchtung sahen sie Dorothy schweißüberströmt und vollkommen aufgelöst an Werners Halse hängen. Kettchen und Armreifen abgestreift, heruntergerissen, schimmerten am Wagenboden. Nachdem sie Werner buchstäblich aus dem Auto gezerrt hatten, jagte Gerhard mit kreischenden Reifen davon.
"Sag Werner, hast du sie...?" brach einer das verlegene Schweigen. "Ja natürlich, was glaubt ihr denn sonst? Was seht ihr denn so doof drein? Es kam halt über mich... Ach so, ihr guckt so komisch wegen des kleinen Wagens? Praxis, meine Lieben. Solche Tricks haben wir beim Barras gelernt! Kommt schon noch, auch bei dir..." tröstete er großmütig Willi, der ihn noch immer zweifelnd ansah.
"Bin nur neugierig, ob der Verrückte wieder oben ist", äußerte sich der, als sie mit dem Lift in den vierten Stock der YMCA emporschwebten. "Scheinen ziemlich viele von der Sorte frei im Lande herumzulaufen", äusserte sich Werner trocken.
Seine Vermutung traf zu, der Bedauernswerte lag wieder im unteren Bett. Wortlos drehte sich der Österreicher am Absatz um und verständigte den Empfangschef. Als sie wieder hochkamen, gähnte ihnen der Raum leer entgegen. Der junge Mann warf sich langgestreckt hin und grübelte über den Fall nach.
Wer hatte dem armen Kerl so übel mitgespielt, daß er es haßerfüllt ablehnte, mit einem Immigrant das Zimmer zu teilen? Was machen sie falsch, die Einwanderer? Warum stoße ich immer wieder auf kaum verhüllte Abneigung unter der Bevölkerung? Sind wir nicht auch gekommen, um den Menschen dieses Landes zu helfen? Wir unterstützen sie doch mit unserer Arbeitskraft, tun gerne und gut, was uns zur Pflicht erhoben wird. Wir zahlen pünktlich unsere Steuern. Genügt das alles nicht? Was kann man uns Neu-Australiern Böses vorwerfen?

* * *


Zum vereinbarten Zeitpunkt, Sonntag nachmittags, wurden die drei Kollegen über die Lautsprecheranlage ausgerufen. Hans und Eddi, die Getreuen, warteten auf sie im Vestibül. Willi bat sie zuerst einen kleinen Umweg in die weitere Umgebung Melbourne's zu machen, wo seine besten Freunde vom Schiff ansässig geworden waren. Bald erreichten sie den kleinen Ort. Seit Bonegilla hatten sie sich nicht mehr gesehen. Beim Tee erzählten sie den Burschen von einigen Fremdenhassern im Spital, die ihnen bei jeder Gelegenheit eins auszuwischen versuchten.
"Sind primitive Leute, so kümmern wir uns nicht sehr darum. Aber es tut halt doch ein wenig weh!" Das konnte man ihnen allerdings an den eingefallenen Gesichtern ansehen. "Aber unsere Chefs von der Spitalsleitung, Australier, haben sich als sehr verständnisvoll erwiesen. So ist es zum Aushalten", meinte Hubert resigniert. "Jeder fragt dich nach fünf Minuten Bekanntschaft 'How do you like Australia?' Das ist mir immer unangenehm. Von Gefallen ist keine Rede, dazu ist mir alles noch viel zu fremd. Aber wer möchte schon die Wahrheit hören? So antworte ich mit der sie befriedigenden, wenn auch nichtssagenden Floskel 'Oh, it's a lovely country!', oder noch kürzer 'Very well!' Dann freuen sich die Leutchen und du hast deine Ruhe, vielleicht sogar einen Freund gewonnen..."
"Diese Frage hat mir eigenartigerweise bis jetzt noch niemand gestellt", meinte Willi daraufhin. "Entweder sie können die mögliche Antwort von vornherein aus meiner Miene ablesen, oder sie sehen selbst ein, daß ein Arbeitslager im Busch keineswegs Australien repräsentiert. Was ich zumindest hoffe..."

* * *


"Verflucht, was war das eben?" rief Hans aus, hielt den Ford mit einem Ruck an und schaltete die Rückscheinwerfer ein. Mit einem harten Schlag hatte irgendetwas gegen die Stoßstange gebumst. Eddi stieg aus, gleich darauf hörten sie ihn rufen: "Kommt raus, wir haben ein Wallaby überfahren!" Da lag ein Muttertier dieser kleinen Kangarooart mit leicht zuckenden Muskelpartien in einer Blutlache. Und ganz nackt und bloß, nicht viel größer als ein Maulwurf, einen Schritt weiter das noch blinde Junge, das aus der Bauchfalte herausgeschleudert worden war. "Schade um die Dinger – sehe sie gerne", bemerkte Eddi. "Los, einsteigen, wir fahren weiter!"
Still lag das Lager vor ihnen. Der junge Österreicher holte den Zimmerschlüssel aus der Tasche und schickte sich an, die Türe aufzusperren, der flache, dosische Schlüssel paßte jedoch nicht ins Schloß. Das war ja zu toll! Was sollte er nun mitten in der Nacht anfangen? Das Fenster war geschlossen. Jetzt, um diese Zeit Lärm schlagen? Er erinnerte sich genau, in der YMCA einen Schlüssel abgegeben zu haben. War das der Lager-Schlüssel gewesen? Unruhig fingerte er nach seinem Taschenmesser. "Bleibt mir nichts übrig, als die Türe aufzubrechen", dachte er. Halt! Da fühlte er etwas zwischen den Fingerspitzen. Ein Schlüssel! Und er passte ins Schloß. Es war der richtige, Gott sei Dank! Verstört hielt er inne.
"Habe ich Halluzinationen? Ich war doch eben todsicher, den Schlüssel Nr.443 beim Portier abgegeben zu haben". Und nun hielt er ihn in der Hand, matt glänzend in der schwachen Flurbeleuchtung. Was stimmte da nicht mit ihm? Er griff sich an die Stirn, die sich plötzlich feucht anfühlte. Waren..., waren das erste Anzeichen beginnenden...?
Da fiel ihm sein Zimmergenosse ein, der Irre. Der hatte seinen Schlüssel hinterlassen, als er auf den Gang hinaus geflüchtet war. Und er, Willi, steckte ihn ein. Unbewußt, als Zweitschlüssel sozusagen. Das war die Lösung!
Unendlich erleichtert zog er die grobe Decke bis zum Kinn hoch und versank in wohliger Wärme.

* * *


Im dichtesten Schneefall wurden die Verankerungsblöcke für die hochaufragende Betonmischanlage gegossen und die Stahlseile gespannt, die das Bauwerk gegen die heranbrausenden Winterstürme sichern sollten. Alles schimpfte über Bluebird, der für diese Arbeit wahrlich einen günstigeren Zeitpunkt hätte wählen können.
Tags darauf stieg die große Abschiedsfeier für das Lager Howman's Gap. Unsere Freunde nahmen mit den übrigen Österreichern im Lager an einem Tische gemeinsam Platz. Von allen Seiten wurde Willi gebeten, einzelne Gruppen auf die Platte zu bannen. Als man so richtig in Stimmung gekommen war, fingen Vertreter der einzelnen Nationen an, Lieder in ihrer Muttersprache zu singen. Zuerst gröhlten die Schotten los, Willi verstand nicht ein Wort des "Gesanges". Dann tremolierte ein Italiener ein Lied, selbstverständlich das bekannte "Mama". Und so ging es reihum.
"Los, ihr Germans, singt uns auch etwas vor – ganz egal was! Wir verstehen den Text ohnehin nicht", forderte man die Gruppe ungestüm auf. "Einen flotten Marsch, eines der bloody Soldatenlieder. Die haben wenigstens Schwung drinnen!"
"Nee, das machen wir nicht", erklärte Eddi, "aber wenn ihr wollt, werden wir einen alten Hamburger Seemannssong vortragen." So erhoben sich die beiden Kumpane einträchtig, stellten sich eingehängt und breitbeinig vor den Tischen auf und legten los. Es klang nicht mal so schlecht. Keiner der Sänger reichte stimmlich an den Italiener heran, aber jeder bekam frenetischen Beifall. Rasch holte Willi den Text von Waltzing Mathilda aus seiner Bude und bat den jungen australischen Ingenieur, der sich mit Bluebird ihnen zugesellt hatte, mit ihm das einfache, wunderschöne Volkslied anzustimmen. Nicht ganz vergeblich hatte ihnen Miss Green auf dem Einwandererschiff diese Melodie eingebleut. Bald versammelte sich alles was Rang und Namen hatte um die deutschsprechende Clique, immer wieder wollte man ihre Lieder hören.
Eine tolle Schneeballschlacht bildete den Abschluß des erfolgreichen Versuchs einer Völkerverständigung kleinsten Ausmaßes, weit entfernt von den Brennpunkten der Weltpolitik und der Selbstzerfleischung in Europa und Asien – in einem abgeschiedenen Lager inmitten des australischen Busches.
Die Sterne glänzten majestätisch und ruhig auf diese Waldlichtung herab, wo es einfachen Menschen gelungen war, über lächerliche Gegensätzlichkeiten hinweg für wenige Stunden näher zueinander zu finden.
Soweit die Angelegenheit Jack betraf, dehnte er die Feier privat ein wenig aus, indem er weitersoff, als die Männer längst zufrieden dahinschlummerten.

* * *


Der Umzug in das neue, stufenförmig angelegte Camp gestaltete sich leicht dramatisch, da es zwischen dem vom Vorabend her noch angeheiterten Jack und einem Australier zu erregten Auseinandersetzungen kam, die mit Ohrfeigen endete. Das Lager McKay Creek wurde als wesentlich unkomfortabler empfunden, vor allem, weil man sich nun länger um das Essen anstellen mußte. Willi Höger spürte, wie sein wachsender Tätigkeitsdrang ihn täglich mehr dieser langweiligen Arbeit hierorts entfremdete. Den endgültigen Entschluß, bei der nächstbesten Gelegenheit abzuhauen, ließ ein Vorfall heranreifen, der ihn ob der zugrundeliegenden Idiotie dermaßen niederschmetterte, daß er die Geschehnisse um ihn herum nur noch mit stillem Abscheu betrachten konnte.
Als Endeffekt einer Reihe unsinniger Bemühungen, eine Seilwinde bis auf die Straße hinauf zu transportieren, lag ein schrottreifes Aggregat vor ihnen. Der Raupenschlepper hatte die 300 kg leichte Winde wie ein Spielzeug hinter sich hergerissen, die Querverstrebungen waren verbogen, das Gußmetall zerborsten. Wütend stürzte der Österreicher zu seinem Freund Werner hin und schrie: "Jetzt können mich die Idioten aber am...lecken, das mach' ich nicht länger mit!"
"Take it easy", meinte der gelassen. "Wir bekommen unser Geld. Das ist für mich das einzig Ausschlaggebende."
"Aber nicht für mich! Ich ärgere mich zu Tode dabei!" Unbeherrscht schrie ihn Willi an.
Künftighin blödelten sie nur mehr resigniert über die Ungeschicklichkeit der Bauleitung. "Ich schreibe jetzt an einem dreibändigen Werk im Stil der Brüder Grimm", teilte Werner eines Tages ernsthaft mit. "Die Titel lauten, nebenbei, wie folgt:
' Von den Fünf, die auszogen das Fürchten zu lernen',
'Männer hinter dem Mond', und als Meisterstück, er legte eine Kunstpause ein, "Die Geschichte vom wandernden Kraftwerk und andere Buschgeschichten.'"
Die anderen prusteten vor Lachen. Der letzte Titel spielte auf ein schlecht fundiertes Gebäude an, das langsam aber sicher im Begriff war, einen Berghang hinunter zu gleiten. "Well, die Herren Ingenieure werden sich aber freuen, wenn du das veröffentlichst!" meinte einer sarkastisch.
Hans und Eddi verließen dieser Tage endgültig ihre Freunde, um wieder einmal nach Sydney zu fahren, sich die Großstadtluft um die Nase wehen zu lassen. Zwei echte, humorvolle Abenteurernaturen waren von ihnen gegangen. Ohne die beiden wirkte die Arbeitspartie verlassen und einsam, die fröhliche Stimmung von ehedem kam nicht mehr auf.
Habe momentan 80 Pfund auf der Bank, überlegte Willi müde und ein wenig entmutigt. Wäre gerade die billigste Rückfahrkarte nach Europa...
Ein kurzer Brief von Beryl riß ihn aus seiner Lethargie. Falls es ihm möglich sei zu kommen, sie könnte sich am kommenden Wochenende frei machen. Am Rande deutete sie an, daß dies die erste und letzte Gelegenheit überhaupt sein würde. "Und ob es mir möglich sein wird!" jubelte er auf. "Und wenn der ganze Kram hier inzwischen vor die Hunde geht – ich fahr zu ihr!"

* * *


Er klopfte an ihre Tür. "Riecht etwas muffig hier, ein altes Haus", dachte er. Seine überwachen Sinne nahmen Signale über Millionen Nervenzellen auf. Er bemerkte die feinen Risse an der Wand und zählte gleichzeitig halb im Unterbewußtsein seine Pulsfrequenz.
Sie ist ausgegangen. Eigentlich gut. Jetzt kann ich mich geistig auf die nächsten Stunden einstellen. Vielleicht kehre ich überhaupt nicht mehr hierher zurück, schlug eine andere Stimme in ihm an. Du kennst ja deine Komplexe in Hinblick auf Frauen. Wenn nun niemand öffnet, noch einmal getraust du dich bestimmt nicht mehr her zu kommen...
Die Wohnungstüre ging auf. Sie stand in Straßenkleidung, zum Ausgehen bereit, vor ihm. Überrascht blickte sie den braungebrannten jungen Mann an, der sie verlegen anlächelte. "Oh! Sie sind es, Mr. Hoeger", sprudelte sie hervor, "und ich bin gerade dabei, Einkaufen zu gehen – ich habe Sie so früh am Tag eigentlich nicht erwartet! Aber ich freue mich natürlich sehr – treten Sie bitte ein!"
Benommen von dem freundlichem Empfang stieg er tolpatschig über die Schwelle. Sie wies auf einen Korbstuhl, der in der Nähe des Sofas stand. "Bitte, machen Sie es sich bequem", forderte sie ihn auf. "Ich werde Sie leider für einige Minuten allein lassen müssen – I hope, you don't mind. Hier sind einige Zeitschriften..." Sie rauschte aus der Wohnung, er war allein. Er fühlte, wie das Blut in den Arterien pumpte und stoßweise durch die Halsschlagader in den Kopf jagte. Ein mühsam unterdrückter Erregungszustand befiel ihn, als er sich im Raum umsah.
Einfach eingerichtet, wies er nur wenige Möbelstücke auf. Ein Radiogerät, ein Plattenspieler unverkennbar einheimischen Ursprungs, blickten ihn stumm in ihrer Leblosigkeit an. Etwa vierzig Bücher standen wohlgeordnet auf einem Wandregal. Sommerset Maugham, las er, ja und Scott G. Fitzgerald, ihr Lieblingsschriftsteller. Unwillkürlich lächelte er: wenn sie ahnte, wie genau er sich über dessen Werke informiert hatte!
Sie wird staunen über meine Literaturkenntnisse, freute er sich. Sein Blick glitt die Wände entlang. Zwei ausgezeichnete Farbdrucke von Albert Namatjira, dem bedeutenden und berühmtesten der Eingeborenen-Maler Zentralaustraliens, hingen dort. Beim Melbournebesuch hatte er zufällig dieselben Kopien in der Auslage einer Kunsthandlung bewundert. Preis etwa 70 Pfund, ein teurer Spaß. Auch Originale aus dem vorderen Orient verschönerten das ansonsten beinahe spartanisch anmutende Wohnzimmer. Viel Geld steckte in diesen Kunstgegenständen. Um so unglaublicher wirkten die primitiven, ausrangierten Haushaltsgegenstände und die wenigen Möbelstücke, die ganz nach Trödler aussahen. Er ließ sich wieder in den Korbstuhl zurückfallen, neben dem ein kleines Kästchen mit einem halberblindeten Spiegel stand. Neugierig betrachtete er die paar Utensilien weiblicher Schönheitspflege, die darauf ausgebreitet lagen. Und ein kleiner Stolz ergriff ihn, daß sich dieses kultivierte Wesen, dem die wertvollen Bilder, die Bücher und sonstigen Attribute einer geistig hochstehenden Persönlichkeit gehörten, in wenigen Minuten hier einfinden würde, um ihn, dem Hilfsarbeiter und bloody Newaustralian, ein wenig an ihrem Charme teilhaben zu lassen.
Wen von allen meinen Bekannten, ob Einwanderer oder im Lande Geborenen, wäre es noch gelungen, das Interesse dieser tollen Frau zu wecken? Höchstens Werner, der hat den nötigen Spruch weg, überlegte er vorurteilslos. Der junge Mann kam sich in diesen Minuten ziemlich gut vor, die nächsten Augenblicke jedoch ließen eine Glutwelle heißer männlicher Kraft in ihm hochbrausen, die jeden Zweifel an sich selbst erstickte.
Hinter dem Spiegel lugten Briefumschläge hervor, die er wißbegierig nach kurzem Zögern hervorzog. Schon wollte er das schmale Päckchen etwas schuldbewußt wieder zurückschieben, da las er auf einem Briefkopf seinen Namen:
"Lieber Willy, ich hoffe, diese Anrede gefällt Dir. Aber Mr. Hoeger wäre zu förmlich für die Gefühle, die mich bewegen, wenn ich an Dich denke. Ich muß Dir jedoch mitteilen, was mir als Frau schwer fällt – daß ich sehr enttäuscht war, als ich bei der Tanzveranstaltung in Bonegilla vergeblich auf Dich gewartet habe...Nun habe ich überraschend einen Brief von Dir erhalten, in dem Du mich um ein Wiedersehen bittest. Soll ich Dir schreiben, wie sehr ich mich darauf freue...?"
Eilig kamen trippelnde Schritte näher, rasch steckte er die Umschläge an ihren Platz zurück. "Hello! Ich bin schon wieder da!" rief sie fröhlich und schwenkte dabei das Einkaufsnetz. "Nun koche ich uns zuerst einen Kaffee." Während des Herumhantierens am Herd blickte sie manchmal aufmerksam zu ihm herüber. "Sie haben sich sehr verändert seit wir uns vor drei Monaten zuletzt gesehen haben", meinte sie auf seinen fragenden Blick.
"Inwiefern?" gab er zurück. "Oh – Sie entschuldigen die Bemerkung – kräftiger gebaut. Ich meine muskulöser!" Als er darauf keine Antwort gab, fragte sie kurz: "Ist die Arbeit sehr schwer?" "Daran gewöhnt man sich", meinte er leichthin. "Aber es ist sehr einsam dort oben...", fügte er langsam hinzu. Unverwandt blickte er auf ihren langen, weißen Hals.
"Vor allem bekommt man wochenlang kein weibliches Wesen zu Gesicht...". Wie die Züge einer Schachpartie schwangen die wohlüberlegten Worte zwischen ihnen hin und her. Anscheinend völlig in Gedanken versunken, drehte sie den Wohnungsschlüssel um und servierte ihm dann eine Tasse Kaffee. Nachdenklich ließ sie sich auf das Sofa nieder und nippte an ihrem Getränk. Stockend erkundigte er sich, warum sie heute keinen Unterricht erteile. "Schluß gemacht damit", gab sie zu Antwort. "Vor einigen Wochen habe ich mich um die Stelle einer Empfangsdame bei einem britischen Weltkonzern in der Türkei beworben. Nun bekam ich die Zusage. Nächste Woche reise ich nach Melbourne ab. Es gefällt mir hierzulande einfach nimmer."
Verwundert fragte er: "Aber Sie hatten doch eine interessante und gutbezahlte Stelle?" Ihre plötzlichen Abreisepläne ernüchterten ihn ein wenig. "Ja, das stimmt. Aber es war beileibe keine Lebensstellung. Denn innerhalb weniger Jahre wird die Einwanderungswelle allmählich ein Ende nehmen, vermute ich jedenfalls..."
Zierlich umschlossen ihre langen Finger das Schälchen. Es überraschte ihn, diese Feststellung aus ihrem Munde zu hören.
"Warum glauben Sie das?" Gespannt lauschte er. "Die Beantwortung dieser Frage wäre zu weitläufig, um im Moment erörtert zu werden", gab sie in schleppendem Tonfall zur Antwort. Ein kurzer, rascher und voller Blick in seine Augen, dann schüttelte sie die roten Haare leicht um den Nacken, trat hinter seinen Rücken und zog eine spanische Wand vor. "Ich ziehe mir nur das Hauskleid an", bemerkte sie leichthin. "Gleich bin ich fertig."
Er hörte das Rascheln der Kleidung hinter sich und dachte an den Brief, den sie nicht abgesandt hatte. "Würden Sie mir bitte den Schlafrock reichen? Da drüben liegt er!" Durch das dumpfe Brausen seines Schädels drang ihre Stimme im gewöhnlichen Plauderton in sein Bewußtsein. Benommen erhob er sich. Undeutlich umfasste sein Blick ihre Gestalt, die, kaum verhüllt durch das Negligè , ihm in lockender Versuchung entgegen schwoll. Alle Zurückhaltung der letzten Monate fiel mit einem Schlage von ihm ab. Er stieß die trennende Wand beiseite und zerrte den widerstandslos weichen Körper die wenigen Schritte bis zum Sofa.

* * *


Durch die Jalousien drang das Tageslicht nur gedämpft ein. Ruhig lag er neben der Achtundzwanzigjährigen und sog an einer Zigarette. Die Faltenansätze an ihrem Körper fielen ihm auf. Die Finger mit den grell rotlackierten Nägeln dünkten ihn nun spinnenhaft mager, übermäßig stark an den Knöcheln. Rafferisch, gierig aussehende Hände. Gierig, wie ihre Haltung in den vergangenen vierundzwanzig Stunden, in jeder Hinsicht. Leichter Abscheu befiel ihn.
Die vielen Stunden hatten sie nur im Bett verbracht, außer Freitag Abend. Ihre sexuellen Forderungen waren genauso wenig abgeklungen, wie ihr Bedarf an Geld – in der Bar oder im Kino, oder wo immer sie sich sonst noch aufgehalten hatten. Selbstverständlich hatte er, ohne mit der Wimper zu zucken, ihre in charmant-nachlässigem Ton vorgetragenen Extravaganzen bezahlt und erfüllt. Beryl tat dies sicherlich unbewußt. Sie fand absolut nichts dabei, daß Willi für sie einen Wochenlohn ausgab. Vermutlich war sie daran gewöhnt, daß Männer ihr jeden Wunsch erfüllten. Er glaubte sich nun völlig im Klaren darüber zu sein, daß das, was er am Anfang für Liebe gehalten hatte, weiter nichts war, als die Stillung seiner vehementen Begierden. Er war ihr dafür dankbar, weiter nichts. Und Beryl war viel zu reif und erfahren, um diese Episode überzubewerten. Die Stunden verrannen, eine solche Gelegenheit würde nicht so schnell wieder kommen. Er griff nach Beryl und begann wiederum, ihren Sinnen zu schmeicheln.

* * *


Er wartete vor dem hellerleuchteten Schaufenster eines Delikatessenladens, müde und niedergeschlagen von den vielen Ereignissen der vergangenen Tage und Nächte. Der Murray Valley Bus würde ihn zurück in sein Bettchen hoch oben in den australischen Alpen bringen, er sehnte sich geradezu danach. Der Abschied war betont einsilbig ausgefallen.
"Nächste Woche reist sie ab, und es ist endgültig vorbei. Noch ehe es richtig begonnen hat", dachte er. "Ist ja auch egal, wird sich schon wieder etwas finden."
Sein ehedem jungenhafter Idealismus und die Schwärmerei war gebrochen, die Tatsachen des Lebens erschienen ihm plötzlich in einer sehr nüchternen Fassung.
Gleichgültig betrachtete er die Nahrungsmittel im Schaufenster. Importware aus bloody Germany. "Wie würde wohl das Land aussehen", sinnierte er kurz, "wenn man nur für einen Tag lang, für einen einzigen , kurzen Tag, die in den letzten zehn Jahren eingewanderten Menschen aus den Fabriken, Geschäften, Spitälern und Baustellen entfernen würde, oder sich wegdenken könnte. Zusammen mit den Erzeugnissen ihres Fleißes, oder den aus Europa importierten. Was wohl die Aussies dazu sagen würden? Vermutlich ginge ihnen dann ein Licht auf und sie sähen die Leistungen ihrer kaum beachteten ausländischen Mitbürger in einem anderen Licht."
Wo immer man hinblickte, stieß man auf die Spuren der Einwanderer. War es nun im Buchladen, oder hier die – Salami vor seinen Augen. Auf der anderen Straßenseite marschierte gerade eine Musikkapelle auf. Verschrobene Weiblein und Männlein in den schwarz-rot-goldenen Uniformen der Salvation Army gruppierten sich um die Musikanten und stimmten rührselige Lieder an. Die langen weißen Schärpen hätten auch vortrefflich in die Biedermeierzeit gepasst. Der Verein sammelte nun Geldspenden, schnell verdrückte er sich in eine dunkle Hausecke. Sein Portemonnaie war leer. Gut, daß er den Rückfahrschein der Elektrizitätsgesellschaft in der Tasche hatte. Endlich ratterte die verdammte Klapperkiste daher.
Inmitten einer Horde besoffener Bauarbeiter ging es über regennasse, aufgeweichte Straßen dahin. Manchmal schlingerte das Fahrzeug über zentimeterdickem Schlamm der von der letzten Überschwemmung rührte, wie ein Dampfer dahin.
Einer der angeheiterten Kerle, die in einem fort gröhlten und rülpsten, stand nun auf und ging zum Wagenlenker nach vorne. Mit lauter Stimme forderte er ihn auf, den Wagen unverzüglich anzuhalten, da er dringend Pissen gehen müsse. Sofort fuhren ihm die Kollegen über den Mund, er möge sich gefälligst ruhig verhalten: "Shut up, eine Lady mit Kindern befindet sich im Bus!" Also wirklich, soviel Feingefühl hatte Willi den Männern nicht zugetraut. Nahmen Rücksicht auf die Frauen und Kinder. Auch der größte Prolet besitzt hierzulande einen gewissen Anstand, ein Benehmen, das man zuhause in Europa oft vergeblich sucht, überlegte der Österreicher.
Während der langen Fahrt schlotterte er in seiner dünnen Kleidung vor Kälte. Knapp vor McKay Creek streikte der Bedford-Bus. Innerhalb einer halben Stunde war hier heroben soviel Schnee gefallen, daß der Wagen wenige hundert Meter vor dem Ziel stecken blieb.

* * *


Der "Erfolg" bei Beryl verlieh dem jungen Mann einen ungeahnten Auftrieb. Er entschloß sich, am kommenden Mittwoch die Kündigung einzureichen, bevor er sich die Sache wieder überlegte und diskutierte zufällig mit Paisano, dem Italiener, diesen Punkt.
"Oh, das ist schlimm", meinte der entsetzt. "Du solltest nicht kündigen bevor du nicht einen anderen Job sicher an der Hand hast."
"Den bekomme ich von hieraus nie, da gehe ich früher drauf!" entgegnete ihm der Österreicher düster.
Bei jedem von ihnen traten von Zeit zu Zeit ernste Anzeichen von Buschkoller auf. Oft ertappten sich die Männer dabei, wie sie minutenlang in eine geöffnete Schublade starrten und krampfhaft nachdachten, was sie darin eigentlich suchten. Plötzlich fehlten ihnen altvertraute Namen und Begriffe, schienen einfach aus dem Gedächtnis radiert.
Fein säuberlich notiert, hing in Hugos Bude eine lange Rubrik mit den voraussichtlichen Ersparnissen der kommenden fünfzig Wochen, versehen mit Wochendatum und Auszahlungsbetrag.
"Mensch, ich bin erschüttert! Ist doch kompletter Stumpfsinn, was du da produzierst!" hatte ihm Willi vorgehalten. "Was soll ich denn sonst machen? Auf irgend eine Art muß ich mich ja geistig beschäftigen", hatte ihm der Berliner zur Antwort gegeben.

* * *


Freddy, ihr neuer Partieführer – Bluebird war versetzt worden und von ihnen gegangen, ohne ein Wort über seine Versprechungen zu verlieren – hatte es anscheinend auf die drei abgesehen.
Eines Tages erteilte er ihnen eine Rüge. Sie redeten zuviel und arbeiteten zu wenig, erklärte er . Er stellte einen Hünen von Mann dar, der keine Widerrede duldete. Nie sah man ihn ohne seinen Diggerhut, dessen Kinnriemen er wie bei einem Stahlhelm festgezurrt hielt. Ein reichlich pittoresker Anblick.
"Und deshalb, Gentlemen, kommandiere ich euch zum Betonschippen ab!" fügte er hämisch grinsend hinzu. Willi entfuhr ein "Du kannst uns am Arsch lecken, du blöder Kanake!" Ob er etwas gesagt hätte, erkundigte sich Freddy darauf, Willi jedoch zog den Schwanz ein und flüchtete in Ausreden. Werner dagegen entgegnete dem neuen Partieführer, er möge gefälligst überlegen, was er da von sich gäbe. Seines Wissens hätten die paar Deutschen und Österreicher keine Jota weniger geleistet wie die übrigen Männer. Und daß sie sich dabei deutsch unterhielten, könne er ihnen doch nicht im Ernst verbieten. Völlig emotionslos und sachlich fügte er noch hinzu: "Wenn ihr alle Einwanderer so behandelt, werden sie euch bald wieder zum Teufel gehen."
"Das wollen wir ja gerade!!" stieß Freddy unter seinem Diggerhut höhnisch hervor. "Das wollen wir ja gerade erreichen!" knirschte er zwischen den Zähnen hervor und streckte die geballten Fäuste vom Körper ab. Nur zwei oder drei australische Arbeiter hielten sich in der Nähe auf. Verlegen blickten sie zu Boden, so, als ob man sie bei einer unerlaubten Handlung erwischt hätte.
" I see! So ist das also!" Das war alles, was Werner daraufhin herausbrachte. Noch niemals hatte man ihnen das eben Geäusserte so unverblümt ins Gesicht geschleudert, nein, geschrien. Nun reagierte der Österreicher auf seine Weise. Er nützte die Situation, um Freddy eins auszuwischen: "Dann ersuche ich hiermit um meine Kündigung!" Feindselig starrte er den Aussie an. Der schwankte einen Moment lang und meinte schließlich, er wolle diesmal vom Betonschippen absehen. Stur antwortete Willi, daß dies an seinem Entschluß nichts ändere. Freddy sah ihn haßerfüllt an und knurrte bloß: "Bloody German!" "
Ich bin aber Austrian, falls Sie gestatten!" grinste ihn der betont freundlich an.
Der Österreicher und die beiden Deutschen träumten in der folgenden Woche nur von einer Heimreise. Willis Stimmung besserte sich kaum, als er von Erwin einen Brief aus Melbourne erhielt, indem er unter anderem berichtete, daß er seit vierzehn Tagen vergeblich um Arbeit herumlaufe. "Einerlei", dachte er, "ich nehme die einmal ausgesprochene Kündigung nicht zurück." Außerdem hatte ihm ein Bekannter aus der Bonegilla-Zeit brieflich von einem Produktions-Erweiterungsprogramm in der Radioindustrie berichtet. "Warum solltest du dort nicht Arbeit finden, wenn sogar ungelernte Kräfte eingestellt werden? Für den Notfall darfst du meinen Wagen als Schlafgelegenheit benutzen."
"Das kann man wirklich ein großzügiges Angebot nennen. Der hat gut Lachen mit seinen 26 Pfund pro Woche!" Deprimiert sah er auf den Briefbogen und ließ wiedereinmal den Kopf hängen.
In der letzten Woche seines Buschlebens, wie er meinte, baute er mit Hugo und Werner eine Gleisweiche zusammen. Zwei Tage schufteten sie unter der Aufsicht Freddys daran herum, bis die Angelegenheit ihrer Meinung nach in Ordnung war. Der Aussie schlenderte am Abend so beiläufig mit einer Zeichnung vorbei und erklärte dann genüßlich, daß der Weichen-Stellhebel auf die andere Seite des Schienenstranges gehöre. Folglich müßten sie den Mechanismus wieder auseinander nehmen und andersherum zusammenbauen. Die drei sahen sich entgeistert an, dann stieß einer hervor:
"Ich habe es bis jetzt noch nicht herausgefunden – sind die Kerle so blöd, oder machen sie absichtlich alles zweimal – damit sie hier recht lange bauen dürfen!" Werner sah dem Australier nach, wie er zu seinem Jeep marschierte. "Vielleicht wollen sie uns auch bloß ein wenig auf die Schippe nehmen?" grinste Willi höhnisch.
"Das dürfte ihnen aber verdammt ähnlich sehen", meinte Hugo trocken. "Was sagt ihr übrigens zu dem da drüben?" Er wies auf einen älteren Mann mit einer Pelzmütze auf dem Haupt, der ihnen durch seine starre körperliche Unbeweglichkeit aufgefallen war. Ihr neuer Vorarbeiter, wie es hieß. Stundenlang lehnte der Mann am Türrahmen der Bauhütte und guckte bewegungslos in die Luft. "Scheint auf den Tod zu warten, wie alle hier. Die vergeuden sinnlos ihr Leben." Verdrossen schüttelte er den Kopf. In diesem Falle hatte der junge Mann etwas zu vorschnell geurteilt, wie sich noch herausstellen sollte.

* * *


Das Schicksal hatte noch kein Einsehen mit ihm. Wegen einer kleinen Unstimmigkeit in seinen Entlassungspapieren weigerte sich der Kassier, ihm die Stehwoche auszubezahlen. Er wurde in das Büro des Industrial Managers beordert, der ihm eröffnete, daß seinem, vor längerer Zeit schriftlich eingebrachten Gesuch um Verbesserung seiner Position, erst gestern(!) nachgekommen worden sei. Falls er also noch die Absicht habe, könne und dürfe er nächste Woche in einer Reparaturwerkstätte in Walla als Hilfsmechaniker anfangen.
"Wenn Sie gute Fähigkeiten entwickeln und vielleicht einige Prüfungen ablegen, dürften Sie nicht allzulange brauchen, um Mechaniker zu werden." Da ihn Willi zweifelnd ansah, fügte er quasi als Entschuldigung hinzu: "Damit Sie nicht glauben, wir hätten Ihr Ansuchen nicht zur Kenntnis genommen."
Behäbig hingegossen hockte er hinter seinem Schreibtisch, mit einem leichten Anflug von Hochmut auf der Stirne. Willi blickte nun noch hochnäsiger auf den Dicken herunter, erbat sich eine halbe Stunde Bedenkzeit und spazierte auf die Straße hinaus. Unschlüssig stand er an der Ecke des Postamtes herum, als ein junger Mann seines Alters einen Brief aufgab. Er erkannte einen Landsmann und knüpfte ein Gespräch an, schilderte seine Situation und befragte ihn direkt um einen Rat. "Geh' in die Werkstätte, es kann dir wirklich nur nützen, ganz egal, ob du in der Gegend bleiben willst oder nicht. Bei der nächsten Stellenbewerbung kannst du immerhin deine neue Qualifikation anführen. Das zieht meistens!" Ein günstig gewogenes Geschick ließ Willi diesen Ratschlag annehmen, denn Monate später bot sich ihm eine große berufliche Chance – nicht zuletzt aufgrund des nun angebotenen Jobs.
"Good man!" meinte der Aussie und lächelte nachsichtig, als ob er diesen Entschluß von vorneherein erwartet hätte. Erleichtert über diese vorläufige berufliche Entscheidung, ließ er ein dementsprechendes Telegramm nach Adelaide ab und bestieg gleich einen Autobus nach Wangaratta, wo der Eilzug nach Melbourne hielt.
Erschöpft lehnte er sich in die Polsterung, er fühlte sich hundeübel nach der halbstündigen Talfahrt mit dem Land-Rover. Es hatte ihn auf der Ladefläche von einer Ecke in die andere geschleudert. Unter den Passagieren im Bus befanden sich, außer Werner und einem blutjungem Engländer, auch der maltesische Vorarbeiter, den sie wie gesagt, für stumpfsinnig hielten. Der Alte saß neben dem Österreicher, der dem Malteser von seiner Anstellung als Hilfsmechaniker berichtete. "Das ist besser so", erläuterte der, "in einer großen Stadt würdest du vollkommen allein auf dich gestellt sein – du gehst unter den Millionen Menschen einfach unter. Niemand, absolut niemand kümmert sich um dich. Ich kenne das, bin selbst vor dreissig Jahren eingewandert. Nun ist mein Sohn erwachsen, ein Australier durch und durch, und angehender Flugzeugingenieur.
Aber ich verstehe natürlich, daß das Leben in dieser Gegend mehr für meine Generation geeignet ist. Ich habe euch junge Burschen heimlich betrachtet und beobachtet: Ihr kommt mir bei der Dreckarbeit wie Rennpferde vor, die man als Ackergäule einspannt. Schließlich werden die unruhig, nervös und brechen dann einfach aus. Der angeschlagene Tritt ist für euch zu langsam."
Mit seltsam stechendem Blick musterte ihn der Alte. Dem Burschen fröstelte, er drehte sich weg und sah durch die hauchfein beschlagenen Seitenfenster, ohne richtig zu erfassen, was draussen schemenhaft vorbeizog. Seine Gedanken kreisten um die Millionenstadt Melbourne, in seiner Phantasie glitten elegante Frauen vorüber, sah er sich durch die Lichterkaskaden abendlicher Straßen wandern. Überall stoßende und drängende Menschen...
Und auf einmal sah er sich Pläne und Zeichnungen vor Ingenieuren ausbreiten, die er erläuterte... Ein Schmunzeln stahl sich über seine vordem so ernsten Züge: Wunschträume angesichts der fatalen Gegenwart, nichts sonst..
"Du bist ein glücklicher Mensch", hörte er den Alten neben sich sagen. Sofort kehrte die Wirklichkeit in sein Bewußtsein zurück: "Warum glauben Sie das?" fragte er erstaunt. Der Malteser wies zur Scheibe hinaus. "Du bemerkst die Bäume und Sträucher garnicht, die da draussen in rauhen Mengen wachsen und seit einer Stunde an uns vorüberziehen. Du bist momentan überhaupt nicht im Bus. Dein G e i s t trägt dich weit fort aus dieser Einöde..."
Und nach einem kurzen Innehalten fuhr er fort: "Du hast den meisten Menschen deiner Umgebung viel, ich möchte fast behaupten, alles voraus. Ich meine deine Einbildungskraft, deine Fantasie!"
Der Mann verstummte wieder und verfiel in sein übliches, tranceförmiges Schweigen. Sein Anlitz verfärbte sich gelblich und strahlte eine unheimliche innere Konzentration aus.
Scheu betrachtete ihn der junge Mann von der Seite her. War er nur ein guter Psychologe – oder konnte er Gedanken lesen? Sein Nachbar rührte sich nocheinmal kurz, wie als Antwort auf Willis Gehirnströme: "Du wirst es wahrscheinlich nicht glauben, aber ich habe telepathische Fähigkeiten – durch langjähriges Training erworben – bin Yoga-Anhänger – werde dir das bei Gelegenheit mal explizieren..."

* * *


Der Zug donnerte durch die Gegend und hielt nun an einer kleinen Station. Einige hübsche und fröhliche Girls steckten den Kopf bei der Schiebetür herein und erkundigten sich bei den einsam dahindämmernden Knaben, ob noch Sitzplätze frei seien. Wie auf Kommando sprangen die drei auf die Beine, wiesen mit eleganten Handbewegungen auf die leeren Polsterstühle und riefen unisono aus: "Selbstverständlich, bitte!!" Zu Tode erschrocken durch diesen überschwengliche Empfang, verschwanden die Mädels und brachten sich fluchtartig in "Sicherheit". Die Übereifrigen brüllten vor Vergnügen hinter ihnen her.

* * *


Die Liebenden schritten aufeinander zu, hielten einen Augenblick inne und fielen sich mit weit ausholenden Gebärden in die Arme. Das lang erwartete Happy-End mit innig verschmelzendem Kuß prangte in Großaufnahme, bis sich die Lippen der Liebenden voneinander lösten, und die beiden Kinostars selig vereint der sinkenden Abendsonne entgegen wanderten.
Tausend elektrische Kerzen flammten an schwülstigen Kronleuchtern auf, die blauen Lichter der Himmelsimitation oberhalb der gipsernen Engelsköpfe entlang des Saals verblassten. Die Kinobesucher erhoben sich aus den dick gepolsterten Klappsesseln und reihten sich in endlose Schlangen ein, um in die teppichbelegten Foyers zu strömen, dort an einer Zigarette zu ziehen oder der weiblichen Begleitung einen Pappbecher Orange-Juice zu holen.
Die Verkäufer mit ihren Bauchladen brachen in langgezogene Rufe aus: "Icecreme! Icecreme!"
Aus der Seitenloge neben der riesigen Projektionsfläche tauchte im wechselndem Licht sämtlicher Spektralfarben eine mächtige Wurlitzerorgel aus der Versenkung. Eine befrackte Gestalt verneigte sich vor dem spärlichem Publikum im Saal und intonierte auf den Tasten dieses elektronischen Monsters Oh Josephine, Just Walking in the Rain und die übrigen Popular Hits, die dröhnend aus zehn Lautsprechern orgelten.
Willi saß zusammengekauert auf seinem Stuhl und ließ die Geräusche, Töne und Geruchsnuancen dieses Kino-Palastes auf sich wirken.
Was für ein imposant inszenierter Zirkus. Welch hochgekitzelter Nervenreiz, zusammengesetzt aus ausgeklügelten optischen Systemen, genial aufgebauten Stromkreisen, wunderbar zugeschnittenen Abendroben, und, nicht zu vergessen, Eiscreme, dem Gesundheits-Nahrungsmittel der Nation.
Und Jack der Irländer besaß nicht einmal eine anständige Sonntagshose, und als Stimulans genügte ihm ein entsprechendes Quantum Bier. Die Welt war schon ein Narrenhaus. Wieviele dieser gestikulierenden, zivilisierten Besucher mochte etwas von den heimlichen Exzessen ahnen, die er, Willi Höger, mehrmals pro Woche durch die dünnen Preßpappwände mitanzuhören gezwungen war?
Komm, hatte er die Stimme beschwörend flüstern gehört. Sträub' dich nicht länger! Tun wir's, oder ich werde noch verrückt hier!
Nein, dieses fröhlich-arrogant dreinsehende Publikum drückte sicherlich andere Sorgen, wenn überhaupt welche.
"Hallo, Mr. Hoeger!"
Ihn hatte man gerufen? Ihn? Die Sitzreihen gähnten vor Leere, aber drüben beim Gang hielt ein Mann eine blonde Frau mit einem Cape am Arm.
"Unglaublich! Das ist ja Kurti Meier, mein Sitznachbar von der Flamingo!!" Freudig bewegt eilte Willi auf das Ehepaar zu und begrüßte es überschwenglich.
"Also unmöglich, unmöglich!" brachte der Stiernackige immer wieder heraus. Diese zufällige Begegnung nach sovielen Monaten ging über aller ihr Begriffsvermögen. Meier überreichte ihm seine Adresse: "Besuche uns, sobald du in Melbourne wohnst!"

* * *


Nach endlosem Suchen gelang es ihm, Erwin in einem Vorort von Melbourne zu finden. Er hatte kilometerlang Slumviertel durchquert, wo der Wind Papierfetzen über die Straßen trieb, die durch niedrige Häuser mit Flachdächern begrenzt waren. Schlecht oder nachlässig verputzt, boten diese Gebäude Restaurants verschiedener Balkanstaaten Unterschlupf oder wurden von kinderreichen südeuropäischen Familien bewohnt. Rassige, leicht verschlampt aussehende Mädchen standen unschlüssig vor den Klublokalen ihrer Boyfriends und versuchten durch die grauweiß übertünchten Fensterscheiben ins Innere zu blicken. Die kräftigen jungen Männer, die dort anscheinend stundenlang beim Plärren der Musikbox tabakqualmend herumhingen, hätten ihm in den Nachtstunden kalte Schauer über den Rücken gejagt. So war er über die Nettigkeit und Sauberkeit des Stadtviertels, in dem Erwin wohnte, wirklich froh. Vor zwei Wochen erst aus Tasmanien angereist, teilte Erwin das Zimmer mit einem Burschen des gleichen Transports. Wie immer befand er sich in bester Laune, ein wenig übermütig und ohne einen Gedanken an die Zukunft zu verschwenden. Ein Kofferradio stellte sein ganzes Hab und Gut dar, alles andere war beim Übersiedeln draufgegangen.
"Was meinst du, Willi, wie es in der Wildnis ausgesehen hat! Unser Arbeitgeber wies uns bei der Ankunft einen vollkommen verdreckten Bretterverschlag als Behausung zu. Auf den Bettgestellen lagen Leintücher, die ich normalerweise bestenfalls als Schuhfetzen verwendet hätte. Vielleicht war der Gentleman der Meinung, Österreich liegt irgendwo bei den Hottentotten in Zentralafrika! Jedenfalls war das Ganze eine schöne Zumutung.
Für Arbeit und Quartier wird gesorgt! Diese Schweine in Bonegilla!" Nachdem er sich den verflossenen Ärger von der Seele räsoniert hatte, packte er über die Gegenwart aus: "Ja, zu Zeit arbeite ich bei einem Goldschmied, und Konrad ist in seinem Beruf gelandet und schupft wieder Ziegel."
Nach einigen Flaschen Bier im Kreise von Erwins Quartiergebern war es dann so weit, daß man Willi nicht mehr weggehen lassen wollte. Wie im Fluge verging der Nachmittag. Als er einmal auf die Uhr sah, bemerkte er zu seinem Entsetzen, daß sein Zug die Spencer Street Station am anderen Ende der Stadt in zwanzig Minuten verlassen würde. Hastig stürmte er davon und verbrachte bange Minuten bis zum Eintreffen der Straßenbahn. Er überlegte inzwischen, was alles passieren würde, sollte er den "Spirit of Progress" nicht erreichen.
Mit etwas Glück kann ich dann den Job in der Werkstätte am Dienstag antreten. Ein schöner Start! Vielleicht feuert man mich ohnehin sofort?
Zappelnd vor Ungeduld, erkundigte er sich beim Schaffner, wann die Tram den Bahnhof-Nord erreichen würde. "Fünf nach fünf", erklärte der. Mindestens um fünf Minuten zu spät! Halt! Es gab noch eine Chance! Er löst das Ticket bis zum Ziel und hielt verzweifelt Ausschau nach einem Taxi.
Hier an der Ecke! Willi sprang von der Tram ab und keuchte auf das parkende Auto zu: "Spencer Street Station, quickly!" Der Sekundenzeiger seiner Uhr schien sich rasend schnell zu drehen. Eine Minute vor Fünf. Er hastete die Waggons entlang. Drinnen sah er die Passagiere dichtgepackt wie Sardinen in den Laufgängen stehen. Durch die großen Scheiben winkten sie den Angehörigen am Bahnsteig Lebewohl. Suchend blickte er im Vorbeirennen hinein.
"Mr. Hoeger! Hello, Mr. Hoeger!!!" Der junge Mann drehte sich im Laufen um: Der Malteser hing halb aus einer Waggontüre und winkte mit dem Arm. "Ich habe für dich einen Platz reserviert! Komm! Schnell!!" rief er ihm zu. Aufatmend sank der Österreicher in den einzigen freien Sitz. Geschafft! Trotzdem fühlte sich etwas unbehaglich in seiner Haut. "Hast du geahnt, daß ich so knapp vor der Abfahrt eintreffen werde?" fragte er seinen Vorarbeiter.
"Ich habe es nicht geahnt, ich habe es g e w u ß t", gab der zur Antwort. "Du kommst geradewegs aus dem Suburb E., stimmt das?" Willi starrte ihn kopfschüttelnd an: "Ja, aber wie...?" Der Alte sprach nun vollkommen ernsthaft: "Ich habe dir damit, so meine ich, ein Exempel meiner telepathischen Fähigkeiten statuiert. Oder, was meinst du, wie ich das sonst herausbekommmen habe?"
Behaglich lehnte sich Willi nun in die weiche Polsterung zurück und freute sich über die übersinnlichen Ausritte des Maltesers, denen er zumindest den Sitzplatz verdankte. Die Leute im Abteil kamen einander mit jedem vorbeifliegenden Kilometer näher.
Der Malteser verwickelte drei junge Pfadfinder in ein Gespräch. "Wetten," sagte er eben, "daß ich eure Namen und Vornamen errate? Schreibt sie auf einen Zettel, und ich werde sie gleichfalls zu Papier bringen!" Gesagt, getan. Die Jungs, die den Vorschlag ein wenig spöttisch aufgenommen hatten, sahen einander bestürzt an: Alles stimmte, buchstabengenau! Der Malteser blickte Willi nur stumm an, glaubst mir nun, lautete seine unausgesprochene Frage. Der vermied, nachdenklich gegen die Kopfstütze gelehnt, jede Diskussion.
Wenn das Sprichwort nicht so abgeschmackt wäre, würde ich einfach sagen: 'Es gibt eben mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als es sich unsere Schulweisheit träumen läßt'. Aber ich möchte den Gedankengang weiter führen. Es gibt, ja es muß eine Macht existieren, die unser Schicksal mit unsichtbarer Hand führt. Und wir können versuchen und tun was wir wollen, wir entrinnen dem Weg nicht, der uns in groben Zügen von allen Anfang an mit auf dem Lebensweg gegeben wird.
Warum trete ich nicht jetzt schon das Pflaster in Adelaide, wie ich es mir noch vor wenigen Tagen vorgenommen habe?
Warum habe ich mich nochmals beschwatzen lassen, in den Busch zurückzukehren?
Viele solcher Fragen drängten sich ihm auf, die Antwort darauf sollte ihm die nahe Zukunft bringen. Bald, bald würde er alles wissen...
Er verfiel in eine Art Halbschlaf. Schemenhaft tauchten die Umrisse des Armbandes auf, das er in Port Said gekauft hatte, dann das großartige Panorama einer Stadt mit vielen Buchten, deren eine von einer mächtigen Brücke überspannt wurde. Und geisterhaft deutlich sah er vor seinem inneren Auge einen Mädchenkopf, dessen Anblick in ihm ein schmerzhaft-sehnsüchtiges Gefühl hervorrief, und sein Herz erschauern ließ.
Ein Rütteln an seiner Schulter riß ihn aus seinen Wachträumen. "Wangaratta! Wir sind angekommen! Aussteigen!" Er strich sich flüchtig über seine Stirn, ergriff das Gepäck und kletterte in die Nacht hinaus.

* * *


In der Werkstätte bot man ihm genügend Gelegenheit beim Fegen die exakte Handhabung eines Besens zu studieren. Nach tagelangem Einexerzieren benötigte er für die 1500 Quadratmeter der Halle knapp eine Stunde. Ganz sicher war den Aussies der Wiener Ausspruch "Einer muß der Novak sein..." völlig unbekannt, aber bestimmt überlegten sie solcherart: Ein Migrant muß den Schani spielen. Daß er nicht mehr wird, dafür sorgen wir schon...
Immerhin stellte die Tätigkeit, verglichen mit dem sinnlosen Schneeschaufeln der letzten Woche, einen bedeutenden Fortschritt dar. So durfte er am dritten Tag bereits als Beleuchter für die verschiedenen Mechaniker agieren, und am Nachmittag bastelte er an den Bremsen eines schweren Lastwagens herum. Zusammen mit Nick, einem aufgeweckten jungen Australier, der ständig einen Zigarettenstummel im Mundwinkel trug.
" Wenn du dir das Rauchen noch nicht angewöhnt hast – wie ich sehe, rauchst du bei der Arbeit nie – well boy, dann wirst du es dir bei diesem Verein angewöhnen", meinte er sachlich zu Willi.
Der verheiratete Zweiundzwanzigjährige bewohnte drunten im Tal ein Heim für Werksangehörige. Mit seinen Landsleuten in der Bude stand er nicht auf besonders gutem Fuß. Was daher rühren mochte, daß er zufolge seiner Tüchtigkeit, raschen Auffassungsgabe und einem gewissen Schuß Zynismus, bei den langweiligeren Kollegen nicht besonders beliebt war. Er interessierte sich, im Gegensatz zu Willis sonstigen einheimischen Kollegen, auch sehr für das Leben außerhalb seiner Insel. Häufig ließ er sich von den Pisten und Seilbahnen in Austria berichten, da er ein begeisterter Skiläufer war. Der Österreicher berichtete in sachlichem Ton und vermied jede Art von Angabe oder Prahlerei. Nick hingegen erzählte mit leichter Ironie von verschiedenen unguten Zuständen in Australien, die er als vermeidbar und ungerecht empfand. Nebenbei erwähnte er, daß seine Frau vor zwei Jahren von einem europäischen Arzt, hier als Hilfsarzt tätig, mit Injektionen gegen ihr Gallenleiden erfolgreich behandelt worden sei. Verächtlich fügte er hinzu: "Jetzt konnte man in der Zeitung lesen, daß ein hiesiger Arzt erstmalig diese Kur in diesem Lande durchgeführt hat. Entweder wissen die bei der Tageszeitung nicht besser Bescheid, oder sie negieren bewußt die Leistungen anderer Nationen."
Verblüfft lauschte der Österreicher diesen Ausführungen. Sehr wenige Menschen seiner Umgebung sahen den Facts of Life derart trocken ins Auge.
Insgeheim hatte er gehofft, in der Werkstätte interessantere Aufgaben vorzufinden. Tatsächlich waren von den zahlreichen Mechanikern, die an Kraftwagen, Caterpillars, Bohrgeräten vom Tunnelbau und anderen, kleineren Geräten herumwerkten, höchstens die Hälfte ausgelastet. Deshalb dehnte man die Aufwärmrunde am Morgen häufig auf eine volle Stunde aus. Die Leute placierten sich um die glühenden Herdplatten, rieben sich die Hände und rissen faule Witze. Hier fand Willi das einzige Gerät im ganzen Werksgelände in Aktion, das offensichtlich mit einiger Überlegung erdacht und angewendet wurde: Aus einer Konservendose, gefüllt mit verbrauchtem Schmieröl, lief ein dünner Strahl auf die Holzscheite im Ofen, um dort qualmend zu verbrennen. Wenn Willi bei Sepp über den unkoodinierten Einsatz von Mensch und Material auch nur ein Wort fallen ließ, hatte er den Richtigen gefunden.
"Dö Hinschädel, dö narrischen!" pflegte der Bayer gewöhnlich loszulegen. "Wann wir daham so orbatn tatn, hätt der Kriag kane zwölf Monat dauert – wos natürli besser gwesn war!" Er war völlig dem Buschkoller verfallen. Dauernd ärgerte er sich über den Boß, Frogman genannt. Aufgebläht wie der war, hatte man ihm insgeheim diesen Spitznamen verliehen. Oberhalb seines vom Trinken aufgequollenen Leibes, in der Brain-Box, war er auffallend schwach beisammen. Der Bayer fuhr fort: "Ich habe mir angewöhnt, diesen Leuten nichts mehr zu erklären oder zu sagen. Wenn sie irgendetwas nicht begreifen, stehst d u noch als Narr oder Idiot da... Merk dir eines, Willi: Erzähle nie etwas unaufgefordert über Europa, auch wenn du dies in der besten Absicht tust. Leicht werden deine Bemerkungen mißverstanden, und die armen Aussies bekommen Minderwertigkeitskomplexe. Lob das Land und seine Einrichtungen – und wenn's der größte Dreck ist. Die Leute haben kein Interesse an der Wahrheit oder an Vergleichen zwischen ihrem Land und anderen. Die leben so, wie sie es sich wünschen – allein und sorgenfrei wie die Fidschi-Insulaner. Ungeachtet der brodelnden Völkermassen, ein paar tausend Kilometer weiter im Norden. Weißt du wie man das nennt, dieses Paradies, von dem sie unentwegt träumen? Und das doch mit einem Donnerschlag verschwinden kann?
Paradise of Fools! Das N a r r e n p a r a d i e s !"
Äusserste Bitterkeit und Vergrämtheit sprach aus seinen Worten und Gesichtszügen. "Aber bitte, laß' dich nicht von mir beeinflussen. Halte dich an Gregor, dem gefällt es hier ausgezeichnet."
Gregor stammte aus Dresden und führte die Elektro-Reparaturen durch, war also ein Spezialist und erfreute sich besonderer Wertschätzung. Nicht nur, weil er ein fröhlicher Nichtsnutz war, der kein Mädchenherz verschmähte, sondern er machte auch jede Sauferei mit. Australien gefiel ihm so gut, daß er nun seinen Bruder nachkommen ließ. Und dann war er noch Besitzer eines ausrangierten Buick, den er in unzähligen Freizeitstunden soweit zusammmengeflickt hatte, daß er eine Ausfahrt wagen konnte. Das einzige, was seine gute Laune manchmal störte, war die Tatsache, daß er, genauso wie Sepp, bis dato weder seine Facharbeiterzeugnisse zurückerhalten hatte, noch irgendein australisches Äquivalent dafür.
"Scheinbar will man uns so zwingen, zwei Jahre auf diesem Posten auszuharren. Zuviele würden ansonsten gleich in die Stadtregionen ziehen. Jedenfalls gefällt mir die Methode nicht sonderlich, und wenn ich meine Papiere nicht bald erhalte, schlage ich Krach!" meinte Georg einmal abschließend zu dem Punkt, und sein vom Trinken gerötetes Gesicht lief noch mehr an.
Die ganze Gesellschaft in der Werkstätte durfte man ruhig als buntgemischt bezeichnen. Am auffälligsten trat ein Schotte in Erscheinung, klein von Statur, immer tadellos frisiert und mit einer randlosen Brille versehen, die ihm ein intellektuelles Gepräge gab – was zu seiner Stelle als Hilfsmechaniker nicht recht paßte. Gleichwohl pfiff und trällerte er den ganzen Tag lang und manchmal bekam er regelrechte Temperamentsausbrüche. Dann sprang er behende auf eine Werkbank und fing kunstgerecht zu steppen an. Rasend, ausdauernd und rhythmisch, daß die Kollegen Hämmer und Schraubenzieher liegen ließen und dem Kerlchen entgeistert zusahen. Dem weitläufigem Bild eines Schotten entsprach mehr Mac, der Irländer. Zuhause, auf der freiheitsliebenden Insel, wartete ein Mädchen auf ihn, das ihm jede Woche zwei lange Briefe sandte. Strahlend vor Glück sah man dann den wildgelockten Burschen mit der stämmigen Figur eines Bauern jedesmal den Umschlag aufreißen, um das Schreiben dankbar mit den Lippen zu berühren. Abgesehen von einem gelegentlichen Fluch, schuftete er stumm und wie ein Wilder drauflos. Arbeiten, arbeiten! Sparen, sparen! Heimkehren, heimkehren! Das schienen die einzigen Gedanken zu sein, die den Irländer bewegten.
Da war noch ein verheiratete Brite, die beiden australischen Lehrbuben und Morry, ein zerlumptes Individuum, das nur ungern die Anordnungen des Chefs ausführte und danach gewöhnlich stundenlang hinterdrein maulte, so, als ob er ernstlich böse wäre. Keiner nahm ihn ernst, was ihm nur recht war. Bald nannte man ihn nur mehr Our Swaggie, unseren Vagabunden. Der Kerl legte eine ziemliche Gerissenheit an den zu Tag und trieb nebenbei einen schwunghaften Handel mit Elektrogeräten in der kleinen Ansiedlung wo seine Frau wohnte.
Der australische Materialverwalter erwies sich als ein angenehmer und ruhiger Mitmensch. Da Willi erfahren hatte, daß er im Krieg irgendwo in der Nähe seiner Heimatstadt beim Bau von Luftschutzstollen eingesetzt worden war, lieh er ihm sein reichbebildertes Österreichbuch, in der stillen Hoffnung, die Familie würde ihn vielleicht zu sich einladen. Aber nichts dergleichen geschah. Ein Arbeitskollege erzählte ihm von einer riesigen Narbe am Rücken dieses Mannes, die aus der Kriegszeit herrührte. Er wisse allerdings nicht, wie die Verwundung zustandegekommen sei.
Ein klein wenig war er von der Haltung des Australiers enttäuscht, schließlich hätte auch er Ressentiments gegen die Aussies hegen können. Zu tief hatte sich in seine Erinnerung eingegraben, daß es ein australischer Pilot gewesen war, der, von zwei Wehrmachtsangehörigen flankiert und gestützt, mit hinkendem, blutigem Bein auf der Straße vor seinem Elternhaus vorbeigehumpelt war: nach einem Terrorangriff auf seine Heimatstadt, bei dem Angehörige von ihm ihr Leben unter den zusammenstürzenden Trümmern lassen mußten. Die Geschehnisse lagen weit zurück, die Schuldigen waren nicht belangbar. Sollte er sich deswegen heute noch von Unmutsgefühlen leiten lassen?
Die elektrische Raumheizung in ihren Unterkünften reichte nicht mehr aus zu dieser Jahreszeit. Seit Tagen regnete es ununterbrochen. Der Postbus war ausgeblieben, da er die überfluteten Straßen von der Bahnlinie bis Mt. Beauty nicht überqueren konnte. Zum ersten Male fühlte sich Willi Höger wirklich einsam, da seine Freunde Hugo und Werner zwischenzeitlich ins Tal hinunter versetzt worden waren. Mißmutig blätterte er in den Tageszeitungen, die irgendwie den Weg ins Camp gefunden hatten.
"Es hätte nicht geschehen müssen." Der Titel fesselte seine Aufmerksamkeit. "Von Albury bis Renmark, durch Neusüdwales, Victoria und Südaustralien, haben die Überschwemmungen eine Katastrophe angerichtet. Drei Staaten kämpfen gegen die Fluten – und drei Staaten kämpfen drei verschiedene Kriege...Eine Sache, eine Tatsache ist es, die einem mit aller Gewalt trifft: Und das ist die reine Nutzlosigkeit, die Sinnlosigkeit all dieser Leiden...hier zeigt sich das ziemlich genaueste Bild, wie die Flußregulierung in diesem Land gehandhabt wird...ein Bild von dem Mangel an Zusammenarbeit, ein Bild von der Gleichgültigkeit und Apathie der leitenden Stellen..."
"Endlich einer, der es seinen Landsleuten ordentlich hineinsagt", dachte Willi. Was auf diesem Baugelände aus Gleichgültigkeit und Dummheit in kleinerem Ausmaß drauf geht, besorgt die Natur in riesigem, erschreckendem Ausmaß. Hier tut man so, als ob der Kontinent Australien einzig und allein von den Australiern gepachtet worden sei – als ob die Australier dieses riesige Land wirklich u n t e r w o r f e n hätten! Ein Wunder, daß im Staatsbudget trotzdem immer wieder die nötigen Mittel zu Weiterführung der halbherzig vorangetriebenen Arbeiten in diesem Gebiet aufscheinen. Wie lange mag das noch gutgehen? Ein berechtigter Gedanke, wie sich bald erweisen sollte.
Aus der Bude nebenan tönte ein Poltern herüber, seine Miene hellte sich etwas auf. Sein Nachbar, ein Fachschulingenieur, der an den Bodenuntersuchungen mitwirkte, hatte aus Langeweile ein neues Spiel erfunden, an dem mehrere Nationen regelmäßig teilnahmen, sogar einige Aussies. Das Spielregeln waren ebenso blödsinnig wie einfach: Alles was man zu tun hatte, war – möglichst laut und tunlichst langgezogen – zu rülpsen! Der Ingenieur hatte es dabei zu wahrer Meisterschaft gebracht. Allerdings, als Willi hinter sein Geheimnis – kohlensaures Natron – kam, stieg er innerhalb kürzester Zeit zum zweitbesten Preisrülpser auf. Ein berauschender Erfolg. So trieb der Stumpfsinn die schönsten Blüten.
Von anderer Art der Unterhaltung war ihre "Literarische Abendstunde" unter der Dusche. Da unterhielt er sich mit zwei Landsleuten über Romane oder Zeitungsausschnitte, die er am Vorabend gelesen hatte. Niemals zuvor hatte Höger derartige Muße gefunden, in den bekanntesten Werken der Weltliteratur zu schmöckern. Die Taschenromane trafen in regelmäßigen Abständen mit der Post ein. Vom übermütigen "Schneider Himmlischer Hosen" Daniele Vare's bis zu Guiseppe Berto's "Der Himmel ist rot", verschlangen die Lesehungrigen alles, was ihnen unter die Finger kam.

* * *


Gregor bat noch einmal um eine Funktionskontrolle der Beleuchtung am Bedfordbus. Alles klappte wie am Schnürchen, Gregor hatte ganze Arbeit geleistet. Er unterzeichnete den Materialschein und heftete ihn am Führersitz fest. "Nun muß Frogman noch den ganzen Christbaum bewundern und ich bin für heute wiedereinmal fertig. Nichts mehr zu tun..." Bedächtig ging Willi daran, die Gläser der Scheinwerfer zu reinigen, das fiel in seine Kompetenz. "Seit zwei Tagen meine erste Beschäftigung", sagte er in die andächtige Stille hinein. Willi berichtete Gregor von dem Inhalt eines Zeitungsartikels, den irgend jemand, vermutlich ein Engländer, in der Früh an die Kantinentür geheftet hatte: "Die Leitung des Dampfkraftwerkes M. sandte einen englischen Ingenieur, einen Spezialisten auf dem Gebiet der kalorischen Energieerzeugung, mit höflichen Ausreden wieder nach Großbritannien zurück, weil er offen den niederen Wirkungsgrad dieser neu errichteten australischen Anlage kritisiert hatte. Der Artikel war rot angestrichen und mit durchaus unbritisch anmutenden emotionellen Bemerkungen gespickt!"
"Das glaube ich ohne weiteres", meinte Gregor. "Stell' dir vor, was wir unserem obersten Boss, dem...?" Gregor dachte angestrengt nach. "Sag mal", wandte er sich an Willi, "weißt du, wie er heißt? Sicher ist dir sein Name bekannt, genauso wie mir. Nur, mir fällt er absolut nicht ein!" Der strengte ebenfalls sein Gedächtnis an, aber alles, was ihm im Augenblick einfiel, war, daß er sich in der Frühe zu wenig Bratwürstchen einverleibt hatte.
"Wie heißt der Kerl doch?" Krampfhaft überlegte er. Schließlich gab er auf: "Es liegt mir auf der Zunge, Gregor. Aber ich kann mich nicht erinnern." Etwas ängstlich setzte er hinzu: "Mein Gedächtnis läßt mich in letzter Zeit im Stich. Wie ist das bei dir?" Der Elektriker schien erleichtert, als er antwortete: "Genauso ist es bei mir. Was ich hier zu tun habe oder repariert habe, weiß ich einigermaßen genau. Aber, mir sonst völlig geläufige Namen, wie etwa von Bekannten in Deutschland, Ortsnamen oder berühmte Filmschauspieler, verrutschen mir tatsächlich oft so, daß ich minutenlang nachdenken muß, bis sämtliche Kontakte in meinem Schädel wieder richtig funktionieren."
"Das kommt wahrscheinlich von der absoluten Stille und dem Fehlen aller Sinnenreize in unserer Umgebung. Nichts, was Gedankenassoziationen anregen könnte...", versuchte der Österreicher zu erklären. Er verschwieg Gregor allerdings, daß der dringende Wunsch in ihm bohrte, irgendetwas, und wäre es der größte Unfug, anzustellen. Irgendetwas, das die tägliche Monotonie unterbrach. Abend für Abend hatte er dieses sein Verlangen bezwungen und die Sache nicht ausgeführt. Aber heute blieb er hinter der Gruppe zurück, dann packte er einige faustgroße Steine und schleuderte sie wutentbrannt in einen Haufen aufgestapelter Leuchtstoffröhren, daß die Glassplitter nur so herumschwirrten. Mit diebischem Vergnügen hüpfte er sodann davon. Aber nichts half über die beunruhigenden Schmerzen, das Stechen und Ziehen in der Herzgegend, hinweg. Vollends angeeckelt, eilte er des Abends in seine Bude, wenn er vermeinte, den Anblick der schlürfenden und schmatzenden Männer nicht länger ertragen zu können.
So traf eine Nachricht die nach Neuigkeiten dürstenden Männer mit umso größerer Wirkung. Zuerst lebte nur ein Gerücht auf, das aber sehr bald offiziell bestätigt wurde: "We all get our sack!" Oder auf gut Deutsch: "Wir werden alle gefeuert!" Kündigungsfrist: Vierzehn Tage. Der australische Materialverwalter richtete überraschenderweise die Bemerkung an ihn, daß er nun wohl lieber zuhause in Austria sein möchte? Er schüttelte nur ungläubig den Kopf, als Willi ihm großspurig berichtete, er kämpfe ohnehin seit Wochen mit dem Entschluß, von hier wegzuziehen, es falle ihm nun umso leichter.
Jeder seiner Arbeitskollegen reagierte anders auf die Nachricht. Ein Tscheche baute wortlos die 220 PS-starke Dieselmaschine in den Truck ein, wischte dann seine ölverschmierten Hände ab, stieg aus seiner Kluft, fuhr ins Verwaltungsbüro um die ausstehende Entlohnung zu kassieren, und haute ab.
Die Kündigungen wurden rigoros nach Schema F durchgeführt: Zu oberst auf der schwarzen Liste standen die alleinstehenden Männer, dann folgten die Verheirateten – egal wieviele Köpfe sie zu ernähren hatten – und zuletzt rangierten die Exsoldiers, die Heimkehrer aus beiden Weltkriegen. Insgesamt traf es 250 der Angestellten und etwa 450 der Arbeiter, die Hälfte der gesamten Belegschaft.
Morry, der Vagabund in ihrer Mitte, war so ziemlich der einzige, der gute Miene zum bösen Spiel machte und sich seine strahlende Laune nicht verderben ließ. Er trällerte und blödelte den ganzen lieben Tag dahin, diesmal lag aber auch wirklich ein triftiger Grund vor: Außer dem Chef Frogman war er der einzige aus ihren Reihen, an dem die Entlassung vorbeigegangen war. Und noch eine erstaunliche Ausnahme existierte: Gregor, der Ostdeutsche und einziger Autoelektriker weit und breit.
Nick, der smarte junge Australier, war schon vergangene Woche nach Melbourne gezogen, und die beiden Lehrbuben zählten ohnehin nicht.
So also stellte sich die Situation in den ersten Augusttagen dar. Ihr Swaggie schlürfte in ausgehatschten Schuhen, zerlumpten Straßenanzug, einem verdrecktem Hemd, struppig und unrasiert, mit der Zigarette unter der scharfen Hackennase, lustig in den sonnigen Tag hinaus. Mit übermütig blinzelnden Schweinsäuglein, das Kinn vorgestreckt, ergriff er das Beil, drückte nochmals den zerfransten Hut auf das edle Haupt und ließ dann die Schneide auf die kurzgeschnittenen Hölzer niedersausen. "Saddle up, Saddle Boy, ride for home", sang er wie ein Lausbub, ohne Unterbrechung und mit hoher, krächzender Stimme, die den bedrückten Männern in der Werkstätte doppelt schaurig in den Ohren klang. Die deprimierende Stille freute Willi nicht, und so half er Morry beim Holzhacken. Der ließ eine lustige Schnurre nach der anderen vom Band – es sprudelte nur so hervor aus ihm. "Ich kam nach Hause, Mutter, um für dich zu sorgen!" Morry gab die Story seiner Wanderjahre zum besten: "Scher dich hinweg, Bastard! Du bist nur gekommen, um zu sterben, rief meine Mum aus." Es war zum Brüllen komisch, wie er das zwischen den Beilschwüngen stoßweise hervorkeuchte. Er fuhr eine Schubkarre voll Brennholz an den Ofen heran, bemühte sich aber tunlichst die ernsten Mienen der Kollegen zu ignorieren. "Shut up!" fuhr ihn Frogman an. Sonst hatte es immer nur geheißen: "...will you?" oder "...if you don't mind!" Ob des ungewöhnlichen Tonfalls hielt er endlich sein gottloses Mundwerk. Doch kurze Zeit später maulte er vorsichtig, doch wesentlich gedämpfter weiter. "Nicht einmal singen darf man hier und ich bin ja nur ein ganz kleines Arschloch...im Vergleich zu euch!" Tosende Heiterkeit belohnte den richtigen Ton. Man konnte dem Kerl einfach nicht böse sein.
Der Bayer blickte finster drein. "Dos passiert mir nun schon zum vierten Mol." Er begann ganz entsetzlich auf dieses Land zu fluchen. "Auf mi und meine fünf Sprößlinge nehmen's ka Rücksicht. Oba so a nutzloser Lump wie da Morry derf weitablödeln und dem Hergott an schönen Tog um den anderen stehln. I scheiß' bold auf dös Land!"
Angesichts der sich anbahnenden Tragödien konnte Gregor nicht so richtig froh werden, er kam sich wie ein Quisling vor. Und einige Tage nach dieser Ankündigung schlug es auch bei ihm dreizehn, als er erfuhr, daß die Arbeiter in McKay Creek losgepoltert hätten, man entlasse s i e, die fair dinkum Australians, und der fucken German aus der Werkstätte Walla dürfe seine Stelle behalten! "Am liebsten würde ich sofort alles hinwerfen und die Kerle im Stich lassen! Sollen ihren Kram selber zusammenflicken! Leider ist mein Bruder bereits auf dem Weg nach hier."
Der Irländer, der Schotte, der Engländer, die fünf Aussies, zwei Deutsche und der Österreicher – alle standen tatenlos herum und diskutierten. Willi fischte ein Gewerkschaftsblatt der A.E.U. (Australian Engineers Union) hervor und begann verstohlen darin zu blättern, der Boß durfte es nicht sehen.
Plötzlich verfing sich sein Blick an einer knalligen Überschrift:
P R I V A T E A R M E E N I N A U S T R A L I E N ? Begierig überflog er den Artikel, in dem die Vertretung einer Bevölkerungsgruppe ihre Betroffenheit über die Existenz einer para-militärischen Organisation unter den Einwanderern aus Jugoslawien zum Ausdruck brachte.
Einige hundert frühere Offiziere und Männer von Untergrundbewegungen seien nun in Australien ansässig und bemühten sich, wiederum das Gerüst für eine Armeeorganisation auf die Beine zu stellen. Die klageführende religiöse Gemeinde hätte bereits früher auf ähnliche Organisationen unter den Ungarn und Weißrussen, die ihr feindlich gegenüber stünden, aufmerksam gemacht.
"Na, was denn?" fragte sich der Österreicher bestürzt, das klang ja toll. Er vermochte die Zusammenhänge nicht zu überblicken, daher ging er kopfschüttelnd zur nächsten Spalte über. "Ooh!!" entfuhr ihm ein Ausruf der Überraschung. Der Bayer trat zu ihm und las nun mit, es wurde immer spannender. "Sehen wir uns zum Beispiel die New Settler's Leagues und die Good Neighbour Councils mal näher an. Sie sind Assimilations-Instrumente Nummer Eins. Die Öffentlichkeit nimmt an, daß dies ihr einziger Sinn und Zweck sei. Fördern sie wirklich die Eingliederung der Auswanderer in den australischen Volkskörper?
Im Gegenteil. Diese Körperschaften haben die meiste Zeit damit verbracht, o r g a n i s i e r t e Einwanderergruppen hochzuzüchten und zu kultivieren, die der Idee der Assimilation geradezu feindlich gegenüberstehen. Dies mag Ihnen phantastisch erscheinen, ist aber wahr. Die New Settler's League nahm prominente Angehörige der 'Nationalen Vereinigung von Einwanderern aus Ländern hinter dem Eisernen Vorhang' unter ihre beschützenden Schwingen. Das Ziel dieser nationalistischen Vereinigungen ist es, eine Assimilierung ihrer Landsleute bis aufs äußerste zu behindern. Sie haben die Absicht, die nationalen Eigenheiten der Mitglieder rein zu erhalten. Wenn möglich a l l e r Landsleute in Australien. Bis der Zeitpunkt heranreift, wo sie Australien verlassen und in ihre Ursprungländer zurückkehren können.
Sie betrachten Australien als Wartezimmer. Ein Mitbürger, der sich hier niederlassen und Australier werden will, ist für sie ein Verräter!"
"Mensch, das ist aber starker Tobak, was die da behaupten!" murmelte Willi dem Mechaniker zu, der nun ebenfalls den provozierenden Inhalt dieser Zeilen verschlang. Er hielt die Broschüre mit einer Hand fest und las mit Willis Finger mit, der nur so über die Zeilen flog.
"Haha! Darauf habe ich nur gewartet! Hier ziehen sie über die bösen Deutschen her!" Der Mann aus Bayern riß dem Österreicher beinahe das Journal aus den Händen: "Haha! Lies da weiter! "Die übrigen in der Halle blickten verwundert auf die beiden, die nebeneinander auf die Werkbank gestützt, von Lachkrämpfen geschüttelt wurden, um dann abrupt wieder konzentriert weiterzulesen.
"Jüngst kamen mit der 'Skaubryn' einige Nazi-Elemente an. Zeitungsreporter berichteten, daß viele Nazibücher im Gepäck der Migrants gefunden worden seien."
"Untersuchen unsere Habseligkeiten ja sehr gründlich, die Burschen, reißen unsere Koffer auseinander", dachte Willi resigniert. " Das Council (der betreffenden Vereinigung) bekam von einem Angehörigen der Schiffsbesatzung das Exemplar einer Luxusausführung von Hitlers 'Mein Kampf' ausgefolgt, das in einer Kabine gefunden worden war, nachdem sie die Migrants verlassen hatten. Zwischen den Buchseiten lag das Foto eines deutschen Offiziers, der mit verschränkten Armen auf eine Anzahl exekutierter Menschen runterblickte.
Unsere Gemeinschaft glaubt, daß die Mehrzahl der Einwanderer sich hier niederlassen und eine demokratische Lebensweise annehmen möchte. Aber eine Minderheit besteht noch immer auf Beibehaltung ihrer Nazi-Organisationen und Überzeugungen. Unser Council wird die Regierung drängen, Maßnahmen zu ergreifen, um diese Körperschaften in der Verbreitung ihrer antidemokratischen Doktrinnen zu behindern."
"Das schlägt dem Faß den Boden aus!" wetterte der Deutsche los. "Diese Schweine! Diese stupiden, verantwortungslosen Idioten! Wie taktvoll und zweckgerichtet der Mann gehandelt hat, der angeblich dieses Exemplar der 'Luxusausgabe' von 'Mein Kampf' gefunden hat! Wieso soll ein Steward, Schiffsoffizier oder wer immer es gewesen sein mag, ausgerechnet jenes ominöse Council aufgesucht haben, um mit teuflischem Grinsen dieses Naziwerk auf den Tisch zu legen? Nein, mein lieber Willi, die Sache muß sich anders verhalten. Entweder ist die ganze Affäre von Grund auf erfunden und erlogen, dann gehören die sauberen Erfinder dieses Märchens vor Gericht, mit der Anklage auf Hochverrat, begangen am australischen Volk. Weil sie nämlich bewußt das Vertrauen der Australier in die Maßnahmen der Regierung untergraben und die Einwanderung zu torpedieren versuchen. Aber für so dumm und primitiv halte ich diese Herren nicht. Das Buch wird schon gefunden worden sein, mitsamt den sauberen Fotos. Dann gibt's wiederum zwei Möglichkeiten: Entweder ist das Buch tatsächlich von einem Einwanderer mitgeschleppt worden. Dann war der Kerl entweder schwachsinnig und braucht daher nicht weiter ernst genommen zu werden. Oder er war verrückt, dann gehört er in eine Irrenanstalt. In beiden Fällen war der Skandal überflüssig!" Der Mann schnaufte erregt.
"Es gibt noch mindestens eine weitere Erklärung", grinste Willi ironisch. "Daß dieses Buch mit Absicht dort 'vergessen' wurde, mit Absicht 'gefunden' und mit voller Absicht in die Hände dieses Councils praktiziert worden ist. Von wem und wozu, das überlasse ich deiner Kombinationsgabe. Du brauchst dich nur zu fragen, wer zieht daraus einen Nutzen? Aber, nebenbei gesagt: Wenn dieses Council existiert, dann darf es doch mit gleichen Recht auch Vereinigungen oder Interessensvertretungen von anderen Minderheiten geben, nicht wahr? Zum Teufel, habe ich recht oder nicht?" schrie der junge Mann jetzt wütend. "Mit anderen Worten heißt der ganze Schmonzes: Wir, die Vereinigung die hinter unserem Council steht, fühlen uns durch die Einwanderer bedroht, in unserer Existenz und an unserem Leben. Es geht nicht an, daß uns selbstbewußte Nationalitätengruppen unsere Positionen streitig machen. Regierung Australiens, beschütze uns davor! So jedenfalls lautet für mich der Tenor des ganzen langen Artikels", schloß der Österreicher.

* * *


Diesmal begab sich Willi bereits donnerstags hinunter ins Tal, um seinen Freunden einen Besuch abzustatten und vor allem, seine Zähne inspizieren zu lassen. Da die Entzündung der Mundhöhle nicht ein Jota nachgelassen hatte, machte er sich ernstliche Sorgen um seine Gesundheit.
Es war auffallend, wieviel nervöser und unruhiger Werner Benke und Hugo Prattert seit der letzten Begegnung geworden waren. Werner erzählte ihm, daß Gudrun im Begriffe sei, ein Auswandererschiff zu besteigen. Schon allein aus diesem Grunde müsse er nach Melbourne übersiedeln, ganz abgesehen von dem Resultat der Verhandlungen zwischen Gewerkschaft und Regierung, die Kündigungswelle betreffend.
Hugo und Willi zogen sich in die gemütliche Bude von Prattert zurück und holten die Vorräte an Bier und Capstan-Zigaretten hervor. "Denn mal Prost, nich'!" meinte Hugo und führte den Flaschenhals zum Mund. Sein Freund sah sich in dem wohnlich eingerichteten Raum um und meinte: "Ich verstehe deinen Sinn für Behaglichkeit, aber daß du dir die Mühe nimmst Türen, Wände, Fußboden und so weiter mit der Bürste zu schruppen – das hätte ich dir nicht zugetraut. Schließlich bist du erst vor drei Wochen von McKay Creek heruntergezogen. Zahlt sich das aus?"
Der Lange erhob sich vom Bett, auf dem er gesessen hatte und schwankte, torkelte zur Tür hin. "Da, sieh' dir das an!" Die Spitze seines Zeigefingers beschrieb langgezogene Ellipsen um eine imaginäre Stelle am Fußboden. "Nun, ein paar dunkle Flecken neben dem sauber gereinigten Türrahmen. Was ist damit?" Die Konturen Hugos verschwammen langsam, der Alkohol zeitigte endlich Wirkung.
"Bluuut! Das Blut eines bloody German, der in dieser Cubicle eines Morgens tot aufgefunden worden war, nachdem er in der vorhergehenden Nacht 250 Pfund beim Pokern gewonnen hatte! Das arme Schwein! Der Saft klebte überall als ich einziehen mußte. Zuerst glaubte ich, hier nicht schlafen zu können, aber der Mensch gewöhnt sich an alles...
Bloß das Leben hier ist zum Kotzen, zum Kotzen, zum Ko...". In rührseliger Stimmung fiel Hugo auf die Lagerstatt hin und fing zu schnarchen an. Später trat Werner Benke ein und las den beiden einen Brief von Eddi aus Sydney vor, der an alle seine Freunde gerichtet war. Im Alkoholdusel bekam Willi nur den Teil des Wortlauts mit, wo Eddi über Hans, den unglücklich Verliebten und Suchenden, berichtete "...Die Zwiebel von Hans bekommt schon wieder ein Kind. Diesmal von einem schwedischen Seemann, der nun in Japan weilt. Aber Hans meint, das kann ihn alles..."
"Armer Hans", dachte Willi schläfrig", wo du dich doch so gerne mit einem netten Mädel zur Ruhe setzen möchtest..."
Ihm klappten die Augendeckel zu. Die vorhin gehörte Mordgeschichte fiel ihm ein, er stolperte aus seiner Cubicle und drehte das schwache Lämpchen ab, sodaß niemand auf die Idee kommen würde, daß dahinter ein Mensch atmete. Die ganze Nacht jammerte er im Schlaf und erbrach einmal fürchterlich. In der Morgenfrühe riß ihn ein schrecklicher Alptraum in die Wirklichkeit zurück: Die eine Gehirnhälte eines geöffneten Menschenschädels zuckte krampfartig, aus den Zahnreihen floß süßlich-gelber Eiter, dessen Geschmack er auf seiner Zunge zu spüren glaubte. Mit einem tierischen Aufschrei des Entsetzens fuhr Willi hoch. Schrecklich kam ihm zu Bewußtsein, daß er nicht mehr allzu weit von den vielen elenden Menschenwracks entfernt war, die sich hier herumschleppten. Höchste Zeit für ihn, hier abzuhauen...
Durch das Fenster sah er einen Mann mit einem schweren Koffer auf den Schultern und drei Hunden an der Leine den freien Platz vor den Baracken überqueren. Der setzte sich also auch ab. Komische Ideen haben die Leute, überlegte Willi, trübselig auf dem Bett kauernd. Gleich drei Viecherln, als ob nicht auch einer genügen würde. Er dachte an seine italienischen und maltesischen Freunde in den verschiedenen Lagern. Eigentlich waren sie die einzigen, die frei von jedem Spleen einige Jahre aushielten, solange, bis sie das nötige Kleingeld zusammengespart oder -gehungert hatten, um sich hierzulande eine kleine Farm kaufen zu können, einen Gemüseladen zu eröffnen – oder dasselbe in ihren Heimatländern tun zu können.
Glückliche Menschen, die nicht so überzivilisiert waren wie speziell die Mitteleuropäer.

* * *


Das Wartezimmer des Zahnarztes wirkte einfach aber modern eingerichtet. Höger nahm auf einem der Stahlrohrsessel Platz. Nur wenige Patienten warteten. Ungeduldig griff er nach einem der Magazine und blätterte geistesabwesend darin. Als er aufgerufen wurde, fiel ihm die weltbekannte Silhouette des Matterhorns, als Farbdruck hinter Glas auf. Ein gemütlicher, vierschrötiger Mann in Weiß nötigte ihn, auf dem Marterstuhl Platz zu nehmen. Mit vertrauenserweckendem Selbstbewußtsein erklärte der Arzt nach kurzer Untersuchung, daß seine Weisheitszähne angefault seien und nur die sofortige Extraktion helfen könne. Ob er dazu bereit sei? Der joviale Herr haute ihm die Injektionsnadel in den Kiefer, ruhig presste er die Novocainlösung heraus. Höger lehnte sich bleich in den Stuhl zurück. Die Sinne schienen ihn verlassen zu wollen. "Ist Ihnen schlecht?" erkundigte sich der Arzt. Willi erwähnte das Schwindelgefühl. "Ich verstehe das durchaus", meinte der Mann freundlich. "Die Untätigkeit macht Sie nervös. Ihr Europäer seid an ein anderes Lebenstempo gewöhnt. Ich kenne das", setzte er lächelnd hinzu, "denn ich habe viele Jahre in der Schweiz zugebracht."
"Aha, deshalb das Bild vom Matterhorn im Wartezimmer", preßte Willi hervor, leicht behindert durch die Bamstigkeit der anschwellenden Wange.
"Ja, es war eine schöne Zeit. Ich bin noch immer begeisterter Bergsteiger..." Unendlich erleichtert fühlte der Österreicher, daß das ein Mensch, ein Australier war, mit dem er reden konnte. Der nicht nur jede seiner englischen Vokabeln verstand, sondern auch den Sinn, der dahinterlag.
Die verfaulten Zähne, die jahrelang Gift in seinen Körper ausgestrahlt, eine unheilvolle Quelle schleichender Krankheit bildeten, waren entfernt. Bereits in diesem Augenblicke rührten sich neue Kräfte in ihm, er schöpfte wieder Hoffnung. Neuer Mut, sein Leben seinen Wünschen und Vorstellungen gemäß zu gestalten, regte sich. Er erzählte dem Australier von der drohenden Entlassung und seinen Entschluß, den Busch zu verlassen, um in der Stadt seinen Weg zu machen.
Der Arzt sprach ihm freundschaftlich zugeneigt Mut zu. "Good Luck to you! Und werden Sie ein ganz großer Boß!" rief er hinter ihm her. Endlich einer, der es ehrlich meinte, der keine Sekunde daran danach fragte, ob der Mann, dem er Erfolg wünschte, ein waschechter Australier war oder nicht.

* * *


Die Kündigungen waren endgültig zurückgezogen worden, die Aufregungen über diesen Punkt vorbei. Und doch war nichts mehr so, wie es früher gewesen war.
Einmal überraschte er einen Lehrjungen, wie er mit einer Eisenfeile an den Schneidezähnen im Mund herumfeilte. Entsetzt erkundigte er sich beim Bayern, ob der Junge denn wisse, was er tue?
"Keine Aufregung", klärte der Willi auf. "Der bringt nur das künstliche Gebiß auf die richtigen Dimensionen. In seinem Alter tragen die meisten Aussies bereits künstliche Zähne." Dieser Jüngling und der andere Lehrbub hatten bisher dreimal Albury einen Besuch abgestattet, diesem netten Provinzstädtchen, nur einige Autostunden entfernt. Der junge Europäer kam sich mit seinen vierundzwanzig Jahren wie ein alter Mann vor – im Vergleich zu diesen beiden Burschen. Abgesehen vom Pin-up Magazin "Man", gelegentlicher Zeitungslektüre und aufklärenden Gesprächen über die "Weiber" in den Zigarettenpausen, trug nichts zu ihrer Bildung bei.
Man hatte Willi wiederum Besen und Schaufel in die Hand gedrückt und ihn darauf aufmerksam gemacht, daß die Toiletten zu reinigen seien. Er war nun beileibe nicht mehr so zimperlich, wie es noch vor einem halben Jahr der Fall gewesen wäre. Und er sah natürlich ein, daß diese Tätigkeit von irgend jemand ausgeübt werden mußte. Trotzdem grübelte er über seine "Karriere" nach, die nun wohl endgültig ihren Tiefpunkt erreicht hatte. Und nicht mehr unterschritten werden durfte, wollte er nicht die Selbstachtung verlieren.
So spritzte er die Pißbude ohne ein Wort der Widerrede sorgfältig mit dem Wasserschlauch aus, reinigte danach ebenso sorgfältig seine Hände und begab sich in das Büro des Chefs.
Frogman blickte ihn groß und erstaunt aus seinen Basedow-Augen an, die zwischen mächtigen Tränensäcken hervorlugten. Ob es ihm denn nicht bei ihnen gefalle? "Oh doch", entgegnete der junge Mann, "aber ich sehe keine Zukunftschancen mehr für mich."
Was er künftighin zu tun gedenke?
Ob er schon eine andere Position habe?
Er konnte sich nicht enthalten, eine letzte boshafte und hintergründige Bemerkung in Richtung seines Chefs abzuschießen. Damit würde er den Australier tief im Herzen treffen, das wußte er. Lässig warf er hin: "Oooch, da habe ich keine Sorge. Wissen Sie, man hat mir eine fixe Anstellung im Hohen Norden, an der äußersten nördlichen Spitze Australiens, angeboten. Ich habe da nicht allzuviel zu tun, muß nur Ausschau halten – mit einem Fernrohr, wissen Sie – um Alarm zu schlagen, wenn die ersten der 600 Millionen Chinesen vor der Küste Australiens auftauchen..."