3. Kapitel: Der
Busch
Der altmodische Bus machte eine scharfe Wendung und blieb dann mit
einem Ruck stehen. Müde und zerschlagen kletterten die vier
Passagiere heraus und rekelten sich in der Abendluft.
"Bedeutend kühler hier, Mensch", sagte einer und kletterte
nochmals zurück ins Wageninnere, um die
Gepäckstücke herauszureichen. Sie standen vor einem
Holzbau, durch dessen hell erleuchteten Scheiben man in ein
Bürozimmer blicken konnte. Ein kleines, sehr dünnes
Männchen schlenderte langsam heraus und blieb zwischen dem
Türrahmen stehen. "Ihr seid die vier aus Bonegilla, nicht
wahr?" begrüßte er die Burschen, die an ihren Koffern
und Seesäcken herumhantierten. "Ja, das sind wir", antwortete
Werner, dessen Englisch am leichtesten verständlich war. "Und
hier sind gleich meine Einweisungspapiere. Dürften wir Sie
bitten, uns zuerst die Zimmer zuzuweisen? Wir möchten das
Gepäck gerne sicher unterbringen". An dem sicheren Auftreten
und der verhältnismäßig gepflegten Ausdrucksweise
erkannte der Australier sogleich, daß er es offensichtlich
mit einigermaßen gebildeten Menschen zu tun hatte.
"Na, ihr werdet nicht lange hier bleiben. Es wird euch kaum
vierzehn Tage gefallen. Trotzdem viele eurer Landsleute über
die ganzen Baustellen verstreut arbeiten – das ist nichts für
euch!" Bestimmt und sicher urteilte der Verwalter, etwas
bestürzt blickten ihn die jungen Männer an, die im
Halbkreis um ihn standen. Waren das Begrüßungsworte am
Vorabend der Arbeitsaufnahme? "Ja warum denn?" fragte einer der
vier.
"Es würde euch mit der Zeit krank machen – ihr
müßt sobald wie möglich in eine Stadt!" gab der
Aussie ruhig zur Antwort. "Worauf du dich verlassen kannst",
murrte Werner auf deutsch, "mir gefällt es jetzt schon nicht
mehr hier". "Na, na!" fiel Willi dazwischen, "soweit ich das um
die Tageszeit feststellen kann, sieht es garnicht so übel
aus: Alles sauber und zweckmäßig angelegt!"
Der Australier räusperte sich kurz, um die Unterhaltung zu
unterbrechen. "Ihr bleibt morgen noch in Mt. Beauty herunten...ist
nämlich ein Feiertag. Später wird man euch nach Howman's
Gap transportieren, wo ihr euch eine Zeitlang aufhalten
werdet."
"Na, da hast du es ja schon", ereiferte sich Werner, "hinauf in
die Berge, Juchhe! Das wird den Österreichern wieder
gefallen! Was meinst du, Hugo?"
Der Lange, der schweigsam zugehört hatte, lenkte ein. "Ich
finde es garnicht so uninteressant. Endlich komme ich
Flachländer dazu, meinen ersten Berg zu besteigen". "Ach,
komm schon! Berg oder nicht Berg! Wenn ich an die Arbeit mit
Krampen und Schaufel denke, wird mir jetzt schon schlecht", maulte
der Apothekergehilfe. "Mit d e m Werkzeug haben wir
schließlich alle noch nicht unser Brot verdient", meinte
Willi besänftigend. "Und w o l l e n tun es zumindest zwei
auch nicht!" konterte Werner schlagfertig.
Das leichte Geplänkel wurde unterbrochen, als der Australier
die Zimmerschlüssel verteilte. Da die Kantine bereits
geschlossen war, aus einiger Entfernung aber deutlich "Restaurant"
herüberleuchtete, beschlossen sie notgedrungen wiedereinmal
ihre privaten Säcklein zu öffnen. Für diesen
entlegenen Ort fanden sie ein bemerkenswert sauber und modern
eingerichtete Lokal vor. Während sie Steak and Eggs unter
diversen Kommentaren hinunterwürgten, machten sie sich
allmählich mit dem Gedanken vertraut, in dieser Gegend einige
Monate zubringen zu müssen.
"Zum Sparen dürfte es ja nicht schlecht sein...Man braucht
nicht viel: ihr habt gehört, wir müssen Essenmarken
kaufen. Drei Shilling pro Mahlzeit! Wenn man bedenkt, daß
man anderswo kaum unter sechs Kröten ein Dinner
bekommt...Übrigens, was macht die Rechnung pro Mann und Nase
aus? Sh 5/6? Na, da wollen wir mal großzügig sein und
sechs Pennies Trinkgeld dazulegen. Werden mich ja kaum wiedersehen
in dem Laden, von jetzt an wird eisern gespart!" Auf Werners
Winken schlurfte die ältliche Kellnerin heran und stellte die
Rechnungen aus, für jeden separat und einzeln. "Aha, das hat
sie schon gelernt", registrierte Willi vergnügt. Als Werner
bei der Herausgabe des Wechselgeldes großzügig
abwinkte, stieß sie ein "What's this!?" aus und schob die
Augenbrauen abrupt in die Höhe.
"Na, das Trinkgeld! Gehört dir!" ließ Werner Benke
etwas ungeduldig hören. Ihr Gesicht glättete sich
wieder. "In Australien nimmt man keine Trinkgelder", erklärte
sie stolz. "Das gilt hierzulande als Beleidigung", vernahmen die
Männer verblüfft.
"Die dachte wohl, ich will sie für 'nen halben Shilling
kaufen", spöttelte Benke. "Wenn es so weitergeht, werde ich
bald mein letztes Pfund für sie spenden. Schön langsam
wird es mal notwendig – obwohl es gegen mein Prinzip geht, Frauen
zu kaufen". "Beruhige dich etwas, Werner, wenn ich bitten darf!"
warf Hugo der Schweigsame ein. Derartige Ausprüche hörte
er nicht gerne, er hielt viel von Wohlerzogenheit und guten
Manieren.
Sie verabschiedeten sich und begaben sich anschließend
nachdenklich und müde zu Bett.
* * *
Dröhnende Blechmusik und marschierende Kolonnen erinnerten
Willi daran, daß heute der nationale Heldengedenktag der
Australier, der Anzac-Day, gefeiert wurde. Er beeilte sich mit
seiner Morgentoilette und kam gerade noch zurecht, um das Ende der
Ansprache zu hören: "...der Name Anzac wird für immer
als ein Symbol australischer Courage und militärischer
Durchschlagskraft weiterleben!!" Die Reihen der Jungen und
Mädchen in Pfadfinderkleidung und anderen, äußerst
bunt gemischten Uniformen, jubelten auf. "Na bitte", dachte er.
"Ähnliches habe ich schon mal in meiner Jugend
gehört."
Die Soldatenveteranen und Mitglieder örtlicher Sportvereine
strömten vom Platz ab, und die uniformierten Kinder liefen
ihren Müttern rotbackig vor Begeisterung in die
ausgebreiteten Arme. Bald lag der Ort wieder so ruhig da wie
ehedem, nur ein Kranz frischer Blumen blieb am Gedenkstein
zurück.
Willi blickte um sich, vor ihm stand das mächtige
Verwaltungsgebäude der S.E.C., der State Electricity
Commission of Victoria. Das einzige Bauwerk mit einem ersten
Stock, soweit das Auge reichte. Der Hauptstraße entlang
erblickte er Grocery Stores, Milk Bars, einen Zeitungskiosk und
eine Drogerie . Ganz oben, am Ende der Straße,
kündigten bunte Plakate die neuesten Kinofilme an. Ja, und
links an der Kreuzung lag das Postamt. Weiter hinten erstreckten
sich langsam ansteigende Hügelketten, die mit vielen
Einfamilienhäusern bedeckt waren. Alle diese Bauten bestanden
aus schachtelförmigen Holzkonstruktionen, in vielen bunten
Farben bemalt. Und von ganz, ganz ferne grüßte eine
Bergkuppe weißglänzend von Schnee herunter ins Tal, in
der Morgensonne glitzernd. Er stellte sich die äußerst
dichte und undurchdringliche, blaugrüne Bewaldung etwas
aufgelockert und weniger eintönig vor – ein Anblick fast wie
zuhause! Sogar ein See schimmerte hinter den Wohnbaracken,
allerdings ein künstlich angelegter, der vom Abwasser der
Turbinen gespeist wurde. "Hier müßte es doch
auszuhalten sein", dachte er.
Willi beschloß, Werner aufzusuchen. In den Grünanlagen
trafen die beiden dann auf einen einheimischen Arbeiter, der die
Feiertagsstille zum Ausruhen verwendete. Er erkundigte sich nach
ihrer Nationalität. "Ach Deutsche", meinte er und
erzählte, daß er in Afrika gegen Rommel gekämpft
habe. "Verflucht harte Kämpfer, die deutschen Soldaten." Er
erhob sich aus der bequemen Ruhelage, stellte sich mit
vorgestrecktem Knie auf, täuschte durch die Armhaltung ein
Gewehr in Nahkampfposition vor und sprang stoßweise auf
einen unsichtbaren Gegner zu. "Wir mochten angreifen soviel wir
wollten – unaufhaltsam, Schritt für Schritt kämpften
sich die Deutschen mit aufgepflanzten Bajonetten vor!" Er
schloß seine lebendige Demonstration mit "...It was a bloody
hard fight with these fucken Germans!!".
Nicht ganz im klaren über die Bedeutung einzelner Adjektive
dieses Satzes, fühlten die beiden Immigranten doch eine
gewisse Anerkennung und Hochachtung aus diesen simplen Worten.
Wenn auf dieser Basis eine gegenseitige Verständigung
zustandekam – ihnen war im Grunde alles recht.
Um ein wenig mehr von der Natur zu sehen, folgten die
Neuankömmlinge dem Weg, der sich in zahllosen Kurven
höherwandt. In den Zweigen der dünnstämmigen hohen
Bäume flatterten unentwegt buntfarbige Wellensittiche, so
häufig wie zuhause die frechen Spatzen. Bisher hatten sie
solche Vögel höchstens im Käfig bewundert. Die
Überzahl und Menge in der freien Natur kam ihnen langsam wie
eine Umwertung der Begriffe vor. "Die alten Weiber daheim, mit
ihren Kanarienvögeln, würden ja ganz närrisch
werden, wenn sie plötzlich tausende davon herumhüpfen
sehen könnten...", meinte Buchner der Apothekergehilfe
sinnend. Es stimmte auffallend, was Robert da von sich gab, er
hatte unbewußt den richtigen Ausdruck
verwendet:"...närrisch werden". Menschen können vor
Freude durchdrehen, aber auch, wenn zuviel neue Eindrücke auf
sie einstürmen, wenn ihnen niemand hilft, das fremde,
ungewohnte in ihrer neuen Umgebung in Ruhe zu verdauen. Und gerade
dies geschah in diesem "Wahnsinnsland Australien", eine
Bezeichnung, die den Männern vollkommen unbekannt war, die
sie aber wie hunderttausende anderer Einwanderer, diesem Kontinent
bald instinktiv verleihen sollten...
Nach dem Abendessen in der Kantine trafen sich die vier in Werners
Cubicle, wie die kleinen Zimmer genannt wurden. Ein großer
blonder, etwa zwanzigjähriger Berliner gesellte sich ihnen
zu, der unbeholfen die Story seines Australienaufenthaltes
erzählte.
Vor zwei Jahren herübergekommem, war er sofort im Busch
gelandet und seither nicht mehr losgekommen von dieser Gegend. Ob
er wenigstens etwas Geld erspart habe, damit er bei passender
Gelegenheit abhauen könne?
"Nee, wißt ihr", sagte er, "ich laß' es mir gutgehen.
Ich arbeite zwar schon die längste Zeit im Tunnel – verdiene
auch ganz schön dabei. Aber wann immer es geht, verzichte ich
auf unsere Gemeinschaftsküche – ich lasse mir im Restaurant
sogar gelegentlich Leberpasteten backen. Kostet natürlich 'ne
Menge Geld, aber das haben wir ja!"
Der Junge hielt den Kopf leicht gesenkt. Die blicklosen Augen
erschienen groß und weit geöffnet, die oberen Lider
hingen beinahe über die Pupillen herab. Er bewegte sich nur
langsam und sehr bedächtig. Die Arme hielt er weit
abgespreizt vom Körper, geradeso, als wolle er balancieren,
um das Gleichgewicht zu bewahren.
Werner und Willi blickten sich kurz und bedeutungsvoll an. "Wie
lange bist du nun schon hier?" erkundigte sich Werner. "Zwei
Jahre. Hab' ich doch schon erwähnt, oder nich'?"
"Wäre es nicht besser für dich, wenn du jetzt wieder
nach Deutschland zurückkehren würdest?" suggerierte
Willi ganz sachlich. "Nee, das geht nich'. Das heißt, ich
will garnicht! Mir gefällt es sehr gut hier. Nee, ick bleib'
schon hier!"
Als schließlich alle bis auf Willi das Zimmerchen verlassen
hatten, ließ Werner nur ein Wort fallen: "Bekloppt!".
Willi nickte nur geistesabwesend. Erst viel später erfuhren
sie einige Hintergründe des Dramas: Der Junge zog es eher
vor, hier vor die Hunde zu gehen – als zu seiner Mutter
zurückzukehren – die eine Nutte war...
* * *
Die Temperatur sank weiter, je höher hinauf sie der Bus
brachte. In ihren zivilen Klamotten, sie hatten sich nicht warm
genug angezogen, drängten sie fröstelnd in die
Bauhütte. "Wartet hier solange, bis wir euch wieder holen.
Und heizt den Ofen ein!" Bluebird, ihr australischer Vorarbeiter,
stapfte davon. Trotz der Kälte trug der schmächtige Mann
nur eine gestrickte Leibweste.
"Worauf du Gift nehmen kannst! Hier, sieh mal, Willi: Holz genug
zum Verheizen!" Anheimelnd prasselte bald Feuer im
Kanonenöferl. "Was ist denn das?" fragte Willi neugierig, hob
eine große Blechbüchse in die Höhe und schnupperte
daran. "Na, Dieselöl, ist doch klar", sagte Robert. "Riecht
doch typisch danach."
Hugo Prattert, der Lange, stand wie immer wortlos herum und
betrachtete die Vorgänge um ihn stoisch, ohne jemals den
Versuch zu machen, selbst einzugreifen. "Mensch, her damit", rief
Werner begeistert aus. "Jetzt wird es aber gleich warm sein. Los,
schüttet das Zeug rein ins Feuer!" Willi reichte ihm den
Behälter mit der Bemerkung: "Mach doch selbst, ich
gieße das Öl nicht rein!" Ein halber Liter plantschte
in das Feuer, dumpf brodelnd schossen Stichflammen empor. Das
Spiel bereitete ihnen Vergnügen, bald breitete sich angenehme
Wärme im Raum aus.
"Also gar so eilig scheinen es die Herren nicht zu haben",
stänkerte Werner nach einiger Zeit des Wartens. "Uns kann's
nur recht sein". "Die werden früh genug mit unserer
Arbeitskluft auftauchen. Bei dem Regen, und überhaupt, bin
ich garnicht heiß auf die Dreckarbeit. Übrigens,
ziemlich müder Betrieb, wie mir scheint. Robert, reich mir
bitte das Magazin herüber!"
"Die 'Australasien Post'?" "Na, das Druckpapier ist wahrlich
nichts besonderes", stellte Willi fest, als er die dicken
Blätter der Zeitschrift betrachtete.
"Sollen mal die 'Quick' lesen, oder den 'Stern'. D a s ist 'ne
Wucht. Qualitätspapier gegen den Dreck hier!" Unangenehm
berührt registrierte der Österreicher diese
herablassenden Bemerkungen seines Kumpels. Dauernd quasselte er
von deutschen Wundern. "Schließlich gibt es ja auch bei uns
billige Magazine", warf er ein, "und das hier kostet ja wirklich
nicht viel".
"Laß sehen, Willi. Was'n das?" Begierig lugte Hugo über
seine Schulter. Eine exotische Schönheit lehnte
verführerisch am ruppigen Stamm einer Palme, ein neckisch
zerfranster Bikini bedeckte die schwellenden Glieder des
Mädchens. "Northern Belle" lautete die Überschrift zu
dem Bild. "Nicht von schlechten Eltern. Wenn alle
Eingeborenen-Girls so gebaut sind, lege ich mir sofort eine zu!"
Sein Asketengesicht glühte förmlich auf und seine blauen
Augen begannen lüstern zu funkeln. Werner zog ihn sogleich
auf: "Du wirst jetzt mal zuerst schön mit der Schippe deine
überschüssigen Energien abführen, mein lieber
Hugo...Aber was ist denn das? Das ist ja noch weit interessanter!
Lest doch!" Ein anderer Artikel fesselte ihre Aufmerksamkeit:
"Wache auf, Australien!" übersetzte Werner gleich ins
Deutsche.
"Einmal, es war in Kalifornien, als ich stolz einem
Hamburger-Verkäufer erzählte, daß ich ein
Australier bin, glaubte der, ich stamme aus Austria". Werner
konnte seine kleinen Sticheleien nicht lassen. "Da siehst du es
wieder deutlich, daß man anderswo keinen großen
Unterschied macht zwischen Austria und Australia, diesem
Kanakenland. Mit Germany weiß jeder, was gemeint ist, das
verwechselt keiner!"
"Ist aber auch nicht gerade dein Verdienst, Werner!" Willis
Einwand klang ungewohnt scharf. "Laßt es gut sein",
schaltete sich Robert ein. "Lies weiter, Werner".
"...Er war ein ungebildeter Mensch. Wenn aber sogar gutinformierte
Amerikaner Australien mit einer lässigen Handbewegung einfach
abtun und sagen 'Euer Land ist unbedeutend, zu weit weg vom Rest
der Welt und außerdem fast unbekannt', dann beginne ich mich
aber aufzuregen..." Und als Beweis, daß Australien doch
nicht so uninteressant sei, führte der Autor einige der
Naturschönheiten und seltenen Tierarten an und beendete
seinen Aufruf mit folgenden Worten: "Wacht auf, alle mitsammen!
Selbstverständlich ist Australien bedeutend, und allen
denkenden Menschen der ganzen Welt gut und als beachtenswert
bekannt!"
"Also ehrlich, ich hab' sehr wenig davon gewußt", murrte
Werner schon wieder. "Und man kann mich nicht gerade ungebildet
nennen. Allerdings, je mehr ich erfahre, um so weniger möchte
ich darüber wissen. Was haben die schon groß
aufzuweisen? Ein paar lumpige Schafe und viel Sand in der ganzen
Gegend. Den Urwald hier lasse ich mir nicht mal schenken!"
An allem und jedem fand Werner etwas auszusetzen. Es lag nicht
bloß Überheblichkeit in diesen Bemerkungen, wie man den
Einwanderern immer wieder vorwarf, es lag einfach an der
vollkommenen Unkenntnis der Lage um sie herum. Erst langsam und
schrittweise nahmen die Dinge Formen und Werte an. Zaghafte
Ansätze dazu fanden sich in ernsthaften Überlegungen,
die sie an solche Aussprüche knüpften.
Das mit dem Busch stimmt schon, unsere Wälder sind
schöner. Willi überdachte die Angelegenheit sorgsam.
Aber hatte Werner auch miteinbezogen, daß es sicherlich
keine geringe Leistung darstellte, die Straße von Mt. Beauty
bis hierher zu bauen? Durch das unwegsame Gelände? Er
erinnerte sich der Autofahrt über die grobe
Schotterstraße. Durch unzählige Kurven, eng,
unübersichtlich, nur etwas breiter als der Wagen, war der
Fahrer mit einem Affentempo sondergleichen geflitzt. Einen
romantischen Filzhut am Kopfe, hatte er seine rote Schnapsnase
(vielleicht angeheitert) häufig dem Beifahrer zugewandt.
Manchmal hatte er das Lenkrad beim Gestikulieren losgelassen,
sodaß er, Willi, nur noch bebend vor Angst die entsetzlichen
Abgründe neben dem ungesicherten Straßenrand im Auge
behielt. Streckenweise hatte die Straße meterlange, durch
Regen ausgeschwemmte Abbröckelungen aufgewiesen. Es war
sicherlich nicht leicht gewesen, diese Straße durch diese
Wildnis zu legen.
"Was heißt hier Leistung?" ließ Werner wieder von sich
hören. "Die arbeiten an dem Projekt doch schon zwanzig Jahre,
wie man mir erzählt hat!" Daraufhin fiel Willi Höger
keine Entgegnung mehr ein. Allmählich verstummten die
Gespräche. Jeder vertiefte sich in die herumliegenden
halbzerfetzten Illustrierten. In einem Punkte stimmte die Meinung
aller überein: man bewunderte die herrlichen Frauengestalten.
Eine wie die andere schien einem Modejournal entsprungen.
"Fantastisch, die Weiber! Und hier ist weit und breit keine zu
sehen". Den Frauen war jeder Zutritt in ihre Welt verboten.
"Hello boys! Come on! Eure Arbeitskluft liegt bereit". Bluebird
steckte den Kopf durch den Türspalt herein. Die Burschen
bedauerten, den nun wohltemperierten Raum verlassen zu müssen
und stiegen fröstelnd in den nebeligen Tag hinaus. Der Weg,
mit großen Felstrümmern übersät, war
glitschig. Dünn nieselte der Regen herab. Ohne sich nach
ihnen umzudrehen rannte Bluebird auf seinen kurzen Beinen vor
ihnen her. "Werde euch in meine Hütte führen, wo ihr
euch umkleiden könnt. Ein Landsmann wird die
Konfektionsgrößen umrechnen – die Stiefel werden dann
in einer halben Stunde von McKay heraufgebracht, sobald ich die
Schuhgrößen telefonisch durchgegeben habe."
"Das hättest du schon längst erledigen können",
maulte Werner. Fluchend turnte er von einem großen Stein zum
anderen. "Ich werde doch nicht meine guten Halbschuhe für
Australien opfern!" Werner meinte es gewöhnlich nicht ganz so
ernst, wie er es hervorbrachte. Es konnte ihnen doch egal sein,
wie lange es dauerte, bis sie die Klamotten beisammen hatten."
Wenn die Aussies soviel Zeit haben – wir haben noch mehr", dachte
Willi und zog ingrimmig an seinem Schuh, der im Dreck
hängengeblieben war. Eine kleine Holzhütte, kaum
gesichert und auf zwei am Boden liegende Balken gestellt, erwies
sich als Bluebirds Hauptquartier. Die winzige Hütte klebte
buchstäblich am Rande eines Abgrundes, der etwa hundert Meter
tief abfiel.
Ein junger, braungebrannter Mann in einem Schutzanzug, mit
Gummistiefel an den Beinen, kam ihnen entgegen. Seine Hände
steckten in rauhledernen Handschuhen, und auf dem Kopf saß
keck ein – modischer Steirerhut! "Also, welche Schuhnummer, meine
Herren?" "Nummer 43", sagte einer. "Number seven and a half",
übersetzte der Mann mit dem Steirerhut. "Allright", meinte
Bluebird, "go on!"
"Was hast du denn?" erkundigte sich Hugo bei Willi, der sichtlich
unbehaglich in einer Ecke lehnte. "Die Bude gefällt mir
nicht. Ich möchte mich da herinnen nicht allzu lange
aufhalten...Die steht mir zu nahe an der Schutthalde". Die anderen
lachten ihn aus. "Du siehst Gespenster", meinte Werner
herablassend. "Ist gut." Beleidigt wandte sich der jüngere
ab.
Mittlerweile war die Mittagszeit herangebrochen.
Ein langgezogener, minutenlanger Pfiff ertönte. Sie begaben
sich alle zur beheizten Bauhütte zurück. Bald
strömten an die zwanzig abenteuerliche und eigenartige
Männer herein. Einige der älteren Typen wiesen
beträchtliche Leibesfülle auf, aber die meisten
erschienen den Europäern mager und ausgemergelt. Selten trug
einer auch nur ein überschüssiges Gramm Fett am Leib.
Nachdem sie die Überkleider abgelegt hatten, leuchtete die
gebräunte Haut der Männer, die kaum dreissig Jahre
zählen mochten, sie wirkte faltig und wie gegerbtes Leder.
Ein Jeep fuhr vor und brachte ein gut schmeckendes, komplettes
Mittagessen in Containern mit, inklusive Teller und Besteck.
"Die lassen es sich aber etwas kosten! Ich glaube, bei uns
würde man mit Barabern nicht soviele Geschichten machen. Da
müßten die Burschen wahrscheinlich ihre mitgebrachten
Speckbrote wickeln und Kaffee aus der Thermosflasche trinken",
äusserte Willi erstaunt. "Schon möglich", meinte Werner,
aus vollen Backen kauend. "Ganz gehöriger Aufwand
jedenfalls!"
"Sieh' mal an! Deutsche, wenn ich nicht irre?" Zwei junge
Männer vom Nachbartisch lugten freundlich herüber. Der
eine war bärtig, gutmütig aussehend, festgebaut – ein
Koloß von Gestalt, mit einer Lederweste bekleidet, der die
Beine in den Lederstiefeln lang unter dem Tisch ausgestreckt
hielt. Auf den ungekämmten Haaren saß ein zerfranster
und verbeulter Sombrero aus Leder. Der andere war ein
schmalhüftiger Mann mit blondem Flaum im jugendlich wirkendem
Gesicht. Ohne sich im geringsten beim Zerschneiden der
Würstchen am Teller behindern zu lassen, wiederholte der
Jungenhafte: "Deutsche, wenn ich nicht irre? Hummel-hummel,
übrigens, wir stammen beide aus Hamburg. Ich bin Eddi, und
der Dicke da wird Hans genannt. Allerorten bekannt als
Suicide-Driver, Kamikaze- oder noch besser Selbstmord-Fahrer,
falls ihr nicht wissen solltet, was das heißt. Wir sind
beide erst heute mit unserem Wagen angekommen".
"Du meinst wohl in meinem Wagen", warf Hans voller Besitzerstolz
ein. "Ach, bilde dir doch auf dein Fetzenflugzeug nicht soviel
ein!" tat ihn Eddi kurz aber freundschaftlich ab. "Wie lange seid
ihr denn schon in diesem schönen Land?" Eddi sah vom Teller
fragend hoch. Werner führte wie immer das große Wort
und berichtete alles Wissenswerte. An seine nächsten Nachbarn
gewandt, die schweigend an ihrem Kraut würgten und die rege
Unterhaltung der Einwanderer über ihre Köpfe hinweg mit
stummer Mißbilligung anhörten, erwähnte Eddi
geschmeidig auf Englisch: "Ich hoffe, ihr habt nichts dagegen,
wenn wir uns ein wenig in unserer Muttersprache unterhalten. Die
Boys beherrschen eure Sprache leider noch nicht so gut. Ich
weiß, es ist unangenehm für euch, aber wir reden
wirklich nur privates Zeug". Einer der angesprochenen Männern
murmelte nur "It's allright". Die übrigen kauten schweigend
weiter. Die sechs Deutschsprachigen rückten näher
zusammen.
"Wißt ihr, wir sind bereits das vierte Jahr in Australien
und haben so unsere Erfahrungen gemacht. Die glauben immer,
weiß Gott was wir über sie reden, wenn wir in unserer
Muttersprache quasseln!"
Der Vorarbeiter erhob sich nun vom Tisch, warf seine Windbluse
über die Schulter und verließ den Raum, und der ganze
Haufen folgte ihm gruppenweise. Als sie unter dem Betonmischturm
hindurchschritten, sahen sie schon den Wagen des
Schrägaufzuges am Portal wartend stehen. Eine Gruppe von zehn
Mann nahm in dem hölzernen Gefährt Platz, während
der Rest in die dunkle Tunnelöffnung verschwand. Schnurgerade
fielen die Schienen des Aufzuges ab, unheimlich lang und steil
wartete der Hang auf sie, und tiefer unten lösten sich
sämtliche Konturen der Landschaft im Nebel auf.
"Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste", dachte Willi und
setzte sich rittlings so auf die Seitenwand, daß er notfalls
im Bruchteil einer Sekunde abspringen konnte. "Wat denn, wat denn!
Da soll'mer runter? So'nen Berg hab' ich bisher ja nur im Film
gesehen! Was hältst du von dem Seil, Willi, du
Maschinenmensch? Ist es nicht ziemlich dünn?" Zweifelnd
blickte Werner auf jenes inch-starke Drahtgeflecht, dem sie ihr
Leben anvertrauen mußten. Jeder reagierte anders auf die
bevorstehende Talfahrt. Eddi sprudelte lustig drauflos: "Wir
kommen bestimmt runter, Jungs! Keiner bleibt oben wenn das Seil
reißt!" Hans versicherte ihnen, er werde demnächst die
Bremsen aus seinem Ford in die Karre hier einbauen, er müsse
nur vorher die Bremsbeläge erneuern. "Momentan ziehen sie
nicht besonders", erklärte er treuherzig. Robert und Hugo
schauten nur stumm in die Tiefe, ohne ihren Gefühlen Ausdruck
zu verleihen.
Rumpelnd setzte sich das Gefährt in Bewegung, die Räder
ächzten über die Schienen mit dem
unregelmäßigen Gleisunterbau. Linker Hand baute sich
eine hohe Erdwand auf, nach rechts hin verlief das Terrain eben,
nur von tiefen Erdspalten durchzogen, durch die wohl bei
stärkeren Regengüssen das Wasser schoss.
Alles sehr lockeres Erdreich, bin neugierig, wie die hier feste
Fundamente gründen wollen. Denselben Weg runter wird wohl
auch die Pipeline, die Druckwasserleitung, nehmen. Aha, da war
schon so ein mächtiges Loch im Boden, von etwa fünf
Kubikmeter Größe. Und bis obenhin mit dreckigem,
braunen Wasser gefüllt. "Ist doch der reine Wahnsinn",
überlegte Willi in diesem Augenblick," derartig mächtige
Gruben monatelang vor dem Betonieren auszuheben."
"Sag Herbert...", der junge Mann mit dem Steirerhut drehte sich
um, "wann wurden diese Löcher bereits ausgebaggert?"
"Vor drei Monaten etwa – hübsch, nicht wahr? Aber das
beunruhigt hier niemand, hier wird alles mindestens zweimal
gemacht. Wirst dich schon daran gewöhnen!"
Der Wagen machte plötzlich einen Ruck und schlug seitlich hin
und her, beinahe verlor Willi das Gleichgewicht. Sie rollten eben
über ein Gleisstück, das völlig frei in der Luft
hing, die Schwellen waren vom Regen freigespült worden.
"Da, seht euch das an! Hier, an dieser Stelle habe ich schon
mehrmals denselben Schaden ausbessern müssen. Jetzt kommt ihr
an die Reihe. Aber das Grundübel beseitigt man nicht. Mir ist
es egal, ich bekomme mein Geld so oder so", setzte Herbert
gleichmütig hinzu. Sie rollten nun auf horizontalem Boden,
die Geschwindigkeit lag bei etwa einem halben Meter pro Sekunde.
Ein älterer Arbeiter sprang ab, lief zu einem im Boden
eingerammten Pfahl mit aufmontierter Telefonbox und drückte
auf einen Knopf. In diesem Augenblick stoppte der
Windenführer ein paar hundert Meter weiter oben den Motor.
Das Seil, durch den weiterrollenden Wagen gespannt, schoß in
die Höhe, bis es etwa 15 Meter vom Boden entfernt einen
Augenblick zur Ruhe kam. In die Gleichgewichtslage auspendelnd,
rollte der Wagen mit den Insassen noch mehrmals vor und
zurück, bis die Ausschläge nur noch minimal waren. Jetzt
stieg ein Mann nach dem anderen aus, was immer neue Oszillationen
verursachte: Jede Fahrt mit dem primitiven Vehikel gestaltete sich
auf diese Weise äußerst spannend und unterhaltsam.
Man bedeute ihnen, die Grasnarben, die ausgestochen in
großen Haufen lagerten, in den Wagen zu laden. Oft hingen
zwanzig Zentimeter Erdreich an den Büschen, die, von Wasser
vollgesogen, beträchtliches Gewicht aufwiesen. Die
Männer bildeten eine Kette und warfen sich die schweren,
patzigen Brocken zu. Beim Auffangen stoppten sie die Grasnarben
mit der Brust, denn sie wären ihnen ansonsten aus den
Händen geglitten.
Der vollbeladene Hunt wurde dann an der nächsten Steigung
angehalten und mühselig wieder entleert. Da die Stiefel kaum
festen Halt fanden und die jungen Männer in halb
gebückter Haltung die Arbeit verrichten mußten, wurden
die Neuankömmlinge bald von heftige Kreuzschmerzen geplagt.
Sie kamen rasch dahinter, daß außer den Australiern,
Deutschen und Österreichern, auch Polen und Italiener der
Gang angehörten.
Bis in die Knochen zerschlagen, sanken sie abends in die
Polstersitze des Bedford Bus, der sie vom Tunnelportal weg in
einer Viertelstunde schneller Fahrt zum Barackenlager
zurückbrachte. Wie sie aussahen, naß, dreckig und zum
Umfallen müde, bannte sie Willi noch schnell als Gruppenbild
auf die Platte. Wann immer er später dieses Bild betrachtete,
mußte er über die trostlosen Mienen, mit denen sie aus
den Krägen der Schutzanzüge hervorsahen, herzlich
lachen.
Samstag morgen klöhnte Willi bis 8 a.m., nachdem er herrlich
tief geschlafen hatte, was seit seiner Abreise von Zuhause nicht
mehr der Fall gewesen war. Sämtliche Glieder schmerzten ihm,
so blieb er vorläufig im Bett liegen und studierte eine
Zeitschrift, die er von Werner ausgeliehen hatte. Auf das
Frühstück in der Kantine verzichtete er einfach. Er nahm
sich vor, jeden nur erübrigbaren Penny zu sparen, da er
wußte, daß man doppelte Portionen erhielt, wenn man
wollte. So schob er die Sättigung bis zum Mittagessen auf.
Nachmittags haute er sich wieder aufs Ohr und verschlief einige
Stunden.
In den Abendstunden begab er sich zu Werner, um ein wenig Radio zu
hören und lange Gespräche über ihr neues Heimatland
Australien zu führen. "Tja, die Zollkontrolle meiner Koffer
in Melbourne war so 'ne Sache", erzählte Werner, der um
einige Jahre älter war als Willi und die Kriegsgefangenschaft
bei den Franzosen und Amerikanern überlebt hatte. Mit allen
Salben geschmiert, nahm er sich kaum ein Blatt vor dem Mund.
"Du weißt ja, ich bin Heilmasseur von Beruf. In meinem
umfangreichen Handgepäck – das Großgepäck kommt
erst nach – hatte ich etwa 50 Kapseln für eine spezielle
Hormon-Abmagerungskur mitgebracht. Ich erhoffe mir damit einigen
Erfolg bei den australischen Damen. Na, jedenfalls, nun kommt der
Zollbeamte, verstehst du, wühlt und wühlt immer tiefer
rein. Legt alles raus, was ich mühselig und haargenau in den
Koffer reingebracht habe. Auf einmal sieht er die Phiolen, stutzt
und ruft sofort einen zweiten Beamten hinzu, und ein großes
Palaver beginnt. Die haben natürlich vermutet, ich schmuggle
Morphium, oder so etwas ähnliches.
Mensch, und dann entdeckt er noch zu allem Überfluß die
zugehörige Injektionsspritze. Da sind ihm aber die Augen
übergegangen! Natürlich haben sie alle anderen
Gepäckstücke aufgerissen und haben reingeguckt, fanden
aber nichts Verdächtiges mehr. Weißt du, wie ich mich
rausgeredet habe? Habe denen die Spritze gezeigt und erklärt,
ich müsse mir selbst jeden Tag eine Injektion geben, da ich
an einer lebensgefährlichen Krankheit leide und auf der
Stelle tot umfalle, sollten mir einmal meine Phiolen ausgehen.
Die waren vielleicht fertig! Vermutlich dachten sie, was schicken
uns die für Krüppel herüber aus Europa!... Der Zug
nach Bonegilla wartete inzwischen abfahrbereit am Kai. Ich war
einer der letzten, der durchsucht wurde – nun war ich der
Allerletzte. Na warte, Bürschchen, dachte ich, als ich den
fetten Beamten auf die Uhr schauen sah. Bedächtig legte ich
Stück für Stück zurück in den Koffer,
versuchte den Deckel zu schließen, ging aber leider nicht.
Ruhig und langsam packte ich wieder aus, den komplett Inhalt! Mit
einem leichten Achselzucken entschuldigte ich mich bei dem Dicken,
der jetzt bereits drängte, denn jeden Augenblick konnte der
Zug abfahren. Sorgsam überlegend, schlichtete ich wieder
alles rein. Kofferdeckel geht nicht zu! Der Beamte will mit seinem
ganzen Gewicht draufspringen, ich wehre natürlich empört
ab. Ich nehme die ganzen Dinger wieder raus, da höre ich, wie
der Zug mit den Einwanderern abfährt, ohne mich. Jetzt wurde
mir leichter. Da hast du es nun, verfluchter Kerl, sagte ich
mir.
Der hat vielleicht einen Anschiss bekommen, Junge, Junge! Mir
wurde unter Entschuldigungen ein Eisenbahnbillet für den
nächsten Zug nach Bonegilla in die Hand gedrückt!"
Willi lachte laut auf, und Werner setzte mit leichter
Entrüstung seine Story fort. "Ich habe ja nichts dagegen,
wenn der Zollbeamte seine Pflichten erfüllt, weißt du,
aber mutwillig, mutwillig die wenigen Klamotten der Einwanderer zu
zerstören, so wie ich das mit eigenen Augen ansehen konnte,
das geht denn doch über die Hutschnur!"
Ja, auch Willi erinnerte sich, daß ihm einige Immigrants von
zerstörtem Porzellangeschirr, zersplitterten Kistendeckeln
und zerrissenen Büchern erzählt hatten.
Zerstörungen, die erst bei der Kontrolle erfolgt waren.
* * *
Entschlossen, seinem Leben eine neue Richtung zu geben und jede
sich bietende Chance auszunützen, nicht wieder in die alte
Trägheit zurückzufallen, setzte er sich am Sonntag
Vormittag hin und schrieb einen kurzen Kartengruß an Beryl.
Er gestand ihr, wie beeindruckt er von ihr gewesen sei und fragte
zugleich an, ob er sie gelegentlich besuchen dürfe. Dann warf
er das Schreiben zusammen mit drei anderen Briefen in den Schlitz
neben der Tür des kleinen Ladens, der zugleich als Postamt
fungierte.
Unsere vier Helden wanderten nachmittags bei strahlendem
Sonnenschein nach Falls Creek, wo die farbenprächtigen
Hütten des Bogong Skiing Club in die Hänge hineingebaut
waren. Leider trafen sie nicht den österreichischen Skilehrer
an, von dem man Willi erzählt hatte – die Chalets waren
momentan unbewirtschaftet. So stiegen sie noch höher hinauf
und konnten bald das ganze Hochplateau überblicken, das von
Preiselbeer- und Erikastauden überwuchert war. Kleine
Bäche rauschten zu Tal, gespeist von den vielen
Schneeflecken, die hier noch vereinzelt lagen und dem neuen Winter
entgegenträumten. In der Ferne grüßten Berge
herüber, deren Wälder von hier aus gesehen einen starken
Blaustich aufwiesen. Darüber thronten farbige Wolken, von
rosenrot bis ins blauviolette irisierend.
Wenn sie die Blicke den Windungen der Straße entlanggleiten
ließen, sahen sie inmitten des giftgrünen Urwaldes,
dessen Bäume dicht nebeneinander in die Höhe schossen,
unzählige starke, angekohlte Baumstrunke, deren abgestorbene
Arme gespenstisch gegen den Himmel ragten. Da Willi derselbe
Anblick bereits am Hume Reservoir aufgefallen war, wußte er,
daß hier ein furchtbarer Buschbrand gewütet haben
mußte. Vor Jahrzehnten waren große Teile von Victoria
und New South Wales dem Feuer zum Opfer gefallen – also Gebiete
etwa so groß wie das kleine Österreich! "Daher auch der
Name Howman's Gap", dachte Willi. "Gap bedeutet ja Lücke,
eine Lichtung im Urwald! Könnte genauso gut irgendwo in
Sibirien liegen", überlegte er ernüchtert.
Seine Gedankengänge schlugen unaufhaltsam eine immer
depressivere Richtung ein. Was suche ich hier eigentlich, ich
Dummkopf, schalt er sich im Stillen, während er zunehmend
schweigsamer neben seinen Gefährten hertrottete, die
ebenfalls immer verdrossener dreinsahen. Jemand unterbrach die
Stille. "Schöner Tag heute. Wird für die kommenden
Monate wohl so bleiben wie es ist. Bißchen langweilig wird
es schon..." Finster blickte Robert auf seine schmalen Hände:
"Habe meinem Freund Joe nach Melbourne geschrieben. Wenn ich eine
positive Antwort erhalte, haue ich in zwei Wochen ab."
"Und ich werde weiter im Dreck wühlen wie ein Maulwurf, statt
mich daheim auf die Examina vorzubereiten, wie es meine Freunde
tun. Statt dessen...Ach, ist ja alles egal." Vollkommen entmutigt
kletterte Willi abends in Bett und beobachtete traurig, wie der
Himmel langsam ins Graue wechselte, bis auch die Umrisse der hohen
Bäume im kleinen Fensterausschnitt verschwanden und das Licht
aus der nächsten, höher gelegenen Baracke über die
grobe Bettdecke fiel, die er nun über die Ohren zog, um zu
vergessen.
* * *
Strahlende Sonne beleuchtete tags darauf die dahinbrummenden
Omnibusse. Dieser Tag sah wieder ganz anders aus, alle Gesichter
lachten dem Licht entgegen. Heute würde die Arbeit Spaß
machen, und sie machte Vergnügen. Kaum noch wurden sie von
Kreuzschmerzen und Muskelkater geplagt. Hans und Eddi, die gestern
mit dem Auto unterwegs gewesen waren, blödelten, daß es
eine Freude war. Die sechs deutschsprachigen Männer kamen aus
dem Lachen garnicht mehr heraus. Einzig und allein Robert blickte
nach wie vor düster drein.
Bluebird, ihr Vorarbeiter, wies die Gruppe auf die Gefahren in
ihrer Umgebung hin. "Passt auf, wenn ihr die Erde mit bloßen
Händen angreift. Sie ist mit Bakterien verseucht! Selbst bei
kleinsten Hautverletzungen dürft ihr niemals ohne Handschuhe
arbeiten!" Er wies auf ein Grasbüschel, das mit der
Muttererde nach oben am Boden lag. "Und seht euch das ganz genau
an! Da hockt eine Black Widow, eine Schwarze Witwe. Ein Zufall,
daß wir hier eine finden, aber – ich warne euch: ihr
Biß kann für Menschen sehr gefährlich sein!" Die
Burschen beugten sich über die Erdscholle und betrachteten
mit leichtem Gruseln die dünnen, behaarten Beine des
daumennagelgroßen Insekts, das, durch die Störung
aufgescheucht, langsam weiterkrabbelte. "To Hell with you, you
bloody bastard!!" zischte Bluebird zwischen den Zähnen hervor
und zerquetschte die Spinne mit der scharfen Kante seiner
Stechschaufel.
Innerhalb der Arbeitsgang bildeten sich bald Spezialisten heran.
Am augenscheinlichstem im Falle des einzigen Italieners welcher
der Gruppe angehörte. Mit unnachahmlichen Skill verpflanzte
er Stück um Stück der Grasnarben am Steilhang. "Here I
need a bigger piece – tat one is too littel!" Wie die Mehrzahl
seiner Landsleute, tat er sich mit der Aussprache gewisser Worte
schwer. Aber der grammatikalisch richtige Satzbau offenbarte seine
Intelligenz. Ein an sich geringfügiger Zwischenfall erregte
den wohl intensivsten Heiterkeitsausbruch, der je von dem
grünen Laub der Eukalyptuswälder in dieser Gegend
zurückgeworfen worden sein mag: Ihr Vorarbeiter Bluebird, ein
zwar einfacher, aber gebildeter Australier, verwechselte, nachdem
er es hundertmal vom Italiener gehört hatte, einmal "little"
mit "littel", als er besagtem Arbeiter eine Anweisung gab.
"Verdammt und zugenäht!" brüllte er los. "Jetzt bin ich
mir bald selber nicht mehr der richtigen Aussprache sicher!"
Ja, hier also reihte der Italiener sorgsam Grasnarbe an Grasnarbe.
Genauso gekonnt, wie begabtere und glücklichere Landsleute
von ihm bunte Mosaiksteinchen oder Glassplitter zu
bewundernswerten Kunstwerken zusammengesetzt haben,
jahrhundertelang.
"Paisano", wie ihn Willi in Erinnerung an die Rufe der
Händler in Port Said getauft hatte, blickte kurz von seiner
Tätigkeit auf, strich sich den Rücken glatt und rief den
eifrig hinhauenden Deutschen, mit ein wenig Spott in der Stimme,
ein "Arbeiten, viel arbeiten!" zu. "Halt den Mund, Paisano!" fuhr
ihn Eddi an. Jungenhaft keck, mit einem flachen grauen Filzhut auf
dem kurzgeschnittenem strohblonden Haar, stand er da auf der
Ladefläche des Huntes. Mit einer reflexartigen Bewegung zog
er von Zeit zu Zeit seinen Hosenbund in die Höhe, der
über die nicht vorhandenen Hüften zu gleiten drohte.
"Halt die Schnauze, Paisano, oder die bösen 'tedesci'
marschieren wieder in 'bella Italia' ein und saufen den
Chiantiwein aus..." Ununterbrochen zogen sich die Europäer
gegenseitig auf und vertrieben sich so die Langeweile.
Gelegentlich steuerte auch der Pole unter ihnen einige Bemerkungen
in hartem Akzent auf deutsch bei und lachte über die Witze
der fröhliche Bande. Obwohl er sich nicht recht getraute,
wußte er doch nicht, ob ihn nicht die Australier als eine
Art Verräter betrachteten, wenn er mit den Deutschen und
Österreichern mitlachte, die sich ungeniert ihrer Sprache
bedienten. Oder war eher Schweigen Gold?
* * *
Bluebird stand breitbeinig vor der herumlungernden Gruppe der Gang
und richtete schließlich das Wort an Eddi, der zufolge
seiner langen Wanderjahre in Australien den Slang ausgezeichnet
beherrschte.
"Ich möchte wissen...", er räusperte sich, "welchen
Beruf jeder einzelne von euch hat. Ihr seht nicht so aus, als ob
ihr dauernd mit Krampen und Schaufel gearbeitet hättet. Was
hast du zum Beispiel früher gemacht, Eddy, would you tell me,
please?"
"Ooch, in Deutschland war ich kaufmännischer Angestellter.
Zuerst habe ich versucht, hier gleichfalls einen solchen Job zu
finden – aber es gelang mir nicht. Ich bin momentan quite happy
mit der Arbeit an der frischen Luft hier!" Verbindlich
lächelnd grinste Eddi den Vorarbeiter an.
Der blickte ihn etwas zweifelnd an und wandte sich dem
nächsten in der Gruppe zu. Hans lag hingestreckt auf einem
großen Betonrohr, die Lederweste als Kopfpolster
untergelegt, den verwitterten Lederhut halb übers
bärtige Gesicht geschoben. Im Mundwinkel hing wie immer eine
glimmende Zigarette.
"Ich? Ich bin Karosseriespengler, Panelbeater, weißt du,
Bluebird!
Aber ich kann einfach keine Beschäftigung finden, jedenfalls
nicht auf Dauer. Nach kurzer Zeit fliege ich immer raus...Aber
spielt keine Rolle. Ich hab' meinen Ford, der mich schnell und
bequem in eine neue Gegend bringt, wo ich wiederum Geld verdienen
kann. Schweres Geld – wie hier!"
Lachend entblößte er seine fauligen Kauruinen und
setzte noch sein "Jojo, da kann man nichts machen!" hinzu.
Gemütlich steckte er wieder den Glimmstengel zwischen die
Lippen.
Später erklärte er dann seinen Kumpeln, warum er so
häufig rausflog aus dem Job.
"Der Australier gibt mir ein Probestück zum Bearbeiten. Ich
ergreife den Hammer, haue zielsicher drei – viermal drauf. So:
Peng-peng, nich', und schon ist die Beule raus! Der Aussie macht
große Augen, sagt brav thank you und öffnet mir
bereitwillig die Türe, die direkt ins Freie führt. Ein
Landsmann und Kumpel hat mir einmal gesagt, wenn du das so
angehst, ist das ganz klar! Du mußt eine Viertelstunde
schön dran herumhämmern – das freut den Aussie – und
macht die anderen nicht arbeitslos".
Bluebird schüttelte nur den Kopf und wandte sich nun den
Neuankömmlingen zu.
"That's Hugo, isn't it?" "Das stimmt, er ist es", bekräftigte
Werner. "Ich werde für ihn sprechen, Mr. Bluebird, sein
Englisch ist noch nicht gut genug."
Sie zeichneten Bluebird, ihren Partieführer, mit dieser
respektvollen Anrede aus. Seine Persönlichkeit und die
Fürsorge für die ihm anvertrauten Männer waren
allgemein bekannt und geschätzt. Üblicherweise hielt man
nicht viel von solchen "Formalitäten".
"Hugo hat fünf Jahre Praxis als Pfleger in einem der
bedeutendsten Krankenhäuser Berlins", erklärte ihm
Werner. "Bonegilla hat ihn hierher eingewiesen!"
"Can't get that", murmelte Bluebird unsicher. "Und du selbst?"
fragte er Werner. "Ich war im selben Krankenhaus als Heilmasseur
angestellt. Kann alle meine Zeugnisse vorweisen".
"Ihr solltet etwas anderes tun, als hier im Dreck herumgraben. Mit
der Zeit werdet ihr euch die Hände ruinieren", meinte
Bluebird.
"Und was ist mit dir?" Er blickte auf Robert den
Apothekergehilfen, der ihm seine persönliche Geschichte
brühwarm hinterbrachte. Bluebird erwiderte kein Wort mehr. Er
sah dann Willi nur fragend an, der ihm bereitwillig Auskunft gab,
auf sein abgebrochenes Technikstudium, die Erfahrungen als
technischer Zeichner und die Praxis in der Elektroindustrie
verwies. Jetzt reichte es dem armen Bluebird, erschüttert
brach er immer wieder in den gleichen Ruf aus: "Jesus Christ!
Jesus Christ!...Sind denn die in Bonegilla wahnsinnig?"
Die jungen Männer gaben keine Antwort. Sie wußten es
nicht.
Bluebird versprach ihnen hoch und heilig, alles in seiner Macht
stehende zu tun, um ihnen wenigstens im Rahmen dieses Unternehmens
geeignetere Positionen zu verschaffen. Bereits in den
nächsten Tagen wolle er deshalb bei der Bauleitung
vorsprechen. Die Boys dankten ihm und betonten ihre Freude
darüber.
Später stöberte man eine Black Snake auf, das
tödliche Biest. Ein paar Knüppelhiebe von Eddi
erledigten das Reptil. "Kleine Fische, soetwas!" kommentierte er
trocken. "Schließlich sind wir schon mal im Busch gelandet,
vor vier Jahren, als wir rüberkamen. Damals allerdings nicht
freiwillig".
"Erzählt doch etwas davon", baten die vier
Neuankömmlinge. "Nein, nicht jetzt. Vielleicht bei einer
anderen Gelegenheit", schnitt Eddi ihnen kurz die Rede ab. Sein
Grinsen verschwand für einen Augenblick und wich einer
angespannten Starrheit...
* * *
Das Wetter gestaltete sich zunehmend kühler, es ging dem
Winter entgegen. Bereits am Vormittag nieselte es, nun aber
goß es in Strömen. Die Wellblechhütte bot kaum
Platz für die vielen Männer. Ein paar Aussies
fütterten den Ofen mit klobigen Holzscheiten. Ausnahmsweise
schnatterten heute die Englischsprechenden drauflos. Seit neuem
stießen auch Irländer, Schotten und Engländer zu
ihnen, alles alte Buschhasen, die schon jahrelang in der Gegend
hausten. Zwangsläufig folgte Willi der Unterhaltung. Sein Ohr
empfand es furchtbar hart, den Slangausdrücken und dem
austalischen Englisch zu folgen und einen Sinn zu verleihen. Aber
soviel bekam er mit: Anscheinend gefiel ihnen der Regen, oder
vielmehr die Ruhepause in der Hütte.
"Nicht verwunderlich, bei ihren alten Knochen", dachte er, "ich
möchte ja auch nicht draussen im Regen stehen". Jedes dritte
Wort lautete 'bloody' oder 'fucking', was Willi etwas unangenehm
berührte. Bildeten diese Schimpfworte einfach Füllwerk
in einem Satz, wie etwa 'Ah' oder 'Äh'? Erst später, als
er im subtropischen Sydney lebte, verstand er diese scheinbare
Gedankenlosigkeit, die nichts anderes war, als eine Reaktion auf
die zeitweise unmenschliche Hitze. Er gedachte der Geschichten
über die Amokläufer im pazifischen Raum: Plötzliche
Anfälle sinnloser Wut, wahnsinniger Gereiztheit, die sich
entladen mußte.
Die Deutschen schwiegen an diesem Nachmittag beharrlich vor sich
hin und blickten nur gedankenverloren in den Regen hinaus. Der
Pole Stan in ihrer Mitte beherrschte ihre Sprache ganz gut, wenn
er wollte, die Jahre als Fremdarbeiter waren nicht spurlos an ihm
vorbeigegangen. "Ich habe sogar eine Deutsche geheiratet und lebe
ganz glücklich mit ihr, deshalb kann ich es so gut!" meinte
er stolz. Der Pole klärte die jungen Burschen über so
manches auf, was sie bisher kaum geahnt hatten, Zusammenhänge
zwischen Dingen, die auf dem ersten Blick nichts miteinander
gemeinsam hatten. "Siehst du", erklärte er dem gespannt
lauschenden Willi an seiner Seite, "wenn zum Beispiel ein Russe
mit einem Tschechen, oder ein Rumäne mit einem Polen eine
Unterhaltung führen wollte in diesem Land, wichen sie auf
Deutsch aus, denn Englisch sprach weder der eine noch der
andere...Ja, und so kam es, daß das Deutsche beinahe als
zweite Landessprache angesehen werden konnte und kann!" Das dies
nicht nur Vorteile für die hier lebenden Germans gebracht
hatte, verschwieg der liebe Stan allerdings.
Eintönig trommelte der Regen auf das Wellblechdach. Stan
deutete nach oben: "Da begreifst du vielleicht, warum die meisten
Australier auf uns Einwanderer einen Krampf haben – wenn sie es
auch nicht offen zeigen. Noch vor wenigen Jahren wäre es
undenkbar gewesen, daß ein 'fair dinkum Aussie', ein
richtiggehender, waschechter Australier, bei derartigem Sauwetter
auch nur das Lager verlassen hätte. Arbeitskräfte waren
rar, so blieb er einfach daheim, wenn es ihm nicht paßte.
Entlassen hat man ihn deshalb noch lange nicht. Und heute...? Den
ganzen Vormittag haben wir bei dem Sauwetter geschuftet. So
ändern sich die Zeiten!" "Jetzt fang bloß nicht an zu
seufzen und auf die bloody migrants loszuziehen!" neckte ihn
Willi. Stan lachte nur.
Ein neuer Mann in der Gang fiel völlig aus dem Rahmen. Ganz
selten tat er den Mund auf, genaugenommen hatte Willi von ihm
überhaupt noch keine Äusserung gehört. Während
der Teepause saß er, freundlich lächelnd, von den
übrigen etwas abgesondert. Sein Teint schimmerte dunkelbraun,
und die Haare glänzten bläulich schwarz. Höger,
genauso wie seine Kameraden, hatten ihn anfangs für einen
Süditaliener gehalten. Aber sie alle mußten ihre
Meinung revidieren: Sie sahen einen "Halfcast", einen Mischling
als Produkt eines weißen Australiers mit einer Eingeborenen,
einer Aboriginal-Frau, vor sich. Obwohl ihn hier das keiner
spüren ließ, wußte er genau, daß er
für den Rest des Lebens ein Aussenseiter bleiben würde.
Bedauerlich, aber unabänderlich.
In Albury waren ihnen bereits einige dieser Eingeborenen-Frauen
aufgefallen. Abgesehen von den meist nicht sehr ansprechenden
Gesichtern, wiesen sie durchwegs annehmbare Formen auf, rundherum
sozusagen. Man konnte sich gut vorstellen, daß ein
Buschläufer, der monatelang keine Frau mehr gesehen
hatte...In der Not frißt der Teufel Fliegen, heißt es.
Und das waren sogar sehr nette Käfer...
Ankunft im Lager, raus aus dem Bus und rein in den
Gemischtwarenladen, war eins. In Sekundenschnelle füllte sich
die kleine Bude, die alles führte, was man in dieser
Einöde wohl benötigen würde. Von der Zahnpasta
über Zeitungen, Diggerhüten, Nagelschuhen bis..., nun
bis zur täglichen Post eben. Begierig überflogen die
abenteuerlich gekleideten Männer die Empfängeradressen,
rasch griffen die Hände zu, ein kleiner Aufschrei folgte.
"Na siehste", sagte Werner befriedigt, mit glänzend dunklen
Augen unter dem Kraushaar. "Gleich vier Stück. Alle von
Bonegilla nachgesandt! Nichts für dich? Na, dann eben morgen.
Komm, gehen wir zuerst in die Kantine!"
* * *
Das Schlechtwetter wollte und wollte kein Ende nehmen, stundenlang
hockten sie in der Hütte. Sobald der Regen etwas
nachließ, trieb sie Bluebird raus, für eine halbe
Stunde oder weniger, bis es wieder stärker niederprasselte.
Willi hatte in den Ferien so manchen Schilling am Bau
dazuverdient. Er stellte stille Vergleiche zwischen den
Barabertypen von damals und seinen australischen Arbeitskollegen
von heute an, und kam zu dem Schluß, daß deren
Ausdrucksweise zwar einfacher war, jedoch bei weitem keine
derartigen schweinischen Bemerkungen wie zuhause die Runde
machten. Und als Folge der Pionierzeit in Besiedelungsperiode
dieses Kontinents, wo Frauen eine kostbare Rarität
dargestellt hatten, nahmen sie auch in der heutigen
Vorstellungswelt der Männer eine hehre und unantastbare
Position ein. Wegen dieser respektvollen Einstellung zum anderen
Geschlecht entfielen schon fünfzig Prozent aller Witze, den
Rest führte er auf mangelnde Phantasie zurück.
Abgesehen von dieser betrachtenden, rein mentalen
Beschäftigung, hatte Willi absolut nichts zu tun, genauso wie
der übrige Haufen.
Nur die Zeit verrinnt, das Sparkonto wächst ein wenig – sonst
geschieht nichts, absolut nichts!
Wo bleibt der zum Entwickeln eingesandte Film?
Warum kommt keine Post für mich?
Trübselig hingen alle ihren großen und kleinen
Problemen nach.
Ein Rattern und Poltern kam näher, das Wellblech begann
klirrend zu rütteln. Ratlos und erstaunt blickten sich die
Männer an. Auf einmal – ein furchtbarer Stoß, der das
Holzfachwerk in der Ecke zersplitterte, das Blech in Fetzen
herausriß und den ganzen Bau aus den Grundfesten
rüttelte. Im wüsten Durcheinander flog alles Bewegliche
umher.
Als die Schrecksekunden vorüber waren und die Kumpel bleich
und zerkratzt über das Gewirr von Schaufeln, Seilen und
Zementsäcken ins Freie drängten, prallten sie gegen die
breiten Raupenketten einer Monster-Erdbewegungsmaschine.
Wild fluchend kletterte der Fahrer eben vom Führersitz.
"Somebody hurt, mates?" stieß er keuchend hervor. "Could'nt
control that bloody bastard of a fucken Dozer!!" schimpfte er sich
den Schock von der Seele. Etwas blass stand er so vor ihnen, ein
langer, dürrer Australier mit dem typischen, breitrandigen
Schlapphut am Schädel. "Sorry, mates! Gut, daß nichts
passiert ist!" Der baumlange Junge kletterte wieder in den
Kontrollstand, zog an einigen Hebeln, und das Ungetüm brauste
mit hunderten von Pferdestärken in wildem Dröhnen
davon.
Von den Kumpeln, den "Mates", hatte kein einziger ein böses,
vorwurfsvolles oder gar drohendes Wort gegen den Fahrer fallen
gelassen, obwohl einige sicherlich gerade knapp dem Tode entronnen
waren. Eine Raupenbreite tiefer, und es wäre um sie geschehen
gewesen! "Allright m a t e s", dachte Willi, "jetzt dürft ihr
ruhig mal drauflosschimpfen." Aber nichts dergleichen geschah.
Vollkommen ruhig, als würden sie die letzten Resultate des
Pferderennens rein akademisch diskutieren, besprachen sie den
Vorfall. Unter "Verdammter Idiot, paß doch auf!!" wäre
es daheim nicht abgegangen.
Ein eigenartiges Völkchen, diese Aussies. Kopfschüttelnd
trat er zu seinen Freunden. "Jetzt reicht es aber!" Bluebird rief
die Leute vorzeitig zum Aufbruch. "Zur Rampe rauf! Ich telefoniere
um die Busse!" "Ich wette mit dir einen australischen Schilling,
hörst du Werner – du weißt, was das bei meiner
Sparsamkeit bedeutet, daß heute für mich ein Brief
gekommen ist!" "Den Shilling nennt man hierzulande 'Bob', merk dir
das endlich", antwortete ihm Werner. "Du weißt schon,
Assimilation ist das große Schlagwort in Australien. Liest
es jeden Tag in der Zeitung!" "Ja, aber immer erst einen Tag
später!" grinste der Österreicher. "So wie du,
übrigens." Das hatte natürlich seinen ganz bestimmten
Grund.
Da ihnen die Truth zu teuer war, bezogen sie die Zeitung immer
einen Tag nach der Ausgabe – aus dem Koloniakübel.
Also Werner ging tatsächlich auf die Wette ein, mit saurer
Miene überreichte er seinem Freund den Shilling, nachdem sie
das Postamt verlassen hatten. So wie er war, in dreckiger Kluft
und kotigen Händen, riß Willi den Umschlag auf. Aha,
die Beantwortung seiner Anfrage an einen Staatsbetrieb in
Melbourne. Begierig überflog er die Zeilen:
"Sehr geehrter Mr.Hoeger!
Wir bedauern Ihnen mitteilen zu müssen..."
Nichts. Achtlos ließ er das Schreiben zu Boden gleiten.
Wäre zu schön gewesen, kann ja garnicht so glatt
gehen... Das zweite Schreiben stammte von dem Bekannten in
Melbourne, der eigentlich keiner war. Willis Gesichtszüge
hellten sich auf. Er reichte den Brief weiter an seine Freunde.
"Hat 'nen guten Humor, der Mann", lachte einer. Da stand zu lesen:
"Sehr geehrter Herr Höger! Willkommen im Lande der
unbegrenzten Unmöglichkeiten!"
Ich werde diese Leutchen erst garnicht mit einen Besuch
belästigen, beschloß Willi, etwas enttäuscht von
dem Wischi-waschi des Schreibens.
* * *
In der zweiten Woche begannen sie bei schönstem Wetter die
Abflußrinnen am Hang einzubetonieren. Über eine
improvisierte Rutsche aus Wellblech, dem Material, aus dem fast
alles hier fabriziert wurde, sollte das teigige Gemisch aus
Zement, Schotter, Sand und Wasser hinunterfließen. Bereits
nach kurzer Zeit erschöpften sich die Kräfte der
Männer, die versuchten, das ganze mit Hilfe von Schaufeln zum
Rutschen zu bewegen. Unerbittlich rollten neue Ladungen mit
Fertigbeton heran. Wie die Wilden hauten sie hin, und die ganze
Partie fluchte drauflos, aber das Tempo durfte nicht verringert
werden. Die ungewohnte Anstrengung riß an allen
Muskelpartien des Körpers. Mit heimlicher Freude und Stolz
bemerkte Willi, wie sein Bizeps im Laufe der Tage anwuchs. Schon
lange hatte sich gewünscht, harte körperliche Arbeit
verrichten zu können, um seinen durch jahrelanges Sitzen
erschlafften Körper so richtig widerstandfähig und hart
zu machen. Nun war die Gelegenheit dazu da...
Am späten Nachmittag sank das Tempo automatisch, als
plötzlich ein schwarzer Buick auftauchte, der mit seinen
verhängten Fenstern eine starke Ähnlichkeit mit einem
Leichenwagen suggerierte. "Payday", Zahltag war das Losungswort,
das auch den müdesten Kumpel wieder auf die Beine brachte. In
langen Reihen standen die Gestalten vor den gepanzerten,
bläulich schimmernden Scheiben und blickten ungeduldig nach
drinnen, wo neben dem Fahrer zwei uniformierte Beamte saßen.
Im Fond der Kassier, der in einer umfangreichen Blechkassette
hunderte schmaler Lohntüten aufbewahrte. Gewichtig, mit
ernsten Mienen, beobachteten die Uniformierten die Szene, die Hand
leicht auf der Pistole am Ledergürtel placiert.
Das erste selbstverdiente Geld in Australien! Die Auszahlung
für die zwei Tage der ersten Arbeitswoche. Willi drehte und
wendete die Scheine mit der grünlichen Farbtönung. Das
Portrait der Königin Elisabeth und das Wappen Australiens,
Kangaroo und Emu, zierten die eine Seite. Er wendete den
Schein.
"Na, du kannst dich ja kaum von dem Anblick losreißen,
Willi!
Gefallen dir sie Scheinchen? Dann heb' sie bloß gut auf.
Mach's nicht so wie wir – vier Jahre Australien und nicht mal den
lumpigen Wagen abgezahlt!" Eddi trat näher heran und sprach
weiter. "Du wirst es ja erleben, was unsere lieben Freunde, die
Kumpels hier, damit anfangen werden. Du fährst Samstag mit
uns runter in den Pub? Anschauungslektion, mein Lieber, das tut
gut!"
" Gerne, wenn ihr mich mitnehmt?" Willi reichte Eddi Feuer
für die Zigarette. "Willst du auch eine?" "Ja, ich
gewöhne mich langsam daran. Früher waren's zehn im
Monat, jetzt rauche ich beinahe zehn Stück pro Tag. Das
heißt am Abend, wenn ich allein in der Bude sitze."
Nach einer kurzen Pause: "Wieso habt ihr euch nicht mehr erspart?
Seid ihr immer zusammen umhergezogen?"
Eddi rückte seinen grauen, tellerflachen Hut etwas nach
hinten. "Tja, Junge, das ist bereits der zweite Wagen, den Hans
zuschanden fährt. Wir gondelten immer gemeinsam herum auf
diesem Kontinent. Wenn es uns irgendwo nicht mehr gefiel, packten
wir einfach unsere Siebensachen zusammen, und ab ging die Post.
Bis irgendwo ein Wind wehte, der uns gefiel. Von Melbourne nach
Sydney, von Sydney nach Brisbane, von dort aus nach Darwin – alles
schon hinter uns gebracht. Tausende Kilometer. Haben uns einen
Gaul gehalten, mit allem Zeug das dazugehört, wie eleganten
Sattel, Rüstzeug, Stiefel, Sporen, und so weiter. Nicht zu
vergessen, eine richtige Gun! Da haben wir drauflos gepfeffert,
was das Zeug hielt, Hans und ich. Zeige dir gelegentlich Fotos
davon."
Er schwieg nachdenklich und rief sich die verflossenen Zeiten noch
einmal vor Augen, wo sie ihre Jungenträume Wirklichkeit
hatten werden lassen: Einmal richtig Wildwest spielen zu
dürfen, von galoppierenden Pferden herunter Old Man Cangaroos
und Emus zu jagen...
"Jedenfalls haben wir damals mehr von unserem Leben gehabt, als im
Krieg, den ich als blutjunger Flakhelfer miterlebte." Er
lächelte etwas gezwungen. "Und ihr müden Brüder
werdet wahrscheinlich ewig bei der Erdbewegungsfirma bleiben,
was?" Willi versuchte, seinen Standpunkt zu erläutern.
"Du hast doch selbst vorgeschlagen, ich soll meine Kröten
sparen. Eben hast du zugegeben, daß ihr beim Herumzigeunern
eine Menge Geld verbraucht habt. Ich würde nichts lieber tun,
als mir dieses verdammte Land näher anzusehen. Ich
möchte in vier Jahren aber auch nicht so dastehen, wie ihr
beide heute! Das muß dir doch einleuchten."
"Klar, du hast recht!" Eddi klopfte ihm auf die Schulter.
"Manchmal überlege ich ja, ob wir beide, Hans und ich, nicht
doch alles total falsch gemacht haben. Möchte gerne einmal
nach Old Germany zurückkehren. Langsam wird dieses
Vagabundenleben sinnlos. Und wie mir scheint, sind wir auch nicht
in das richtige Land ausgewandert...
Hier kommt keiner zur Ruhe. Du glaubst garnicht, wie sehr sich
Hans nach einem netten Mädel und einer eigenen Familie sehnt.
Er kennt eine Australierin in Sydney. Aber das haut nicht so recht
hin. Sie hat ein lediges Kind, das würde ihm überhaupt
nichts ausmachen. Aber... Es wird sich schon eine finden, auch
für ihn. Er verdient es."
Hans war wirklich ein patenter Bursche. Wann immer jemand etwas
brauchte, sich in einer kleinen Klemme befand: Hans war immer zur
Stelle. "Jojo, wird gemacht, mein Junge!" Und er tat es.
Allzuviel wurde an diesem Tag nicht mehr geleistet. Willkommenen
Anlaß zum Ausruhen gaben Sprengungen, die in der Nähe
durchgeführt wurden. Die Boys hockten dann in den
Erdschächten, die für die Entwässerungsrinnen
ausgehoben worden waren. Mit hellem Klirren prasselten die
Gesteinssplitter auf die Wellblechabdeckung hernieder.
* * *
Morgen Freitag würde also das erste "Long Weekend" anbrechen.
Das Lager selbst bot nur wenige Zerstreuungsmöglichkeiten.
Freitag abends trafen sich regelmäßig einige
Lagerinsassen in der Sporthalle, wo einfache Tische zum Ping-Pong
Spiel einluden, sowie Wurfringe und das Pfeilwurfspiel Darts
bereitlagen. Willi fand sich mit seinen Freunden inmitten einer
Schar nachlässig gekleideter, herumlungernder Männer
wieder. Niemand mochte sich anscheinend entschließen, mit
einer Aktivität den Anfang zu machen. Unsere Helden starteten
schließlich ein rasantes Tischtennis-Match zu viert. "Jetzt
reicht es mir. Will jemand anderer probieren?" Der junge
Höger legte den Schläger hin. Man wollte.
Er sah Paisano, den Italiener, neben dem Radiogerät hocken,
das dauernd durch Wackelkontakte ausfiel. Heute jedoch war es ihm
gelungen den Apparat in Betrieb zu setzen. Bei jedem heftigeren
Trompetenton, der aus dem Lautsprecher quoll, flackerte das
Skalenlämpchen zwar beängstigend, aber dieses Wunder der
Technik verströmte anheimelnde Musik. "Italienische
Serenade?" erkundigte sich Willi freundlich bei dem
Achtundzwanzigjährigem, der zusammmengekauert nahezu in den
Lautsprecher hineinkroch. Ja, natürlich, was sollte ein
Italiener denn sonst anhören.
"Wie lange bist du schon im Lande?" Unvermeidliche Frage aller
Auswanderer. Der junge Mann antwortete: "Seit vier Jahren. Und
nächstes Jahr fahre ich zurück. Zurück nach Neapel,
wo meine süße Braut wartet." Seiner Brieftasche entnahm
er das Foto einer jungen Dame und reichte es Willi hin. "Das ist
sie, feurig und rassig wie alle Italienerinnen. Nicht so cool wie
die Girls hierzulande!" Wehmütig weilte sein Blick auf dem
Bild. "Scheinen Limonade im Blut zu haben... Hast du keine Braut?"
Forschend sah er Willi an. "Ja, natürlich habe ich eine
Freundin in der Heimat. Leider hat sie mir bis jetzt noch
nichteinmal geschrieben...", setzte er traurig hinzu. "Santa
Maria", entfuhr es dem Italiener. "Ich kenne eure Mädchen.
Die sind viel zu lebendig, um länger ohne Mann dazustehen.
Fast so temperamentvoll wie unsere Mädchen... Aber mach' dir
nichts draus, du findest wieder eine andere!" Verbindlich
lächelnd verabschiedete sich Willi von dem Italiener.
Seine Freunde umringten einen in zerlumpten Anzug und
Filzpantoffeln herumschlurfenden weißhaarigen Alten, der, in
einiger Entfernung vor der Darts-Scheibe, die welke, knochige,
leicht zitternde Hand mit dem gefiederten Pfeil erhoben hatte.
"Welche Zahl soll ich treffen?" fragte er herausfordernd den Kreis
um ihn herum. Eddi zog rasch an seinem Hosenbund: "Get number
five!" forderte er den Alten auf, und blinkerte den anderen aus
rotumränderten Augen verständnisheischend zu.
Der Weißhaarige legte den Kopf leicht schräg, visierte
kurz das Ziel an, und mit einer raschen Bewegung aus dem
Handgelenk flog der schwere Messingpfeil mitten ins
gewünschte Feld. "Hurra! Bravo!" riefen einige der Burschen,
ehrlich begeistert von der Treffsicherheit, aus und klatschten
Beifall.
"Ich treffe jedesmal – todsicher!" behauptete der Alte nun mit
verhaltenem Stolz und schickte sich an, wegzuschlurfen. Werner und
Eddi unterhielten sich angeregt mit ihm. Willi beneidete seine
Freunde um die Leichtigkeit, mit der sie neue Bekanntschaften
anknüpften. Gewiß, er konnte sehr aufgeschlossen sein,
aber der Beginn einer Unterhaltung mit Fremden fiel ihm furchtbar
schwer. Die Ungezwungenheit und Selbstverständlichkeit, mit
der dies anscheinend bei den anderen vor sich ging, fehlte
ihm.
Er hörte die Lebensgeschichte des Alten mit gemischten
Gefühlen mit.
Vor dreissig Jahren habe er zum ersten Male den Fuß auf
Australiens Erdboden gesetzt. Heute sei es sein Traum, noch einmal
das Heimatdorf in England zu sehen. Aber nun sei er bereits 65
Jahre alt und wisse nicht, ob er noch genügend Geld
zusammenkratzen werde können, um eine Übersiedlung wagen
zu dürfen. Und von den Angehörigen lebte niemand
mehr.
Welchen Sinn hat das Leben dieses alten, gebeugten Mannes
eigentlich gehabt?" fragte sich Willi wehmütig beklommen.
Wozu hat er dreissig Jahre in der Fremde zugebracht? Warum
muß er seinen letzten Lebensabschnitt einsam und verlassen
in einem entlegenen Camp zubringen? Darts allein konnte doch
unmöglich den Lebensinhalt dieses Menschen darstellen! Welch'
geheimnisvollen, unverständlichen Mächte leiten uns
durch dieses irdische Jammertal, wenn solche Schicksale gelebt
werden müssen? Er erschauerte: Wieviel bedeutet jenen
höheren Mächten ein einzelnes Menschenleben – wieviel
mein eigenes, junges, das noch vor mir liegt?
* * *
"Startklar? Dann nischt wie auf die Tube gedrückt!!"
Hans, der Selbstmordfahrer, rückte auf dem Fahrersitz zurecht
und gab Gas, daß der klapprige Auspufftopf tief röhrte.
Fünf Mann saßen im Wagen, drei zitterten um ihr Leben.
"Eigentlich ein Glück für uns, daß es am Morgen
geregnet hat...", bemerkte Willi hämisch und sah Werner von
der Seite an. Verkrampft und zusammengekauert preßte der
sich eng an die Wagentür, da Hugo zwischen ihnen Platz
genommen hatte. "Da klebt der Schotter wenigstens am Lehmboden.
Wichtig vor allem in den Kurven...", plauderte Willi harmlos
weiter. Im Powerslide, im rasantem Schuß, fegte Hans durch
die Kurven, sodaß bald die Werkssiedlung auftauchte, die,
inmitten eines flachen Beckens erbaut, seltsam friedlich dalag.
Der See glänzte herauf, weiße Schäferwolken und
die Silhouetten der niederen Bergketten spiegelten sich im klaren
Wasser.
Der schwarzgelb gestrichene Schlagbalken hielt sie kurz auf. In
langsamer Fahrt glitten sie durch die Ansiedlung. Erblickten
schmucke Holzhäuschen mit spielenden Kindern davor, die
Wohnbaracken, das Kino, die Geschäfte – alles leicht gebaut,
aus dünnen Balken und Brettern zusammengenagelt.
"Ein einziger Wirbelsturm, und der ganze Ort ist weggeweht, gone
with the wind", dachte Willi. Ein Sturm der Geschichte, und nichts
mehr würde späteren Generationen Kunde davon geben,
daß hier der Homo Sapiens gelebt hatte. Vielleicht,
daß ein Autowrack oder eine unter meterhohen Lehmschichten
begrabene Staumauer Spuren einer menschlichen Existenz erkennen
lassen würden. Raubritterburgen haben bereits Jahrhunderte
überdauert, und die Cheops-Pyramide ist viertausend Jahre
alt. Was war das im Vergleich dazu? Leichte Schaumbäckerei,
nichts sonst. Eine andere Vision drängte sich ihm auf. Er sah
hunderttausende Menschen fleissig die Hände regen, sah
Industrien emporwachsen, solide Städte entstehen, deren
Einwohner durch Eisenbahn und Flugzeug miteinander in Kontakt
traten. Menschen, die an allen Errungenschaften teilhaben konnten,
die Zivilisation und Kultur zu bieten haben. "Alle Vorausetzungen
dazu sind gegeben", grübelte der junge Europäer. "Vor
allem Wasser und Elektrizität, eine annehmbare Landschaft,
freundlich und sanft, wie geeignet für eine Besiedlung.
Freilich, Schwerindustrie würde sich hier kaum entwickeln,
wäre auch schade um die herrliche Gegend. Aber sicherlich
existieren hundert Möglichkeiten, dieses Gebiet zu
entwickeln", dachte er.
"Doch, eines fehlt, das wichtigste von allem: Menschen, viele,
viele Menschen. Aber woher werden die Millionen Menschen jemals
kommen? Aus Europa? Unmöglich!" Er überlegte
fieberhaft:
"In den vergangenen zehn Jahren sind ungefähr eine einzige
Million eingewandert, vorwiegend aus Europa. Weitere zehn- bis
zwanzig Millionen könnten nach den Schätzungen von
Wissenschaftlern Platz und Bleibe finden. Jetzt mal abgesehen von
der natürlichen Zuwachsrate... Wird man diese Zahl jemals von
– Europa bekommen?
Also nicht aus Europa, man wehrt sich ja anscheinend ohnehin gegen
die einströmenden Immigrants. Die Zeit drängt aber,
politische und ökonomische Wechsel vollziehen sich rasch im
20. Jahrhundert. Was also bleibt? Woher werden die Millionen
kommen, die diesen Kontinent endgültig unterwerfen
werden...?"
"Wir sind da, Jungs! Los, raus! Ich will den Wagen absperren. Das
Bier wartet schon auf uns!" Hans drängte zur Eile. Einige
Meilen außerhalb der Kleinstadt nahm sie ein Pub auf.
Unrasiert, wie gewöhnlich in seinem Wildwest-Aufzug,
breitbeinig in seinen blankgeputzten Stiefeln voranschreitend,
stieß Hans die Tür zum Saloon auf.
Dichtes Stimmengewirr besoffener Männer drang ihnen entgegen.
Blaue Rauchschwaden stiegen von den qualmenden Zigaretten hoch,
hemdsärmelig und in schlecht gebügelten
Konfektionsanzügen lehnten die Boys an der Theke. Meistens
Junggesellen, oder zumindest Männer, deren Frauen nicht in
der Nähe lebten. Die Beschwipsten hauten sich gegenseitig auf
die Schultern und tranken sich zu.
"Da! Je ein Middy für die fünf bloody Germans!"
brüllte einer der Angeheiterten dem Barkeeper zu, der, ohne
auch nur einmal aufzusehen, die Bestellungen entgegennahm, die wie
ein Trommelfeuer an seine Ohren brandeten.
"How are you going, mate, o'right?" Der Betrunkene drängte
sich an Werner heran. Bald sah sich Willi in ein anregendes
Gespräch mit einem Aussie verwickelt, den er vom Sehen aus
kannte. Rund um die Theke herrschte ein solches Gedränge und
Geriß um die gefüllten Biergläser, daß er
sich gegen die Wand hin zurückzog. Halblaut unterhielt er
sich dabei mit Hugo, der, wie schon erwähnt, einen
ausgewachsenen Anständigkeitsfimmel besaß und die
Vorgänge um ihn herum mit rügenden Bemerkungen
kommentierte.
"Entsetzlich, die saufen ja wie die Tiere. Und da drüben
unser Partieführer Bluebird. Am liebsten möchte ich
garnicht hinsehen – mir ist das höchst unangenehm.
Natürlich, Werner hat schon wieder jemand gefunden, mit dem
er quasseln kann!"
Und nach einer Weile: "Jetzt trinkt er bereits das dritte Bier!
Aha, nun muß er eine Runde spendieren, wird ihm aber leid
tun!" In diesem Tonfall ging es weiter. Obwohl ihre Charaktere
sehr grundverschieden waren, gefiel ihm Hugo Prattert ganz gut.
Für Hugo war in dieser Welt alles vollkommen
gesetzmäßig und regulär aufgebaut. Seine
Lebensanschauungen standen festgefügt da, systematisch in die
Umwelt eingebettet und waren beinahe doktrinär zu nennen. In
seiner Bude zum Beispiel besaß jeder Gegenstand seinen genau
zugeordneten Platz, und wehe, jemand wagte diese Ordnung zu
verletzen! Willi bewunderte diesen tadellos und heimelig
eingerichteten Raum. Vorhänge und Tischdecken
verschönten das Zimmer, an der Wand hing ein Barometer und
eine große Weckeruhr tickte auf einem Gesims – nichts fehlte
zur Behaglichkeit. Und allmorgendlich holte Hugo einen
Zerstäuber vom Kasten herunter und sprühte
sorgfältig ein Desinfektionsmittel in seine Mundhöhle.
Beileibe nicht, weil ihn etwa Entzündungen plagten, nein, aus
reiner Vorsicht.
Erst nachdem er einigemale gezwungen gewesen war, einen fremden
Trinkbecher zu benutzen und mit schmutzigen, erdbedeckten
Händen sein Marmeladebrot zu verzehren, da erst gab er diese
hypochondrische Vorsichtsmaßregel auf. "Man sollte doch in
allem ein natürliches Leben leben...", hatte er
verschämt Willi von seinem heroischen Entschluß
berichtet. Wie sehr doch die Menschen durch ihre Umgebung geformt
werden.
Ja, so war es. An diesem Samstag nahm er die erste Flasche Bier
ins Lager mit hinauf. Zwei Liter Gerstenbräu ließen ihn
in einen traumlosen Schlaf versinken, aus dem er erst bei Einbruch
der Dunkelheit erwachte. Er zündete sich eine Zigarette an
und vertiefte sich in einen Reisebericht, den er im "Reader's
Digest" fand. Ein amerikanischer Schriftsteller berichtete da
über das "Backout", das Hinterland in den gottverlassensten
Gegenden Australiens.
"Ich hier kann nicht wiedergeben, was mir die Burschen dort
erzählt haben", schrieb der Amerikaner. "Wir verdienen Geld,
gutes Geld! Aber wozu? Wozu, frage ich Sie, mein Herr! Weit und
breit keine Frau, die bereit ist, sich mit dir hier endgültig
niederzulassen. Alles drängt in die Stadt, um sich zu
vergnügen, etwas vom Leben zu haben." Ob er nun die Cowboys
auf einer der riesigen Schaffarmen interviewte, oder in
Wüstengebieten Arbeiter aus Uranbergwerken oder aus
Stahlwerken befragte, überall bekam er diesselbe Antwort:
"Wir verdienen gut, aber was sollen wir mit unserem Geld? Wir
finden ja doch keine Frau. Wo sonst sollen wir unsere Freizeit
verbringen, die reichlich bemessen ist – als im Pub oder beim
Kartenspiel? Selbst mit dem Flugzeug braucht es eine geraume Zeit,
um nur in die nächste Stadt zu gelangen, wo man ein
Mädel finden könnte. Wenn auch nur für eine
Weile..."
Aber es dürfte auch schwer fallen, die Auswüchse
derartiger, für manchen jahrelang dauernden Isolierung von
der Außenwelt, mitzuerleben, ohne dabei nicht seine
fünf Sinne zu verlieren.
Draussen vor der Tür, im Gang der Baracke, hörte er Jack
den Irländer herumgröhlen. Seine eingerostete Kehle
krächzte stoßweise und abgebrochen in schauerlichem
Crescendo ein Wiegenlied aus seiner Kindheit, die wohl an die
fünf Jahrzehnte zurückliegen mochte.
Montag würde er wieder still und ruhig seiner
Beschäftigung nachgehen, die Signalknöpfe für die
Scip zu bedienen. Um dann nächstes Wochenende wiederum die
Zeit mit endlosen Räuschen zu überdauern. Und diesem
Jack vertraute man sozusagen die Sicherheit ihres Lebens an, kein
sonderlich beruhigender Gedanke!
Kaum vermochte er sich auf das Gedruckte zu konzentrieren.
Verdammt, es muß etwas geschehen, sagte er sich. Irgendetwas
sinnvolles, abgesehen von dem ewigen Lesen oder Briefeschreiben.
Man versank ja in Passivität.
Lernen? Englische Spezialausdrücke, Redewendungen aus der
Zeitung? Kein schlechter Gedanke. Eifrig griff er nach dem
Revolverblättchen, das vor ihm lag, und durchkämmte es
systematisch nach nützlichen englischen Ausdrücken.
Unruhig rauchte er eine Zigarette nach der anderen. Was sollte das
heißen? Unter der Rubrik "Glossen" stand da unter anderem
folgendes:
"...Und das junge Mädchen entnahm 'Crybaby' das Taschentuch
mit dem eingesticktem Monogramm, worauf..." Wo sollte ein junges
Mädchen schon ihr Taschentuch herausnehmen? Wenn nicht aus
ihrem Handtäschchen, dann wohl nur aus dem Busenausschnitt,
das war doch wohl klar! Er schrieb also in sein Notizbuch:
"Crybaby – Busenausschnitt (?)." Bei der nächsten Gelegenheit
würde er einem Mädchen, Sheila nennt man das auf
original-australisch, schmunzelte er in sich hinein, mit diesen
Kenntnissen imponieren. Das nahm er sich jedenfalls vor.
* * *
Das Radio auf Werners Tisch spielte an diesem Sonntag Vormittag
zum zweiten Male den Popular Hit "Johnny's coming home."
Schmelzend rührselig erklang die Stimme von Johnny Ray. Ein
Lied, das Heimweh und Sentimentalität in ihnen hervorrief.
Die Stimme des Ansagers meldete sich: "Get y o u r Television Set
today. No deposit! It cost's you nothing, absolutely nothing!" Bin
nur neugierig, wann die Firma verlauten läßt, daß
man noch etwas geschenkt erhält, wenn man ihr erlaubt das
Gerät aufzustellen...
Werner ärgerte sich. "Da, lies mal den Artikel über die
'Fortschritte' in der Gastronomie – das ist ja zum Kotzen, wie die
Selbstverständlichkeiten als Fortschritt darstellen. Daraus
kann man schließen, wie rückständig dieses Land in
vielen Belangen noch ist." Jede Zeitungsmeldung gab ihnen
Anlaß zu endlosen Diskussionen, machte sie immer vertrauter
mit den Problemen des Landes.
Eine Stille sondergleichen lag nachmittags über dem Lager.
Willi marschierte in die Waschküche, heizte den Kessel an und
begann seine Leibwäsche zu kochen. Sinnend überdachte er
diverse Probleme: Bei ein wenig Organisationstalent könnte
man das doppelte Arbeitspensum ohne größere Anstrengung
schaffen, das wäre doch nur wünschenswert in einem
'Pionierland' wie Australien. Oder fühlen sich diese
Männer nicht als Pioniere, sondern nur als Nutznießer
eines, nach immensen Anfangsschwierigkeiten erkämpften,
materiellen und geistigen Durchschnittslebens? Unseren
Europäern drängte sich häufig die Überzeugung
auf, daß der Australier lieber in Wellblechhütten
träge dahinleben möchte, vom Zeitgeist und dem
Weltgeschehen unberührt, um sich nur der paradiesischen Ruhe
hinzugeben. Ungeachtet der drohenden Gewitterwolken, die da im
Norden aufsteigen...
"Laßt uns doch unseren australischen Lebensgewohnheiten
nachgehen. Wir w o l l e n nicht wissen, was außerhalb
unserer Insel vor sich geht!"
Wie oft hörten hunderttausende Migrants diese Bemerkung, die
ein Vorwurf gegen das unaufhaltsam Neue darstellte, das mit dem
Eintreffen jedes neuen Einwandererschiffes in Australien zu wirken
begann.
* * *
Einmal kam Willi eine glänzende Idee als die Gang wieder
mühselig den zähen Zement-Brei die Wellblechrutsche
hinunterbeförderte. Er stieg bis zum Eingußtrichter
hoch, nahm einen breiten Besen zu Hand und schwang sich in die
Rutsche hinein. Mit einem kurzen, kräftigen Anlauf schob er
nun das Betongemisch vor sich her, sein ganzes Körpergewicht
als Triebkraft einsetzend. Nahezu mühelos beförderte er
den Strom in kurzer Zeit bis zu den Wasserabflußrinnen, die
es einzubetonieren galt. Zwanzig Schwerarbeiter entlang der
Rutsche rissen die Augen auf, staunten und freuten sich
unbändig.
"That's a bloody good idea!" Allein schaffte er nun spielend die
Arbeit für zwanzig andere, die inzwischen ihre schmerzenden
Wirbelsäulen massieren konnten. Als man an die Demontage der
Rutsche schritt, begannen die Leute die Teile auf den Köpfen
balancierend, etwa zweihundert Meter den Hang hinunter zu tragen.
Ein mühseliges Geschäft, das ungemein erschöpfte.
Diesmal schritt Eddi ein, das "Fliegenbein", wie sie ihn wegen
seiner spindeldürren Beine getauft hatten. "Komm, Hans",
meinte er lässig, "mir stinkt das Bergsteigen.
Schließlich stammen wir ja aus dem flachen Norddeutschland.
Faß' mal am anderen Ende an!" Sie stellten sich breitbeinig
beiderseits des Schienenstranges auf und hielten ein
Blechstück schleuderbereit in den Händen. "So, und nun
nichts wie runter damit!" Das Blech schlitterte die Schienen
entlang und flog dann in weitem Bogen durch die Luft, binnen
weniger Minuten beförderten die beiden Originale so
sämtliche Tafeln auf diese elegante Weise den Hang
hinunter.
Stumm sahen die anderen zu. "Diese verdammten Deutschen sollen zur
Hölle fahren!" knurrte einer aus dem Haufen heraus, aber die
meisten lachten nur. Jedoch Bluebird blickte finster drein, sein
Programm für heute war damit endgültig umgeworfen. Was
sollte er mit der Gruppe für den Rest des Tages anfangen?
Bluebird, der seine Leute manchmal ohne ersichtlichen Grund
antrieb, oft wie ein Verrückter mit den Händen im Dreck
wühlte, halbfertiggestellte Arbeiten stehen ließ und
dann wiederum tagelang idiotischen Kleinkram von der ganzen Gruppe
verrichten ließ. Eine offensichtliche Plan- und
Kopflosigkeit herrschte bei sämtlichen Vorhaben. Selbst
Werner, der Masseur, der für technische Dinge kaum
Verständnis und Interesse besaß, ärgerte sich
über die Schildbürgerstreiche. Denn anders ließen
sich die Vorkommnisse kaum bezeichnen.
* * *
Eines Abends saß Willi in seiner Bude und blätterte
gerade die "Tageszeitung von Gestern" aufmerksam durch, als er
plötzlich ein lautes Brummen, wie von einer riesigen Hummel,
vernahm. Das Geräusch schien direkt vor dem geschlossenen
Fenster zu entstehen. Das ist doch unmöglich, so ein riesiges
Insekt kann ja garnicht existieren, sagte er sich und öffnete
das Klappfenster. Er blickte auf den Boden, bemerkte jedoch nur
die löchrigen Socken, die er am Vortag dort einfach
hingeworfen hatte. Nein, das Gebrumm drang eindeutig aus dem
hellerleuchteten Fenster der höherliegenden Baracke
gegenüber. Ein Flugmodell hing da in einer Ecke, das konnte
er deutlich erkennen. Er schlüpfte in seine Schuhe und eilte
zu Hans hinauf. So ein Heimlichtuer, hatte ihm nichts von diesen
Bastelstunden erzählt!
Er fand den Hamburger inmitten eines Gewirrs von Drähten,
Leimtöpfen und halbfertigen Flugzeugteilen aus Balsaholz vor,
wie er an einem Miniatur-Dieselmotor hantierte, der mit
höchsten Tourenzahlen summte. "Der läuft jetzt aber!"
meinte Hans und sperrte die Treibstoffzufuhr ab. Willi inspizierte
mit gebührender Bewunderung die fertige Me 109 droben in der
Ecke.
Das Gespräch verlagerte sich automatisch auf den vergangenen
Krieg, Hans berichtete von den furchtbaren Bombenangriffen auf
Hamburg, die er als Flakhelfer erlebt hatte, genauso wie Eddi.
"Ich habe mich nach unserer ersten Buschzeit mit einer
Australierin verlobt, einer Farmerstochter", erzählte er nun
und zeigte Willi ihr Bild. "War 'nen nettes Mädel. Manchmal
hat sie zu mir gesagt, ich versteh' dich nicht, wie kannst du nur
so roh über diese und jene Dinge Witze reissen? Ich war zum
Beispiel kaum berührt, als wir einen Autounfall sahen, und
die Leichname der Insassen einigermaßen ramponiert
herumlagen. Sie konnte das einfach nicht verstehen. Sollte ich ihr
erzählen, daß ich als Junge haufenweise verkohlte
Leichen aus verbrannten Ruinen wegräumen mußte?
Ich habe ihr diese Terrorangriffe kurz geschildert. Da hat sie mir
vorwurfsvoll entgegnet, auch Sydney hätte schließlich
Fliegerangriffe erlebt. Später wurde sie dann ganz
still."
Hans verstummte nachdenklich.
"Die Leute hier haben nichts derartiges mitmachen müssen,
können aus eigener Anschauung heraus nichts beurteilen und
begreifen unsere Denkungsweise daher nur sehr schwer. Man darf
ihnen diese Unwissenheit nicht übelnehmen – wenn es auch
manchmal verdammt schwer fällt!"
* * *
Am Dienstag geriet Robert vor lauter Freude über den Brief
von Joe aus Melbourne aus dem Häuschen. Er kündigte auf
der Stelle und verzichtete damit auf die Auszahlung der Stehwoche,
da er den richtigen Zeitpunkt versäumt hatte. "Das ist mir
egal, ich reise ab!" rief er immer wieder aus. Das Postauto
brachte ihn zu Tal, man trauerte ihm nicht allzusehr nach. Monate
später traf ihn Willi zufällig in der Hauptstadt. Robert
war mit seinem Schicksal sehr zufrieden, er hatte eine Stelle bei
einem österreichischen Unternehmen gefunden, Australien fand
an ihm einen neuen, zuverlässigen Bürger.
Die übriggebliebenen Fünf (der junge Mann mit dem
Steirerhut wohnte in einem anderen Lager) fuhren wieder mit Hans
nach Mt. Beauty, oder Little Hollywood, wie sie es nannten. Nach
ihrem monatelangen Eremitendasein hoch oben in den Bergen,
beeindruckte sie dieses Nest wie eine Großstadt, und die
wenigen Frauen und Töchter der biederen Angestellten schienen
ihnen begehrenswerter als so mancher Star einer Filmmetropole.
Wie sie so durch die Straßen bummelten, fielen ihnen die
Verkaufsstände auf, die da aufgebaut waren. Einige
ältere, stark gepuderte Damen, versuchten zu Gunsten einer
Wohltätigkeitsveranstaltung armselige Kekse in Pappkartons zu
verkaufen. Sie schlenderten daran vorbei, begutachteten das
kümmerliche Backwerk und warfen schließlich ein paar
Sixpence-Stücke in die Büchse, ohne die Dinger auch nur
zu kosten. Die Menschen hier taten ihnen direkt leid, die
würden ja vor Neid erblassen, wenn sie die wunderbaren
Mehlspeisen zuhause auch nur riechen könnten. "Eigentlich
müssen sie ja alle ungemein glücklich sein in ihrer
ahnungslosen Einfachheit", meinte einer aus ihrer Mitte. "Das ist
es ja gerade, was die Europäer unzufrieden stimmt – wir haben
zuviel gesehen und zuviel erlebt. Unbewußt wehren sich die
Menschen hier dagegen. Und nicht ganz zu Unrecht", schloß er
seine Betrachtungen.
Die Fünf tätigten ihre kleinen Einkäufe und
Besorgungen. Am Samstag Vormittag herrschte immer reger Betrieb.
Farmer kamen mit ihren Familien von weit her mit dem Auto
angerückt, die Geschäfte waren vollgestopft mit
Menschen. Während die jungen Männer geduldig warteten,
bis sie an die Reihe kamen, gab das Fliegenbein so manche Schnurre
zum Besten. Er machte die Greenhorns in seiner Begleitung auf die
gleichmäßig freundliche oder auch
gleichmäßig gleichgültige Bedienung aller Kunden
aufmerksam. "Vor fünf Jahren, hat mir ein Banatdeutscher
erzählt, lief das noch wesentlich anders ab. Wenn man sich da
in einem Laden auf Deutsch unterhielt, lief man Gefahr angespuckt
zu werden, so intensiv hatten die Medien die Verhetzung der Leute
betrieben. Die Angestellten weigerten sich die Deutschen zu
bedienen, oder sie hatten zu warten, bis alle anderen Kunden
abgefertigt waren. Also, merket! Auch in Australien ändern
sich die Zeiten. Schließlich haben sie auch hier einsehen
müssen, daß die Germans annehmbare Kerle sind.
Insbesondere, wenn man sie fair behandelt."
Trotz der netten weibliche Bedienung ärgerte sich Willi im
Drogerieladen über die geringe Auswahl an Rohfilmen,
über die mindere Qualität der Ausarbeitung und die
Tatsache, daß sie hier keine Kontaktabzüge herstellen
konnten. Sollte er etwa wie Hugo die Negative nach Hause senden?
Ein zwar langsames, aber immerhin lohnendes Verfahren.
Jack der Irländer veranstaltete mit seinen Kumpanen eine der
üblichen Sauforgien. Die Lagerverwaltung hatte ihm bereits
mehrmals mit Entlassung gedroht, deshalb drosselte er die
Lautstärke der Gröhlerei gerade soweit, daß die
Barackenbewohner gerade noch einzuschlafen vermochten, wie Willi,
der eben nochmals den Kinofilm im Geiste abspulen ließ. Na,
die Kumpels hatten vielleicht in kindischer Freude aufgeheult, als
der kriegsgefangene amerikanische Offizier die plumpe deutsche
Wachmannschaft auf den Leim geführt hatte. "So hat eben jeder
von uns seinen Spaß", dachte er noch im Einschlafen. "Aber
spannend war 'Stalag 17', das muß man den... lassen..."
* * *
Die ganze Nacht heulte der Sturm mit vehementer Gewalt um das
Arbeitslager. Wütend verbiß er sich in den freien Platz
zwischen den endlosen Wäldern, stöhnend und ächzend
boten ihm die Bauten Widerstand. Mehrmals riß der Wind Willi
aus dem Schlaf. Er spürte, wie sich die Baracke bewegte, an
den Grundfesten rüttelte und sich unter den
Windstößen förmlich zusammenduckte.
Am Morgen war der ganze Spuck wieder vorbei.
Die Fünf bestiegen den Ford, um auf das Hochplateau zu
fahren. Oben angekommen, brüllten sie vergnügt in den
Sturm, der hier noch immer wütete. Schneeflecken versperrten
ihnen zuletzt den Weg, sodaß sie bald in das warme
Wageninnere zurückschlüpften, um sogleich umzukehren.
"Wißt ihr was? Wir besuchen unsere Arbeitsstätte!"
schlug Eddi vor.
Bald gähnte ihnen das Tunnelloch entgegen, der mobile
Betonmischturm ragte verlassen gegen den grauen Himmel, ein
orangefarbener Tournadozer hockte dort mit mannshohen Reifen wie
ein Untier. Aber irgendetwas fehlte in der Szenerie, aber was?
"Die Hütte von Bluebird steht nicht mehr da!"
Sie liefen zum Abgrund. Zerschmettert, in kleine Splitter
aufgelöst, lagen die Trümmer über den ganzen Hang
verstreut. "Hab' ich es euch nicht gesagt?" trumpfte Willi auf. "
Die war zu schwach befestigt. Jetzt hat sie der Sturm
hinuntergeblasen! Diese Australier!"
Der Panzerschrank mit den Arbeitspapieren, Bauplänen und
sonstigem Papierkram, lugte zwischen einigen Gebüschen
hervor, gerade dort, wo ein Gebirgsbächlein in die Tiefe
schoß. "Jungs, sehen wir doch nach, ob wir nicht ein paar
Essenmarken finden können!" schlug Eddi sofort begeistert
vor. "Das wäre ein Schlager – ausgesorgt für die
nächsten Wochen!"
Aber ihre Hoffnung wurde herbe enttäuscht, alles war sicher
im Safe verstaut. Während der Rückfahrt malten sich die
jungen Männer fantasievoll die Verwunderung aus, die Bluebird
beim ersten Anblick befallen würde.
"Wenn die sich überall so dämlich anstellen, sind sie
mit dem Kram hier in weiteren zwanzig Jahren noch nicht fertig",
meinte Hans verdrossen. "Oder es fällt von selbst in sich
zusammen."
* * *
Knirschend stieß er Spaten auf einen Gesteinsbrocken. "Der
geht aber hart rein", bemerkte Willi zu Werner, der schon die
längste Zeit auf sein Werkzeug gelehnt herumlungerte. Er
wischte sich die Schweißtropfen von der Stirne. "Was
schuftest du auch wie ein Wilder! Warte doch, bis der ulkige
Bagger wieder in Ordnung gebracht ist. Dann erübrigt sich die
ganze Schinderei."
"Ich arbeite nur aus Wut, merk dir das endlich!" fuhr ihn Willi
grob an. "Glaubst du, ich weiß nicht, daß die
Anstrengungen von uns zehn Idioten nur einen Tropfen auf den
heißen Stein darstellen? Vollkommen sinnlos, was wir hier
tun. Da pfeife ich auf die gute Bezahlung! Was ich mache,
muß Hand und Fuß haben. Der Bagger schafft in zwei
Tagen, was wir alle zusammen nicht in drei Wochen hinkriegen."
"Paß auf, daß dich nicht ein Buschkoller packt!"
warnte Werner grinsend. "Übrigens darfst du Schluß
machen, die Teepause beginnt!"
Mit dem Becher in der Hand schlurfte Willi langsam in Richtung
Löffelbagger, an dem ein junger Mann in Schlosserkluft
hantierte.
"Wann wird der Apparat wieder einsatzfähig sein?" erkundigte
er sich auf englisch.
"Du kannst ruhig reden, wie dir der Schnabel gewachsen ist. Ich
stamme aus Karlsruhe", gab der junge Mann zu Antwort. Der
Mechaniker reinigte die Hände von Schmieröl und begann
seine Brötchen zu verschlingen. "Wie gefällt es dir in
Australien?" erkundigte sich der Österreicher nach einer
Weile.
"Oh, danke, ganz gut. Werde wohl hierbleiben. Habe ein
einheimisches Mädchen gefunden und möchte sie heiraten.
Das heißt, ich will, sie will – bloß den Eltern
gefällt die Idee nicht." "Ja, warum denn nicht?" rief Willi
erstaunt aus.
"Ja, haben sie mir erklärt: Bei einem Russen oder Polen
weiß man, daß sie niemals mehr in ihre Heimat
zurückkehren können. Aber bei euch Deutschen,
Österreichern oder Italienern liegt die Sache anders, da gibt
es viele Rückwanderer. Und da sollen wir unsere Tochter
hergeben?
Außerdem, so argumentierten sie weiter, bist du vielleicht
bereits in Deutschland verheiratet, und brauchst nur für die
Zwischenzeit eine Frau! Viele der Befürchtungen mögen ja
zu Recht bestehen, das gebe ich zu", bestätigte der
Karlsruher. "Aber wir lieben uns und werden notfalls warten, bis
sie einundzwanzig geworden ist. Die Kleine ist es Wert",
bekräftigte er seine Überzeugung.
Nanu, was haben die vor? Die ganze Arbeitspartie wandte einige
Stunden später die Köpfe in Richtung Bulldozer, der
gerade vorsichtig in den ausgewaschenen und aufgeweichten
Einschnitt des Bahndammes hineinfuhr, den es auszubessern galt.
Natürlich erreichte er nichts: Die zehn Tonnen schwere
Maschine grub sich tiefer und tiefer in den Schlamm ein, die
breiten Raupen wirkten wie eine Mischmaschine und verrührten
das Erdreich zu einen schmutziggelben Brei, aus dem es kaum mehr
ein Entkommen gab.
"Das ist ja zum Verrückt werden, diese hirnlosen
Arbeitsmethoden. War vorauszusehen bei dem weichen Boden!" Willi
ereiferte sich maßlos. Langsam wurde ihm speiübel, wenn
er diesen sinnlosen Einsatz von Mensch und Material beobachtete.
Wer hatte ihm vor der Abreise nach Australien geraten, niemals
nach Sinn und Zweck einer Anordnung zu fragen, sondern nur brav
und bieder Folge zu leisten? Ach ja, der Rückwanderer in
Triest. Nun gut, er würde keine Bemerkung fallen lassen.
Genaugenommen besaß er überhaupt kein Recht, denen
Ratschläge zu erteilen. Laut Lohnliste war er ein Batterman,
und sonst nichts. Ein Mann also, der Krampen und Schaufel mit
bestmöglichstem Skill zu handhaben hatte, nichts sonst.
Bluebird hatte in der Vergangenheit zwar wiederholt beteuert, er
werde sich um bessere Stellen für sie bemühen, bis dato
habe er aber noch keine Gelegenheit dazu gefunden.
Das beste wird sein, ich schicke ein schriftliches Ansuchen an die
Leitung des Unternehmens. Noch heute Abend, überlegte er. "Do
it now! Da steckte einige Lebensweisheit dahinter".
* * *
Hinter Werner Benkes Großspurigkeit verbarg sich im Grunde
genommen ein unsicherer und ängstlicher Charakter. Er
versuchte bei jeder Gelegenheit, seine Person groß
herauszustellen und tat dies immerhin in so geschickter und
unaufdringlich-freundschaftlicher Weise, daß ihn die
Australier bald als den führenden und brillanten Kopf der
kleinen deutschsprachigen Gruppe anerkannte. Wenn ihm dies
zweckdienlich erschien, verdrehte er auch ruhig Tatsachen.
Hauptsache, es befriedigte seinen Geltungsdrang. Höger erfuhr
von ihm, daß in Berlin eine junge Dame auf ein Zeichen von
ihm wartete, die er sogar zu heiraten erwog.
"Leider ist Gudrun nicht sehr gebildet. Jedenfalls nicht so, wie
ich es mir wünsche", meinte er etwas abschätzig. "In
ihrem Job aber hat sie was los. Du weißt ja, daß ich
die Absicht habe meinen Beruf zu wechseln und Journalist zu
werden, den Heilmasseur hänge ich einfach an den Nagel.
Siehst du, und da hege ich gewisse Bedenken. Gudrun paßt
dann vielleicht nicht so richtig zu mir. Schließlich hat sie
nur eine Berufsschule absolviert. Was meinst du dazu?"
Er zog die Schutzhandschuhe aus, lehnte sich auf seine Schaufel
und sah Willi leicht flehenden Blickes an. "Sie will nachkommen.
Den ganzen Papierkram für die Auswanderungsbewilligung hat
sie bereits beisammen. Ich muß mich sofort entscheiden!"
Forschend sah in der junge Höger an, ausgerechnet bei ihm
suchte er einen Rat in dieser Angelegenheit? "Diese Gudrun tut mir
jetzt schon leid", schoß es ihm durch den Kopf. "Sie liebt
dich also? Sie übt einen Beruf aus, sie gefällt dir -
was gibt es da noch zu überlegen? Schließlich bist du
auch nicht mehr der Jüngste. Und die Frau wird immer etwas zu
dir aufblicken – was immer sie für eine Veranlassung hat bei
dir." Werner, dessen Augen bei dieser Bemerkung unruhig zu
flackern begannen, konterte sofort die Anspielung.
"Auf meine Arbeitsleistung bei dem Verein bilde ich mir wirklich
nicht viel ein. Deswegen wird sie mir schwerlich begeistert die
Arme um den Hals werfen. Aber sonst...? Du kennst meine
Vergangenheit zu wenig!"
"Aber umso besser deine Gegenwart", dachte Willi.
"Schließlich, falls du glaubst, daß du dir bei den
Kanaken für die blindwütige Plackerei einen Orden
verdienen wirst, du kleiner Verrückter, irrst du dich
gewaltig!" Sein Ton war noch freundschaftlich wohlwollend, doch
deutlich konnte man seine Verärgerung heraushören.
"Fangt doch nicht zu streiten an, Stammesbrüder!" spottete
Eddi. "Was werden die Aussies von uns denken?"
"Das ist mir Scheißegal!!" schrie ihn Werner daraufhin an.
"Ach sieh' doch! Ansonsten bemühst du dich aber sehr um ihre
Gunst", stichelte Eddi weiter. "Übrigens, da Willi den Orden
– den er zweifellos verdient hat, nicht von den Aussiebrüdern
erhält, schlage ich die feierliche Ernennung dieses
Bürgers der Zwergrepublik Österreich – äh -durch
die zwei geflüchteten Ostdeutschen Kapitalistenlehrlinge
Werner Benke und Hugo Prattert zum – äh – 'Stachanow II'
vor!"
"Es lebe Stachanow II !!" Brüllend standen die vier Deutschen
mit emporgestrecktem Arm da. Die eine Hand zur Faust geballt, mit
der anderen das Arbeitsgerät umkrampfend, imitierten sie vor
den verblüfften und verständnislos dreinblickenden Augen
der übrigen Kumpel eherne Monumente marxistischer
Arbeitersolidarität. Die Australier starrten Willi Höger
wie den Heiligen Geist an, sie begriffen nur, daß er im
Mittelpunkt einer Ehrung stand, deren Sinn ihnen leider
völlig verborgen blieb.
"Genossen! Ich danke Euch allen bewegten Herzens für die mir
erwiesene Ehre, und kann Euch nur versichern, daß ich alles
in meinen Kräften stehende tun werde, um auch dieses
Überbleibsel dekadent-kapitalistischer Ausbeutermethoden -
äh – baldigst in ein Paradies der Werktätigen
umzuwandeln. Als ersten Schritt in diese Richtung fordere ich die
Abschaffung des Langen Wochenendes!!"
"Hurra, hurra!!" johlten seine Kollegen los.
Bluebird starrte bereits wütend herüber, so nahmen sie
alle wieder eine lockere Grundhaltung ein und schaufelten
gemächlich weiter, um nun in völlig verändertem
Tonfall die Unterhaltung weiterzuführen. Nur Stan, der Pole,
grinste über das ganze Gesicht, und auch Paisano hatte
mitbekommen, daß die Germans einfach gute Miene zum
bösen Spiel machten.
"Crazy Germans", brummte ein Aussie in den Bart hinein und deutete
gegen die Stirne. "Verrückt in ihrer Arbeitswut, und noch
verrückter, wenn ihnen zu Wohl zu Mute ist!"
"Laß gut sein, Kanake", murmelte Werner wütend. "Lieber
verrückt leben, als so stumpfsinnig dahinzuvegetieren!"
Ein unbeteiligter Beobachter hätte die erheiternde Tatsache
registriert, daß nicht die Minderheit der Europäer von
den Australiern die Umgangsformen, ja selbst die Sprache annahmen,
sondern eher das Gegenteil eintrat. Am meisten überrascht
davon zeigten sich die Australier selbst. Eine einseitige Form der
Assimilierung fand jedenfalls nicht statt...damals, hoch droben in
den australischen Alpen.
* * *
Endlich trafen die langersehnten Briefe ein. Das Brautpaar Finze
berichtete von ihrer Anstellung in dem Provinzspital.
"Das Personal besteht aus Italienern, Deutschen, Slowenen, Polen
und Australiern, die uns nicht besonders zugetan sind", schrieb
Rosa Egger, die den Schreibkram verrichtete, da ihr Hubert in dem
Punkt etwas schwerfällig war. Sie setzte fort: "Aber wir
machen uns nichts draus. Wir verrichten unsere Arbeit und sind
froh, wenn der Zahltag kommt. Die australischen Vorgesetzten sind
sehr nett und beaufsichtigen uns kaum. Wir werden uns freuen, von
Deinem Treiben wieder zu hören..."
Interessant war auch das Schreiben von Erwin, dem Textiltechniker,
den es auf eine einsame Insel vor Tasmanien verschlagen hatte.
"Also arbeitest auch Du mit Krampen und Schaufel", schrieb er.
"Nicht das angenehmste, aber was soll man tun? Mit den guten
Zeiten, wie wir sie noch auf dem Schiff erträumten, ist es
vorbei. Seit ich hier bin, war es mir nicht möglich einen
Friseur zu finden. So laufe ich schon mit einer Mähne herum
wie weiland Robinson Crusoe. Nebenbei, wenn der Job besser bezahlt
würde, bliebe ich gerne länger auf der Insel. Aber so
werde ich bald nach Melbourne übersiedeln..."
Der dritte Brief, Willi traute kaum seinen Augen, stammte von
Beryl. "Lieber Mr.Hoeger," lautete die Anrede, "ich danke Ihnen
sehr für Ihr Schreiben. Ich war überrascht, es zu
erhalten, aber nichtsdestoweniger war es eine freudige
Überraschung. Ich hätte wirklich nicht gedacht,
daß ich bei Ihnen irgendeinen besonderen Eindruck
hinterlassen habe."
Na, da hast du es ja wieder, sinnierte der junge Mann vor sich
hin. Du hältst mit deinen Gefühlen viel zu sehr hinter
dem Berg. Begierig verschlang er jede Zeile: sie erkundigte sich
über die Arbeitsbedingungen, erzählte ihm von
interessanten Filmen und sogar über ihre nächsten
Zukunftspläne. Am meisten berührte ihn der letzte
Absatz, der sehr private Gedanken dieser tollen Frau enthielt.
Das offensichtliche Vertrauen, das ihm entgegengebracht wurde,
verwirrte ihn ein wenig:
"Ich fühle mich gegenwärtig sehr rastlos und vom Leben
ziemlich gelangweilt. Am liebsten würde ich einen anderen
Teil der Welt aufsuchen..." Sie schloß mit der Bemerkung,
daß sie sich über seinen Besuch sehr freuen
würde.
"Fast noch ein ganzer Monat bis zu dem vorgeschlagenen Termin!
Wovon werde ich in der langen Zeit träumen", überlegte
er resigniert. Er versuchte sich ihre Figur vorzustellen, die Art
wie sie sich kleidete. Ob sie wohl manchmal ein CafeUbesuchte, die
Blicke der Männer gelassen auf sich ruhen ließ, und
heimlich und verstohlen einen Kamm aus dem Handtäschchen
nahm, um damit durch die roten Haare zu streifen? Er wußte
so wenig über sie Bescheid. Oder ob sie wohl mit
übergeschlagenen Beinen, den eleganten Rock bis knapp
über die Knie gezogen im Klubsessel lehnte, und mit zwei
Fingern vornehm und zurückhaltend die glimmende Zigarette zum
Kirschenmund führte? Verflucht, wie lange habe ich soetwas
nicht mehr gesehen? Und doch sind es nur zwei Monate, die ich in
dem Lager verbringe.
Hier unter diesen Baraber-Typen gab es nichts Feines, Vornehmes zu
finden. Alles war klobig, voll Dreck, zerrissen. Viele
heruntergekommen zu einer grotesken Parodie von Männern.
Jetzt verstand er, warum man sich Pinup-Girls an die Wand nagelte:
Zarte Frauen und Mädchen in duftigen, leichten Nylonhemdchen,
die mit strahlendem Lächeln durch die weißen,
vollkommen gewachsenen Zähne, verführerisch die
Netzstrümpfe über die jugendglatten Beine ziehen. Nein,
es war nicht das rein Erotische an diesen Bildern. Diese Fotos von
herrlichen Geschöpfen in adretter Aufmachung zeigten den
Männern einfach, daß außerhalb ihrer trostlos
eintönigen Welt der betrunkenen Quartalsäufer, die mit
rotumränderten, glasigen Augen und brummigen Schädel ihr
"bloody irgendetwas" gröhlten, noch andere Wesen existierten,
die man mit Freude betrachtete – und mit Verlangen.
Hans hatte ihnen wieder eine längere Fahrt mit dem Wagen in
Aussicht gestellt. "Aber diesmal wird gesoffen, daß sich die
angesammelte Spannung lösen kann", nahm sich der junge Mann
vor. Unbewußt, langsam, verfiel er in den gleichen Trott,
den nur die stabilsten Charaktere in diesem Land widerstanden:
durch unmäßiges Trinken der Unwirtlichkeit der Umgebung
und der Ruhelosigkeit des Herzens zu entfliehen.
* * *
Die zwei Tage vor dem Long Weekend verregnete es
buchstäblich. Die Arbeitspartien hockten trübselig in
den Bauhütten und starrten auf die Nebelfetzen, die von den
Wäldern aufstiegen. Unsere fünf Helden hatten sich einer
spannenden Unterhaltung zugewandt, die sie stundenlang in Atem
hielt: einem Streichhölzchenspiel, bei dem jeder die Anzahl
der Hölzer in der geschlossenen Hand des jeweiligen Gegners
erraten mußte. Der Sieger durfte den ganzen Einsatz
einstreifen. Der "Kampf" nahm zunehmend "nationale" Formen an,
denn die beiden Österreicher – Willi und der Mann mit dem
Steirerhut – erwiesen sich als hartnäckige Spielgegner. Erst
als die ersten Schneeflocken zaghaft zu Boden sanken, unterbrachen
die Burschen den Wettkampf. Oben beim Tunnelportal, hundert Meter
höher, schneite es wesentlich heftiger, wie sie von hier aus
feststellen konnten. Vor der Abfahrt ins Lager begannen die sechs
Europäern noch eine lustige Schneeballschlacht. Bis Bluebird
eingriff, der die zunehmend autonome Haltung dieser Clique mit
steigendem, wenn auch verhaltenem Unwillen verfolgte.
"Was willst du denn", stellte ihn Hans zur Rede, "wir malochen zur
Zeit ja doch nicht. Laß uns wenigstens die kleine
Freude..."
Sie konnten den anderen Kumpels an der Nasenspitze ansehen,
daß die sich gerne an dem Bombardement beteiligt
hätten, jedoch nicht getrauten.
Tief unten im Tal lag Mt. Beauty im Sonnenlicht. Von hier aus sah
das Städtchen wie ein weitentfernter Wunschtraum aus.
* * *
Eddi das Fliegenbein ließ verlauten: "Diesmal alles in
Schale werfen!" Als Hans am Freitagmorgen sorgfältig rasiert
und gekämmt, in nagelneuem Anzug mit leuchtend
blauweißer Krawatte und glänzend gewichsten Lackschuhen
die Kantine betrat, schauten die eifrig Kauenden so entgeistert,
so perplex drein, als sei ihnen ein Phantom erschienen. Niemals
zuvor hatten sie Hans anders als in seiner wüsten
Texas-Uniform erblickt. Der Hamburger tat so, als bemerke er die
Blicke garnicht und setzte sich behäbig hin, um den Kaffee
auszuschlürfen. Man konnte am kleinen Finger seiner rechten
Hand einen Siegelring blitzen sehen, der im Wettstreit mit einer
echt vergoldeten Krawattennadel lag.
"Mensch, Hans! Was ist in dich gefahren? Du hast dir ja sogar die
Fingernägel geputzt!" rief Eddi in scheinheiliger
Überraschung aus, als er sich neben Hans niederließ und
vorsichtig den heißen Tee aus dem Aluminiumhäferl
schluckte. "Jojo, heut' werden wir ganz bös' ausfahren",
meinte der drauf. "Wir wollen den langhaarigen Dunnerschlägen
doch lange in Erinnerung bleiben, nicht wahr?" Schlagfertig gab es
ihm Eddi nocheinmal: "Da hättest du besser deine Cowboy-Kluft
anbehalten sollen. Soetwas bekommt man nicht alle Tage zu
Gesicht!"
Mit fünfzig Meilen pro Stunde rasten sie ins
nächstgrößere Kaff. Zwei Mann begaben sich zum
Friseur, der ihnen sogleich den australischen Einheitshaarschnitt
verpasste: Blumentopf aufgesetzt und die überstehenden Haare
abgeschnitten. Im gleichen Laden deckten sie sich auch mit
Zigaretten ein.
Die restlichen Jungs waren inzwischen in einen Pub geeilt und
verfrachteten vorsorglich einen Karton Bier im Gepäcksraum
des Wagens. Anschließend besorgten sie ihre Einkäufe,
wobei sie merkten, wie billig sie im Lager lebten. Allein, wenn
sie die Lebensmittelpreise verglichen. "Aber wir gehen nur ganz
einfach essen, Hans!" Werner bangte bereits um seine Moneten.
"Tja, am besten ist ddie Counter Lounch im Albion Hotel – nur zwei
Bob, meine Herren! Und dazu noch als kleine Überraschung -
'ne mollige Berlinerin spielt dort die Barmaid! Vielleicht
läßt sich etwas ganz Spezielles für einige von uns
arrangieren..." Dieses Lockangebot führte zwar zu keinem
konkreten Ergebnis, aber das Essen erwies sich tatsächlich
als preiswert und gut. Ja, und dann tranken die Fünf mal ganz
bös, wie Hans die Situation beurteilte. Bier, Schnaps,
Liköre, wie es ihnen gerade einfiel.
Schwankend verließen sie das Lokal, wehmütig blickte
Werner nochmals zu Berlinerin zurück. Er hatte es versucht,
war aber abgeblitzt. "Ist ja klar", jammerte er, "zu fünft
werden wir in Punkto Liebe nie etwas erreichen." Sogar Hugo der
Asket enthüllte eine beachtliche Neigung zu alkoholischen
Getränken. Er schleppte auch bei diesem Ausflug seine
komplette Fotoausrüstung mit sich herum, die ihm so manchen
leisen Spott seiner Kollegen einbrachte. Im ganzen und
großen wußten sie nicht allzuviel anzufangen, so
rasten sie gegen Abend wieder Mt. Beauty zu. Auf dem Wege dorthin
gelangten sie zu einen hellerleuchteten Pub, wo an die dreissig
Fahrzeuge parkten.
"Da muß bös' was los sein, Jungs. Ich denke, hier
liegen wir richtig. Endlich können wir tanzen gehen!" dachte
Hans jedenfalls. Er stieg auf einen Mauervorsprung und spähte
ins Innere, die anderen folgten seinem Beispiel.
Drinnen lungerten ungefähr hundert Männer herum – alle
sternhagelbesoffen. Arg bedrängt von der Meute, hockten
dazwischen sechs Frauen. Sie zählten nochmals – ganze sechs
Vertreterinnen des weiblichen Geschlechtes. Einer ihrer
australischen Arbeitskollegen lehnte draussen an der Hausmauer,
anscheinend war ihm speiübel. Das Licht aus dem Fenster fiel
quer über Hans's zivilisiertes Gesicht. "You have had a
shave!" "Du hast dich rasiert!" das war alles, was er
hervorbrachte, eine erschütternde Neuigkeit auch für
ihn. Dann sackte er in die Knie und begann selig zu schnarchen.
Ein armer, verlassener Junge.
Ein Österreicher wankte aus dem Dunkel hervor, wo er gerade
Wasser gelassen hatte. Eine meterlange Alkoholfahne wehte ihm
voraus. "Nichts zum pudern – nur Bier!" Eine Feststellung, die an
Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ. Die
Fünf hauten ab.
In Mt. Beauty angekommen, stellten sie fest, daß heute kein
Film lief. Tanz war für 9 p.m. angesagt, jetzt war es sieben
Uhr dreissig. Solange herumlungern? Nein, rasch hinauf ins Lager.
Wozu hatten sie schließlich das Bier gekauft?
Der Wagen stieg im Scheinwerferlicht die Kurven hoch. Gespenstisch
standen die Baumstämme im tastenden Schein der Lampen wie
eine Mauer vor ihnen.
"Da haben wir uns also vergeblich gefreut, viel war nicht los!"
unterbrach Hugo die Stille im Wagen.
"Mein lieber Hugo", begann Eddi, ungewöhnlich ernst. "Ihr
Grünschnäbel habt es hier so schön, wie ihr euch
das garnicht vorstellen könnt. Wir beide, Hans und ich,
fingen vor vier Jahren bei der Railway an. Nicht wahlweise,
gezwungenerweise, mein Freund. Zwei Jahre lang, wie es im
Arbeitsvertrag stand. Ihr könnt jederzeit von hier abhauen,
soferne ihr erst mal die Schneid dazu aufbringt..."
"Was heißt hier Schneid? Vorerst benötigen wir Geld",
unterbrach ihn Willi wütend, jedoch Eddi ging nicht darauf
ein. "Tja, und dann schufteten wir, mein Lieber", meldete sich nun
Hans. "Nicht arbeiten, regelrecht schuften, sowie die
Galeerensträflinge vor zweihundert Jahren!"
"Könnt ihr euch das vorstellen – Schwellen tragen bei 110
Grad Fahrenheit? Wenn dir der Schweiß in Sturzbächen
die Haut runterrinnt? Nee, das könnt ihr nicht." Fassungslos
hörten die Burschen, wie ihr sonst so lustiger und
freundlicher Eddi immer erregter loslegte. "Bei jeder Kleinigkeit
fluchten die Männer zum Gotterbarmen, bei der geringsten
Ungeschicklichkeit eines Kameraden brüllte man den Kerl an
und stellte ihn wütend zu Rede.
Und der Boß? Der ließ kein Sterbenswörtchen dazu
verlauten, er wußte, er würde dafür gesteinigt.
Und Steine gab's genug. Die Schienen durfte man nur mit
Handschuhen anfassen, man hätte sich sonst die Finger
verbrannt.
Und der Staub dazu, der überall in diesem Lande herumfliegt -
es war die reinste Hölle!
Abends, nach dem Essen am Lagerfeuer, löste sich diese
unmenschliche Anspannung allmählich. Am leichtesten wurde
uns, wenn wir auf die Arbeit geflucht hatten, auf Australien, und
uns gefragt hatten, warum wir überhaupt in dieses
gottverdammte Land gekommen waren. Das Zusammenleben wurde uns
überhaupt nur mehr durch dauernde, gegenseitige
Beschimpfungen erträglicher.
Drum Jungs, wenn euch etwas nicht paßt – brüllt es euch
gegenseitig mal kräftig in die Ohren, dann geht's gleich
wieder. Das ist mein Ratschlag, die Erfahrung Fliegeneddis aus
Hamburg. Nicht wahr, Hans?" Und er haute den am Lenkrad Sitzenden
auf die Schulter, daß der zusammenzuckte. "Jojo", meinte
Hans, einfach "jojo".
"Aber weil ihr so brav seid, erzähle ich euch noch einige
Buschgeschichten", nahm Eddi nach einer Weile seinen Monolog
wieder auf. Langsam wurde ihnen fad, bis zum Camp lag noch eine
gute Stunde Weges vor ihnen. Stellenweise bedeckte Neuschnee die
Straße, Hans war gezwungen, langsamer zu fahren.
"Da hatten wir einen Australier, etwa 38 Jahre alt, in unserer
Gang", begann Eddi seine Erzählungen. "Die ganze Woche
über erwies er sich als nüchterner, fleissiger und
zuverlässiger Kamerad. Aber über Samstag – Sonntag
verkroch er sich in sein Zelt, sperrte sich, soweit dies ging, von
der Umwelt ab. Vorher ließ er sich gewöhnlich durch
'nen Taxi etwa 20 Flaschen Wein, zwei Kisten Bier und einige
hundert Zigaretten holen. Jedesmal passierte das gleiche: Nahezu
allein soff er den vielen Alkohol aus und rauchte dazu einen
Glimmstengel nach dem anderen. Wenn er dann vollgeladen war,
brüllte er wie ein Stier, tobte in der Gegend herum und ging
schließlich mit dem Messer auf uns los – bis er weinend
zusammenbrach. Seine Geschichte ist ebenso traurig wie
dramatisch.
Als Soldat im zweiten Weltkrieg in Afrika kämpfend, kehrte er
eines Tages in die Heimat zurück, nachdem er fast drei Jahre
von zuhause weggewesen war. Seine Frau erwartete ihn damals am
Bahnhof – und lief vor seinen entsetzten Augen in einen Gegenzug.
Sie war sofort tot.
Damals hat sein Buschleben begonnen..."
Es war auffallend ruhig geworden im Wagen. Nur das dunkle Brummen
des Motors erfüllte das Innere. Tiefe menschliche Anteilnahme
hatte in den Worten ihres lustigen Eddi mitgeschwungen.
Solche menschlichen Tragödien waren Willi früher nie zu
Ohren gekommen. Gelegentlich las man soetwas in der Zeitung, oder
ein Gerichtssaalbericht enthüllte ähnliche Konflikte.
Aber nie zuvor war er mit Augenzeugen eines solchen Dramas in
Kontakt gewesen. "Und nun stecke ich mitten drinnen im eigenen
Erleben", dachte er.
"Wer wird je darüber berichten, wer wird erzählen, wie
die Gegenwart in Australien für Zehntausende von Einwanderern
aussieht?
Es hat sich alles grundlegend geändert, ich muß mich
daran gewöhnen". Die alte Schwermut überfiel ihn
plötzlich mit drückender Gewalt, drohte ihn in einen
Strudel hinabzureißen, aus den er erst nach Tagen wieder
emportauchen würde. Es war doch alles sinnlos, was hier
geschah, was er hier tat. "W a s, zum Teufels Namen, habe ich
unter all' diesen Typen verloren...?"
"Damit ihr wieder etwas happier dreinseht, etwas erfreulicheres,
eine pikante Story." Eddi drehte sich auf dem Beifahrersitz neben
Hans halb zu den dreien im Fond um und begann zu
erzählen:
"Einmal schlugen wir unsere Zelte in der Nähe einer Mission
auf. Eingeborenenmädchen wurden dort in einer Schule erzogen
und zu sonst nützlichen Dingen angehalten. Nachts, wenn wir
heimkehrten, leuchteten uns die Brüste der
fünfzehnjährigen Gören aus unseren Pfühlen
entgegen, schwarz wie Ebenholz. Bei Einbruch der Dunkelheit
stahlen sich regelmäßig einige aus der Mission weg, um
uns zu beglücken, waren recht nette Dinger. Wünschte, es
wären einige hier im Lager. Natürlich ist eine derartige
Verbindung streng verboten, aber Australierinnen waren
natürlich weit und breit keine da... Außerdem, so
billig hätten's die sicherlich nicht gemacht!"
Im Wagen wieherte es laut auf. Eddi schmunzelte nur.
So gelangten sie nach Howman's Gap. Einer der Kumpel hatte Willis
Post abgeholt, auch ein Brief seiner Mutter war dabei: "Ich freue
mich, daß Ihr da unten regelmäßig Tee trinkt",
schrieb sie. "Setze nur immer Deinen Hut auf, damit Du dich nicht
erkältest. In Australien weht ja ständig ein
Lüftchen."
"Was ihr da in Europa alles über Australien wißt, ist
ja dramatisch", dachte er zynisch. Doch in dieser Hinsicht
mußte sich Mama keine Sorgen machen, für sein
leibliches Wohl war gut vorgesorgt.
* * *
Der Samstag Vormittag verging wie üblich – mit Zeitungslesen.
Dann bereitete sich Willi intensiv auf das bevorstehende Treffen
mit Beryl vor und studierte seitenweise moderne amerikanische
Literatur, an Hand von Kurzgeschichten der Autoren Scott G.
Fitzgerald, E. Hemingway, W. Faulkner und anderen. Sie hatte ihm
brieflich von ihren Lieblingsschriftstellern vorgeschwärmt,
und er wollte ihr doch mit seinen Kenntnissen imponieren.
Sorgfältig malte er sich die Dinge aus, die sie seiner
Ansicht nach für ihn einnehmen konnten. Am Abend gab es eine
kleine Sensation, als ihm Werner ein Telegramm unter die Nase
hielt. Es war in Berlin aufgegeben worden und enthielt nur vier
Worte: "ich liebe dich stopp gudrun stopp."
"Mensch, ist das ein verrücktes Ding", wiederholte Werner
mehrmals leise. "Weißt du, ich habe in meinem letzten Brief
an sie einiges Mißtrauen in ihre Treue angedeutet. Mir sind
da durch meine Mutter verschiedene Dinge zu Ohren gekommem, die
mich stutzig gemacht haben. Das Telegramm hat bestimmt drei Pfund
gekostet, wenn nicht mehr."
Willi waren Werners qualvolle Zweifel wohlbekannt. Immer ging es
um die Frage, soll ich sie nachkommen lassen, soll ich nicht? "Du
hast ja selbst erfahren, wie es auf den Schiffen zugeht. Und die
Hand möchte ich für sie auch nicht gerade ins Feuer
legen. Das soll nicht heißen, daß sie leicht ist, aber
viel zu berechnend!" Werner kramte unter den zahlreichen Briefen.
Von allen Lagerinsassen empfing er bei weiten die meisten. Das war
weiter nicht verwunderlich, korrespondierte er doch gleichzeitig
mit drei Freundinnen. Offensichtlich war Gudrun jedoch klare
Favoritin.
"Lies selbst! Hier die Stelle etwa." Die Buchstaben standen klar
und deutlich vor Willis Auge, nichts deutete auf Unklarheiten hin,
das gesamte Schriftbild lag wie aus einem Guß da. Beim
Überfliegen der Zeilen gewann er den Eindruck, daß die
Schreiberin mit jedem hingesetzten Wort genau wußte, was sie
damit erreichen wollte. Und auch nicht die geringste Absicht
hegte, irgendetwas zu verschleiern. Er zögerte seine Antwort
hinaus. "Wenn du, Werner, auf meine freimütige Äusserung
Wert legst – auch ich gewinne den Eindruck, daß sie, sagen
wir es mal so, zumindest sehr zielstrebig ist."
Er setzte einen Augenblick aus, sah Werner an, dessen blauviolett
durchäderten Lider nervös zuckten, und bemerkte, wie
unsicher und erwartungsvoll er auf einen Schlußsatz wartete:
"Was ja nicht unbedingt einen Nachteil darstellt!" Erleichtert
entspannte sich Werners Haltung. Irgend eine Entscheidung wollte
er hören, egal welche. "Du hast recht", antwortete er,
sichtlich gelöster. "Ich denke, ich werde ihr schreiben: Sie
soll die Koffer packen!"
* * *
Es war schauerlich, wie ungeschickt sich die Leute bei der Arbeit
anstellten. Bluebird hatte offensichtlich keine Ahnung, was am
vordringlichsten zu erledigen war. Und alles wurde nur
zusammmengeschleudert und so dem baldigen Verfall preisgegeben. Da
die Schienen mangelhaft ausgerichtet worden waren, entgleiste zehn
Minuten vor Schichtschluß die Scip, der Schrägaufzug.
Einer der Kumpels hatte Stan auf die potentielle Gefahr aufmerksam
gemacht, der als leading hand eine gewisse Verantwortung trug,
aber man ließ es dabei bewenden. Als der Wagen aus dem
Geleise hüpfte, rannte Bluebird nervös herum, alle
anderen krabbelten wie aufgescheuchte Ameisen aus dem Vehikel.
Neuerdings wurden die Verschalungsarbeiten von einem älteren,
klugen Briten geleitet. Die Europäer freuten sich insgeheim
über das gespannte Verhältnis zwischen den beiden
dominierenden englischsprachigen Stämmen. Am Anfang ihrer
Tätigkeit gingen sie davon aus, daß sich Aussies und
Pommies doch gut verstehen würden, war doch England das
Mutterland Australiens. Die eingewanderten Tommies glaubten auf
gewisse ideelle Rechte pochen zu können und beanspruchten
für sich natürlich von vorneherein eine bessere
beziehungsweise bevorzugte Behandlung. Was zwischen den
Australiern und anderen europäischen Einwanderern eine Frage
des großmütig erteilten "Fair-go", der gelegentlich
zugebilligten, gleichwertigen Chance war – lief bei den
Engländern auf einen reinen Kompetenzstreit hinaus. Genauer
gesagt, ging es nur darum, wer von den beiden Gruppen mehr zu
sagen hatte, die Australier oder die Engländer. Leider wurde
diese Meinung von den Aussies nicht geteilt, die sich
natürlich nicht bevormunden lassen wollten, weder von den
Europäern, noch von den Engländern.
Bert, der Engländer, hegte leider keine besonders große
Achtung vor den Aussies, sodaß er ebensooft wie die
übrigen Migrants mit Schimpfworten bedacht wurde – in seinem
Falle also mit Pommy. Erstaunlich fanden die jungen Männer
nur, daß selbst die Königin von England mit denselben
obszönen Ausdrücken bedacht wurde wie sie selbst. Ihre
australischen Kollegen schienen weder vor sich selbst noch vor
anderen irgend eine Achtung zu empfinden.
Wegen der vielen Schlechtwettertage fand man Willi nun öfter
in Gesellschaft von Bert, wobei die beiden im Lager lange
Diskussionen führten, deren Inhalt sie im Streifzug durch die
ganze Welt führten. Berts Kenntnisse der deutschen Geschichte
überraschten Werner und Willi immer aufs neue. Er
erklärte den beiden, daß er sich als alter
Sozialdemokrat eben besonders für den Werdegang der deutschen
Arbeiterbewegung interessiert habe, wobei er unvermeidlich auch
die historische Entwicklung mitbekam. Der Österreicher
gestand ihm, daß er da wenig mitreden könne. Werner
dagegen, mit seinen journalistischen Ambitionen, durfte hier sein
Licht leuchten lassen.
Um Berts Interesse zu wecken, das sich naturgemäß mehr
Werner zuwandte, dessen Neigung in Richtung Politik er zu
würdigen verstand, überlegte Willi, ob er Bert von einer
Spionagegeschichte berichten solle, die er seit längerem mit
sich herumtrug. Er unterließ es jedoch, da ihm ohnehin
niemand geglaubt hätte.
Ein Bekannter, Ingenieur von Beruf, hatte Willi einmal bei einem
feuchtfröhlichen Heurigen anvertraut, daß ihm einige
Spionageringe in Wien das Leben sauer machten. Man bot ihm
Unsummen (und drohte ihm gleichzeitig mit Mord), wenn er
nähere Angaben über die Forschungsarbeiten der
Sowjetrussen auf dem Gebiet der Raketentechnik machen würde.
Während der Kriegsgefangenschaft hatte er als einfacher
Arbeiter aufgrund seiner Kombinationsgabe, seiner technischen
Kenntnisse und den Erzählungen seiner Leidensgenossen, einen
gewissen Einblick in die Triebwerksversuche der Sowjets bekommen.
Es war ihm damals vorteilhafter erschienen, seine
Ingenieurausbildung geheim zu halten – und so war ihm
tatsächlich gelungen, dem Vaterland aller Werktätigen
nach wenigen Jahren mehr oder wenig unbeschadet zu entkommen. Die
Erzählungen dieses Mannes erschienen Willi damals
unglaublich, der da zum Beispiel von Hunden, die in kleine Kammern
gesperrt in große Höhen hinaufgeschossen worden seien,
berichtete. Nach seiner Rückkehr aus der Gefangenschaft 1948
machte Ingenieur M. dann darüber eine vertrauliche Mitteilung
an einen britischen Major von der MJ 5, der nur mitleidig
gelangweilt gelächelt habe. Allerdings, einige Jahre
später, als die Angelegenheit aktueller wurde, rannten ihm
die Amerikaner, die Engländer und Franzosen die Türe
ein, um Details zu erfahren. Da aber hatte M. bereits eine sichere
Anstellung im Staatsdienst gefunden und war nicht mehr bereit,
seine Erfahrungen bei den Sowjets weiterzugeben.
Willi war der Meinung, daß dies Bert sicherlich auch
interessieren würde, aber er unterließ es, davon zu
erzählen, man hätte ihn ja doch nur als kleinen
Wichtigmacher betrachtet.
Ungefähr ein Jahr später sah er dann mit eigenen Augen
die majestätisch glänzende Kugel des ersten
Erdsatelliten über den nachtdunklen Himmel Australiens
ziehen...Made in USSR.
Doch vorläufig ärgerte er sich über Werner,
ärgerte er sich über diesen "Idiotenklub", wie er das
Unternehmen nannte, und fühlte, wie langsam die Zeit
heranreifte, wo er aus dieser Enge ausbrechen würde.
* * *
Die übrigen Österreicher, mit denen er in Verbindung
stand, werkten nun im Tunnel. Sie verdienten dabei 49 Pfund in
vierzehn Tagen, was gegen die 29 Pfund, die er erhielt,
natürlich einen großen Unterschied bedeutete. Er
überlegte hin und her, ob er sich nicht auch für die
Arbeit unter Tage melden sollte, aber wenn er die erschöpften
und bleichen Gesichter der aus dem Tunnel wankenden Männer
sah, beschloß Willi doch, an der frischen Luft zu bleiben
und vorerst auf das Mehreinkommen zu verzichten.
Eines Tages, es war knapp vor fünf Uhr, die Busse warteten
bereits auf die Tunnelpartie, ließ ein dumpfer Schlag das
Berginnere erzittern. Aus dem Portal knallte ein leichtes
Explosionsgeräusch heraus, sonst war nichts
außergewöhnliches zu bemerken. Doch dann kamen keuchend
und gestikulierend einige Mann herausgelaufen und bellten
unzusammenhängende Wortfetzen in die Luft. Den wartenden
Kumpeln im Autobus krampfte es die Kehle zusammen. Allmählich
strömten mehr und mehr Arbeiter aus dem dunklen Loch im Berg
heraus und überbrachten die traurige Nachricht: Das
herabstürzende Gestein hatte einem Österreicher ein Bein
abgeknickt, und das schlimmste, ein Deutscher liege noch unter den
Schuttmassen. Eine Sprengladung war durch einen unglücklichen
Zufall zu früh ausgelöst worden und hatte so die
Katastrophe verursacht.
Am Abend noch erfuhren sie die ganze Wahrheit: Der Deutsche hatte
nur noch tot geborgen werden können. Die Augen seien weit
geöffnet gewesen, als man ihn freigelegt hatte. Die blonden
Haare hingen ihm in das völlig unversehrte, leicht
lächelnde Gesicht: Es hatte Klaus erwischt, den Berliner, der
so furchtbar gerne teure Leberpasteten gegessen hatte...
* * *
Am Wochenende langte endlich das gelbe Päckchen mit den
Farbdias ein, auf die Willi schon so lange und so sehnsüchtig
gewartet hatte. Zusammen mit Hugo, dem Meisterfotografen, beguckte
er sie eingehend. Der Deutsche äusserte kein Wort dazu, er
war einfach platt. "Bis jetzt habe ich auf Schwarz-weiß
geschworen", meinte er schließlich, "jetzt werde ich nur
mehr farbig knipsen."
"Paß auf, Sonntag nachts, nach dem Hauptfilm, zeige ich den
Kumpels im Kino die Dias", begeisterte sich Willi. "Ich spreche
heute noch mit dem Filmvorführer. Das ist ein prima Kerl, der
besorgt mir bestimmt einen Projektor!"
Die Nacht von Freitag auf Samstag schlug alles bisher Erlebte.
Jack der Irländer und sein Kumpan "Genosse Paradiesvogel",
wie ihn Werner wegen seines grotesken Aussehens getauft hatte,
zechten diesmal bis zum Morgengrauen. Paradiesvogel oder
Spatzenkopf, war ein dürrer Australier, auf dessen mageren,
runzeligen Hals ein auffallend kleiner, mumienartiger Kopf
saß, dessen dürftiges Haupthaar am Hinterkopf in
kleinen Büscheln wegstand. Unglücklich verheiratet,
bildete er mit einigen Schicksalsgenossen den harten Kern einer
Trinkergemeinschaft, von der ein ganzer Pub hätte existieren
können. "Diese verdammte Sau", hatte er einmal in der Kantine
gebrüllt, "versucht mir zehn Pfund pro Woche
abzuknöpfen! Aber ich werde ihr zeigen, wer der Herr im Haus
ist!" Er ballte die Faust am zittrigen Arm und schrie: "Ich werde
es ihr zeigen – ich schneide ihr einfach die Gurgel ab, so!" Mit
einer ruckartigen Bewegung des Armes hatte er den Akt zu
demonstrieren versucht und war zufolge seiner Trunkenheit aus dem
Gleichgewicht gekommen und zu Boden gestürzt. Das
nachfolgende Gelächter der Kumpane hätte beinahe das
Dach zum Einsturz gebracht...
Und Jack?
Jack war ein wohlerzogener und gesitteter Mensch, solange er
keinen Alkohol roch. "Jetzt gebe ich das Saufen auf, du wirst
sehen!" hatte er Willi noch vor einigen Tagen versichert. "Ich
brauche dringend eine neue Hose, aber bis jetzt, also in drei
Jahren, ist es mir in dem bloody Camp nicht gelungen, das Geld
dafür zusammenzubekommen. Aber paß auf! Dieses
Wochenende trinke ich nicht." Wie oft schon mag er sich das
geschworen haben, wie oft schon war er von der Lagerleitung
verwarnt worden – es half alles nichts.
Nun gröhlten sie wieder los in seiner Bude, brüllten auf
wie Ochsen, stampften mit den Füßen am hölzernen
Barackengang, daß die Wände zitterten. Voller
Empörung öffnete Willi seine Türe und blickte in
den Gang hinaus, der im Halbdunkel lag und nur durch niedrig
angebrachte Notlichter nur dürftig beleuchtet wurde.
Wie Hunde krochen einige Gestalten am Fußboden herum, zogen
ihre Kleider im Staub hinter sich her, bellten und winselten dabei
jämmerlich wie Hunde.
Voll Grauen warf der junge Mann die Tür zu, aber er konnte
nicht einschlafen, das Konzert draussen war zu höllisch laut.
Mitten in der Nacht ging die unversperrte Tür auf, eine Hand
griff zum Schalter, und durch das aufflammende Deckenlicht halb
geblendet, sah Willi Genosse Paradiesvogel mit hängender
Kinnlade und glasigen Augen im Zimmer herumschwanken. Ein
entsetzlicher Gestank, der von ihm ausging, hing in der Luft.
"Oh God, it is'nt my room!" murmelte er mehrmals zwischen seinem
Speichelwasser hervor und wackelte winselnd wieder hinaus. Willi
sprang aus dem Bett, warf den Riegel vor und drehte das Licht ab.
Für einige Stunden umfing ihn bleischwere Tiefe.
Noch einmal wurde er durch lautes Gepolter an den dünnen
Barackenwänden aus dem Schlaf gerissen. "Wake up, fucken
Germans, a new day began!" trompetete Jack draussen herum. Dann
ertönte ein dumpfer Fall und es herrschte endgültig
Stille.
Als er in den Morgenstunden zum Waschraum ging, gelangte er an
eine offenstehende Tür, die ihm Einblick in eine Cubicle
freigab. Der Raum war fast völlig abgedunkelt, mit
schmutzigen Fetzen das Fenster verhängt. Unzählige
Kartons und Schachteln stapelten sich im Zimmer. Ein infernalisch
süßlicher Geruch wehte heraus, der ihn augenblicklich
zum Erbrechen reizte. Umgeben von einem Dutzend leerer
Bierflaschen lag ein Mann am Boden, den Hut halb über das
Gesicht geschoben, inmitten einer Lache von Alkohol und
Exkrementen. Willi konnte nicht erkennen, wer es war, aber es war
auch völlig gleichgültig. Unbezwingbar stieg der Wunsch
ihn ihm hoch, diesem Horror zu entfliehen. Doch vorerst hieß
es noch ausharren, noch besaß er nicht genügend Geld.
Noch konnte er es nicht wagen, in die Stadt zu ziehen.
Später am Tag entschuldigte sich Jack bei jedem Einzelnen in
der Baracke. Artig anklopfend trat er ein und erklärte, es
tue ihm leid, in der Nacht soviel Lärm gemacht zu haben. Ja,
Jack wußte, was sich gehörte.
Abends ging's mit den Freunden ins Kino. Der Dia-Projektor war
tatsächlich mit den Filmspulen mitgeschickt worden, und der
Operateur half ihm nach der Vorstellung bei der Show. Der Koch aus
der Kantine war ihm bei der Abfassung des Textes zu den einzelnen
Bildern hilfreich zur Seite gestanden. Eben zeigte Willi eine
Aufnahme, wo der Suezkanal und im Vordergrund links Erwin und
rechts ein junges Mädchen mit windzerzaustem Röckchen zu
sehen war. Er kommentierte: "A friend of mine..." Da ertönte
ein Zwischenruf: "Which one, that right or that left one?" Alles
brüllte vor Lachen, größer hätte der Erfolg
garnicht sein können.
* * *
Über dem Arbeitsgelände lag Schnee. Bevor die Sonne
hinter dem Bergrücken hervorkroch, biß die Kälte
direkt an ihren Füßen.
"Die Arbeit wird bereits unangenehm", meinte Eddi zu den im
Halbkreis um einen primitiven Ofen stehenden Kollegen. "Da werden
wir zwei wohl bald das Weite suchen müssen?"
"Das kannste wohl annehmen", bejahte Hans, während er sich
die Hände warm rieb. "Aber n o c h nicht, mein Junge. Ich
habe noch nicht einmal die Schulden beim Onkel Doktor bezahlt und
bekomme dauernd Mahnbriefe nachgesendet, wohin wir auch fahren.
Der Kerl ist hartnäckig. Möchte nur wissen, wie er immer
so schnell unsere Adresse rausbekommt?"
"Schafskopp!" erwiderte Eddi schlagfertig, "siehst du denn nicht,
daß die Polizei hinter uns her ist? Schaut mal da
rüber!" Er wies mit dem Daumen lässig nach hinten. Den
anderen blieb der Atem weg, zwei Polizisten kletterten eben aus
einem Wagen und schickten sich an, auf die Gruppe zuzuschreiten.
"Wat denn, wat denn? Das soll wohl ein schlechter Witz sein,
oder...?" Fast kläglich klang die unausgesprochenen Frage
Werners. "Was glaubst d u denn von uns?" gab Eddi etwas
verärgert zurück. "Die holen einen ab, das ist sicher.
Aber nicht uns, mein Kleiner!"
"Billy Bligh?"
Kurz und drohend stieß einer der Bullen den Namen hervor.
Ein auffallend bleicher und struppiger Geselle aus ihrer Mitte
löste sich von der Gruppe und ging zu den Polizisten
rüber. Eine Handschelle klappte zu, eine Wagentür fiel
ins Schloß, der Motor heulte auf und verklang
allmählich hinter den Straßenkehren. Was war da eben
los? Bestürzt sahen sich die Arbeiter an. "Nichts besonderes.
Billy wurde von der Gesellschaft als entlassener Sträfling
aufgenommen, von Melbourne zur Arbeit hierher überwiesen.
Jetzt hat man ihn neuerdings des Kameradschaftsdiebstahls
überführt. Erfuhr heute, daß man ihn um ca. 10
a.m. abholen wird. Deswegen habe ich auch die Teepause etwas
länger hinausgezogen. So, und jetzt geht wieder an die
Arbeit!" Fast widerwillig hatte ihnen ihr Foreman die Auskunft
erteilt.
"Na, da sind wir ja in feiner Gesellschaft, das muß ich
schon sagen", klagte Hugo, der Feinfühlende. "Brauchst
bloß an uns zwei denken!" blödelte Eddi und blickte
Hans vergnügt aus den Augenwinkeln an. Der lachte nur
übers ganze unrasierte Gesicht und ließ die Zahnruinen
seines Pferdegebisses blecken. Zusammen mit den beiden Jungs aus
Hamburg erschien die Arbeitszeit manchmal direkt vergnüglich
kurz.
Der Partieführer rief ihnen zu, sie sollten ruhig allein
weitermachen, er fahre mit dem Jeep zur Bauleitung hinunter.
Sobald er sich entfernt hatte, schnatterten die Männer
drauflos und ließen die Arbeit ruhen. Bert der
Engländer steuerte einige Bemerkungen bei, die den Burschen
aus Mitteleuropa die Situation etwas erläutern sollten. "Der
australische Arbeiter hat noch viel zu lernen", meinte er. "Er
macht den Mund nur auf, wenn der Boß gerade von der
Bildfläche verschwunden ist. So kommt es, daß ein
Großteil der führenden Männer der Trade- Union,
der Gewerkschaften, eben aus gebürtigen Engländern
besteht."
Die jungen Männer hörten ihm aufmerksam zu, das Thema
interessierte sie außerordentlich. "Ich glaube, Bert hat
damit recht", meinte Willi später zu Werner. "Meiner Ansicht
nach drückt sich darin aus, daß dem australischen
Arbeiter der Mut zum Handeln überhaupt fehlt. Das sieht man
bereits in seiner Einstellung zur Arbeit selbst. Sie wollen nur
schaffen, wenn sie auch andere in Tätigkeit sehen. Ob das
wohl überall im Land so ist?" Werner antwortete kurz und
bündig: "Das darfst du getrost annehmen. Ein Freund von mir,
der in der Stadt beschäftigt ist, schreibt mir genau
dasselbe. Meiner Meinung nach wird der eingesessene Australier
entweder seine führende, das heißt genauer gesagt seine
dominierende Rolle, an vitalere Elemente abgeben müssen, oder
die ganze Insel fällt über kurz oder lang den Asiaten
zum Opfer."
* * *
Der Freitag in acht Tagen war als Stichtag für die
Übersiedlung des gesamten Lagerpersonals nach McKay Creek
festgelegt worden. Von dort aus war der Anmarschweg zur
Arbeitsstätte kürzer, das Lager Howman's Gap würde
komplett aufgelassen werden. Aus diesem Grunde war für
Donnerstag Abend eine Abschiedsfeier, sprich behördlich
genehmigter Saufabend, angekündigt worden. Willi trug sein
Scherflein dazu bei – garnicht wenig, wie es ihm schien. Aber er
tröstete sich damit, daß 'man' sich nicht
ausschließen könne. Und schließlich fand er
selbst immer mehr Gefallen am exzessiven Trinken.
Und für just diese Wochenende hatten sich unsere Fünf
etwas ganz Großes vorgenommen: ihren ersten Ausflug nach
Melbourne, der Hauptstadt des Bundeslandes Victoria und zugleich
zweitgrößte Stadt Australiens. Voll Reisefieber packte
Willi Höger die notwendigsten Utensilien in seinen Seesack.
Er wußte von einigen Bekannten, die Werner dort besuchen
wollte, somit waren sicherlich neue Verbindungen zur
'Zivilisation' zu erwarten. Ein Umstand, der in ihrer jetzigen
Situation garnicht hoch genug bewertet werden konnte.
Freitag um acht Uhr fuhren sie also los, fein herausgeputzt, und
mit einer tüchtigen Ladung Schnee auf dem Autodach. Nach der
üblichen Höllenfahrt bis Little Hollywood, tankten sie
erst mal Benzin. Hausfrauen holten sich für ihre Kleinen
begeistert Schneebälle vom Wagendach, denn hier unten bekamen
sie das fleckige Weiß nur alle heiligen Zeiten mal zu
Gesicht. Schmunzelnd reichte er der kleinen fünfjährigen
Dame einen Schneeball, die ihn mit großen Augen ein wenig
ängstlich betrachtete und neugierig zusah, wie er in der Hand
langsam dahinschmolz.
Nochmals ging's über eine Hügelkette, bis sie nach einer
äußerst gefährlichen Fahrt endlich ins Flachland
gelangten. In herrlichem Gelb und Orangenrot blühten die
Sträucher an den Wegrändern. Der Herbst war im
Ausklingen und der Winter würde bald einsetzen, wenn auch
hauptsächlich in Form langer Regenperioden. Für Werner
war eine Kiste seines Großgepäckes in einem
verträumten Nest eingelangt. So beschlossen sie zuerst den
kleinen Umweg zur Bahnstation zu nehmen, denn es war nicht sicher,
ob sie am Sonntag auf der Rückreise den Schalter auch noch
geöffnet vorfinden würden. Außer Werner betraten
alle ein Gemischtwarengeschäft, das von einem älteren
Ehepaar geführt wurde. Die beiden Australier waren
offensichtlich heilfroh in diesem abgelegenen Örtchen Fremde
anzutreffen. Insbesondere der Mann wollte und wollte nicht zu
sprechen aufhören. Als er vernahm, daß die Burschen aus
den Bergen heruntergekommen waren, erzählte er ihnen sofort
begeistert von den Pferderitten, die er in früheren Zeiten
dorthin unternommen hatte. Die alte Dame warf etwas verlegen ein,
daß das die jungen Leute wahrscheinlich kaum interessieren
werde, er solle doch aufhören. Doch die jungen Männer
hörten aufmerksam und höflich den nostalgischen
Erinnerungen des alten Herren zu. Alle vier standen wie erstarrte
Bildsäulen vor der Budel. Eddi, mit dem flachen Hut auf dem
Kopf, die Hände vor dem Bauch gefaltet, schwadronierte dann
von seinen Reitererlebnissen im Busch, bis Werner den Kopf bei der
Türe hereinstreckte und ihnen zurief, daß alles in
Ordnung sei. In den Geschäften entlang der Hauptstraße
begegneten sie nur freundlich gesinnten Menschen. Nirgendwo befiel
sie das Gefühl, in diesem Land unerwünscht zu sein.
Gegen fünf Uhr erreichten sie die Stadtgrenze von Melbourne.
Je näher sie der City kamen, desto wüster entwickelte
sich der Verkehr. Hans schlängelte sich durch wie ein
gewiegter Slalomfahrer. Willi wäre mit einem Fahrzeug in
diesem Großstadttrubel rettungslos verloren gewesen.
"Left Turn only".
"No Turn", "Stop", "Go", "Don't walk" und weiß der Teufel,
was sonst noch, tauchte in Rot, Grün, Weiß oder Orange
vor den Kreuzungen auf. Nachdem sie einen Häuserblock
mehrmals umfahren hatten, rollten sie über eine Brücke
und stoppten vor einem mehrstöckigem Gebäude.
"So, da wären wir", lachte Hans vergnügt. Ihm hatte die
tolle Irrfahrt anscheinend Spaß bereitet. "Wo sind wir?"
stieß Willi wütend hervor. Er fühlte sich von den
vielen neuen Eindrücken überwältigt und erledigt.
"Na, vor dem YMCA-Gebäude. Der Unterkunft des 'Vereins
Christlicher Junger Männer'!" Er fügte hämisch
hinzu: "Das ist das billigste Hotel. Und ihr sitzt ja auf euren
Geldsäcken! Also Sonntag um drei Uhr nachmittags gibt es hier
ein Wiedersehen!"
Die Burschen bekamen im vierten Stock zwei Zellen zugewiesen, die,
von grünlackiertem Wellblech umgeben, mit einer Vielzahl
anderer in einem geräumigen Saal standen. Über die
Stockbetten spannten sich grobmaschige Drahtnetze, auf denen
Apfelreste und Papierknäuel ein vertrocknetes Dasein
führten. Außer einer Lampe an der Wand und einem Stuhl
enthielt dieses Zimmer keinen Luxusgegenstand. Werner und Hugo
hatten nebenan gemeinsam Platz gefunden, so stellte Willi
vorsorglich seinen Seesack bei ihnen unter, da er seinen
zukünftigen Mitbewohner ja nicht kannte. Daher eilte er
ahnunglos, mit dem Schlüssel Nr.443 in der Tasche, mit seinen
Freunden durch die Empfangshalle ins Freie, wo ihn tausende
Lichter und Leuchtreklamen schlagartig vor Augen führten,
daß sie nicht länger in der unwirtliche Einöde
vegitierten. Als sie nun die Yarra auf der Princess-Bridge zu
Fuß überquerten und die Menschen in dichten Scharen aus
den Stadtbahnstationen hervorquollen, wurde ihnen direkt
unheimlich zu Mute. Nach der monatelangen Abgeschiedenheit im
Busch waren sie menschenscheu geworden. Sie bestiegen eine
Straßenbahn und betrachteten linkisch die
großstädtischen Menschen, die in Feiertagsstimmung den
Wagen füllten. Betont höflich erkundigte sich Werner
beim mürrisch dreinsehenden Schaffner, wie sie die Adresse
seines Freundes am besten erreichen würden.
"Seid ihr nicht Deutsche?" erkundigte sich der Mann leise, emsig
hantierte er dabei mit seiner Zwickzange. "Ja, aus Berlin" gab ihm
Werner ebenso gedämpft Antwort. Der Uniformierte reichte
ihnen schweigend die Fahrscheine. Vorsichtig, im
Vorbeizwängen, flüsterte er Werner leise zu: "Berlin ist
'ne Wolke." Seine Augen leuchteten kurz auf, dann verfiel er
wieder in seine Alltagsmaske.
Sie schlichen über die Treppen des Hauses. Leichter
Modergeruch schlug ihnen entgegen, trübe beleuchtete eine
Lampe den geräumigen Gang, der mit billigen Teppichen
ausgelegt war. Am finsteren Ende stießen sie gegen einen
Türrahmen und verharrten horchend. Abwechselnd erhob sich
eine Männer- und eine Frauenstimme. "Er ist es!" sagte Werner
leise, dann klopfte er energisch an. "Come in!" ertönte eine
Männerstimme.
Werners Bekannter ruhte auf einem Sofa. Seine australische
Freundin kauerte neben ihm und betrachtete gerade Dias, die sie
gegen einen Lampenschirm hielt. Werner verwickelte Gerhard in ein
persönliches Gespräch. Nach den ersten Sätzen ihres
neuen Bekannten blickten sich Hugo und Willi unauffällig von
der Seite an, geringschätzig die Lippen kräuselnd. Der
hagere lange Mann gab offensichtlich vor, nach vier Jahren im
Lande nicht mehr akzentfrei Deutsch sprechen zu können. Wenn
das nicht Angabe in Reinkultur war!
Die Australierin hatte sich inzwischen zum Gasherd gestellt, um
Teewasser für die Burschen zu bereiten. Sie wies eine
beachtliche Länge auf, war aber etwas zu mollig gebaut. Das
Gesicht erschien Willi gutmütig im Ausdruck, wirkte aber
leicht schwammig. Das Zimmer paßte durchaus nicht zur
Renommierei von Gerhard, es war alt, abgeschabt, düster und
in verschlampten Zustand. Der Inhaber dieses Domizils
erklärte später, eine Kartenspielrunde aufsuchen zu
müssen und entschuldigte sich bis nacher, Judith werde ihnen
inzwischen ein wenig die Stadt zeigen. Vorher begaben sich noch
alle kurz zu Gerhards Wirtin auf einen
Höflichkeitsbesuch.
Die Endfünfzigerin bewohnte einen großen Salon, wo sie
kettenrauchend das Abendprogramm im Radio anhörte. Ein
zierliches Hündchen, mit einer großen roten Schleife um
den Hals, kauerte auf ihrem Schoß. Inmitten einer Unmenge
von Nippesfiguren prangten frische Blumen, und ober dem
Kamingesimse hing ein Portrait von Winston Churchill.
"Fiffi hat heute Geburtstag" erklärte sie den Besuchern und
streichelte zärtlich den Rücken ihres Lieblings.
Hundertprozentig ehemaliger englischer Mittelstand, wenn nicht
High Society, schätzte Willi sie kurz ein. Nach einem
flüchtigen Kuss Gerhards kutschierte sie Judith dann mit
ihrem Wagen durch die Straßen von Melbourne. Willi verhielt
sich am Anfang abwartend und ruhig, riß dann aber die
Unterhaltung an sich. Obwohl er bei dem Tempo, das Judith
vorlegte, jeden Augenblick einen Zusammmenstoß
befürchtete, brachte er Werners laut geäußerte
Nervosität mit einigen gutgezielten Bemerkungen zum
Schweigen. "Just sit back and relax!" meinte er gelassen.
Wahrscheinlich hatte er diesen Ausspruch in einer Zeitung
aufgeschnappt, die Australierin lachte nur glucksend auf.
Nach einem Restaurantbesuch schlug Willi vor den Lunapark zu
durchstreifen. Judith war sofort Feuer und Flamme: Schon jahrelang
sei sie nicht mehr hier gewesen. Zurück in Gerhards Domizil,
führten die Gespräche bald zu Vergleichen zwischen
Deutschland und Australien.
"Ich habe natürlich der Hetzpropaganda gegen die Deutschen
geglaubt", räumte Judith ein. "Erst seit ich Gerhard kenne,
der mir manches über die Hintergründe dieser
Darstellungen erzählte, begann ich auch die deutsche Seite zu
verstehen. Und jetzt habe ich sogar Marschmusik auf Lager. Da,
hört!"
"Pack die Badehose ein..., nimm dein kleines Schwesterlein...",
tönte die flotte Weise aus dem Plattenspieler, belustigt
übersetzte Willi ihr den Text.
"Ich war gegen Kriegsende ein halbwüchsiges Mädchen",
erzählte Judith später weiter, "da wurde in der Schule
ein Film über die 'Hitler Children' gezeigt." Deutsche
Mädchen und Frauen als Gebärmaschinen, von brutalen
SS-Männern beschattet, sei der Inhalt des drastischen und
dramaturgisch hervorragend inszenierten Films gewesen.
"Ich war damals maßlos empört über die furchtbaren
Methoden Hitlers und seiner Soldaten!" gestand sie treuherzig.
"Und ich konnte in jedem Deutschen nur eine Bestie sehen."
Verlegen sahen sich die Burschen an, was war Wahrheit, was
üble Hetzpropaganda daran gewesen? Sie wußten es selbst
nicht.
Gegen Mitternacht erschien Gerhard wieder und brachte sie zur YMCA
zurück. Willi holte den dosischen Schlüssel aus der
Rocktasche und sperrte die Tür seines "Appartements" auf. Ein
leichter Schimmer des Lichtermeeres der Stadt fiel vom Fenster in
das Kabinett: Im unteren Teil des Stockbettes lag ein Mensch. Als
er Willis Schritte hörte, schreckte er hoch. Wirre Blicke,
zerzaustes Haar. "Was machst du hier!" fuhr er Höger an.
Einigermaßen verwundert, antwortete der: "Ich habe die
Absicht, mich hier schlafen zu legen."
"Oh! Oh! Oh!" jammerte das Individuum im wahrsten Sinne des Wortes
los. "Du bist ein Neu-Australier, nicht wahr?"
"Ja, aus Austria", antwortete Willi merklich reservierter.
"Oh Gott, Oh Gott! Mir gefallen diese Leute nicht – fucken
Germans, verdammte Brut!!!" winselte sein Zimmerkollege weiter.
Ohne noch ein weiteres Wort zu verlieren, entkleidete sich Willi
und legte sich ins obere Bett. "Oh! Oh!" ging es inzwischen unten
weiter. Der Österreicher blickte vorsichtig über den
Bettrand: Schmerzerfüllt verzog der Mann sein Gesicht, eine
verzerrte Fratze wälzte sich im Kissen hin und her. Nach
einigen Minuten erhob sich der Mann vom Lager, schnappte seinen
Anzug und verschwand zur Tür hinaus. Nun ging es draussen
erst richtig los: Ein Hund bellte los, laut und abgehackt. Nein,
es mußte wohl sein Schlafgenosse sein. Eine Litanei von
Flüchen gegen mindestens zehn Nationen ergoß sich wie
ein dreckiger Strom gegen die Türe des Kabinetts. Willi
empfand deutliche Angst bei dem Gedanken, der Verrückte, den
nur um einen solchen konnte es sich handeln, könnte ihn im
Schlafe überraschen. Entschlossen stieß er den Riegel
vor und sah in den nächsten Stunden ungerührt zu, wie
diverse Personen, wohl auch Bedienstete dieses Nobelhotels, an der
Klinke zerrten.
Am Morgen würgten die drei Freunde die zusammengeschmorten
Würstchen und die verhungerten Spiegeleier hastig hinunter
und machten sich sofort auf den Weg in die City. Die Stadt lag im
Tageslicht einigermaßen graziös da. Solange sie sich in
der Innenstadt aufhielten, gab's überall hohe und
guterhaltene Gebäude. Doch gleich außerhalb des
Stadtkerns huschelten verbogene, schiefe und zerfallende niedrige
Häuser auf den sanften Hügeln hin.
Gerhard hatte Werner brieflich zugesagt, sich ein wenig um
Arbeitsplätze für sie umzusehen. Als er sie so nebenbei
fragte, ob sie die Age mitgebracht hätten, wußten sie
bereits wieviel es geschlagen hatte. Allmählich entpuppte er
sich als ein notorischer Angeber und Aufschneider.
Kann mir nicht erklären, wie der zu dieser netten Freundin
gekommen ist, fragte sich Willi verwundert. Wahrscheinlich hegte
sie für ihn Muttergefühle – wesentlich älter als
Gerhard war sie ja. "Wird ja hoffentlich bald merken, was mit ihm
los ist", dachte er hämisch. Er entdeckte, daß sie
direkt gegenüber Gerhards Zimmer einen Raum bewohnte.
Der gab nun vor, daß er in Healesville ein Grundstück
besitze und wegen des Bäumefällens einen Kontrakter
aufsuchen müsse. Mit dem viersitzigen Wägelchen rasten
sie dem Wasserreservoir und Touristenausflugsort in der Nähe
der Stadt entgegen. Draussen führte er sie zwischen
mannshohen Gräsern und Hecken herum, die auf seinem Grund und
Boden wucherten, keine Rede mehr vom Aufsuchen eines Kontakters.
Als sie dann bei einem Espresso saßen und teure
Tortenstücke verzehrten, die Gerhard großzügig
für sie bestellt hatte, führte er ihnen seine
Zukunftsprojekte, die mit der Verwertung bestimmter Farmprodukte
zusammenhingen, plastisch vor Augen. Und speziell zu Willi
gewandt, der ihm mit steigendem Interesse zuhörte, meinte er:
" Und dann, das kann ich dir versichern, gehört ganz
Melbourne uns!"
Sie alle besaßen zu diesem Zeitpunkt noch viel zu wenig
Einblick in das australische Leben und die Alltagswirtschaft, um
die Ideen dieses zumindest unternehmenslustigen jungen Mannes
richtig beurteilen zu können. Gerhard versuchte sie zu einer
finanziellen Beteiligung an seinen Visionen zu bewegen. Willi kam
die Angelegenheit nicht einmal so fantastisch vor wie sie klang
und versprach für seine Person das Projekt bis zu seiner
Übersiedlung nach Melbourne zu überdenken. Werner meinte
später: "Gerhard ist ein Spinner. Der denkt wie ein
Industriekapitän – viel zu großzügig, aber nicht
konsequent genug. Er kann doch nicht alles auf einmal durchsetzen,
er muß den Plan doch Schritt für Schritt verwirklichen!
Außerdem kommt mir die Sache ziemlich übertrieben
vor."
Der Österreicher verfiel in einen nachdenklichen, dozierenden
Ton. "Gegen die Idee möchte ich nicht einmal etwas einwenden,
im Gegenteil. Was mich bei deinem Bekannten stutzig macht, ist,
daß er offensichtlich der Wirklichkeit entrückt
scheint. Er lebt nicht mit den nackten Tatsachen, sondern mehr in
der Rolle, die er sich ausgedacht hat: die eines erfolgreichen
Managers, der über eine Unzahl von Unternehmen und ganze
Flotten von Kraftfahrzeugen verfügt, und der kaum noch Zeit
zur Kontrolle seiner Betriebe findet. Ich verstehe nicht allzuviel
von moderner Seelenheilkunde, aber ich glaube Psychopath
dürfte der richtige Ausdruck für diese Art von Menschen
sein." Fragend sah er Werner an. Hugo, der das Gespräch
aufmerksam verfolgt hatte, streute nun seinen Senf dazu bei: "Da
kann ich ein Wörtchen mitreden. Ist ja selten – aber ich
besitze auch ein medizinisches Handbuch, wo wir näheres
über dieses Thema nachschlagen können!"
"Das werden wir machen", sagte Werner, "doch schon der gesunde
Menschenverstand sagt dir in diesem Falle mehr als jedes Fachbuch:
Gerhard ist eindeutig ein Psychopath!"
In diesem Augenblick verfielen die drei Männer der
unheilvollen, unverständlichen und entsetzlichen Entwicklung
jedes in diesem "Wahnsinnsland" länger lebenden Menschen: Den
Mitmenschen auf jede eingebildete und tatsächlich vorhandene
Abnormität des Gefühls- oder Verstandeslebens
schärfstens zu beobachten und krasseste Schlüsse daraus
zu ziehen.
Eine Tatsache, der sich keine denkende und fühlende Person in
diesem Lande verschließen konnte, und gerade durch die
große Zahl insbesondere intellektueller Menschen, die diesem
Lande aus gerade diesem Grunde voll Abscheu den Rücken
kehrten, bewiesen wurde. Immer wieder grübelte unser junger
Held in der Folgezeit über jenes beängstigende
Phänomen dieses Kontinents nach, versuchte in unzähligen
Diskussionen im Kreise seiner Freunde die Entstehungsursachen
für eine solch ungesunde Geisteshaltung im australischen
Leben herauszuschälen, ohne jedoch zu einem wirklich
befriedigenden Ergebnis zu gelangen.
Selbstverständlich hatte er auch in Europa eigentümliche
oder exzentrische Existenzen angetroffen, aber entweder waren sie
von vorneherein als Schwachköpfe in ihrer Umgebung bekannt,
und keiner kümmerte sich weiter um sie. Oder besonders
ausgefallene Menschen wurden wegen ihrer Exzentrizität
belächelt. Aber niemand wäre im Ernst auf den Gedanken
verfallen, diese Exemplare kaltlächelnd als – verrückt
oder gar wahnsinnig zu betrachten. Man billigte ihnen einfach das
Recht auf Eigenart zu.
Es wäre traurig um diese Welt bestellt, würde man die
vielen liebenswerten Individuen, die kernigen Originale,
verschrobenen Alten oder genialen Künstler kaltblütig
und dumm mit wissenschaftlichen Etiketten versehen, die von der
Allgemeinheit mißverstanden und jegliche Menschenwürde
in engherzige, gelehrte Schablonen zu kleiden versuchen, die das
Ebenbild unseres Schöpfers auf die gleiche Ebene mit
fallweisen Mutationen oder unerwünschten Auswüchsen
einer Unkrautpflanze stellen... Welch Armutszeugnis für eine
Bevölkerung, die unendliche Vielfalt des Menschen und seiner
Seele auf einige wenige, genormte und langweilige Prototypen
festzulegen, denen allein es offensichtlich erlaubt werden soll,
den Ablauf des Geschehens zu kontrollieren und jede Entgleisung
oder Entartung eines Individuums mit den strengen, puritanischen
und beschränkten Rufen "He is mad!" zur allgemeinen
Uniformität zurückzurufen!
Glauben diese Australier, daß sie jemals große
Leistungen auf technischem oder kulturellem Gebiet hervorbringen
können, wenn nur halbtote Schafsköpfe, denen
Himbeerwasser anstatt rotes Blut durch die verkalkten Arterien
fließt, erlaubt wird, kümmerliche Lebenszeichen von
sich zu geben?
Was sollen diese Sittengesetze aus der Epoche der Königin
Victoria, diese lächerlichen, absurden Verbote und
Verordnungen, mit denen sich die Bevölkerung auf dieser Insel
gegenseitig das Leben sauer macht? Jawohl! Sich gegenseitig bis
zum Kotzen anwidern und belauern, ob sie beim Nachbarn nicht
vielleicht doch ein Anzeichen von Madness, von Verrücktheit
entdecken? Kein Wunder, wenn diese Krankheit bei sensibleren
Naturen auf Grund dieser zerstörerischen
Umgebungseinflüsse dann tatsächlich ausbricht!
" Die einzigen Menschen, die in diesem Lande im wahrsten Sinne des
Wortes 'leben', nicht nur in biologischer Hinsicht
dahinvegetieren, sind die 'Bodgies and Widgies', die Halbstarken
Australiens – die vögeln wenigstens anständig!"
So der wütende Ausspruch eines Einwanderers.
Und der Mann hatte recht, verdammt recht damit.
* * *
Samstag Abend warfen sich alle in den besten Anzug, rückten
die Krawatten zurecht und strichen mit den Fingern nochmals durch
die Haare. Dann holten sie mit Gerhard dessen Freundin Judith und
eine Bekannte von ihr ab, die ungeduldig wartend in einem roten
Kleid an einer Straßenecke, unter einer Laterne in einer
Allee stand. "Dorothy ist ein dummes, 19jähriges
Mädchen!" erwähnte Judith auf die neugierigen Fragen der
Burschen. Als die Kleine einstieg, ohne die hinten sitzenden
Burschen auch nur eines Blickes zu würdigen, merkten sie
bald, daß sie eine billige Ausgabe vor sich hatten. Zuerst
nahmen sie noch an, sie sei nur scheu, aber bald erkannten sie,
daß wirklich nicht viel los war mit ihr. Trotz Torten und
Bier hob sich die Stimmung in Gerhards Luxusappartement kaum
merklich. Judith erkundigte sich ungeniert, was denn heute in sie
gefahren sei, gestern noch hätten sie alle wesentlich
fröhlicher aus der Wäsche geguckt. Die drei Burschen
schwiegen betreten. Sollten sie ihr sagen, daß sie über
Gerhards Nichteinhalten der Versprechungen verstimmt waren?
Daß der gestrige Tag völlig nutzlos verstrichen war,
was die Arbeitssuche anbetraf? Im Grunde waren sie die 200 Meilen
aus den Bergen heruntergekommen, um die Fühler wegen eines
Jobs auszustrecken.
Willi meinte, nun eben sei der Augenblick gekommen, den aus der
Zeitung aufgeschnappten Ausdruck Cry-Baby anzubringen, was ja
seiner Meinung nach nur Busenausschnitt bedeuten konnte. "Hallo
Judith, du hast heute aber einen tief ausgeschnittenen Cry-Baby!"
rief er ihr herausfordernd zu und wartete gespannt auf ihre
Reaktion. Sie starrte ihn nur verständnislos an.
"Tiefausgeschnittenen Cry-Baby ??" wiederholte sie langsam
mehrmals. Der Österreicher erklärte ihr, wie er zu
diesem Slangausdruck gekommen war. Hellauflachend erklärte
sie ihm dann prustend, daß damit – der Schlagersänger
Johnny Ray gemeint sei, da er seine Hits meist unter schmelzend
rührseligem Weinen vortrug. Der Bann der unguten
Stimmungsathmosphäre war damit gebrochen, und als Gerhard
nach einiger Zeit wieder auftauchte, drängten die Girls
solange, bis sich die Burschen entschlossen, mit ihnen ein
Nachtlokal aufzusuchen. Ein zweifelhaftes Vergnügen wie ihnen
schien, denn die Pfunde schwammen gleich so weg.
Die Musik wurde als überraschend gut empfunden. Die Kapelle
setzte sich aus Osteuropäern zusammen, wie sie aus der
Physionomie der Musiker schließen konnten, da sie
unmittelbar neben dem Klavier Platz gefunden hatten. Das wenige
Publikum gehörte anscheinend den besten Gesellschaftschichten
an. Werner forderte Dorothy zum Tanzen auf. Am Parkett fiel ein
Tanzpaar besonders auf: Die Dame trug ein dunkles,
weitausgeschnittenes Kostüm, das in der Kniegegend besonders
eng geschnitten war. Die ruckenden und zuckenden Bewegungen
schienen aus der Epoche zu stammen, in der die Filme laufen
lernten. Völlig fasziniert verfolgte Willi jede Drehung des
eleganten Weibes mit dem Bubikopf-Schnitt, der vollkommen stilecht
zur Charleston – Impression paßte. Judith erkundigte sich
bei ihm erheitert, was ihn denn so an der Tänzerin
fasziniere? Er erzählte ihr von seinem Charleston-Traum, und
sie stimmte begeistert zu. Vollkommen glücklich sank sie nach
einem Tänzchen mit Werner wieder neben ihm in den Sessel. Da
Willi bedauernd erklärt hatte, er sei leider mit zwei linken
Beinen auf die Welt gekommen, hatte Werner widerwillig mit ihr
einen Foxtrott getanzt.
"Es war wunderbar!" erklärte sie mit strahlenden Augen. Schon
lange habe sie keiner Unterhaltung mehr beigewohnt. Insgeheim
fragte sich Willi, ob Gerhard niemals auf den Gedanken gekommen
war, Judith mal auszuführen. Gerhard fehlte in ihrer Mitte,
nachdem er Kopfschmerzen angemeldet hatte. "Flucht in die
Krankheit!" hatte Werner dem Willi zugeflüstert. Der dritte
in ihrem Bunde, Hugo, hockte die ganze Zeit wie ein
Ölgötze in der Ecke und verzog sein Gesicht in
höchst bedauernswerte Falten. Er kam sich fehl am Platze vor,
zumal sein Englisch noch immer mehr als dürftig war. Dorothy
und Werner nahmen indessen immer engeren Kontakt miteinander auf.
Sie tanzten so eng aneinandergepreßt, daß ein Blatt
Papier zwischen ihren Körpern kaum zu Boden gefallen
wäre. Einer ließ eine diesbezügliche Bemerkung
fallen, worauf Dorothy erstaunt erwiderte: "Das haben wir so in
der Tanzschule gelernt!" Sie begriff offenbar den versteckten Sinn
dieser Anspielung nicht, wohl aber Judith, die ein Lächeln
kaum verbeißen mochte.
Beim Verlassen des Lokales half Willi der Freundin Gerhards
natürlich in den Mantel, was diese mit einem charmanten
"Danke schön" auf Deutsch quittierte. " Leider kann ich nicht
mehr auf Deutsch sagen", fügte sie entschuldigend hinzu. In
dem kleinen Viersitzer zwängte er sich neben sie.
Gerhard steuerte natürlich den Wagen. Am Beifahrersitz
kauerten Judith und Willi, im Fond saß Dorothy in der Mitte,
flankiert von Werner und Hugo. Langsam rückte Judith mit
ihrem Schenkel Willi auf dem Leib, der naiv genug war, um
anzunehmen, sie sitze nur unbequem. Er drückte sich noch
enger an die Fahrertür und schielte zu Gerhard hinüber,
der unbeweglichen Anlitzes auf die Fahrbahn starrte. Merkte er
etwas? Judith nahm ihren Oberschenkel wieder herunter und hauchte:
"Entschuldige bitte." Da erst begriff er, woran er bei ihr wahr.
Er getraute sich aber beileibe nicht, die Situation so
auszunützen, wie er dazu in der Lage gewesen wäre.
Offensichtlich machte Werner bedeutende Fortschritte, denn
unaufhörlich stießen Knie gegen die Rückenlehne.
Willi äugte vorsichtig und kurz nach hinten, konnte aber
außer einigen schemenhaften Umrissen nichts erkennen. Dann
wurden die Stöße immer heftiger, und zuweilen
übertönte ein unterdrücktes Stöhnen aus dem
Hintergrund die Fahrgeräusche, bis alles ein abruptes Ende
fand.
Bald darauf erreichten sie die City. Hugo und Willi drängten
ins Freie und wollten sich von ihren neuen Bekannten
verabschieden. Im Scheine der Straßenbeleuchtung sahen sie
Dorothy schweißüberströmt und vollkommen
aufgelöst an Werners Halse hängen. Kettchen und
Armreifen abgestreift, heruntergerissen, schimmerten am
Wagenboden. Nachdem sie Werner buchstäblich aus dem Auto
gezerrt hatten, jagte Gerhard mit kreischenden Reifen davon.
"Sag Werner, hast du sie...?" brach einer das verlegene Schweigen.
"Ja natürlich, was glaubt ihr denn sonst? Was seht ihr denn
so doof drein? Es kam halt über mich... Ach so, ihr guckt so
komisch wegen des kleinen Wagens? Praxis, meine Lieben. Solche
Tricks haben wir beim Barras gelernt! Kommt schon noch, auch bei
dir..." tröstete er großmütig Willi, der ihn noch
immer zweifelnd ansah.
"Bin nur neugierig, ob der Verrückte wieder oben ist",
äußerte sich der, als sie mit dem Lift in den vierten
Stock der YMCA emporschwebten. "Scheinen ziemlich viele von der
Sorte frei im Lande herumzulaufen", äusserte sich Werner
trocken.
Seine Vermutung traf zu, der Bedauernswerte lag wieder im unteren
Bett. Wortlos drehte sich der Österreicher am Absatz um und
verständigte den Empfangschef. Als sie wieder hochkamen,
gähnte ihnen der Raum leer entgegen. Der junge Mann warf sich
langgestreckt hin und grübelte über den Fall nach.
Wer hatte dem armen Kerl so übel mitgespielt, daß er es
haßerfüllt ablehnte, mit einem Immigrant das Zimmer zu
teilen? Was machen sie falsch, die Einwanderer? Warum stoße
ich immer wieder auf kaum verhüllte Abneigung unter der
Bevölkerung? Sind wir nicht auch gekommen, um den Menschen
dieses Landes zu helfen? Wir unterstützen sie doch mit
unserer Arbeitskraft, tun gerne und gut, was uns zur Pflicht
erhoben wird. Wir zahlen pünktlich unsere Steuern.
Genügt das alles nicht? Was kann man uns Neu-Australiern
Böses vorwerfen?
* * *
Zum vereinbarten Zeitpunkt, Sonntag nachmittags, wurden die drei
Kollegen über die Lautsprecheranlage ausgerufen. Hans und
Eddi, die Getreuen, warteten auf sie im Vestibül. Willi bat
sie zuerst einen kleinen Umweg in die weitere Umgebung Melbourne's
zu machen, wo seine besten Freunde vom Schiff ansässig
geworden waren. Bald erreichten sie den kleinen Ort. Seit
Bonegilla hatten sie sich nicht mehr gesehen. Beim Tee
erzählten sie den Burschen von einigen Fremdenhassern im
Spital, die ihnen bei jeder Gelegenheit eins auszuwischen
versuchten.
"Sind primitive Leute, so kümmern wir uns nicht sehr darum.
Aber es tut halt doch ein wenig weh!" Das konnte man ihnen
allerdings an den eingefallenen Gesichtern ansehen. "Aber unsere
Chefs von der Spitalsleitung, Australier, haben sich als sehr
verständnisvoll erwiesen. So ist es zum Aushalten", meinte
Hubert resigniert. "Jeder fragt dich nach fünf Minuten
Bekanntschaft 'How do you like Australia?' Das ist mir immer
unangenehm. Von Gefallen ist keine Rede, dazu ist mir alles noch
viel zu fremd. Aber wer möchte schon die Wahrheit hören?
So antworte ich mit der sie befriedigenden, wenn auch
nichtssagenden Floskel 'Oh, it's a lovely country!', oder noch
kürzer 'Very well!' Dann freuen sich die Leutchen und du hast
deine Ruhe, vielleicht sogar einen Freund gewonnen..."
"Diese Frage hat mir eigenartigerweise bis jetzt noch niemand
gestellt", meinte Willi daraufhin. "Entweder sie können die
mögliche Antwort von vornherein aus meiner Miene ablesen,
oder sie sehen selbst ein, daß ein Arbeitslager im Busch
keineswegs Australien repräsentiert. Was ich zumindest
hoffe..."
* * *
"Verflucht, was war das eben?" rief Hans aus, hielt den Ford mit
einem Ruck an und schaltete die Rückscheinwerfer ein. Mit
einem harten Schlag hatte irgendetwas gegen die Stoßstange
gebumst. Eddi stieg aus, gleich darauf hörten sie ihn rufen:
"Kommt raus, wir haben ein Wallaby überfahren!" Da lag ein
Muttertier dieser kleinen Kangarooart mit leicht zuckenden
Muskelpartien in einer Blutlache. Und ganz nackt und bloß,
nicht viel größer als ein Maulwurf, einen Schritt
weiter das noch blinde Junge, das aus der Bauchfalte
herausgeschleudert worden war. "Schade um die Dinger – sehe sie
gerne", bemerkte Eddi. "Los, einsteigen, wir fahren weiter!"
Still lag das Lager vor ihnen. Der junge Österreicher holte
den Zimmerschlüssel aus der Tasche und schickte sich an, die
Türe aufzusperren, der flache, dosische Schlüssel
paßte jedoch nicht ins Schloß. Das war ja zu toll! Was
sollte er nun mitten in der Nacht anfangen? Das Fenster war
geschlossen. Jetzt, um diese Zeit Lärm schlagen? Er erinnerte
sich genau, in der YMCA einen Schlüssel abgegeben zu haben.
War das der Lager-Schlüssel gewesen? Unruhig fingerte er nach
seinem Taschenmesser. "Bleibt mir nichts übrig, als die
Türe aufzubrechen", dachte er. Halt! Da fühlte er etwas
zwischen den Fingerspitzen. Ein Schlüssel! Und er passte ins
Schloß. Es war der richtige, Gott sei Dank! Verstört
hielt er inne.
"Habe ich Halluzinationen? Ich war doch eben todsicher, den
Schlüssel Nr.443 beim Portier abgegeben zu haben". Und nun
hielt er ihn in der Hand, matt glänzend in der schwachen
Flurbeleuchtung. Was stimmte da nicht mit ihm? Er griff sich an
die Stirn, die sich plötzlich feucht anfühlte. Waren...,
waren das erste Anzeichen beginnenden...?
Da fiel ihm sein Zimmergenosse ein, der Irre. Der hatte seinen
Schlüssel hinterlassen, als er auf den Gang hinaus
geflüchtet war. Und er, Willi, steckte ihn ein.
Unbewußt, als Zweitschlüssel sozusagen. Das war die
Lösung!
Unendlich erleichtert zog er die grobe Decke bis zum Kinn hoch und
versank in wohliger Wärme.
* * *
Im dichtesten Schneefall wurden die Verankerungsblöcke
für die hochaufragende Betonmischanlage gegossen und die
Stahlseile gespannt, die das Bauwerk gegen die heranbrausenden
Winterstürme sichern sollten. Alles schimpfte über
Bluebird, der für diese Arbeit wahrlich einen
günstigeren Zeitpunkt hätte wählen können.
Tags darauf stieg die große Abschiedsfeier für das
Lager Howman's Gap. Unsere Freunde nahmen mit den übrigen
Österreichern im Lager an einem Tische gemeinsam Platz. Von
allen Seiten wurde Willi gebeten, einzelne Gruppen auf die Platte
zu bannen. Als man so richtig in Stimmung gekommen war, fingen
Vertreter der einzelnen Nationen an, Lieder in ihrer Muttersprache
zu singen. Zuerst gröhlten die Schotten los, Willi verstand
nicht ein Wort des "Gesanges". Dann tremolierte ein Italiener ein
Lied, selbstverständlich das bekannte "Mama". Und so ging es
reihum.
"Los, ihr Germans, singt uns auch etwas vor – ganz egal was! Wir
verstehen den Text ohnehin nicht", forderte man die Gruppe
ungestüm auf. "Einen flotten Marsch, eines der bloody
Soldatenlieder. Die haben wenigstens Schwung drinnen!"
"Nee, das machen wir nicht", erklärte Eddi, "aber wenn ihr
wollt, werden wir einen alten Hamburger Seemannssong vortragen."
So erhoben sich die beiden Kumpane einträchtig, stellten sich
eingehängt und breitbeinig vor den Tischen auf und legten
los. Es klang nicht mal so schlecht. Keiner der Sänger
reichte stimmlich an den Italiener heran, aber jeder bekam
frenetischen Beifall. Rasch holte Willi den Text von Waltzing
Mathilda aus seiner Bude und bat den jungen australischen
Ingenieur, der sich mit Bluebird ihnen zugesellt hatte, mit ihm
das einfache, wunderschöne Volkslied anzustimmen. Nicht ganz
vergeblich hatte ihnen Miss Green auf dem Einwandererschiff diese
Melodie eingebleut. Bald versammelte sich alles was Rang und Namen
hatte um die deutschsprechende Clique, immer wieder wollte man
ihre Lieder hören.
Eine tolle Schneeballschlacht bildete den Abschluß des
erfolgreichen Versuchs einer Völkerverständigung
kleinsten Ausmaßes, weit entfernt von den Brennpunkten der
Weltpolitik und der Selbstzerfleischung in Europa und Asien – in
einem abgeschiedenen Lager inmitten des australischen Busches.
Die Sterne glänzten majestätisch und ruhig auf diese
Waldlichtung herab, wo es einfachen Menschen gelungen war,
über lächerliche Gegensätzlichkeiten hinweg
für wenige Stunden näher zueinander zu finden.
Soweit die Angelegenheit Jack betraf, dehnte er die Feier privat
ein wenig aus, indem er weitersoff, als die Männer
längst zufrieden dahinschlummerten.
* * *
Der Umzug in das neue, stufenförmig angelegte Camp gestaltete
sich leicht dramatisch, da es zwischen dem vom Vorabend her noch
angeheiterten Jack und einem Australier zu erregten
Auseinandersetzungen kam, die mit Ohrfeigen endete. Das Lager
McKay Creek wurde als wesentlich unkomfortabler empfunden, vor
allem, weil man sich nun länger um das Essen anstellen
mußte. Willi Höger spürte, wie sein wachsender
Tätigkeitsdrang ihn täglich mehr dieser langweiligen
Arbeit hierorts entfremdete. Den endgültigen Entschluß,
bei der nächstbesten Gelegenheit abzuhauen, ließ ein
Vorfall heranreifen, der ihn ob der zugrundeliegenden Idiotie
dermaßen niederschmetterte, daß er die Geschehnisse um
ihn herum nur noch mit stillem Abscheu betrachten konnte.
Als Endeffekt einer Reihe unsinniger Bemühungen, eine
Seilwinde bis auf die Straße hinauf zu transportieren, lag
ein schrottreifes Aggregat vor ihnen. Der Raupenschlepper hatte
die 300 kg leichte Winde wie ein Spielzeug hinter sich
hergerissen, die Querverstrebungen waren verbogen, das
Gußmetall zerborsten. Wütend stürzte der
Österreicher zu seinem Freund Werner hin und schrie: "Jetzt
können mich die Idioten aber am...lecken, das mach' ich nicht
länger mit!"
"Take it easy", meinte der gelassen. "Wir bekommen unser Geld. Das
ist für mich das einzig Ausschlaggebende."
"Aber nicht für mich! Ich ärgere mich zu Tode dabei!"
Unbeherrscht schrie ihn Willi an.
Künftighin blödelten sie nur mehr resigniert über
die Ungeschicklichkeit der Bauleitung. "Ich schreibe jetzt an
einem dreibändigen Werk im Stil der Brüder Grimm",
teilte Werner eines Tages ernsthaft mit. "Die Titel lauten,
nebenbei, wie folgt:
' Von den Fünf, die auszogen das Fürchten zu
lernen',
'Männer hinter dem Mond', und als Meisterstück, er legte
eine Kunstpause ein, "Die Geschichte vom wandernden Kraftwerk und
andere Buschgeschichten.'"
Die anderen prusteten vor Lachen. Der letzte Titel spielte auf ein
schlecht fundiertes Gebäude an, das langsam aber sicher im
Begriff war, einen Berghang hinunter zu gleiten. "Well, die Herren
Ingenieure werden sich aber freuen, wenn du das
veröffentlichst!" meinte einer sarkastisch.
Hans und Eddi verließen dieser Tage endgültig ihre
Freunde, um wieder einmal nach Sydney zu fahren, sich die
Großstadtluft um die Nase wehen zu lassen. Zwei echte,
humorvolle Abenteurernaturen waren von ihnen gegangen. Ohne die
beiden wirkte die Arbeitspartie verlassen und einsam, die
fröhliche Stimmung von ehedem kam nicht mehr auf.
Habe momentan 80 Pfund auf der Bank, überlegte Willi
müde und ein wenig entmutigt. Wäre gerade die billigste
Rückfahrkarte nach Europa...
Ein kurzer Brief von Beryl riß ihn aus seiner Lethargie.
Falls es ihm möglich sei zu kommen, sie könnte sich am
kommenden Wochenende frei machen. Am Rande deutete sie an,
daß dies die erste und letzte Gelegenheit überhaupt
sein würde. "Und ob es mir möglich sein wird!" jubelte
er auf. "Und wenn der ganze Kram hier inzwischen vor die Hunde
geht – ich fahr zu ihr!"
* * *
Er klopfte an ihre Tür. "Riecht etwas muffig hier, ein altes
Haus", dachte er. Seine überwachen Sinne nahmen Signale
über Millionen Nervenzellen auf. Er bemerkte die feinen Risse
an der Wand und zählte gleichzeitig halb im
Unterbewußtsein seine Pulsfrequenz.
Sie ist ausgegangen. Eigentlich gut. Jetzt kann ich mich geistig
auf die nächsten Stunden einstellen. Vielleicht kehre ich
überhaupt nicht mehr hierher zurück, schlug eine andere
Stimme in ihm an. Du kennst ja deine Komplexe in Hinblick auf
Frauen. Wenn nun niemand öffnet, noch einmal getraust du dich
bestimmt nicht mehr her zu kommen...
Die Wohnungstüre ging auf. Sie stand in
Straßenkleidung, zum Ausgehen bereit, vor ihm.
Überrascht blickte sie den braungebrannten jungen Mann an,
der sie verlegen anlächelte. "Oh! Sie sind es, Mr. Hoeger",
sprudelte sie hervor, "und ich bin gerade dabei, Einkaufen zu
gehen – ich habe Sie so früh am Tag eigentlich nicht
erwartet! Aber ich freue mich natürlich sehr – treten Sie
bitte ein!"
Benommen von dem freundlichem Empfang stieg er tolpatschig
über die Schwelle. Sie wies auf einen Korbstuhl, der in der
Nähe des Sofas stand. "Bitte, machen Sie es sich bequem",
forderte sie ihn auf. "Ich werde Sie leider für einige
Minuten allein lassen müssen – I hope, you don't mind. Hier
sind einige Zeitschriften..." Sie rauschte aus der Wohnung, er war
allein. Er fühlte, wie das Blut in den Arterien pumpte und
stoßweise durch die Halsschlagader in den Kopf jagte. Ein
mühsam unterdrückter Erregungszustand befiel ihn, als er
sich im Raum umsah.
Einfach eingerichtet, wies er nur wenige Möbelstücke
auf. Ein Radiogerät, ein Plattenspieler unverkennbar
einheimischen Ursprungs, blickten ihn stumm in ihrer Leblosigkeit
an. Etwa vierzig Bücher standen wohlgeordnet auf einem
Wandregal. Sommerset Maugham, las er, ja und Scott G. Fitzgerald,
ihr Lieblingsschriftsteller. Unwillkürlich lächelte er:
wenn sie ahnte, wie genau er sich über dessen Werke
informiert hatte!
Sie wird staunen über meine Literaturkenntnisse, freute er
sich. Sein Blick glitt die Wände entlang. Zwei ausgezeichnete
Farbdrucke von Albert Namatjira, dem bedeutenden und
berühmtesten der Eingeborenen-Maler Zentralaustraliens,
hingen dort. Beim Melbournebesuch hatte er zufällig dieselben
Kopien in der Auslage einer Kunsthandlung bewundert. Preis etwa 70
Pfund, ein teurer Spaß. Auch Originale aus dem vorderen
Orient verschönerten das ansonsten beinahe spartanisch
anmutende Wohnzimmer. Viel Geld steckte in diesen
Kunstgegenständen. Um so unglaublicher wirkten die
primitiven, ausrangierten Haushaltsgegenstände und die
wenigen Möbelstücke, die ganz nach Trödler
aussahen. Er ließ sich wieder in den Korbstuhl
zurückfallen, neben dem ein kleines Kästchen mit einem
halberblindeten Spiegel stand. Neugierig betrachtete er die paar
Utensilien weiblicher Schönheitspflege, die darauf
ausgebreitet lagen. Und ein kleiner Stolz ergriff ihn, daß
sich dieses kultivierte Wesen, dem die wertvollen Bilder, die
Bücher und sonstigen Attribute einer geistig hochstehenden
Persönlichkeit gehörten, in wenigen Minuten hier
einfinden würde, um ihn, dem Hilfsarbeiter und bloody
Newaustralian, ein wenig an ihrem Charme teilhaben zu lassen.
Wen von allen meinen Bekannten, ob Einwanderer oder im Lande
Geborenen, wäre es noch gelungen, das Interesse dieser tollen
Frau zu wecken? Höchstens Werner, der hat den nötigen
Spruch weg, überlegte er vorurteilslos. Der junge Mann kam
sich in diesen Minuten ziemlich gut vor, die nächsten
Augenblicke jedoch ließen eine Glutwelle heißer
männlicher Kraft in ihm hochbrausen, die jeden Zweifel an
sich selbst erstickte.
Hinter dem Spiegel lugten Briefumschläge hervor, die er
wißbegierig nach kurzem Zögern hervorzog. Schon wollte
er das schmale Päckchen etwas schuldbewußt wieder
zurückschieben, da las er auf einem Briefkopf seinen
Namen:
"Lieber Willy, ich hoffe, diese Anrede gefällt Dir. Aber Mr.
Hoeger wäre zu förmlich für die Gefühle, die
mich bewegen, wenn ich an Dich denke. Ich muß Dir jedoch
mitteilen, was mir als Frau schwer fällt – daß ich sehr
enttäuscht war, als ich bei der Tanzveranstaltung in
Bonegilla vergeblich auf Dich gewartet habe...Nun habe ich
überraschend einen Brief von Dir erhalten, in dem Du mich um
ein Wiedersehen bittest. Soll ich Dir schreiben, wie sehr ich mich
darauf freue...?"
Eilig kamen trippelnde Schritte näher, rasch steckte er die
Umschläge an ihren Platz zurück. "Hello! Ich bin schon
wieder da!" rief sie fröhlich und schwenkte dabei das
Einkaufsnetz. "Nun koche ich uns zuerst einen Kaffee."
Während des Herumhantierens am Herd blickte sie manchmal
aufmerksam zu ihm herüber. "Sie haben sich sehr
verändert seit wir uns vor drei Monaten zuletzt gesehen
haben", meinte sie auf seinen fragenden Blick.
"Inwiefern?" gab er zurück. "Oh – Sie entschuldigen die
Bemerkung – kräftiger gebaut. Ich meine muskulöser!" Als
er darauf keine Antwort gab, fragte sie kurz: "Ist die Arbeit sehr
schwer?" "Daran gewöhnt man sich", meinte er leichthin. "Aber
es ist sehr einsam dort oben...", fügte er langsam hinzu.
Unverwandt blickte er auf ihren langen, weißen Hals.
"Vor allem bekommt man wochenlang kein weibliches Wesen zu
Gesicht...". Wie die Züge einer Schachpartie schwangen die
wohlüberlegten Worte zwischen ihnen hin und her. Anscheinend
völlig in Gedanken versunken, drehte sie den
Wohnungsschlüssel um und servierte ihm dann eine Tasse
Kaffee. Nachdenklich ließ sie sich auf das Sofa nieder und
nippte an ihrem Getränk. Stockend erkundigte er sich, warum
sie heute keinen Unterricht erteile. "Schluß gemacht damit",
gab sie zu Antwort. "Vor einigen Wochen habe ich mich um die
Stelle einer Empfangsdame bei einem britischen Weltkonzern in der
Türkei beworben. Nun bekam ich die Zusage. Nächste Woche
reise ich nach Melbourne ab. Es gefällt mir hierzulande
einfach nimmer."
Verwundert fragte er: "Aber Sie hatten doch eine interessante und
gutbezahlte Stelle?" Ihre plötzlichen Abreisepläne
ernüchterten ihn ein wenig. "Ja, das stimmt. Aber es war
beileibe keine Lebensstellung. Denn innerhalb weniger Jahre wird
die Einwanderungswelle allmählich ein Ende nehmen, vermute
ich jedenfalls..."
Zierlich umschlossen ihre langen Finger das Schälchen. Es
überraschte ihn, diese Feststellung aus ihrem Munde zu
hören.
"Warum glauben Sie das?" Gespannt lauschte er. "Die Beantwortung
dieser Frage wäre zu weitläufig, um im Moment
erörtert zu werden", gab sie in schleppendem Tonfall zur
Antwort. Ein kurzer, rascher und voller Blick in seine Augen, dann
schüttelte sie die roten Haare leicht um den Nacken, trat
hinter seinen Rücken und zog eine spanische Wand vor. "Ich
ziehe mir nur das Hauskleid an", bemerkte sie leichthin. "Gleich
bin ich fertig."
Er hörte das Rascheln der Kleidung hinter sich und dachte an
den Brief, den sie nicht abgesandt hatte. "Würden Sie mir
bitte den Schlafrock reichen? Da drüben liegt er!" Durch das
dumpfe Brausen seines Schädels drang ihre Stimme im
gewöhnlichen Plauderton in sein Bewußtsein. Benommen
erhob er sich. Undeutlich umfasste sein Blick ihre Gestalt, die,
kaum verhüllt durch das Negligè , ihm in lockender
Versuchung entgegen schwoll. Alle Zurückhaltung der letzten
Monate fiel mit einem Schlage von ihm ab. Er stieß die
trennende Wand beiseite und zerrte den widerstandslos weichen
Körper die wenigen Schritte bis zum Sofa.
* * *
Durch die Jalousien drang das Tageslicht nur gedämpft ein.
Ruhig lag er neben der Achtundzwanzigjährigen und sog an
einer Zigarette. Die Faltenansätze an ihrem Körper
fielen ihm auf. Die Finger mit den grell rotlackierten Nägeln
dünkten ihn nun spinnenhaft mager, übermäßig
stark an den Knöcheln. Rafferisch, gierig aussehende
Hände. Gierig, wie ihre Haltung in den vergangenen
vierundzwanzig Stunden, in jeder Hinsicht. Leichter Abscheu befiel
ihn.
Die vielen Stunden hatten sie nur im Bett verbracht, außer
Freitag Abend. Ihre sexuellen Forderungen waren genauso wenig
abgeklungen, wie ihr Bedarf an Geld – in der Bar oder im Kino,
oder wo immer sie sich sonst noch aufgehalten hatten.
Selbstverständlich hatte er, ohne mit der Wimper zu zucken,
ihre in charmant-nachlässigem Ton vorgetragenen Extravaganzen
bezahlt und erfüllt. Beryl tat dies sicherlich
unbewußt. Sie fand absolut nichts dabei, daß Willi
für sie einen Wochenlohn ausgab. Vermutlich war sie daran
gewöhnt, daß Männer ihr jeden Wunsch
erfüllten. Er glaubte sich nun völlig im Klaren
darüber zu sein, daß das, was er am Anfang für
Liebe gehalten hatte, weiter nichts war, als die Stillung seiner
vehementen Begierden. Er war ihr dafür dankbar, weiter
nichts. Und Beryl war viel zu reif und erfahren, um diese Episode
überzubewerten. Die Stunden verrannen, eine solche
Gelegenheit würde nicht so schnell wieder kommen. Er griff
nach Beryl und begann wiederum, ihren Sinnen zu schmeicheln.
* * *
Er wartete vor dem hellerleuchteten Schaufenster eines
Delikatessenladens, müde und niedergeschlagen von den vielen
Ereignissen der vergangenen Tage und Nächte. Der Murray
Valley Bus würde ihn zurück in sein Bettchen hoch oben
in den australischen Alpen bringen, er sehnte sich geradezu
danach. Der Abschied war betont einsilbig ausgefallen.
"Nächste Woche reist sie ab, und es ist endgültig
vorbei. Noch ehe es richtig begonnen hat", dachte er. "Ist ja auch
egal, wird sich schon wieder etwas finden."
Sein ehedem jungenhafter Idealismus und die Schwärmerei war
gebrochen, die Tatsachen des Lebens erschienen ihm plötzlich
in einer sehr nüchternen Fassung.
Gleichgültig betrachtete er die Nahrungsmittel im
Schaufenster. Importware aus bloody Germany. "Wie würde wohl
das Land aussehen", sinnierte er kurz, "wenn man nur für
einen Tag lang, für einen einzigen , kurzen Tag, die in den
letzten zehn Jahren eingewanderten Menschen aus den Fabriken,
Geschäften, Spitälern und Baustellen entfernen
würde, oder sich wegdenken könnte. Zusammen mit den
Erzeugnissen ihres Fleißes, oder den aus Europa
importierten. Was wohl die Aussies dazu sagen würden?
Vermutlich ginge ihnen dann ein Licht auf und sie sähen die
Leistungen ihrer kaum beachteten ausländischen Mitbürger
in einem anderen Licht."
Wo immer man hinblickte, stieß man auf die Spuren der
Einwanderer. War es nun im Buchladen, oder hier die – Salami vor
seinen Augen. Auf der anderen Straßenseite marschierte
gerade eine Musikkapelle auf. Verschrobene Weiblein und
Männlein in den schwarz-rot-goldenen Uniformen der Salvation
Army gruppierten sich um die Musikanten und stimmten
rührselige Lieder an. Die langen weißen Schärpen
hätten auch vortrefflich in die Biedermeierzeit gepasst. Der
Verein sammelte nun Geldspenden, schnell verdrückte er sich
in eine dunkle Hausecke. Sein Portemonnaie war leer. Gut,
daß er den Rückfahrschein der
Elektrizitätsgesellschaft in der Tasche hatte. Endlich
ratterte die verdammte Klapperkiste daher.
Inmitten einer Horde besoffener Bauarbeiter ging es über
regennasse, aufgeweichte Straßen dahin. Manchmal schlingerte
das Fahrzeug über zentimeterdickem Schlamm der von der
letzten Überschwemmung rührte, wie ein Dampfer
dahin.
Einer der angeheiterten Kerle, die in einem fort gröhlten und
rülpsten, stand nun auf und ging zum Wagenlenker nach vorne.
Mit lauter Stimme forderte er ihn auf, den Wagen unverzüglich
anzuhalten, da er dringend Pissen gehen müsse. Sofort fuhren
ihm die Kollegen über den Mund, er möge sich
gefälligst ruhig verhalten: "Shut up, eine Lady mit Kindern
befindet sich im Bus!" Also wirklich, soviel Feingefühl hatte
Willi den Männern nicht zugetraut. Nahmen Rücksicht auf
die Frauen und Kinder. Auch der größte Prolet besitzt
hierzulande einen gewissen Anstand, ein Benehmen, das man zuhause
in Europa oft vergeblich sucht, überlegte der
Österreicher.
Während der langen Fahrt schlotterte er in seiner dünnen
Kleidung vor Kälte. Knapp vor McKay Creek streikte der
Bedford-Bus. Innerhalb einer halben Stunde war hier heroben soviel
Schnee gefallen, daß der Wagen wenige hundert Meter vor dem
Ziel stecken blieb.
* * *
Der "Erfolg" bei Beryl verlieh dem jungen Mann einen ungeahnten
Auftrieb. Er entschloß sich, am kommenden Mittwoch die
Kündigung einzureichen, bevor er sich die Sache wieder
überlegte und diskutierte zufällig mit Paisano, dem
Italiener, diesen Punkt.
"Oh, das ist schlimm", meinte der entsetzt. "Du solltest nicht
kündigen bevor du nicht einen anderen Job sicher an der Hand
hast."
"Den bekomme ich von hieraus nie, da gehe ich früher drauf!"
entgegnete ihm der Österreicher düster.
Bei jedem von ihnen traten von Zeit zu Zeit ernste Anzeichen von
Buschkoller auf. Oft ertappten sich die Männer dabei, wie sie
minutenlang in eine geöffnete Schublade starrten und
krampfhaft nachdachten, was sie darin eigentlich suchten.
Plötzlich fehlten ihnen altvertraute Namen und Begriffe,
schienen einfach aus dem Gedächtnis radiert.
Fein säuberlich notiert, hing in Hugos Bude eine lange Rubrik
mit den voraussichtlichen Ersparnissen der kommenden fünfzig
Wochen, versehen mit Wochendatum und Auszahlungsbetrag.
"Mensch, ich bin erschüttert! Ist doch kompletter Stumpfsinn,
was du da produzierst!" hatte ihm Willi vorgehalten. "Was soll ich
denn sonst machen? Auf irgend eine Art muß ich mich ja
geistig beschäftigen", hatte ihm der Berliner zur Antwort
gegeben.
* * *
Freddy, ihr neuer Partieführer – Bluebird war versetzt worden
und von ihnen gegangen, ohne ein Wort über seine
Versprechungen zu verlieren – hatte es anscheinend auf die drei
abgesehen.
Eines Tages erteilte er ihnen eine Rüge. Sie redeten zuviel
und arbeiteten zu wenig, erklärte er . Er stellte einen
Hünen von Mann dar, der keine Widerrede duldete. Nie sah man
ihn ohne seinen Diggerhut, dessen Kinnriemen er wie bei einem
Stahlhelm festgezurrt hielt. Ein reichlich pittoresker
Anblick.
"Und deshalb, Gentlemen, kommandiere ich euch zum Betonschippen
ab!" fügte er hämisch grinsend hinzu. Willi entfuhr ein
"Du kannst uns am Arsch lecken, du blöder Kanake!" Ob er
etwas gesagt hätte, erkundigte sich Freddy darauf, Willi
jedoch zog den Schwanz ein und flüchtete in Ausreden. Werner
dagegen entgegnete dem neuen Partieführer, er möge
gefälligst überlegen, was er da von sich gäbe.
Seines Wissens hätten die paar Deutschen und
Österreicher keine Jota weniger geleistet wie die
übrigen Männer. Und daß sie sich dabei deutsch
unterhielten, könne er ihnen doch nicht im Ernst verbieten.
Völlig emotionslos und sachlich fügte er noch hinzu:
"Wenn ihr alle Einwanderer so behandelt, werden sie euch bald
wieder zum Teufel gehen."
"Das wollen wir ja gerade!!" stieß Freddy unter seinem
Diggerhut höhnisch hervor. "Das wollen wir ja gerade
erreichen!" knirschte er zwischen den Zähnen hervor und
streckte die geballten Fäuste vom Körper ab. Nur zwei
oder drei australische Arbeiter hielten sich in der Nähe auf.
Verlegen blickten sie zu Boden, so, als ob man sie bei einer
unerlaubten Handlung erwischt hätte.
" I see! So ist das also!" Das war alles, was Werner daraufhin
herausbrachte. Noch niemals hatte man ihnen das eben
Geäusserte so unverblümt ins Gesicht geschleudert, nein,
geschrien. Nun reagierte der Österreicher auf seine Weise. Er
nützte die Situation, um Freddy eins auszuwischen: "Dann
ersuche ich hiermit um meine Kündigung!" Feindselig starrte
er den Aussie an. Der schwankte einen Moment lang und meinte
schließlich, er wolle diesmal vom Betonschippen absehen.
Stur antwortete Willi, daß dies an seinem Entschluß
nichts ändere. Freddy sah ihn haßerfüllt an und
knurrte bloß: "Bloody German!" "
Ich bin aber Austrian, falls Sie gestatten!" grinste ihn der
betont freundlich an.
Der Österreicher und die beiden Deutschen träumten in
der folgenden Woche nur von einer Heimreise. Willis Stimmung
besserte sich kaum, als er von Erwin einen Brief aus Melbourne
erhielt, indem er unter anderem berichtete, daß er seit
vierzehn Tagen vergeblich um Arbeit herumlaufe. "Einerlei", dachte
er, "ich nehme die einmal ausgesprochene Kündigung nicht
zurück." Außerdem hatte ihm ein Bekannter aus der
Bonegilla-Zeit brieflich von einem
Produktions-Erweiterungsprogramm in der Radioindustrie berichtet.
"Warum solltest du dort nicht Arbeit finden, wenn sogar ungelernte
Kräfte eingestellt werden? Für den Notfall darfst du
meinen Wagen als Schlafgelegenheit benutzen."
"Das kann man wirklich ein großzügiges Angebot nennen.
Der hat gut Lachen mit seinen 26 Pfund pro Woche!" Deprimiert sah
er auf den Briefbogen und ließ wiedereinmal den Kopf
hängen.
In der letzten Woche seines Buschlebens, wie er meinte, baute er
mit Hugo und Werner eine Gleisweiche zusammen. Zwei Tage
schufteten sie unter der Aufsicht Freddys daran herum, bis die
Angelegenheit ihrer Meinung nach in Ordnung war. Der Aussie
schlenderte am Abend so beiläufig mit einer Zeichnung vorbei
und erklärte dann genüßlich, daß der
Weichen-Stellhebel auf die andere Seite des Schienenstranges
gehöre. Folglich müßten sie den Mechanismus wieder
auseinander nehmen und andersherum zusammenbauen. Die drei sahen
sich entgeistert an, dann stieß einer hervor:
"Ich habe es bis jetzt noch nicht herausgefunden – sind die Kerle
so blöd, oder machen sie absichtlich alles zweimal – damit
sie hier recht lange bauen dürfen!" Werner sah dem Australier
nach, wie er zu seinem Jeep marschierte. "Vielleicht wollen sie
uns auch bloß ein wenig auf die Schippe nehmen?" grinste
Willi höhnisch.
"Das dürfte ihnen aber verdammt ähnlich sehen", meinte
Hugo trocken. "Was sagt ihr übrigens zu dem da drüben?"
Er wies auf einen älteren Mann mit einer Pelzmütze auf
dem Haupt, der ihnen durch seine starre körperliche
Unbeweglichkeit aufgefallen war. Ihr neuer Vorarbeiter, wie es
hieß. Stundenlang lehnte der Mann am Türrahmen der
Bauhütte und guckte bewegungslos in die Luft. "Scheint auf
den Tod zu warten, wie alle hier. Die vergeuden sinnlos ihr
Leben." Verdrossen schüttelte er den Kopf. In diesem Falle
hatte der junge Mann etwas zu vorschnell geurteilt, wie sich noch
herausstellen sollte.
* * *
Das Schicksal hatte noch kein Einsehen mit ihm. Wegen einer
kleinen Unstimmigkeit in seinen Entlassungspapieren weigerte sich
der Kassier, ihm die Stehwoche auszubezahlen. Er wurde in das
Büro des Industrial Managers beordert, der ihm
eröffnete, daß seinem, vor längerer Zeit
schriftlich eingebrachten Gesuch um Verbesserung seiner Position,
erst gestern(!) nachgekommen worden sei. Falls er also noch die
Absicht habe, könne und dürfe er nächste Woche in
einer Reparaturwerkstätte in Walla als Hilfsmechaniker
anfangen.
"Wenn Sie gute Fähigkeiten entwickeln und vielleicht einige
Prüfungen ablegen, dürften Sie nicht allzulange
brauchen, um Mechaniker zu werden." Da ihn Willi zweifelnd ansah,
fügte er quasi als Entschuldigung hinzu: "Damit Sie nicht
glauben, wir hätten Ihr Ansuchen nicht zur Kenntnis
genommen."
Behäbig hingegossen hockte er hinter seinem Schreibtisch, mit
einem leichten Anflug von Hochmut auf der Stirne. Willi blickte
nun noch hochnäsiger auf den Dicken herunter, erbat sich eine
halbe Stunde Bedenkzeit und spazierte auf die Straße hinaus.
Unschlüssig stand er an der Ecke des Postamtes herum, als ein
junger Mann seines Alters einen Brief aufgab. Er erkannte einen
Landsmann und knüpfte ein Gespräch an, schilderte seine
Situation und befragte ihn direkt um einen Rat. "Geh' in die
Werkstätte, es kann dir wirklich nur nützen, ganz egal,
ob du in der Gegend bleiben willst oder nicht. Bei der
nächsten Stellenbewerbung kannst du immerhin deine neue
Qualifikation anführen. Das zieht meistens!" Ein günstig
gewogenes Geschick ließ Willi diesen Ratschlag annehmen,
denn Monate später bot sich ihm eine große berufliche
Chance – nicht zuletzt aufgrund des nun angebotenen Jobs.
"Good man!" meinte der Aussie und lächelte nachsichtig, als
ob er diesen Entschluß von vorneherein erwartet hätte.
Erleichtert über diese vorläufige berufliche
Entscheidung, ließ er ein dementsprechendes Telegramm nach
Adelaide ab und bestieg gleich einen Autobus nach Wangaratta, wo
der Eilzug nach Melbourne hielt.
Erschöpft lehnte er sich in die Polsterung, er fühlte
sich hundeübel nach der halbstündigen Talfahrt mit dem
Land-Rover. Es hatte ihn auf der Ladefläche von einer Ecke in
die andere geschleudert. Unter den Passagieren im Bus befanden
sich, außer Werner und einem blutjungem Engländer, auch
der maltesische Vorarbeiter, den sie wie gesagt, für
stumpfsinnig hielten. Der Alte saß neben dem
Österreicher, der dem Malteser von seiner Anstellung als
Hilfsmechaniker berichtete. "Das ist besser so", erläuterte
der, "in einer großen Stadt würdest du vollkommen
allein auf dich gestellt sein – du gehst unter den Millionen
Menschen einfach unter. Niemand, absolut niemand kümmert sich
um dich. Ich kenne das, bin selbst vor dreissig Jahren
eingewandert. Nun ist mein Sohn erwachsen, ein Australier durch
und durch, und angehender Flugzeugingenieur.
Aber ich verstehe natürlich, daß das Leben in dieser
Gegend mehr für meine Generation geeignet ist. Ich habe euch
junge Burschen heimlich betrachtet und beobachtet: Ihr kommt mir
bei der Dreckarbeit wie Rennpferde vor, die man als
Ackergäule einspannt. Schließlich werden die unruhig,
nervös und brechen dann einfach aus. Der angeschlagene Tritt
ist für euch zu langsam."
Mit seltsam stechendem Blick musterte ihn der Alte. Dem Burschen
fröstelte, er drehte sich weg und sah durch die hauchfein
beschlagenen Seitenfenster, ohne richtig zu erfassen, was draussen
schemenhaft vorbeizog. Seine Gedanken kreisten um die
Millionenstadt Melbourne, in seiner Phantasie glitten elegante
Frauen vorüber, sah er sich durch die Lichterkaskaden
abendlicher Straßen wandern. Überall stoßende und
drängende Menschen...
Und auf einmal sah er sich Pläne und Zeichnungen vor
Ingenieuren ausbreiten, die er erläuterte... Ein Schmunzeln
stahl sich über seine vordem so ernsten Züge:
Wunschträume angesichts der fatalen Gegenwart, nichts
sonst..
"Du bist ein glücklicher Mensch", hörte er den Alten
neben sich sagen. Sofort kehrte die Wirklichkeit in sein
Bewußtsein zurück: "Warum glauben Sie das?" fragte er
erstaunt. Der Malteser wies zur Scheibe hinaus. "Du bemerkst die
Bäume und Sträucher garnicht, die da draussen in rauhen
Mengen wachsen und seit einer Stunde an uns vorüberziehen. Du
bist momentan überhaupt nicht im Bus. Dein G e i s t
trägt dich weit fort aus dieser Einöde..."
Und nach einem kurzen Innehalten fuhr er fort: "Du hast den
meisten Menschen deiner Umgebung viel, ich möchte fast
behaupten, alles voraus. Ich meine deine Einbildungskraft, deine
Fantasie!"
Der Mann verstummte wieder und verfiel in sein übliches,
tranceförmiges Schweigen. Sein Anlitz verfärbte sich
gelblich und strahlte eine unheimliche innere Konzentration
aus.
Scheu betrachtete ihn der junge Mann von der Seite her. War er nur
ein guter Psychologe – oder konnte er Gedanken lesen? Sein Nachbar
rührte sich nocheinmal kurz, wie als Antwort auf Willis
Gehirnströme: "Du wirst es wahrscheinlich nicht glauben, aber
ich habe telepathische Fähigkeiten – durch langjähriges
Training erworben – bin Yoga-Anhänger – werde dir das bei
Gelegenheit mal explizieren..."
* * *
Der Zug donnerte durch die Gegend und hielt nun an einer kleinen
Station. Einige hübsche und fröhliche Girls steckten den
Kopf bei der Schiebetür herein und erkundigten sich bei den
einsam dahindämmernden Knaben, ob noch Sitzplätze frei
seien. Wie auf Kommando sprangen die drei auf die Beine, wiesen
mit eleganten Handbewegungen auf die leeren Polsterstühle und
riefen unisono aus: "Selbstverständlich, bitte!!" Zu Tode
erschrocken durch diesen überschwengliche Empfang,
verschwanden die Mädels und brachten sich fluchtartig in
"Sicherheit". Die Übereifrigen brüllten vor
Vergnügen hinter ihnen her.
* * *
Die Liebenden schritten aufeinander zu, hielten einen Augenblick
inne und fielen sich mit weit ausholenden Gebärden in die
Arme. Das lang erwartete Happy-End mit innig verschmelzendem
Kuß prangte in Großaufnahme, bis sich die Lippen der
Liebenden voneinander lösten, und die beiden Kinostars selig
vereint der sinkenden Abendsonne entgegen wanderten.
Tausend elektrische Kerzen flammten an schwülstigen
Kronleuchtern auf, die blauen Lichter der Himmelsimitation
oberhalb der gipsernen Engelsköpfe entlang des Saals
verblassten. Die Kinobesucher erhoben sich aus den dick
gepolsterten Klappsesseln und reihten sich in endlose Schlangen
ein, um in die teppichbelegten Foyers zu strömen, dort an
einer Zigarette zu ziehen oder der weiblichen Begleitung einen
Pappbecher Orange-Juice zu holen.
Die Verkäufer mit ihren Bauchladen brachen in langgezogene
Rufe aus: "Icecreme! Icecreme!"
Aus der Seitenloge neben der riesigen Projektionsfläche
tauchte im wechselndem Licht sämtlicher Spektralfarben eine
mächtige Wurlitzerorgel aus der Versenkung. Eine befrackte
Gestalt verneigte sich vor dem spärlichem Publikum im Saal
und intonierte auf den Tasten dieses elektronischen Monsters Oh
Josephine, Just Walking in the Rain und die übrigen Popular
Hits, die dröhnend aus zehn Lautsprechern orgelten.
Willi saß zusammengekauert auf seinem Stuhl und ließ
die Geräusche, Töne und Geruchsnuancen dieses
Kino-Palastes auf sich wirken.
Was für ein imposant inszenierter Zirkus. Welch
hochgekitzelter Nervenreiz, zusammengesetzt aus
ausgeklügelten optischen Systemen, genial aufgebauten
Stromkreisen, wunderbar zugeschnittenen Abendroben, und, nicht zu
vergessen, Eiscreme, dem Gesundheits-Nahrungsmittel der
Nation.
Und Jack der Irländer besaß nicht einmal eine
anständige Sonntagshose, und als Stimulans genügte ihm
ein entsprechendes Quantum Bier. Die Welt war schon ein
Narrenhaus. Wieviele dieser gestikulierenden, zivilisierten
Besucher mochte etwas von den heimlichen Exzessen ahnen, die er,
Willi Höger, mehrmals pro Woche durch die dünnen
Preßpappwände mitanzuhören gezwungen war?
Komm, hatte er die Stimme beschwörend flüstern
gehört. Sträub' dich nicht länger! Tun wir's, oder
ich werde noch verrückt hier!
Nein, dieses fröhlich-arrogant dreinsehende Publikum
drückte sicherlich andere Sorgen, wenn überhaupt
welche.
"Hallo, Mr. Hoeger!"
Ihn hatte man gerufen? Ihn? Die Sitzreihen gähnten vor Leere,
aber drüben beim Gang hielt ein Mann eine blonde Frau mit
einem Cape am Arm.
"Unglaublich! Das ist ja Kurti Meier, mein Sitznachbar von der
Flamingo!!" Freudig bewegt eilte Willi auf das Ehepaar zu und
begrüßte es überschwenglich.
"Also unmöglich, unmöglich!" brachte der Stiernackige
immer wieder heraus. Diese zufällige Begegnung nach sovielen
Monaten ging über aller ihr Begriffsvermögen. Meier
überreichte ihm seine Adresse: "Besuche uns, sobald du in
Melbourne wohnst!"
* * *
Nach endlosem Suchen gelang es ihm, Erwin in einem Vorort von
Melbourne zu finden. Er hatte kilometerlang Slumviertel
durchquert, wo der Wind Papierfetzen über die Straßen
trieb, die durch niedrige Häuser mit Flachdächern
begrenzt waren. Schlecht oder nachlässig verputzt, boten
diese Gebäude Restaurants verschiedener Balkanstaaten
Unterschlupf oder wurden von kinderreichen
südeuropäischen Familien bewohnt. Rassige, leicht
verschlampt aussehende Mädchen standen unschlüssig vor
den Klublokalen ihrer Boyfriends und versuchten durch die
grauweiß übertünchten Fensterscheiben ins Innere
zu blicken. Die kräftigen jungen Männer, die dort
anscheinend stundenlang beim Plärren der Musikbox
tabakqualmend herumhingen, hätten ihm in den Nachtstunden
kalte Schauer über den Rücken gejagt. So war er
über die Nettigkeit und Sauberkeit des Stadtviertels, in dem
Erwin wohnte, wirklich froh. Vor zwei Wochen erst aus Tasmanien
angereist, teilte Erwin das Zimmer mit einem Burschen des gleichen
Transports. Wie immer befand er sich in bester Laune, ein wenig
übermütig und ohne einen Gedanken an die Zukunft zu
verschwenden. Ein Kofferradio stellte sein ganzes Hab und Gut dar,
alles andere war beim Übersiedeln draufgegangen.
"Was meinst du, Willi, wie es in der Wildnis ausgesehen hat! Unser
Arbeitgeber wies uns bei der Ankunft einen vollkommen verdreckten
Bretterverschlag als Behausung zu. Auf den Bettgestellen lagen
Leintücher, die ich normalerweise bestenfalls als Schuhfetzen
verwendet hätte. Vielleicht war der Gentleman der Meinung,
Österreich liegt irgendwo bei den Hottentotten in
Zentralafrika! Jedenfalls war das Ganze eine schöne
Zumutung.
Für Arbeit und Quartier wird gesorgt! Diese Schweine in
Bonegilla!" Nachdem er sich den verflossenen Ärger von der
Seele räsoniert hatte, packte er über die Gegenwart aus:
"Ja, zu Zeit arbeite ich bei einem Goldschmied, und Konrad ist in
seinem Beruf gelandet und schupft wieder Ziegel."
Nach einigen Flaschen Bier im Kreise von Erwins Quartiergebern war
es dann so weit, daß man Willi nicht mehr weggehen lassen
wollte. Wie im Fluge verging der Nachmittag. Als er einmal auf die
Uhr sah, bemerkte er zu seinem Entsetzen, daß sein Zug die
Spencer Street Station am anderen Ende der Stadt in zwanzig
Minuten verlassen würde. Hastig stürmte er davon und
verbrachte bange Minuten bis zum Eintreffen der Straßenbahn.
Er überlegte inzwischen, was alles passieren würde,
sollte er den "Spirit of Progress" nicht erreichen.
Mit etwas Glück kann ich dann den Job in der Werkstätte
am Dienstag antreten. Ein schöner Start! Vielleicht feuert
man mich ohnehin sofort?
Zappelnd vor Ungeduld, erkundigte er sich beim Schaffner, wann die
Tram den Bahnhof-Nord erreichen würde. "Fünf nach
fünf", erklärte der. Mindestens um fünf Minuten zu
spät! Halt! Es gab noch eine Chance! Er löst das Ticket
bis zum Ziel und hielt verzweifelt Ausschau nach einem Taxi.
Hier an der Ecke! Willi sprang von der Tram ab und keuchte auf das
parkende Auto zu: "Spencer Street Station, quickly!" Der
Sekundenzeiger seiner Uhr schien sich rasend schnell zu drehen.
Eine Minute vor Fünf. Er hastete die Waggons entlang. Drinnen
sah er die Passagiere dichtgepackt wie Sardinen in den
Laufgängen stehen. Durch die großen Scheiben winkten
sie den Angehörigen am Bahnsteig Lebewohl. Suchend blickte er
im Vorbeirennen hinein.
"Mr. Hoeger! Hello, Mr. Hoeger!!!" Der junge Mann drehte sich im
Laufen um: Der Malteser hing halb aus einer Waggontüre und
winkte mit dem Arm. "Ich habe für dich einen Platz
reserviert! Komm! Schnell!!" rief er ihm zu. Aufatmend sank der
Österreicher in den einzigen freien Sitz. Geschafft! Trotzdem
fühlte sich etwas unbehaglich in seiner Haut. "Hast du
geahnt, daß ich so knapp vor der Abfahrt eintreffen werde?"
fragte er seinen Vorarbeiter.
"Ich habe es nicht geahnt, ich habe es g e w u ß t", gab der
zur Antwort. "Du kommst geradewegs aus dem Suburb E., stimmt das?"
Willi starrte ihn kopfschüttelnd an: "Ja, aber wie...?" Der
Alte sprach nun vollkommen ernsthaft: "Ich habe dir damit, so
meine ich, ein Exempel meiner telepathischen Fähigkeiten
statuiert. Oder, was meinst du, wie ich das sonst herausbekommmen
habe?"
Behaglich lehnte sich Willi nun in die weiche Polsterung
zurück und freute sich über die übersinnlichen
Ausritte des Maltesers, denen er zumindest den Sitzplatz
verdankte. Die Leute im Abteil kamen einander mit jedem
vorbeifliegenden Kilometer näher.
Der Malteser verwickelte drei junge Pfadfinder in ein
Gespräch. "Wetten," sagte er eben, "daß ich eure Namen
und Vornamen errate? Schreibt sie auf einen Zettel, und ich werde
sie gleichfalls zu Papier bringen!" Gesagt, getan. Die Jungs, die
den Vorschlag ein wenig spöttisch aufgenommen hatten, sahen
einander bestürzt an: Alles stimmte, buchstabengenau! Der
Malteser blickte Willi nur stumm an, glaubst mir nun, lautete
seine unausgesprochene Frage. Der vermied, nachdenklich gegen die
Kopfstütze gelehnt, jede Diskussion.
Wenn das Sprichwort nicht so abgeschmackt wäre, würde
ich einfach sagen: 'Es gibt eben mehr Dinge zwischen Himmel und
Erde, als es sich unsere Schulweisheit träumen
läßt'. Aber ich möchte den Gedankengang weiter
führen. Es gibt, ja es muß eine Macht existieren, die
unser Schicksal mit unsichtbarer Hand führt. Und wir
können versuchen und tun was wir wollen, wir entrinnen dem
Weg nicht, der uns in groben Zügen von allen Anfang an mit
auf dem Lebensweg gegeben wird.
Warum trete ich nicht jetzt schon das Pflaster in Adelaide, wie
ich es mir noch vor wenigen Tagen vorgenommen habe?
Warum habe ich mich nochmals beschwatzen lassen, in den Busch
zurückzukehren?
Viele solcher Fragen drängten sich ihm auf, die Antwort
darauf sollte ihm die nahe Zukunft bringen. Bald, bald würde
er alles wissen...
Er verfiel in eine Art Halbschlaf. Schemenhaft tauchten die
Umrisse des Armbandes auf, das er in Port Said gekauft hatte, dann
das großartige Panorama einer Stadt mit vielen Buchten,
deren eine von einer mächtigen Brücke überspannt
wurde. Und geisterhaft deutlich sah er vor seinem inneren Auge
einen Mädchenkopf, dessen Anblick in ihm ein
schmerzhaft-sehnsüchtiges Gefühl hervorrief, und sein
Herz erschauern ließ.
Ein Rütteln an seiner Schulter riß ihn aus seinen
Wachträumen. "Wangaratta! Wir sind angekommen! Aussteigen!"
Er strich sich flüchtig über seine Stirn, ergriff das
Gepäck und kletterte in die Nacht hinaus.
* * *
In der Werkstätte bot man ihm genügend Gelegenheit beim
Fegen die exakte Handhabung eines Besens zu studieren. Nach
tagelangem Einexerzieren benötigte er für die 1500
Quadratmeter der Halle knapp eine Stunde. Ganz sicher war den
Aussies der Wiener Ausspruch "Einer muß der Novak sein..."
völlig unbekannt, aber bestimmt überlegten sie
solcherart: Ein Migrant muß den Schani spielen. Daß er
nicht mehr wird, dafür sorgen wir schon...
Immerhin stellte die Tätigkeit, verglichen mit dem sinnlosen
Schneeschaufeln der letzten Woche, einen bedeutenden Fortschritt
dar. So durfte er am dritten Tag bereits als Beleuchter für
die verschiedenen Mechaniker agieren, und am Nachmittag bastelte
er an den Bremsen eines schweren Lastwagens herum. Zusammen mit
Nick, einem aufgeweckten jungen Australier, der ständig einen
Zigarettenstummel im Mundwinkel trug.
" Wenn du dir das Rauchen noch nicht angewöhnt hast – wie ich
sehe, rauchst du bei der Arbeit nie – well boy, dann wirst du es
dir bei diesem Verein angewöhnen", meinte er sachlich zu
Willi.
Der verheiratete Zweiundzwanzigjährige bewohnte drunten im
Tal ein Heim für Werksangehörige. Mit seinen Landsleuten
in der Bude stand er nicht auf besonders gutem Fuß. Was
daher rühren mochte, daß er zufolge seiner
Tüchtigkeit, raschen Auffassungsgabe und einem gewissen
Schuß Zynismus, bei den langweiligeren Kollegen nicht
besonders beliebt war. Er interessierte sich, im Gegensatz zu
Willis sonstigen einheimischen Kollegen, auch sehr für das
Leben außerhalb seiner Insel. Häufig ließ er sich
von den Pisten und Seilbahnen in Austria berichten, da er ein
begeisterter Skiläufer war. Der Österreicher berichtete
in sachlichem Ton und vermied jede Art von Angabe oder Prahlerei.
Nick hingegen erzählte mit leichter Ironie von verschiedenen
unguten Zuständen in Australien, die er als vermeidbar und
ungerecht empfand. Nebenbei erwähnte er, daß seine Frau
vor zwei Jahren von einem europäischen Arzt, hier als
Hilfsarzt tätig, mit Injektionen gegen ihr Gallenleiden
erfolgreich behandelt worden sei. Verächtlich fügte er
hinzu: "Jetzt konnte man in der Zeitung lesen, daß ein
hiesiger Arzt erstmalig diese Kur in diesem Lande
durchgeführt hat. Entweder wissen die bei der Tageszeitung
nicht besser Bescheid, oder sie negieren bewußt die
Leistungen anderer Nationen."
Verblüfft lauschte der Österreicher diesen
Ausführungen. Sehr wenige Menschen seiner Umgebung sahen den
Facts of Life derart trocken ins Auge.
Insgeheim hatte er gehofft, in der Werkstätte interessantere
Aufgaben vorzufinden. Tatsächlich waren von den zahlreichen
Mechanikern, die an Kraftwagen, Caterpillars, Bohrgeräten vom
Tunnelbau und anderen, kleineren Geräten herumwerkten,
höchstens die Hälfte ausgelastet. Deshalb dehnte man die
Aufwärmrunde am Morgen häufig auf eine volle Stunde aus.
Die Leute placierten sich um die glühenden Herdplatten,
rieben sich die Hände und rissen faule Witze. Hier fand Willi
das einzige Gerät im ganzen Werksgelände in Aktion, das
offensichtlich mit einiger Überlegung erdacht und angewendet
wurde: Aus einer Konservendose, gefüllt mit verbrauchtem
Schmieröl, lief ein dünner Strahl auf die Holzscheite im
Ofen, um dort qualmend zu verbrennen. Wenn Willi bei Sepp
über den unkoodinierten Einsatz von Mensch und Material auch
nur ein Wort fallen ließ, hatte er den Richtigen
gefunden.
"Dö Hinschädel, dö narrischen!" pflegte der Bayer
gewöhnlich loszulegen. "Wann wir daham so orbatn tatn,
hätt der Kriag kane zwölf Monat dauert – wos
natürli besser gwesn war!" Er war völlig dem Buschkoller
verfallen. Dauernd ärgerte er sich über den Boß,
Frogman genannt. Aufgebläht wie der war, hatte man ihm
insgeheim diesen Spitznamen verliehen. Oberhalb seines vom Trinken
aufgequollenen Leibes, in der Brain-Box, war er auffallend schwach
beisammen. Der Bayer fuhr fort: "Ich habe mir angewöhnt,
diesen Leuten nichts mehr zu erklären oder zu sagen. Wenn sie
irgendetwas nicht begreifen, stehst d u noch als Narr oder Idiot
da... Merk dir eines, Willi: Erzähle nie etwas unaufgefordert
über Europa, auch wenn du dies in der besten Absicht tust.
Leicht werden deine Bemerkungen mißverstanden, und die armen
Aussies bekommen Minderwertigkeitskomplexe. Lob das Land und seine
Einrichtungen – und wenn's der größte Dreck ist. Die
Leute haben kein Interesse an der Wahrheit oder an Vergleichen
zwischen ihrem Land und anderen. Die leben so, wie sie es sich
wünschen – allein und sorgenfrei wie die Fidschi-Insulaner.
Ungeachtet der brodelnden Völkermassen, ein paar tausend
Kilometer weiter im Norden. Weißt du wie man das nennt,
dieses Paradies, von dem sie unentwegt träumen? Und das doch
mit einem Donnerschlag verschwinden kann?
Paradise of Fools! Das N a r r e n p a r a d i e s !"
Äusserste Bitterkeit und Vergrämtheit sprach aus seinen
Worten und Gesichtszügen. "Aber bitte, laß' dich nicht
von mir beeinflussen. Halte dich an Gregor, dem gefällt es
hier ausgezeichnet."
Gregor stammte aus Dresden und führte die Elektro-Reparaturen
durch, war also ein Spezialist und erfreute sich besonderer
Wertschätzung. Nicht nur, weil er ein fröhlicher
Nichtsnutz war, der kein Mädchenherz verschmähte,
sondern er machte auch jede Sauferei mit. Australien gefiel ihm so
gut, daß er nun seinen Bruder nachkommen ließ. Und
dann war er noch Besitzer eines ausrangierten Buick, den er in
unzähligen Freizeitstunden soweit zusammmengeflickt hatte,
daß er eine Ausfahrt wagen konnte. Das einzige, was seine
gute Laune manchmal störte, war die Tatsache, daß er,
genauso wie Sepp, bis dato weder seine Facharbeiterzeugnisse
zurückerhalten hatte, noch irgendein australisches
Äquivalent dafür.
"Scheinbar will man uns so zwingen, zwei Jahre auf diesem Posten
auszuharren. Zuviele würden ansonsten gleich in die
Stadtregionen ziehen. Jedenfalls gefällt mir die Methode
nicht sonderlich, und wenn ich meine Papiere nicht bald erhalte,
schlage ich Krach!" meinte Georg einmal abschließend zu dem
Punkt, und sein vom Trinken gerötetes Gesicht lief noch mehr
an.
Die ganze Gesellschaft in der Werkstätte durfte man ruhig als
buntgemischt bezeichnen. Am auffälligsten trat ein Schotte in
Erscheinung, klein von Statur, immer tadellos frisiert und mit
einer randlosen Brille versehen, die ihm ein intellektuelles
Gepräge gab – was zu seiner Stelle als Hilfsmechaniker nicht
recht paßte. Gleichwohl pfiff und trällerte er den
ganzen Tag lang und manchmal bekam er regelrechte
Temperamentsausbrüche. Dann sprang er behende auf eine
Werkbank und fing kunstgerecht zu steppen an. Rasend, ausdauernd
und rhythmisch, daß die Kollegen Hämmer und
Schraubenzieher liegen ließen und dem Kerlchen entgeistert
zusahen. Dem weitläufigem Bild eines Schotten entsprach mehr
Mac, der Irländer. Zuhause, auf der freiheitsliebenden Insel,
wartete ein Mädchen auf ihn, das ihm jede Woche zwei lange
Briefe sandte. Strahlend vor Glück sah man dann den
wildgelockten Burschen mit der stämmigen Figur eines Bauern
jedesmal den Umschlag aufreißen, um das Schreiben dankbar
mit den Lippen zu berühren. Abgesehen von einem
gelegentlichen Fluch, schuftete er stumm und wie ein Wilder
drauflos. Arbeiten, arbeiten! Sparen, sparen! Heimkehren,
heimkehren! Das schienen die einzigen Gedanken zu sein, die den
Irländer bewegten.
Da war noch ein verheiratete Brite, die beiden australischen
Lehrbuben und Morry, ein zerlumptes Individuum, das nur ungern die
Anordnungen des Chefs ausführte und danach gewöhnlich
stundenlang hinterdrein maulte, so, als ob er ernstlich böse
wäre. Keiner nahm ihn ernst, was ihm nur recht war. Bald
nannte man ihn nur mehr Our Swaggie, unseren Vagabunden. Der Kerl
legte eine ziemliche Gerissenheit an den zu Tag und trieb nebenbei
einen schwunghaften Handel mit Elektrogeräten in der kleinen
Ansiedlung wo seine Frau wohnte.
Der australische Materialverwalter erwies sich als ein angenehmer
und ruhiger Mitmensch. Da Willi erfahren hatte, daß er im
Krieg irgendwo in der Nähe seiner Heimatstadt beim Bau von
Luftschutzstollen eingesetzt worden war, lieh er ihm sein
reichbebildertes Österreichbuch, in der stillen Hoffnung, die
Familie würde ihn vielleicht zu sich einladen. Aber nichts
dergleichen geschah. Ein Arbeitskollege erzählte ihm von
einer riesigen Narbe am Rücken dieses Mannes, die aus der
Kriegszeit herrührte. Er wisse allerdings nicht, wie die
Verwundung zustandegekommen sei.
Ein klein wenig war er von der Haltung des Australiers
enttäuscht, schließlich hätte auch er
Ressentiments gegen die Aussies hegen können. Zu tief hatte
sich in seine Erinnerung eingegraben, daß es ein
australischer Pilot gewesen war, der, von zwei
Wehrmachtsangehörigen flankiert und gestützt, mit
hinkendem, blutigem Bein auf der Straße vor seinem
Elternhaus vorbeigehumpelt war: nach einem Terrorangriff auf seine
Heimatstadt, bei dem Angehörige von ihm ihr Leben unter den
zusammenstürzenden Trümmern lassen mußten. Die
Geschehnisse lagen weit zurück, die Schuldigen waren nicht
belangbar. Sollte er sich deswegen heute noch von
Unmutsgefühlen leiten lassen?
Die elektrische Raumheizung in ihren Unterkünften reichte
nicht mehr aus zu dieser Jahreszeit. Seit Tagen regnete es
ununterbrochen. Der Postbus war ausgeblieben, da er die
überfluteten Straßen von der Bahnlinie bis Mt. Beauty
nicht überqueren konnte. Zum ersten Male fühlte sich
Willi Höger wirklich einsam, da seine Freunde Hugo und Werner
zwischenzeitlich ins Tal hinunter versetzt worden waren.
Mißmutig blätterte er in den Tageszeitungen, die
irgendwie den Weg ins Camp gefunden hatten.
"Es hätte nicht geschehen müssen." Der Titel fesselte
seine Aufmerksamkeit. "Von Albury bis Renmark, durch
Neusüdwales, Victoria und Südaustralien, haben die
Überschwemmungen eine Katastrophe angerichtet. Drei Staaten
kämpfen gegen die Fluten – und drei Staaten kämpfen drei
verschiedene Kriege...Eine Sache, eine Tatsache ist es, die einem
mit aller Gewalt trifft: Und das ist die reine Nutzlosigkeit, die
Sinnlosigkeit all dieser Leiden...hier zeigt sich das ziemlich
genaueste Bild, wie die Flußregulierung in diesem Land
gehandhabt wird...ein Bild von dem Mangel an Zusammenarbeit, ein
Bild von der Gleichgültigkeit und Apathie der leitenden
Stellen..."
"Endlich einer, der es seinen Landsleuten ordentlich hineinsagt",
dachte Willi. Was auf diesem Baugelände aus
Gleichgültigkeit und Dummheit in kleinerem Ausmaß drauf
geht, besorgt die Natur in riesigem, erschreckendem Ausmaß.
Hier tut man so, als ob der Kontinent Australien einzig und allein
von den Australiern gepachtet worden sei – als ob die Australier
dieses riesige Land wirklich u n t e r w o r f e n hätten!
Ein Wunder, daß im Staatsbudget trotzdem immer wieder die
nötigen Mittel zu Weiterführung der halbherzig
vorangetriebenen Arbeiten in diesem Gebiet aufscheinen. Wie lange
mag das noch gutgehen? Ein berechtigter Gedanke, wie sich bald
erweisen sollte.
Aus der Bude nebenan tönte ein Poltern herüber, seine
Miene hellte sich etwas auf. Sein Nachbar, ein Fachschulingenieur,
der an den Bodenuntersuchungen mitwirkte, hatte aus Langeweile ein
neues Spiel erfunden, an dem mehrere Nationen
regelmäßig teilnahmen, sogar einige Aussies. Das
Spielregeln waren ebenso blödsinnig wie einfach: Alles was
man zu tun hatte, war – möglichst laut und tunlichst
langgezogen – zu rülpsen! Der Ingenieur hatte es dabei zu
wahrer Meisterschaft gebracht. Allerdings, als Willi hinter sein
Geheimnis – kohlensaures Natron – kam, stieg er innerhalb
kürzester Zeit zum zweitbesten Preisrülpser auf. Ein
berauschender Erfolg. So trieb der Stumpfsinn die schönsten
Blüten.
Von anderer Art der Unterhaltung war ihre "Literarische
Abendstunde" unter der Dusche. Da unterhielt er sich mit zwei
Landsleuten über Romane oder Zeitungsausschnitte, die er am
Vorabend gelesen hatte. Niemals zuvor hatte Höger derartige
Muße gefunden, in den bekanntesten Werken der Weltliteratur
zu schmöckern. Die Taschenromane trafen in
regelmäßigen Abständen mit der Post ein. Vom
übermütigen "Schneider Himmlischer Hosen" Daniele Vare's
bis zu Guiseppe Berto's "Der Himmel ist rot", verschlangen die
Lesehungrigen alles, was ihnen unter die Finger kam.
* * *
Gregor bat noch einmal um eine Funktionskontrolle der Beleuchtung
am Bedfordbus. Alles klappte wie am Schnürchen, Gregor hatte
ganze Arbeit geleistet. Er unterzeichnete den Materialschein und
heftete ihn am Führersitz fest. "Nun muß Frogman noch
den ganzen Christbaum bewundern und ich bin für heute
wiedereinmal fertig. Nichts mehr zu tun..." Bedächtig ging
Willi daran, die Gläser der Scheinwerfer zu reinigen, das
fiel in seine Kompetenz. "Seit zwei Tagen meine erste
Beschäftigung", sagte er in die andächtige Stille
hinein. Willi berichtete Gregor von dem Inhalt eines
Zeitungsartikels, den irgend jemand, vermutlich ein
Engländer, in der Früh an die Kantinentür geheftet
hatte: "Die Leitung des Dampfkraftwerkes M. sandte einen
englischen Ingenieur, einen Spezialisten auf dem Gebiet der
kalorischen Energieerzeugung, mit höflichen Ausreden wieder
nach Großbritannien zurück, weil er offen den niederen
Wirkungsgrad dieser neu errichteten australischen Anlage
kritisiert hatte. Der Artikel war rot angestrichen und mit
durchaus unbritisch anmutenden emotionellen Bemerkungen
gespickt!"
"Das glaube ich ohne weiteres", meinte Gregor. "Stell' dir vor,
was wir unserem obersten Boss, dem...?" Gregor dachte angestrengt
nach. "Sag mal", wandte er sich an Willi, "weißt du, wie er
heißt? Sicher ist dir sein Name bekannt, genauso wie mir.
Nur, mir fällt er absolut nicht ein!" Der strengte ebenfalls
sein Gedächtnis an, aber alles, was ihm im Augenblick
einfiel, war, daß er sich in der Frühe zu wenig
Bratwürstchen einverleibt hatte.
"Wie heißt der Kerl doch?" Krampfhaft überlegte er.
Schließlich gab er auf: "Es liegt mir auf der Zunge, Gregor.
Aber ich kann mich nicht erinnern." Etwas ängstlich setzte er
hinzu: "Mein Gedächtnis läßt mich in letzter Zeit
im Stich. Wie ist das bei dir?" Der Elektriker schien erleichtert,
als er antwortete: "Genauso ist es bei mir. Was ich hier zu tun
habe oder repariert habe, weiß ich einigermaßen genau.
Aber, mir sonst völlig geläufige Namen, wie etwa von
Bekannten in Deutschland, Ortsnamen oder berühmte
Filmschauspieler, verrutschen mir tatsächlich oft so,
daß ich minutenlang nachdenken muß, bis sämtliche
Kontakte in meinem Schädel wieder richtig funktionieren."
"Das kommt wahrscheinlich von der absoluten Stille und dem Fehlen
aller Sinnenreize in unserer Umgebung. Nichts, was
Gedankenassoziationen anregen könnte...", versuchte der
Österreicher zu erklären. Er verschwieg Gregor
allerdings, daß der dringende Wunsch in ihm bohrte,
irgendetwas, und wäre es der größte Unfug,
anzustellen. Irgendetwas, das die tägliche Monotonie
unterbrach. Abend für Abend hatte er dieses sein Verlangen
bezwungen und die Sache nicht ausgeführt. Aber heute blieb er
hinter der Gruppe zurück, dann packte er einige
faustgroße Steine und schleuderte sie wutentbrannt in einen
Haufen aufgestapelter Leuchtstoffröhren, daß die
Glassplitter nur so herumschwirrten. Mit diebischem Vergnügen
hüpfte er sodann davon. Aber nichts half über die
beunruhigenden Schmerzen, das Stechen und Ziehen in der
Herzgegend, hinweg. Vollends angeeckelt, eilte er des Abends in
seine Bude, wenn er vermeinte, den Anblick der schlürfenden
und schmatzenden Männer nicht länger ertragen zu
können.
So traf eine Nachricht die nach Neuigkeiten dürstenden
Männer mit umso größerer Wirkung. Zuerst lebte nur
ein Gerücht auf, das aber sehr bald offiziell bestätigt
wurde: "We all get our sack!" Oder auf gut Deutsch: "Wir werden
alle gefeuert!" Kündigungsfrist: Vierzehn Tage. Der
australische Materialverwalter richtete überraschenderweise
die Bemerkung an ihn, daß er nun wohl lieber zuhause in
Austria sein möchte? Er schüttelte nur ungläubig
den Kopf, als Willi ihm großspurig berichtete, er
kämpfe ohnehin seit Wochen mit dem Entschluß, von hier
wegzuziehen, es falle ihm nun umso leichter.
Jeder seiner Arbeitskollegen reagierte anders auf die Nachricht.
Ein Tscheche baute wortlos die 220 PS-starke Dieselmaschine in den
Truck ein, wischte dann seine ölverschmierten Hände ab,
stieg aus seiner Kluft, fuhr ins Verwaltungsbüro um die
ausstehende Entlohnung zu kassieren, und haute ab.
Die Kündigungen wurden rigoros nach Schema F
durchgeführt: Zu oberst auf der schwarzen Liste standen die
alleinstehenden Männer, dann folgten die Verheirateten – egal
wieviele Köpfe sie zu ernähren hatten – und zuletzt
rangierten die Exsoldiers, die Heimkehrer aus beiden Weltkriegen.
Insgesamt traf es 250 der Angestellten und etwa 450 der Arbeiter,
die Hälfte der gesamten Belegschaft.
Morry, der Vagabund in ihrer Mitte, war so ziemlich der einzige,
der gute Miene zum bösen Spiel machte und sich seine
strahlende Laune nicht verderben ließ. Er trällerte und
blödelte den ganzen lieben Tag dahin, diesmal lag aber auch
wirklich ein triftiger Grund vor: Außer dem Chef Frogman war
er der einzige aus ihren Reihen, an dem die Entlassung
vorbeigegangen war. Und noch eine erstaunliche Ausnahme
existierte: Gregor, der Ostdeutsche und einziger Autoelektriker
weit und breit.
Nick, der smarte junge Australier, war schon vergangene Woche nach
Melbourne gezogen, und die beiden Lehrbuben zählten ohnehin
nicht.
So also stellte sich die Situation in den ersten Augusttagen dar.
Ihr Swaggie schlürfte in ausgehatschten Schuhen, zerlumpten
Straßenanzug, einem verdrecktem Hemd, struppig und
unrasiert, mit der Zigarette unter der scharfen Hackennase, lustig
in den sonnigen Tag hinaus. Mit übermütig blinzelnden
Schweinsäuglein, das Kinn vorgestreckt, ergriff er das Beil,
drückte nochmals den zerfransten Hut auf das edle Haupt und
ließ dann die Schneide auf die kurzgeschnittenen Hölzer
niedersausen. "Saddle up, Saddle Boy, ride for home", sang er wie
ein Lausbub, ohne Unterbrechung und mit hoher, krächzender
Stimme, die den bedrückten Männern in der
Werkstätte doppelt schaurig in den Ohren klang. Die
deprimierende Stille freute Willi nicht, und so half er Morry beim
Holzhacken. Der ließ eine lustige Schnurre nach der anderen
vom Band – es sprudelte nur so hervor aus ihm. "Ich kam nach
Hause, Mutter, um für dich zu sorgen!" Morry gab die Story
seiner Wanderjahre zum besten: "Scher dich hinweg, Bastard! Du
bist nur gekommen, um zu sterben, rief meine Mum aus." Es war zum
Brüllen komisch, wie er das zwischen den Beilschwüngen
stoßweise hervorkeuchte. Er fuhr eine Schubkarre voll
Brennholz an den Ofen heran, bemühte sich aber tunlichst die
ernsten Mienen der Kollegen zu ignorieren. "Shut up!" fuhr ihn
Frogman an. Sonst hatte es immer nur geheißen: "...will
you?" oder "...if you don't mind!" Ob des ungewöhnlichen
Tonfalls hielt er endlich sein gottloses Mundwerk. Doch kurze Zeit
später maulte er vorsichtig, doch wesentlich gedämpfter
weiter. "Nicht einmal singen darf man hier und ich bin ja nur ein
ganz kleines Arschloch...im Vergleich zu euch!" Tosende Heiterkeit
belohnte den richtigen Ton. Man konnte dem Kerl einfach nicht
böse sein.
Der Bayer blickte finster drein. "Dos passiert mir nun schon zum
vierten Mol." Er begann ganz entsetzlich auf dieses Land zu
fluchen. "Auf mi und meine fünf Sprößlinge
nehmen's ka Rücksicht. Oba so a nutzloser Lump wie da Morry
derf weitablödeln und dem Hergott an schönen Tog um den
anderen stehln. I scheiß' bold auf dös Land!"
Angesichts der sich anbahnenden Tragödien konnte Gregor nicht
so richtig froh werden, er kam sich wie ein Quisling vor. Und
einige Tage nach dieser Ankündigung schlug es auch bei ihm
dreizehn, als er erfuhr, daß die Arbeiter in McKay Creek
losgepoltert hätten, man entlasse s i e, die fair dinkum
Australians, und der fucken German aus der Werkstätte Walla
dürfe seine Stelle behalten! "Am liebsten würde ich
sofort alles hinwerfen und die Kerle im Stich lassen! Sollen ihren
Kram selber zusammenflicken! Leider ist mein Bruder bereits auf
dem Weg nach hier."
Der Irländer, der Schotte, der Engländer, die fünf
Aussies, zwei Deutsche und der Österreicher – alle standen
tatenlos herum und diskutierten. Willi fischte ein
Gewerkschaftsblatt der A.E.U. (Australian Engineers Union) hervor
und begann verstohlen darin zu blättern, der Boß durfte
es nicht sehen.
Plötzlich verfing sich sein Blick an einer knalligen
Überschrift:
P R I V A T E A R M E E N I N A U S T R A L I E N ? Begierig
überflog er den Artikel, in dem die Vertretung einer
Bevölkerungsgruppe ihre Betroffenheit über die Existenz
einer para-militärischen Organisation unter den Einwanderern
aus Jugoslawien zum Ausdruck brachte.
Einige hundert frühere Offiziere und Männer von
Untergrundbewegungen seien nun in Australien ansässig und
bemühten sich, wiederum das Gerüst für eine
Armeeorganisation auf die Beine zu stellen. Die klageführende
religiöse Gemeinde hätte bereits früher auf
ähnliche Organisationen unter den Ungarn und
Weißrussen, die ihr feindlich gegenüber stünden,
aufmerksam gemacht.
"Na, was denn?" fragte sich der Österreicher bestürzt,
das klang ja toll. Er vermochte die Zusammenhänge nicht zu
überblicken, daher ging er kopfschüttelnd zur
nächsten Spalte über. "Ooh!!" entfuhr ihm ein Ausruf der
Überraschung. Der Bayer trat zu ihm und las nun mit, es wurde
immer spannender. "Sehen wir uns zum Beispiel die New Settler's
Leagues und die Good Neighbour Councils mal näher an. Sie
sind Assimilations-Instrumente Nummer Eins. Die
Öffentlichkeit nimmt an, daß dies ihr einziger Sinn und
Zweck sei. Fördern sie wirklich die Eingliederung der
Auswanderer in den australischen Volkskörper?
Im Gegenteil. Diese Körperschaften haben die meiste Zeit
damit verbracht, o r g a n i s i e r t e Einwanderergruppen
hochzuzüchten und zu kultivieren, die der Idee der
Assimilation geradezu feindlich gegenüberstehen. Dies mag
Ihnen phantastisch erscheinen, ist aber wahr. Die New Settler's
League nahm prominente Angehörige der 'Nationalen Vereinigung
von Einwanderern aus Ländern hinter dem Eisernen Vorhang'
unter ihre beschützenden Schwingen. Das Ziel dieser
nationalistischen Vereinigungen ist es, eine Assimilierung ihrer
Landsleute bis aufs äußerste zu behindern. Sie haben
die Absicht, die nationalen Eigenheiten der Mitglieder rein zu
erhalten. Wenn möglich a l l e r Landsleute in Australien.
Bis der Zeitpunkt heranreift, wo sie Australien verlassen und in
ihre Ursprungländer zurückkehren können.
Sie betrachten Australien als Wartezimmer. Ein Mitbürger, der
sich hier niederlassen und Australier werden will, ist für
sie ein Verräter!"
"Mensch, das ist aber starker Tobak, was die da behaupten!"
murmelte Willi dem Mechaniker zu, der nun ebenfalls den
provozierenden Inhalt dieser Zeilen verschlang. Er hielt die
Broschüre mit einer Hand fest und las mit Willis Finger mit,
der nur so über die Zeilen flog.
"Haha! Darauf habe ich nur gewartet! Hier ziehen sie über die
bösen Deutschen her!" Der Mann aus Bayern riß dem
Österreicher beinahe das Journal aus den Händen: "Haha!
Lies da weiter! "Die übrigen in der Halle blickten verwundert
auf die beiden, die nebeneinander auf die Werkbank gestützt,
von Lachkrämpfen geschüttelt wurden, um dann abrupt
wieder konzentriert weiterzulesen.
"Jüngst kamen mit der 'Skaubryn' einige Nazi-Elemente an.
Zeitungsreporter berichteten, daß viele Nazibücher im
Gepäck der Migrants gefunden worden seien."
"Untersuchen unsere Habseligkeiten ja sehr gründlich, die
Burschen, reißen unsere Koffer auseinander", dachte Willi
resigniert. " Das Council (der betreffenden Vereinigung) bekam von
einem Angehörigen der Schiffsbesatzung das Exemplar einer
Luxusausführung von Hitlers 'Mein Kampf' ausgefolgt, das in
einer Kabine gefunden worden war, nachdem sie die Migrants
verlassen hatten. Zwischen den Buchseiten lag das Foto eines
deutschen Offiziers, der mit verschränkten Armen auf eine
Anzahl exekutierter Menschen runterblickte.
Unsere Gemeinschaft glaubt, daß die Mehrzahl der Einwanderer
sich hier niederlassen und eine demokratische Lebensweise annehmen
möchte. Aber eine Minderheit besteht noch immer auf
Beibehaltung ihrer Nazi-Organisationen und Überzeugungen.
Unser Council wird die Regierung drängen, Maßnahmen zu
ergreifen, um diese Körperschaften in der Verbreitung ihrer
antidemokratischen Doktrinnen zu behindern."
"Das schlägt dem Faß den Boden aus!" wetterte der
Deutsche los. "Diese Schweine! Diese stupiden, verantwortungslosen
Idioten! Wie taktvoll und zweckgerichtet der Mann gehandelt hat,
der angeblich dieses Exemplar der 'Luxusausgabe' von 'Mein Kampf'
gefunden hat! Wieso soll ein Steward, Schiffsoffizier oder wer
immer es gewesen sein mag, ausgerechnet jenes ominöse Council
aufgesucht haben, um mit teuflischem Grinsen dieses Naziwerk auf
den Tisch zu legen? Nein, mein lieber Willi, die Sache muß
sich anders verhalten. Entweder ist die ganze Affäre von
Grund auf erfunden und erlogen, dann gehören die sauberen
Erfinder dieses Märchens vor Gericht, mit der Anklage auf
Hochverrat, begangen am australischen Volk. Weil sie nämlich
bewußt das Vertrauen der Australier in die Maßnahmen
der Regierung untergraben und die Einwanderung zu torpedieren
versuchen. Aber für so dumm und primitiv halte ich diese
Herren nicht. Das Buch wird schon gefunden worden sein, mitsamt
den sauberen Fotos. Dann gibt's wiederum zwei Möglichkeiten:
Entweder ist das Buch tatsächlich von einem Einwanderer
mitgeschleppt worden. Dann war der Kerl entweder schwachsinnig und
braucht daher nicht weiter ernst genommen zu werden. Oder er war
verrückt, dann gehört er in eine Irrenanstalt. In beiden
Fällen war der Skandal überflüssig!" Der Mann
schnaufte erregt.
"Es gibt noch mindestens eine weitere Erklärung", grinste
Willi ironisch. "Daß dieses Buch mit Absicht dort
'vergessen' wurde, mit Absicht 'gefunden' und mit voller Absicht
in die Hände dieses Councils praktiziert worden ist. Von wem
und wozu, das überlasse ich deiner Kombinationsgabe. Du
brauchst dich nur zu fragen, wer zieht daraus einen Nutzen? Aber,
nebenbei gesagt: Wenn dieses Council existiert, dann darf es doch
mit gleichen Recht auch Vereinigungen oder Interessensvertretungen
von anderen Minderheiten geben, nicht wahr? Zum Teufel, habe ich
recht oder nicht?" schrie der junge Mann jetzt wütend. "Mit
anderen Worten heißt der ganze Schmonzes: Wir, die
Vereinigung die hinter unserem Council steht, fühlen uns
durch die Einwanderer bedroht, in unserer Existenz und an unserem
Leben. Es geht nicht an, daß uns selbstbewußte
Nationalitätengruppen unsere Positionen streitig machen.
Regierung Australiens, beschütze uns davor! So jedenfalls
lautet für mich der Tenor des ganzen langen Artikels",
schloß der Österreicher.
* * *
Diesmal begab sich Willi bereits donnerstags hinunter ins Tal, um
seinen Freunden einen Besuch abzustatten und vor allem, seine
Zähne inspizieren zu lassen. Da die Entzündung der
Mundhöhle nicht ein Jota nachgelassen hatte, machte er sich
ernstliche Sorgen um seine Gesundheit.
Es war auffallend, wieviel nervöser und unruhiger Werner
Benke und Hugo Prattert seit der letzten Begegnung geworden waren.
Werner erzählte ihm, daß Gudrun im Begriffe sei, ein
Auswandererschiff zu besteigen. Schon allein aus diesem Grunde
müsse er nach Melbourne übersiedeln, ganz abgesehen von
dem Resultat der Verhandlungen zwischen Gewerkschaft und
Regierung, die Kündigungswelle betreffend.
Hugo und Willi zogen sich in die gemütliche Bude von Prattert
zurück und holten die Vorräte an Bier und
Capstan-Zigaretten hervor. "Denn mal Prost, nich'!" meinte Hugo
und führte den Flaschenhals zum Mund. Sein Freund sah sich in
dem wohnlich eingerichteten Raum um und meinte: "Ich verstehe
deinen Sinn für Behaglichkeit, aber daß du dir die
Mühe nimmst Türen, Wände, Fußboden und so
weiter mit der Bürste zu schruppen – das hätte ich dir
nicht zugetraut. Schließlich bist du erst vor drei Wochen
von McKay Creek heruntergezogen. Zahlt sich das aus?"
Der Lange erhob sich vom Bett, auf dem er gesessen hatte und
schwankte, torkelte zur Tür hin. "Da, sieh' dir das an!" Die
Spitze seines Zeigefingers beschrieb langgezogene Ellipsen um eine
imaginäre Stelle am Fußboden. "Nun, ein paar dunkle
Flecken neben dem sauber gereinigten Türrahmen. Was ist
damit?" Die Konturen Hugos verschwammen langsam, der Alkohol
zeitigte endlich Wirkung.
"Bluuut! Das Blut eines bloody German, der in dieser Cubicle eines
Morgens tot aufgefunden worden war, nachdem er in der
vorhergehenden Nacht 250 Pfund beim Pokern gewonnen hatte! Das
arme Schwein! Der Saft klebte überall als ich einziehen
mußte. Zuerst glaubte ich, hier nicht schlafen zu
können, aber der Mensch gewöhnt sich an alles...
Bloß das Leben hier ist zum Kotzen, zum Kotzen, zum Ko...".
In rührseliger Stimmung fiel Hugo auf die Lagerstatt hin und
fing zu schnarchen an. Später trat Werner Benke ein und las
den beiden einen Brief von Eddi aus Sydney vor, der an alle seine
Freunde gerichtet war. Im Alkoholdusel bekam Willi nur den Teil
des Wortlauts mit, wo Eddi über Hans, den unglücklich
Verliebten und Suchenden, berichtete "...Die Zwiebel von Hans
bekommt schon wieder ein Kind. Diesmal von einem schwedischen
Seemann, der nun in Japan weilt. Aber Hans meint, das kann ihn
alles..."
"Armer Hans", dachte Willi schläfrig", wo du dich doch so
gerne mit einem netten Mädel zur Ruhe setzen
möchtest..."
Ihm klappten die Augendeckel zu. Die vorhin gehörte
Mordgeschichte fiel ihm ein, er stolperte aus seiner Cubicle und
drehte das schwache Lämpchen ab, sodaß niemand auf die
Idee kommen würde, daß dahinter ein Mensch atmete. Die
ganze Nacht jammerte er im Schlaf und erbrach einmal
fürchterlich. In der Morgenfrühe riß ihn ein
schrecklicher Alptraum in die Wirklichkeit zurück: Die eine
Gehirnhälte eines geöffneten Menschenschädels
zuckte krampfartig, aus den Zahnreihen floß
süßlich-gelber Eiter, dessen Geschmack er auf seiner
Zunge zu spüren glaubte. Mit einem tierischen Aufschrei des
Entsetzens fuhr Willi hoch. Schrecklich kam ihm zu
Bewußtsein, daß er nicht mehr allzu weit von den
vielen elenden Menschenwracks entfernt war, die sich hier
herumschleppten. Höchste Zeit für ihn, hier
abzuhauen...
Durch das Fenster sah er einen Mann mit einem schweren Koffer auf
den Schultern und drei Hunden an der Leine den freien Platz vor
den Baracken überqueren. Der setzte sich also auch ab.
Komische Ideen haben die Leute, überlegte Willi,
trübselig auf dem Bett kauernd. Gleich drei Viecherln, als ob
nicht auch einer genügen würde. Er dachte an seine
italienischen und maltesischen Freunde in den verschiedenen
Lagern. Eigentlich waren sie die einzigen, die frei von jedem
Spleen einige Jahre aushielten, solange, bis sie das nötige
Kleingeld zusammengespart oder -gehungert hatten, um sich
hierzulande eine kleine Farm kaufen zu können, einen
Gemüseladen zu eröffnen – oder dasselbe in ihren
Heimatländern tun zu können.
Glückliche Menschen, die nicht so überzivilisiert waren
wie speziell die Mitteleuropäer.
* * *
Das Wartezimmer des Zahnarztes wirkte einfach aber modern
eingerichtet. Höger nahm auf einem der Stahlrohrsessel Platz.
Nur wenige Patienten warteten. Ungeduldig griff er nach einem der
Magazine und blätterte geistesabwesend darin. Als er
aufgerufen wurde, fiel ihm die weltbekannte Silhouette des
Matterhorns, als Farbdruck hinter Glas auf. Ein gemütlicher,
vierschrötiger Mann in Weiß nötigte ihn, auf dem
Marterstuhl Platz zu nehmen. Mit vertrauenserweckendem
Selbstbewußtsein erklärte der Arzt nach kurzer
Untersuchung, daß seine Weisheitszähne angefault seien
und nur die sofortige Extraktion helfen könne. Ob er dazu
bereit sei? Der joviale Herr haute ihm die Injektionsnadel in den
Kiefer, ruhig presste er die Novocainlösung heraus.
Höger lehnte sich bleich in den Stuhl zurück. Die Sinne
schienen ihn verlassen zu wollen. "Ist Ihnen schlecht?" erkundigte
sich der Arzt. Willi erwähnte das Schwindelgefühl. "Ich
verstehe das durchaus", meinte der Mann freundlich. "Die
Untätigkeit macht Sie nervös. Ihr Europäer seid an
ein anderes Lebenstempo gewöhnt. Ich kenne das", setzte er
lächelnd hinzu, "denn ich habe viele Jahre in der Schweiz
zugebracht."
"Aha, deshalb das Bild vom Matterhorn im Wartezimmer",
preßte Willi hervor, leicht behindert durch die Bamstigkeit
der anschwellenden Wange.
"Ja, es war eine schöne Zeit. Ich bin noch immer begeisterter
Bergsteiger..." Unendlich erleichtert fühlte der
Österreicher, daß das ein Mensch, ein Australier war,
mit dem er reden konnte. Der nicht nur jede seiner englischen
Vokabeln verstand, sondern auch den Sinn, der dahinterlag.
Die verfaulten Zähne, die jahrelang Gift in seinen
Körper ausgestrahlt, eine unheilvolle Quelle schleichender
Krankheit bildeten, waren entfernt. Bereits in diesem Augenblicke
rührten sich neue Kräfte in ihm, er schöpfte wieder
Hoffnung. Neuer Mut, sein Leben seinen Wünschen und
Vorstellungen gemäß zu gestalten, regte sich. Er
erzählte dem Australier von der drohenden Entlassung und
seinen Entschluß, den Busch zu verlassen, um in der Stadt
seinen Weg zu machen.
Der Arzt sprach ihm freundschaftlich zugeneigt Mut zu. "Good Luck
to you! Und werden Sie ein ganz großer Boß!" rief er
hinter ihm her. Endlich einer, der es ehrlich meinte, der keine
Sekunde daran danach fragte, ob der Mann, dem er Erfolg
wünschte, ein waschechter Australier war oder nicht.
* * *
Die Kündigungen waren endgültig zurückgezogen
worden, die Aufregungen über diesen Punkt vorbei. Und doch
war nichts mehr so, wie es früher gewesen war.
Einmal überraschte er einen Lehrjungen, wie er mit einer
Eisenfeile an den Schneidezähnen im Mund herumfeilte.
Entsetzt erkundigte er sich beim Bayern, ob der Junge denn wisse,
was er tue?
"Keine Aufregung", klärte der Willi auf. "Der bringt nur das
künstliche Gebiß auf die richtigen Dimensionen. In
seinem Alter tragen die meisten Aussies bereits künstliche
Zähne." Dieser Jüngling und der andere Lehrbub hatten
bisher dreimal Albury einen Besuch abgestattet, diesem netten
Provinzstädtchen, nur einige Autostunden entfernt. Der junge
Europäer kam sich mit seinen vierundzwanzig Jahren wie ein
alter Mann vor – im Vergleich zu diesen beiden Burschen. Abgesehen
vom Pin-up Magazin "Man", gelegentlicher Zeitungslektüre und
aufklärenden Gesprächen über die "Weiber" in den
Zigarettenpausen, trug nichts zu ihrer Bildung bei.
Man hatte Willi wiederum Besen und Schaufel in die Hand
gedrückt und ihn darauf aufmerksam gemacht, daß die
Toiletten zu reinigen seien. Er war nun beileibe nicht mehr so
zimperlich, wie es noch vor einem halben Jahr der Fall gewesen
wäre. Und er sah natürlich ein, daß diese
Tätigkeit von irgend jemand ausgeübt werden mußte.
Trotzdem grübelte er über seine "Karriere" nach, die nun
wohl endgültig ihren Tiefpunkt erreicht hatte. Und nicht mehr
unterschritten werden durfte, wollte er nicht die Selbstachtung
verlieren.
So spritzte er die Pißbude ohne ein Wort der Widerrede
sorgfältig mit dem Wasserschlauch aus, reinigte danach ebenso
sorgfältig seine Hände und begab sich in das Büro
des Chefs.
Frogman blickte ihn groß und erstaunt aus seinen
Basedow-Augen an, die zwischen mächtigen
Tränensäcken hervorlugten. Ob es ihm denn nicht bei
ihnen gefalle? "Oh doch", entgegnete der junge Mann, "aber ich
sehe keine Zukunftschancen mehr für mich."
Was er künftighin zu tun gedenke?
Ob er schon eine andere Position habe?
Er konnte sich nicht enthalten, eine letzte boshafte und
hintergründige Bemerkung in Richtung seines Chefs
abzuschießen. Damit würde er den Australier tief im
Herzen treffen, das wußte er. Lässig warf er hin:
"Oooch, da habe ich keine Sorge. Wissen Sie, man hat mir eine fixe
Anstellung im Hohen Norden, an der äußersten
nördlichen Spitze Australiens, angeboten. Ich habe da nicht
allzuviel zu tun, muß nur Ausschau halten – mit einem
Fernrohr, wissen Sie – um Alarm zu schlagen, wenn die ersten der
600 Millionen Chinesen vor der Küste Australiens
auftauchen..."
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