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5. Kapitel: Melbourne


Nachlässig rasiert, erregte der Österreicher am Mittagstisch die Gemüter einiger Angestellter. Sie flüsterten einander zu: "Sieh' ihn dir an, wie unappetitlich und unästhetisch er aussieht! Soetwas arbeitet in unserer Mitte, soetwas müssen wir dulden. Abscheulich der Mann, hurt nächtelang herum und kommt so abgerissen zu Tisch!"
Er war sich bewußt, daß er seine Kleidung vernachlässigte, daß seine Bartstoppeln hie und da zu flüchtig abgemäht waren. War denn keiner da, der die Verheirateten unter ihnen auf die verschmutzten, von auffallenden Rissen unter den Achseln durchzogenen Hemden aufmerksam machte? War dies vielleicht notwendig? Oder war man nur über die dargebotene Ablenkung von der täglichen Routine froh und nützte die Minuten der Muße mit schadenfrohen Attacken auf die Europäer aus? Er versuchte alle diese Bemerkungen, die ihm zu Ohren kamen, einfach zu überhören. Aber dann ereignete sich ein Vorfall, durch den Willi Höger in bittere Situationen geriet.
Er bekam nun täglich durch Bill dem Jugoslawen einen Lift zu seiner Arbeitsstätte, was ihm wegen der häufig wechselnden Wetterverhältnisse und der Bequemlichkeit halber sehr gelegen kam. Eines Morgens nun wartete er vergeblich auf Bill. Unruhig schritt er auf dem Gehsteig auf und ab. Schließlich lief er zur Straßenbahn, stieg in den Omnibus um und erreichte seinen Platz im Büro keuchend und mit einer Viertelstunde Verspätung.
"Ist Bill schon hier?" erkundigte er sich, abgekämpft von der Hetzerei, die hinter ihm lag, bei einem gerade großjährig gewordenen Australier, der wegen seines verdrehten Schädels mit kaum millimeterlangen Borsten drauf heimlich die 'Ratte' genannt wurde. "Be quick or you are dead!" lautete dessen zynische Antwort, lässig aus häßlich verzogenem Mund hervorgestoßen.
Oh, der Österreicher wußte genau, was der Bursche damit ausdrücken wollte. Es ärgerte ihn, daß Willi immer interessantere und umfangreichere Entwürfe zugewiesen bekam, während Rat und seine etwa gleichaltrigen Kumpane stur und einseitig bei einmal eingeübten Maschinenteilen hängen blieben. Es war ja auch nahezu unglaublich, was sich einzelne der Burschen an Nachlässigkeiten und Bequemlichkeit leisteten. Das fiel natürlich auch den Bossen auf.
Und der Bemerkung zweiter Teil: "...oder du bist des Todes!" sollte wohl eine Spitze auf deutsche Verhältnisse sein, soweit sie zumindest in den Köpfen der Australier existierten. Allgemein herrschte hier die Ansicht, daß in Deutschland – und natürlich auch in Österreich – die Menschen mit roher Gewalt und drastischen Mitteln zu einem zügigen Arbeitstempo getrieben wurden. Man konnte sich einfach nicht vorstellen, daß ein Mensch von sich aus das Bedürfnis nach besonderen Leistungen verspüren könne – außer im Sport.
So war es nicht weiter verwunderlich, jedoch äußerst unbedacht, daß Willi den Ignoranten in ungewohnter Schärfe übers Maul fuhr. "Du brauchst nicht so höhnisch zu grinsen, wenn ich mich beeile. Schließlich bin ich kein fair dinkum Aussie, der tun und lassen kann, was ihm paßt. Schließlich wird mir von euch Burschen ja scharf genug auf die Finger gesehen!"
Nachdem er sich so zur Wehr gesetzt hatte, ließ sich der Österreicher auf keine der maulenden Selbstgespräche von Rat mehr ein. Leider konnte er nicht verhindern, daß sein Ausspruch, er sei ja kein Australier, nach Herzenslust im Saale verbreitet wurde. Bestürzt und zutiefst betroffen erlebte er, wie ein weiterer junger Australier am nächsten Tag sich mit scharfen Angriffen auf seine Person äußerte. Der größte Faulenzer der Blase, zugleich der größte Neider Willis, der stundenlang in seinen blendend weißen Mantel gehüllt an der Wand lehnte, untätig die kleinen Zwischenfälle im Büro aus tiefgelegenen, rotumränderten und bläulichgelb umschatteten Augen verfolgte, breitete die Arme weit aus, wies auf Willi und rief seinen jungen Kollegen laut und pathetisch zu:
"Was tut der überhaupt in unserem Office? Warum steckt man ihn nicht in den Busch und läßt ihn dort mit Krampen und Schaufel schuften?" Diese mißgünstige Äusserung, die nur wiedergab, was ohnehin jeder Australier von jedem Einwanderer zu allererst erwartete, traf Willi mehr und nachhaltiger, als er augenblicklich zugegeben hätte.
Du bist unerwünscht hier, man will dich raus haben. Du störst den gleichförmigen Ablauf des Tagesgeschehens mit deiner Arbeitraserei. Du paßt einfach nicht in ihre Mitte!
Zwangsläufig prägten sich diese Gedanken ein, machten ihn verschlossener, abweisender, und damit noch einsamer, als er ohnehin schon war. Gewiß, es gab auch unter den gleichaltrigen Australiern so manchen, der für ihn das Wort ergriff. "Hört doch endlich mit dem Kohl auf!" hatte ein knapp achtzehnjähriger, hinter ihm sitzender Junge, dem ewig beißenden und nörgelnden Don zugerufen. "Du bist ja nur auf seine Erfolge eifersüchtig. Streng dich gefälligst mehr an!" Aber solche Rufer in der Wüste traten selten auf.
Die Meute verfolgte die hochgespannten, unter der Oberfläche sich entladenden Spannungen, mit unverhohlener Schadenfreude. Es fand sich niemand, der dem unverantwortlichen Treiben der undisziplinierten Horde offen Einhalt gebot. Der Österreicher hätte mit einer Ohrfeige reagieren können, aber dann wäre der Skandal perfekt gewesen, und gerade das wollte er vermeiden: Aufsehen. Im Grunde verhielt er sich wie das Gros der Einwanderer: ruhig und abwartend. Er tröstete sich damit, daß es Hunderttausenden so ergehen mochte.
Er dachte dabei an die vieldiskutierte generelle Entscheidung der Ärztekammer Victorias, dem Ansuchen von 90 europäischen Ärzten um Anerkennung ihrer Studien nicht nachzukommen. Dies war umso bedauerlicher, als in entlegenen Gebieten Victorias ein notorischer Mangel an ausgebildeten medizinischem Personal herrschte, und laut Zeitungsberichten viele der ansuchenden Mediziner bis zu 20 Jahre Praxis in besten Krankenhäusern Europas nachweisen konnten.
Somit waren diese 90 vollausgebildeten Ärzte gezwungen, ihren Lebensunterhalt mit Nahrungsmitteluntersuchungen, in der Versicherungsbranche, als Milchausführer und anderen wesensfremden Jobs zu verdienen. Oder sie mußten eben noch weitere drei Jahre des Studiums an der Universität Melbourne hinter sich bringen, um endlich den austalischen Ansprüchen gerecht zu werden. Die Ärztekammer behauptete, das Ärztegesetz aus dem Jahre 1956 besage, "daß nur solchen Ansuchen um Anerkennung stattgegeben werden könne, in denen bewiesen werde, daß der Ansuchende das Wissen um einen Zustand oder eine Krankheit, die für Victoria eigentümlich sei, besitze."
Diese Auslegung war reichlich phantastisch zu nennen und zielte klar darauf ab, europäische Ärzte von vorneherein beruflich kaltzustellen.

Was hatte er sich also zu beklagen? Wie mußte den Männern und Frauen zu Mute sein, die ihre jahrzehntelange Mühe und Erfahrung in einem Lande, das sie brauchte, wirklich brauchte, so schlecht belohnt sahen? So fügte er sich immer wieder geduldig und vermied es, seinen australischen Kollegen unangenehme und höchst persönliche Dinge um die Ohren zu schreien.
Gelegentlich war er dem Verzweifeln nahe.
Wie es anderen Leidensgenossen erging, sah er an dem zweiten Russen, der unweit von Willi häufig mit rotem Kopf den Frechheiten und Anzüglichkeiten der hoffnungsvollen australischen Jugend hilflos ausgesetzt war: Er besaß Frau und Kind, war 45 Jahre alt und machte daher notgedrungen gute Miene zum bösen Spiel.
Als er sich einmal nicht mehr zu helfen wußte, trat er zu Willi hin und flüsterte ihm leise zu:
"Was soll ich tun? Die Schweine lassen mir keine Ruhe!"
Tränen standen in seinen Augen, sein kahler Kopf überzog sich mit Runzeln, der Blutdruck presste die Äderchen an den Schläfen aus der Haut.
"Bloody Russian Spy!" "Verdammter russischer Spion!" rief ihm eben Don zu, der sein blödes Mundwerk ungeschoren wetzen durfte. Wie witzig.
"Wie Sie noch nicht hier waren, trieben sie es noch viel ärger. Jetzt haben sie in Ihnen eine neue Zielscheibe für ihren Sadismus gefunden!"
Der Russe setzte wieder das starre Lächeln auf und begab sich an seinen Sitz zurück. Im übrigen zog sich der Mann aus der Affäre, so gut er eben konnte, indem er den Dummen spielte und täglich Clownerien beging, die ihn bald in den Ruf eines Halbverrückten brachten. Das war es ja gerade, was er bezweckte: diese zweifelhafte Einstufung brach den Angriffen die Spitze ab – halb glaubte man nämlich das Märchen vom russischen Spitzel.
Dieses infame Spiel, für den Russen allerdings blutiger Ernst, raubte ihm derart viel der Energie, daß er die Mittagspause benützte, um sich abgesondert von jeder 'menschlichen' Gesellschaft nervlich zu erholen.
Mit der Klassifizierung "he is mad", war man überhaupt rasch bei der Hand.
In der Reparaturhalle, die sich dem Konstruktionssaal anschloß, waren zwei Österreicher als Monteure beschäftigt, schön allein und ohne Aufsicht. Ihr häufigen Ausbrüche unbändiger Lebenslust äusserten sie durch langgezogene Jodler, die bühnenreif waren und bis zum Zeichensaal herüberschallten.
"Da, hör dir seine verrückten Landsleute an!" hieß es dann, und man wies mit den Fingern zu Willi hin. Kein Tag verging ohne neue Überraschungen für ihn. Er war erstmalig vollkommen allein auf sich gestellt, weit weg von Zuhause. Tiefere Lebenserfahrungen sammelte er jetzt, in diesen Monaten, in einem harten und rücksichtslosen Kampf mit seinem inneren Schweinehund und dem der Australier.
Die Schmerzen hatten noch immer nicht nachgelassen. Es war ihm unerklärlich, wieso die Stelle am Kiefer mit den drei extrahierten Zähnen stets geschwollen und druckempfindlich war. Von dauernden Magenschmerzen geplagt, mußte er sich Tag um Tag die sarkastischen, durchaus nicht wohlgemeinten Äusserungen seiner jungen Kollegen anhören, ohne viel dagegen unternehmen zu können.
Gelegentlich fing er nun schon unmerklich zu zittern an, wenn ihm die Ratte wieder einmal zusetzte. "Ihr Scheiß-Einwanderer", warf er Willi grinsend vor, "seid ja so alle Kriminelle und Verrückte. Und soetwas läßt man in unser Land herein!"
"Nichts als Vorurteile, verdammter Idiot!!" brüllte ihn der Österreicher daraufhin gereizt an. Die Nerven ließen ihn im Stich. "Es ist klar, daß unter einer Million wahllos herausgegriffener Menschen aller Nationen auch Diebe, Neurotiker oder vielleicht sogar Mörder zu finden sein werden!
Aber ich möchte behaupten: wenn einer von vorneherein nicht verrückt war – i h r, ihr Aussies könnt einen um den Verstand bringen mit eurer Stupidität und Eifersucht!"
Von diese Stunde an war Rat wie ausgewechselt. Anscheinend hatte er sich eines Besseren besonnen. Er zeigte zwar keine wie immer geartete Symphatie für den Österreicher, aber er ließ ihn fortan unbehelligt. Intelligent war der Bursche ja.
Der allgemeine Gesundheitszustand Högers hatte sich so verschlimmert, daß er sich nur mit größter Mühe dazu zwingen konnte, die Firma überhaupt zu betreten. Sein Denken verlief in langsameren Bahnen und wesentlich unkonzentrierter. Häufig vergaß er Dinge auszuführen, die er sich kurz vorher vorgenommen hatte. Seine Bewegungen wirkten unsicher, ruckartig und gehemmt, insgesamt rief den Eindruck eines schläfrigen Menschen hervor...
Der Checker sandte eine Zeichnung zum Ausbessern retour, er radierte die falschen Stellen aus, vergaß im nächsten Augenblick die Konstruktion zu vervollständigen und brachte die halbfertige Ausarbeitung wieder zum Kontrollor. Der ärgerte sich natürlich über den "fellow" und glaubte anfangs, Willi tue dies aus Nachlässigkeit. Als seine Zerstreutheit größere Dimensionen annahm und ihm immer gröbere Fehler unterliefen, hielt ihn der Prüfer eine Zeit lang für dumm und nahm sich vor dem 'stupid chap' kein Blatt vor dem Munde. Nachdem ihn aber ein Nachbar dahingehend informiert hatte, daß der Austrian an Bewußtseinsstörungen leide und nicht mehr wisse, was um ihn vorgehe, schälte sich allgemein die Ansicht heraus, Willi Höger sei schwer geistesgestört.
Der arbeitete tatsächlich wie verrückt an seinen Zeichnungen. Aber mit einem kleinen Unterschied: er versuchte sich so zu konzentrieren, daß alles um ihn versank, daß er diese grauenvolle Umwelt einfach nicht zur Kenntnis nehmen brauchte. Er versuchte sie zu verdrängen. Er wollte, er durfte nicht mehr mitbekommen, was man um ihn munkelte und tuschelte.
Ganz offen, unverschämt und unverhüllt – schamlos, wie es dem Volkscharakter entspricht, beriet man um den Fremden herum, ob er blöd, verrückt oder bloß ohne Frau sei. Und der letzterwähnte Umstand war sicherlich auch ausschlaggebend für seinen jetzigen Zustand. Mit ungeheurer Intensität erhob sich manchesmal der Wunsch nach einem intimen Zusammensein mit einem weiblichen Wesen. Er brauchte jedoch eine Frau, in die er sich wenigstens eine gewisse Zeit verlieben konnte – und die fand er nicht. Er versuchte in seiner Verzweiflung über die verschiedensten Mißgeschicke, die pausenlose Folge von Erkrankungen, der erfolglosen Suche nach einer Partnerin, und vor allem der demütigenden Lage im Büro dadurch für einige Stunden zu entrinnen, daß er sich Abend für Abend in seiner dunklen Bude betrank. Nicht aus Sucht – er wäre jederzeit in der Lage gewesen, die Flaschen unangetastet stehen zu lassen. Er trank den Alkohol, um sich zu stabilisieren. Tat dies sozusagen nüchtern und leidenschaftslos, wie er üblicherweise alles mit wissenschaftlichem Geist betrachtete. Mit wildverzerrten Zügen, vom Wein in entsetzliche Wut versetzt, baute er sich vor dem Spiegel auf und knurrte zwischen zusammengebissenen Zähnen fürchterliche Drohungen gegen die Schar seiner Peiniger hervor.
"Ihr Schweine", knirschte er hervor, "ihr werdet mich nicht unterkriegen,...ich l a s s e mich nicht unterkriegen! Ich werde euch diesen Triumph nicht bereiten – nein, ihr Hunde!
Ihr Hunde! Ihr Hunde, Hunde!" brüllte er los, trommelte mit den Fäusten gegen das Holz des Kastens. Durch die umnebelten Sinne drängte sich immer wieder ein Gedanke in den Vordergrund: wenn er jetzt aufgab und seinen Platz im Büro auch nur einen Tag, einen einzigen Tag im Stich lassen würde, war er verloren. Nie wieder würde er das verlorene Selbstbewußtsein wieder erlangen, nie wieder würde er einen neuerlichen Mißerfolg, eine neuerliche Aufgabe seines unmittelbaren Ziels verwinden. Seine Seelenqualen äußerten sich in Alpträumen, die ihn des Nachts heimsuchten: verkappte Gangster tauchten mit Maschinenpistolen auf dem Gang draussen auf, drängten ihn in eine Ecke. Da hob auch schon einer die MP, stellte sich breitbeinig vor dem Wehrlosen hin, und zersägte ihn kaltlächelnd mit den Feuerstößen...
In allen Träumen kehrte ein Gefühl immer wieder: daß er vollkommen wehrlos hinterlistigen Attacken preisgegeben war.

In all diesen abscheulichen Kämpfen, Wirrnissen, Zweifel und Leiden half ihm das verständnisvolle und unerschütterliche Vertrauen Jack Whitts, seines australischen Vorgesetzten. Er mochte wohl nur von einem Bruchteil der Angriffe Kenntnis haben, denen Willi tagtäglich ausgesetzt war, er war aber sicherlich über seine zunehmende Zerstreutheit und die steigenden Fehlerquoten informiert. Aber genausowenig wie James Hartley, Högers nächsthöherer Boss in der Hierarchie, verlor er darüber eine Silbe. Leider auch nicht gegenüber den jugendlichen Erpressern, sei es nun aus Unkenntnis oder Gutmütigkeit, die man ihm schon an der Nase ansehen konnte.
Ja, und von den Europäern, soweit man ihn dazurechnen durfte, war es vor allem Ted Spranger, der Engländer, der ihm moralische Unterstützung zukommen ließ.
Aber was Willi eigentlich am meisten überraschte, war das aktive Eintreten eines jungen Mannes für ihn, von dem er eine solche Haltung am wenigsten erwartet hätte. Bill, der Jugoslawe, versuchte als einziger die Quatscherei der Aussie-Brüder zu stoppen. Vielleicht lag es daran, daß er den Österreicher am genauesten kannte, daß er um den anständigen Charakter des Jungen wußte. Daß er im Laufe ihrer hitzigen Debatten auf der gemeinsamen Fahrt im Wagen erkannte, daß Willi keineswegs an Gedächtnisstörungen oder Halluzinationen, oder weiß der Teufel, was die Aussies ihm andichteten, litt. Er wußte, daß diese Fehlleistungen nur einem augenblicklichen seelischem Ausnahmezustand zuzuschreiben waren. Daß sie verschwanden, sobald Willi den Fuß außerhalb von Mills Ltd setzte. Alle Gehemmtheit, Nervosität und Scheuheit schien dann von ihm abzufallen.
Vielleicht machte sich bei Bill auch ein gewisses Solidaritätsgefühl aller Europäer bemerkbar, das sich stärker erwies als die hie und da durchbrechenden Unstimmigkeitsgefühle zwischen Jugoslawen und Österreichern.
"Ich bin mir ganz genau bewußt, daß deine Landsleute die Jugoslawen nicht besonders gut leiden mögen", hatte Bill einmal so nebenbei fallen gelassen.
"Wieso, habe ich dir jemals einen Anlaß gegeben, das zu glauben?" fragte ihn der Österreicher drauf.
"Nein, das nicht. Aber du weißt ja, welche Nachwirkungen der 'Totale Krieg' in den Beziehungen der beiden Länder hinterlassen hat. Ich hasse die Nazis und alles, was damit zu tun hat."
Und dann tat Höger einen provozierenden Schritt, entschlossen, ihre Freundschaft daran zerbrechen zu lassen – oder erneut zu festigen: "Jetzt wirst du mich wohl nicht mehr ansehen, wenn ich dir sage, daß auch mein Vater einer der Millionen kleinen Parteigenossen war?"
Bill gab damals darauf keine Antwort. Er blickte geradeaus auf die Fahrbahn.
Es sprach also sehr für seinen Charakter, wenn er jetzt öffentlich für den Österreicher eintrat, obwohl er befürchten mußte, selbst die Sympathien zu verscherzen. Im übrigen manipulierte der Jugoslawe geschickt die Stimmung der Australier, was für Willi von einem gewissen Punkt an unmöglich war, da er einen Widerwillen gegen gewisse Methoden empfand, die seiner Meinung nach an Selbstverrat grenzten.
"Heul' doch mit den Wölfen oder sie werden dich zerreissen!" hatte ihm Bill oft genug gepredigt. "Stimm' doch ein in ihre Phrasen, ohne viel nachzudenken."
"Nein, die werden mich nicht dazu bringen, bei jeder Gelegenheit in ihr blödes 'I am mad' einzustimmem. Meiner Meinung nach brauchen sie dies erst garnicht zu betonen!" erwiderte Willi wütend.
"Ich tu's jedenfalls – und fahr gut damit. Schau die Boys an, wie sie mich dauernd um Rat fragen. Ich hab' sie so in der Hand..."
"Man sollte seine Intelligenz vielleicht wirklich so benutzen, daß man die Dümmeren übervorteilt, wo es nur geht", antwortete ihm Willi nachdenklich. Aber gleichzeitig war ihm klar, daß er dies mit anderen Mitteln bewerkstelligen würde als Bill. Heuchelei, und sei es noch so harmlose, war ihm von Jugend auf fremd gewesen. Eher hätte er sich die Zunge abgebissen, als irgendwelche Intrigen zu spinnen. Nicht so Bill. Für ihn war alles 'wonderful' und 'terrific', was mit Australien zusammenhing. Und er schlug Kapital aus der Bauchpinselei.
Wenn Willi abends allein den Park durchquerte, fühlte er sich meist so abgespannt und in seine zermürbenden Gedanken vertieft, daß er die Umgebung wenig beachtete. Gleichgültig sah er den Opossums zu, wie sie auf den Wegen und Bäumen herumtollten und mit ihren rosigen Schnauzen im Abfall nach Süßigkeiten wühlten. Wieviel Widersinn, wieviel herrlich Schönes und abgrundtief Schlechtes doch zugleich auf der Welt existierte, die zu entdecken er ausgezogen war...

* * *


Am Wochenende suchte ihn nun häufig Erwin auf, nachdem sie sich bei den Olympischen Spielen überraschend wieder getroffen hatten. Erwin hatte sich sofort bereit erklärt, das neuvermählte Paar Finze aufzusuchen, nachdem ihm Willi von Rosas Kochkünsten vorgeschwärmt hatte. Zwar betrachtete Willi mißtrauisch die rote Jawa, der gelegentlich ein Auspufftopf fehlte oder der nur nach mühseligem Zusammenflicken diverser elektrischer Kabel Leben einzuhauchen war, aber sie brauste los.
Der Tag war herrlich schön, und das Ehepaar deckte sie mit feinsten hausgemachten Gerichten ein, bis ihnen der Bauch zu platzen drohte. Dann lehnte man sich behaglich in die Korbstühle im Schatten des Hauses zurück und tauschte Neuigkeiten aus. Anfangs hänselte man Willi, der ganze zwanzig Kilo zugenommen hatte, nachdem er früher von ausgesprochen magerer Statur gewesen war.
Die Finzes berichteten von zwei überraschenden Todesfällen aus ihrem gemeinsamen Bekanntenkreis von der Flamingo.
Da war ein blutjunger, verwaister Österreicher bei einem Jagdunfall in Tasmanien ums Leben gekommen, dem es zuhause immer dreckig ergangen war. Und der andere Fall traf die beiden Burschen wirklich hart.
Mr. Salzburger, mit dem Willi in Bonegilla noch gemeinsam Unterricht bei Beryl genommen hatte, lebte nicht mehr. Wie es dazu gekommen war? Seine um einiges jüngere Frau legte täglich ein Stückchen des Weges zur Arbeit mit einem Deutschen zurück, was das Mißtrauen des Ehegatten hervorrief. Er erwarb mitten in der ödesten Gegend von Melbourne ein Stück Land, um seine Frau ganz für sich allein zu haben, aber sie weigerte sich aus verständlichen Gründen, dorthin zu übersiedeln. Da erschoß sich Mr. Salzburger einfach in einem Anfall von Eifersucht...
Was er mit allen Mitteln verhindern wollte, trat ein: Nun ging die Österreicherin wirklich mit der Zufallsbekanntschaft...
In der Heimat hätte der Mann die Tat wahrscheinlich nie begangen, aber hier übersteigerten sich durch die soziale Isolation alle Gefühle.
Mit welchen Hoffnungen waren sie nicht alle in dieses Land gekommen! Vom anfänglichen Überschwang bemerkte man bei den meisten nichts mehr, die sorgendurchfurchten Mienen bewiesen dies zu Genüge.
Vom Geschrei der Zuschauer angelockt, erlebten sie dann einen Tennis-Schaukampf, den Berufsspieler für die Schuljugend des Ortes gaben. Die Jungen und Mädchen lagerten entlang des Drahtnetzes, in adrette Sportjacken gekleidet, aufmerksam und sachkundig jeden Ballwechsel kommentierend. Erwin verfolgte das Spiel als Amateur-Fachmann, gehörte er doch einem deutschsprachigen Tennisklub in Melbourne an. Willi war ganz begeistert und bat Erwin, ihn dort einzuführen.
Spät nachts rasten sie über die Hügel dem Flachland zu, wo sich ein immenses Lichtermeer ausbreitete, das sich über 40 Km im Durchmesser erstreckte: Melbourne mit seinen Vororten.

* * *


Mit der löblichen Absicht, die Abendstunden sinnvoller auszunutzen, nahm sich Willi Höger vor beim Melbourne Technical College Erkundigungen wegen der Anerkennung seiner Vorstudien einzuholen. Der Chef zeigte sich hocherfreut.
So lag Willi um acht Uhr morgens noch im Bett, zu einem Zeitpunkt, wo er normalerweise bereits außer Haus war. Vom kleinen Radiogerät her ertönte Jazzmusik. Eben hatte Peter Golding von der Station 3UZ seinen morgendlichen Kommentar gesprochen: "Wir sollten endlich beginnen die Ankommenden weniger als Migrants oder Newaustralians zu betrachten denn als Human Fellows, als Menschenbrüder. Weiters sollten wir nicht diejenigen, deren Muttersprache nicht Englisch ist, als Untermenschen ansehen. Alles Schlechte im Leben, wie Bodgies, Mörder, Vandalismus und Arbeitslosigkeit kommt von den Einwanderern – glaubt die Mehrzahl der Australier.
Ich selbst hatte auf dem Weg zum Studio ein solches Erlebnis, das kennzeichnend ist: Ich habe heute einer Italienerin mit vier Kindern beim Einsteigen in die Straßenbahn geholfen. Eine Dame der australischen Gesellschaft äußerte drauf in einem Ton, der jedes Mißverständnis ausschloß 'Wenn es nach mir ginge, können diese Dagos für immer draussen bleiben!'".
Dem Österreicher befiel ein heißes Gefühl der Dankbarkeit: Lieber Peter Golding! Du weißt ja garnicht, wie sehr deine menschlichen, vernünftigen und aus eigenem Erleben formulierten Worte, in Tausenden von verbitterten Einwanderern die Zuversicht und Hoffnung bestärken, daß es auch in Australien nur die Dummen sind, die den Mitmenschen gegenüber eine solch sture Haltung einnehmen. Leider ist diese Gruppe, wie in jedem Land der Erde – in der Mehrzahl.
Er überlegte weiter: Hätten die Europäer genauso gehandelt, wenn die Australier in der Minderheit wären? Im umgekehrten Falle? Eine offenstehende Frage.
Da waren ihm vergangene Woche sämtliche weißen Hemden ausgegangen. Nur ein khakifarbenes Amihemd, das er in einen der vielen Läden erstanden hatte, die Militär-Überschußwaren führten, war ihm zum Anziehen geblieben. Er ahnte schon im voraus, was daraus entstehen würde, als er es überstreifte.
Obwohl im selben Raum zwei Aussie-Boys mit genau denselben Hemd saßen – auf seinem Körper wandelte sich das Khaki sofort in eine Naziuniform. Selbst Ted Spranger ließ seinen Sarkasmus wiedereinmal von Stapel. Wie tief mußten die Erinnerungen an das Dritte Reich noch im Ausland wurzeln! Bloß zuhause wurde alles nur mehr wie ein böser Traum gehandelt, fast unwirklich weit zurückliegend.
Als Europäer trug er außerdem einen längeren Haarschnitt als wie hier üblich. Seine körperliche Größe, die kräftige Gestalt und die mattbraune Tönung seiner Haut verliehen ihm ein sehr prägnantes Aussehen, das ihm selbst eher peinlich war, da es in diesem Betriebsklima nur Mißgunst hervorrief.
Die offenkundig zur Schau getragene Überheblichkeit der Einheimischen anderen Völkern gegenüber kam Höger stupide, nein, eher snobistisch vor.
Ja, das war der richtige Ausdruck dafür: Snobistisch.
Denn die Kerle bildeten sich soviel auf ihre rauhen Manieren ein, die jedem gebildeten Dandytum ferne lagen, auf die Geringschätzung jeder Elitebildung unter Individuen, mit einem Wort auf die absolute Gleichheit in der australischen Gesellschaft, daß sie sich stolz als frei von jeder Art Snobismus bezeichneten.
Dabei merkten sie garnicht, daß man sie ruhig als die eingebildesten Gesinnungssnobs der Welt ansehen durfte.

Am College tummelten sich auffallend viele asiatische Studenten herum, die unter dem Colombo-Plan zur Förderung unterentwickelter Länder des Pazifikraumes hier ihr Stipendium genossen.
Es war bekannt, daß die dunkelhäutigen Männer und Frauen in der Öffentlichkeit einen steten Stein des Anstoßes bildeten. Man warf ihnen außer ihrer Hautfarbe vor allem vor, daß nur ein geringer Prozentsatz der Studierenden das vorgeschriebene Ziel erreichte. Und, falls sie ihre Studien wider Erwarten programmgemäß abwickelten, es Selbstmord gleichkäme, künftige Konkurrenten heranzubilden. Das für die Stipendiaten aufgewendete Geld also entweder zum Fenster hinausgeworfen sei, oder noch schlimmer, zur Heranzüchtung von Intelligenzlern verwendet werde, deren Heimatländer bereits mit unverhohlener Lust begierige Augen auf Australien richteten...
Aber weit auffallender als das Auftreten so vieler fremdländischer Studenten war für Willi eine Beobachtung, die er an den Fingernägeln einzelner Lehrender ablesen konnte: Die Hände der Professoren wiesen Spuren manueller Tätigkeit auf, die Fingernägel waren von schwarzen Rändern flankiert. Dies deutete daraufhin, daß die Lehrkräfte selbst eifrig an praktischen Problemen arbeiteten. Das konnte einmal aus einem Mangel an Assistenten resultieren, oder, was Willi bedeutsamer und wahrscheinlicher vorkam, man schien hier weniger auf eine theoretische als auf eine solide, unmittelbare anwendbare praktische Ausbildung Wert zu legen. Es wurde Willi daher klar, daß er den bei Mills Ltd neu eingestellten Ingenieuren hinsichtlich des theoretischen Wissens weit überlegen war.
Man bedeutete ihm letztendlich, daß man ihm in einigen Wochen einen Bescheid zukommen lassen würde.

* * *


Seit Wochen hatte ihm Rolf mit bangen Vermutungen und in ängstlicher Sorge um die Treue seiner Uschi in den Ohren gelegen. Rolf durchlief genau dieselben Qualen, wie Werner Benke mit seiner Gudrun einige Wochen vorher. Aber last not least war die Holde, die mit dem Schiffchen die halbe Welt hinter ihm hergereist war, glücklich, wohlbehalten und unbeschädigt in Melbourne gelandet.
Aber damit fingen die Sorgen des jungen Bräutigams erst so richtig an. Er konnte für seine Uschi keine Arbeit finden. Da er sich mit seinem Bruder eben wiedereinmal zerkracht hatte, pumpte er Willi zerknirscht um 50 Pfund für die bevorstehende Hochzeit an. Er sei blank. Der lieh ihm 30 Quid und gab ihm gleichzeitig den guten Rat, bei der Landlady wegen Uschi vorzusprechen.
Eine Woche später klopfte es an Willis Tür und die jungen Verliebten standen vor ihm, wesentlich aufgeheiterter.
Denn Uschilein war bereits fleissig dabei, ihren Rolf bei der Gründung eines eigenen, noch in weiter Ferne liegenden Haushaltes zu unterstützen. Die geschäftige Frau des Hauses hatte sie zu zehn verschiedenen Wäschefabrikationsstätten, Schneidern, Modegeschäften und ähnlichen Betrieben der Textilbranche geschleppt, überall hatte man nur bedauernd mit der Achsel gezuckt.
"Weißt du, Willi" – die Kleine gab sich entzückend ungekünstelt – "man glaubte wegen meiner langen, dunklen Haare, ich sei eine Italienerin. Toll, was?"
Bei der zehnten Stelle hatte es dann endlich geklappt. Munter, mit der herrlichen Unschuld ihrer achtzehn Jahre, plauderte das Mädchen drauflos: "Nun arbeite ich in einer Blusenfabrikation. Und stell dir vor, ich habe gleich am ersten Tag mehr Stücke genäht als jede andere Arbeiterin! Wir haben nämlich Griechinnen, Italienerinnen, Australierinnen - sogar eine Russin in unserem Betrieb. Ich bin die einzige Deutsche.
Die Russin hat mich in gebrochenem Deutsch gefragt, wie es mir in Australien gefällt. Ohne eine Antwort abzuwarten, meinte sie dann – denk mal Willi – 'Ich würde noch heute nach Moskau zurückkehren, aber das Geld!'"
Ihr Verlobter unterbrach ihren Redefluß und forderte sie auf, Willi zu erzählen, welche Dinge sie bereits am dritten Tag ihrer Beschäftigung gedreht habe. Sichtlich stolz lauschte er ihren Worten, als sie in ihrer lebhaften Art berichtete:
"Ja, da hat uns der Chef eine dringende Arbeit übergeben. Ich steck' mir verschiedene Nadeln mit verschieden gefärbten Zwirnsfäden auf ein Blatt Papier und befestige das ganze vorne an meinem Kostüm. So ersparte ich mir das lästige und langwierige Auswechseln des Garns und schaffte an diesem Tag - elf Blusen mehr als die beste Näherin! Der australische Boss hat vor Verwunderung nur den Kopf geschüttelt."
"Mensch, wir kommen doch nicht umsonst aus Berlin!" prahlte Rolf ein wenig. "Weiß schon, Berlin ist doch kein Dorf...", sagte Willi verstehend und freute sich über das Glück seiner Freunde.
Aber ein wenig traurig wurde ihm schon ums Herz. Warum kam ihm nicht einmal ein so süßes Mädel unter? Die kleinen Abenteuer mit reifen Frauen, geschieden oder nicht, davon konnte er nicht lange zehren.
"Dinge kommen dir hier unter, es ist manchmal kaum zu glauben!" fing Rolf nun wieder an. "Da frage ich einen parkenden Autofahrer um die und die Straße. Der Mann, ein Australier, beschreibt mir den Weg haargenau, und ich haue dankend ab. Ich gehe einige hundert Meter weit, eine Allee entlang. Was meinst du, was passiert? Kommt der Autofahrer nachgefahren, bleibt stehen, entschuldigt sich. Sagt mir, er habe mir den Weg falsch angesagt. Über diese Freundlichkeit geht doch nichts, oder?" Der Berliner blickte den Österreicher fragend an.
"Eine andere Szene. War gestern in einem Pub. Sauferei wie gewöhnlich. Ein Aussie haut auf den Tisch: Australien sei ja wirklich ein Paradies! Worauf ein Pommy aus der Runde höhnisch hervorplatzt: Ja, das stimmt! Aber für Steak and Eggs! Da warfen ihn die anderen kurzerhand hinaus."
Grinste Willi hämisch: "Ich kann den Standpunkt des Briten leicht verstehen, obwohl deren Küche auch nicht mit 'culinary art' gesegnet ist."
"Da kann ich dir einen heiteren Fall schildern", nahm Rolf den Faden wieder auf. "Ich hab' mal ein Stück Lungenbraten gekauft. Mensch, ich sag dir, der Fleischer guckte mich nur aus großen Augen an, als hätte ich einen ausgeschlachteten Hund verlangt! Dem werden die Augen erst übergehen, wenn Uschilein anfängt mir Gerichte auf den Tisch zu stellen. Da wird 'ne Abwechslung in den Laden kommen, was Kleene?"

* * *


Knapp vor Ostern heirateten die zwei. Sie baten Willi als Trauzeuge zu fungieren. Vor dem Standesbeamten spielte er zugleich den Dolmetscher, da er als einziger der kleinen Runde in der Lage war, die Trauungsurkunde zu übersetzen. Uschi sah in ihrem eng anliegenden dunklen Kostüm sehr elegant aus. Kunststück, bei der strahlenden Schönheit ihrer achtzehn Jahre.
Gegen acht Uhr abends fuhr Willi in den entlegenen Vorort hinaus, wo das Domizil der Neuvermählten lag. Es war bereits eine ganze Schar junger Menschen anwesend – alles Freunde von Rolf - aus Berlin. Leider wollte trotz alledem keine richtige Stimmung aufkommen. Die Burschen saßen einsilbig herum, Dickerchen stierte ausdauernd in seinen Gehörgängen und die Mädchen guckten doof aus der Wäsche...
Rolfs Bruder ehrte die Anwesenden zwar mit seinem Erscheinen, trug aber eine beleidigte Miene zur Schau.
Es war, als ob jeder der Hochzeitsgäste sonstwohin denken würde, nur nicht an das Hier und Heute.
Eine flotte Blondine, dem Aussehen nach, erkundigte sich spöttisch bei Willi, wie lange er sich schon in Australien aufhalte.
"Ungefähr ein Jahr lang. Wieso?", fragte er etwas perplex.
"Es ist nur, ihr Brüder seht mir alle sehr müde aus!" gab sie zur Antwort.
"Ach Sie meinen: Ich hab' noch einen Koffer in Berlin... in übertragenem Sinn?" lachte Willi gezwungen auf. "Sie meinen, wir alle haben Sehnsucht nach der Heimat?" Sie erwiderte nichts.
"Ja, daran wird es wohl liegen", dachte er.

* * *


Am nächsten Vormittag, Samstags, traf er mit dem eilfertig herumschusselnden Pedro zusammen, den er die ganze Woche nicht zu Gesicht bekommen hatte.
"Wo steckst du denn immer?" rief er ihm zu, der am Anrichtetisch eifrig Zwiebel schälte.
"Du weißt doch, bin hinter meiner Frau her. Sind ja alles Huren, alle Weiber hier."
"Na na! Übertreib' nicht so stark!" entgegnete ihm Willi heftig. "Weil du zufällig an eine Nutte geraten bist, kannst du nicht gleich alle in Grund und Boden verdammen!"
"I tell you what!!" Der schmächtige Bursche richtete seine Basedow-Augen auf den Jüngeren. Der gutsitzende Anzug, die pechschwarzen, lang zurückgekämmten Haare, ein monströser Goldring und die spitzen italienischen Lackschuhe verliehen ihm die Aura einer Ganovengestalt aus einem Gangsterfilm. Manchmal erinnerte seine Erscheinung auch an einen stark heruntergekommenen Gutsbesitzer östlicher Prägung. Die Worte des ehemaligen Tunnelbohrers erreichten dadurch jedenfalls eine besondere Bedeutung: "Als die Migration startete, gab es in Australien kein wie immer geartetes Prostituiertenproblem. Aber nun, da viel mehr männliche Einwanderer als Frauen herüberkommen, steigt der Männerüberschuß ins Unerträgliche. Bei den Griechen zum Beispiel sind es 46% !
Hast du von dem Vergewaltigungsversuch eines Südländers an einer Australierin gehört? Vorige Woche? Auf offener Straße, um neun Uhr Abend fiel er sie an. Soetwas macht man doch nur in einer ungeheuren Zwangslage!
Was ist die Folge davon?
Die gesamte weibliche Bevölkerung Australiens wird in Frauen umgewandelt, die Liebe mit Geschäft verbindet. Ganz logisch: mit der immensen Nachfrage steigen die Ansprüche der Weiber ins Uferlose. Und wo so starke finanzielle Interessen mitspielen, ist es mit einem soliden Lebenswandel vorbei – Prostitution nennt man das dann!"
Der Österreicher konnte da nicht mitreden, ihm fehlte die unmittelbare Erfahrung und Einsicht auf diesem speziellen Gebiet.
"Schuld an der ganzen Misere ist das Einwanderungsprogramm der Regierung." Pedro rührte das dampfende Grünzeug, die Karotten, Zwiebel und Kohlrabi, in der Pfanne um.
"Die bringen zum Beispiel tausende Italiener herüber, die nur kommen, weil ihnen die Überfahrt bezahlt wird; und die sich hier 1000 bis 2000 Pfund ersparen wollen – worauf sie nach Erreichen dieses Ziels wieder abhauen.
Und diese Einwanderer, die keine sind, verderben den wirklichen Migrants, die sich hier freiwillig oder gezwungenermaßen festsetzen wollen, alle Chancen! Diese Auch-Migrants haben nur eine Absicht: sie wollen in möglichst kurzer Zeit möglichst viel Geld verdienen. Zehn 'Newssies' (Pedro benutzte durch seinen auserwählten Umgang viele Slangausdrücke, die Willi unbekannt waren) vollbringen heute Arbeitsleistungen, die früher nur von hundert Einheimischen zustandegebracht wurden! Das ist keine Übertreibung!" meinte Pedro auf die ungläubige Miene Willis hin.
"Den Unternehmern gefällt dies natürlich sehr. Bei einem Bruchteil der Lohnkosten werden äquivalente Arbeitsleistungen erbracht. Mein Vorarbeiter hat zu mir gesagt: Wir würden ja lieber Neuaustralier einstellen. Aber was wäre die Folge davon? Dann würden w i r entlassen – oder von unseren eigenen Leuten verprügelt werden!"
Höger erzählte dem Cleaner von seinen persönlichen Schwierigkeiten im Büro, vor allem mit den jungen australischen Kollegen.
"Ich verstehe ja vollkommen, daß sie mich aus ihrem Nichtstuer-Klub heraushaben wollen", führte er aus. "Aber ich würde ohne Beschäftigung, beim bloßen Herumsitzen, einfach verrückt werden. Ich muß mit einigermaßen gleichmäßigem Tempo fortarbeiten. Die Trödelei, wie ich sie bei den Jungen sehe, liegt mir nicht. So leiste ich eben das Pensum von drei der Lästerer. Die noch froh sind, wenn sie nichts zu tun haben. Wie du schon erwähnt hast, beim Chef hat man dadurch einen Stein im Brett. Aber dafür fallen die anderen über dich her!"

Vor einer Woche war Willi in Begleitung von Gudrun und Werner durch die City gebummelt, um ein Hochzeitsgeschenk für Uschi und Rolf auszusuchen. Mit einem Geshäftsinhaber, der zugleich Produzent elektrischer Haushaltsgeräte war, kamen die drei in ein längeres Gespräch. Als der Australier erfuhr, daß Willi technische Ausbildung besaß, erwähnte er, sein größtes Problem sei es, dem australischen Arbeiter Sorgfalt und Genauigkeit anzugewöhnen. Auch lerne er Deutsch, da er viele Handelsbeziehungen mit Western Germany unterhielt. Die importierten Waren seien zwar auch nicht fehlerlos, aber im Durchschnitt von guter Qualität.
Es tat dem Österreicher ungemein wohl, mit einem Menschen sprechen zu können, der ihm so aufgeschlossen entgegenkam und ihn als gleichwertig behandelte. Als die drei Europäer bereits ihre Schritte über die Schwelle lenkten, begleitete er sie hinaus und rief ihnen beim Abschied zu: "Ich freue mich, euch junge Menschen in Australien zu sehen. Good Luck!"
Ob des bewiesenen guten Willens übersah der Österreicher gerne, daß das Paket mit dem eben erstandenen Geschenk nicht besonders sorgfältig verschnürt worden war...

* * *


Die Sonntage verliefen nun für Willi abwechslungsreicher. In aller Frühe holte ihn Erwin mit seinem klapprigen Morris ab - er hatte sich weiter in Schulden gestürzt – und sie fuhren zum Tennisplatz hinaus, wo bald Mädchen und Burschen mit Autos, Motorrädern oder per Pedes eintrudelten. Die Gesellschaft setzte sich aus Deutschen, Österreichern, Holländerinnen und einem deutschsprechenden Australier zusammen.
Als Willi den kernigen Schlosser Fritz aus Kärnten zum ersten Mal seit Bonegilla hier wiedersah und sich mit ihm unterhielt, wirkte das so belebend wie ein frischer Wind von den Bergen seiner Heimat. Fritz verdiente gut, fuhr mit einer nagelneuen, rotblitzenden Puch-Sportmaschine herum und hatte es sogar zu einer dazupassenden rothaarigen Freundin aus Neuseeland gebracht.
Wie üblich, war er guter Laune und voll Humor. Umso mehr überraschte es Willi, als er ihm erzählte, daß er eisern spare, um in wenigen Jahren wieder nach Europa zurückkehren zu können.
"Ich kann nicht behaupten, daß mir die Landschaft oder das Klima nicht zusagt – aber die Menschen passen mir nicht.
Wenn ich durch den Betrieb gehe, wenden sich alle Blicke mir zu, und es wird getuschelt und geraunt. Keine Ahnung, was die da immer zu besprechen haben!" Der Österreicher brachte dies natürlich im urigsten kärntnerisch vor. Seine blauen Augen lachten dabei hell.
"Dieselbe Erfahrung muß ich leider auch tagtäglich machen." Willi vermied es aber, den heimlichen Nervenkrieg zu schildern. "Und das eine kann ich dir sagen: auch mir gefällt diese Art nicht besonders."
Es blieb natürlich nicht allein beim Tennisspielen, man pflegte nebenbei eine gesellige Runde. Die Neuseeländerin hatte eine Freundin, die Willi in den folgenden Wochen als temperamentvolle Gastgeberin 'internationaler' Parties kennenlernen sollte. In ihrem großen Wohnraum trafen sich so alle vierzehn Tage gutgekleidete, halbwegs gutgelaunte Europäer beiderlei Geschlechts und der verschiedensten Nationalitäten, um dort in diesem exklusiven Zirkel zu plaudern, ein wenig zu trinken und viel zu tanzen. Unter der sanft führenden Anleitung einer charmanten jungen Dame riß sich Willi immer öfter zusammen, legte seine Hemmungen ab und schwang das Tanzbein bald wie alle anderen auch. In kurzer Zeit besaß er mehr Bekannte als er in Österreich je gehabt hatte. Hier im Ausland reichte ihn ein Emigrant zum anderen weiter, denn jeder war froh und willig, in der isolierten Situation unter den Australiern, einen möglichst großen Kreis gleichgesinnter Menschen zu kennen.
Da der Kärnter mit der Neuseeländerin ziemlich oft und intim herumtändelte, erkundigte sich Willi, ob er vielleicht die Absicht habe sie zu heiraten.
"Jo, des is so a Gschicht!" fing Fritz verlegen zu erklären an.
"Wann sie net a so a guate Haut wa, hätt i ma dös no gornet übalegt." Der Kärntner besann sich kurz und fuhr dann in gespreiztem Hochdeutsch weiter: "Aber seit ich sie vor kurzem in ihrem Untermietzimmer heulend überrascht habe, geht mir die Idee öfter durch den Kopf. 'Bist du dir im klaren', hab' ich sie gefragt und ihr die Tränen aus den Augen gewischt, 'daß ich wieder zurückfahren werde? Daß ich dir anfangs vielleicht keine Waschmaschine werde hinstellen können? Und du unsere Leintücher mit der Hand auswringen wirst müssen? Daß die Frauen bei uns zuhause nicht in dem Maße den Boß spielen, wie sie es hier tun?' 'Das ist mir alles egal, aber bitte heirate mich!' hat sie draufhin losgeheult."
Der Kärntner senkte seine Stimme leicht ab, denn die langhaarige, rotblonde Neuseeländerin ließ sich nun in ihrer Nähe nieder, um mit einem Tschechen zu plaudern. "Sie versteht nämlich schon ziemlich viel Deutsch", klärte er Willi auf. "Ist ja ein intelligentes und nettes Mädel. Aber", er seufzte etwas auf, "ich weiß ganz bestimmt – unsere Frauen sind doch anders. Und das macht die Entscheidung so schwierig! Ja, wenn ich hierbleiben würde..."
In der ungezwungenen, freundschaftlichen Intimität ihrer Parties, überwand Willi langsam seine Scheu vor fremden Menschen und entwickelte sich zu einem gesuchten Party-Löwen. Durch den Umgang mit so verschiedenartigen Menschen gewann er beträchtlich an Selbstsicherheit, was ihn in zunehmendem Maße gereifter erscheinen ließ. Ganz, ganz langsam fiel das extrem Jungenhafte von ihm ab, eine härtere Schale wurde sichtbar, die er in dem dauerndem Kampf um die Selbstbehauptung erwarb.
Manchmal ließen sich einige der Burschen spät in der Nacht mit dem Taxi nach Hause fahren. Da führte ihr Weg meist ein Stückchen am Hafen vorbei, wo hellerleuchtete Ozeandampfer vor Anker lagen. Deren Anblick riß den Kärntner einmal zu dem Ausspruch hin: "Wann i amol hamfoa, dann bestell' i a Musikkapölln, und di muaß blosn, bis eana die Zungan aussihängt!" Fritz hatte sich dann in die Polsterung des Holden zurückgelehnt, und seine schiefe Adlernase verzog sich vor Belustigung über das eben ausgemalte Stimmungsbild.

* * *


Ein Ereignis veränderte die Position Willis im Büro wesentlich. Vor Jahren war ihm als Werkstudent eine technische Idee gekommen, für die er später, nach einigem Herum-Experimentieren und einem langwierigen Papierkrieg, schließlich ein Patent erwarb. Das Mißlingen der finanziellen Auswertung des Schutzrechtes, der damit verbundene Zeitaufwand, der ihn beim Studium behinderte, und nicht zuletzt die betrogenen, allzu großen Hoffnungen hatten schließlich ihren Teil dazu beigetragen, daß Willi Höger alles hingeworfen und dem Alten Kontinent wütend, enttäuscht und niedergeschlagen den Rücken gekehrt hatte.
Nun griff das Wirken in der Vergangenheit mit einem Schlag in die augenblicklich nicht sehr rosige Gegenwart herein und verhalf Willi zu einer Periode ruhigen und angesehenen Schaffens in seiner australischen Wahlheimat.
Bei einem Gang durch die Montagehalle entdeckte er eine pneumatische Hebevorrichtung an einer der riesigen Tunnelbohrmaschinen, die ihn brennend interessierte. Er untersuchte die Konstruktion näher und stellte zu seinem Erstaunen fest, daß die Ausführung seiner in Österreich geschützten Idee nahezu nachgebildet zu sein schien. Beim Mittagessen erwähnte er diese Entdeckung vor Jack Whitt, der dies kaum zu glauben vermochte.
Am nächsten Tag brachte Willi die Patenturkunde mit ins Büro.
Die meisten der Angestellten nutzten nun üblicherweise die Mittagszeit zum Kartenspielen oder Zeitungslesen, oder guckten als Kiebitze beim Schachspielen zu. Es erregte daher einiges Aufsehen, als sie den jungen Österreicher inmitten einer Gruppe der angesehensten Designer erblickten, und er den anerkannten Fachleuten des Betriebes an Hand von Skizzen offensichtlich etwas zu demonstrieren versuchte. Man konnte sehen, wie die alten Hasen auf ihn einredeten, aber der Österreicher schüttelte nur energisch und temperamentvoll den Kopf und verwies auf eine Druckschrift, worauf sich die ihn umgebenden Australier erstaunt und bedeutsam anblickten.
Die Diskussion dauerte eine volle Stunde. Anschließend nahm Jack Whitt die Druckschrift an sich und verschwand damit im Ingenieurbüro.

Eine Unzahl fragender Blicke ruhten mehr oder minder verstohlen auf Willi Höger, als er sich hinter dem Reißbrett wieder in Positur setzte.
Der ältere Russe stolzierte bald darauf daher und erkundigte sich spöttisch, ob Willi den Australiern etwa das Kommunistische Manifest erläutert habe. Aber der Österreicher wehrte nur unwillig ab und schwieg sich beharrlich aus. Er ließ ganz bewußt die Zeit und die Klatschsucht der Aussie-Brüder wirken.
Und tatsächlich, bereits am folgenden Morgen vermochte er die ersten Auswirkungen dieser Unterredung am Benehmen einzelner Personen wahrzunehmen. Der Checker ließ die verächtliche Herablassung im Umgang mit ihm auf einmal weg. Obwohl er mit dem Österreicher ganz gerne ein Hühnchen gerupft hätte, dem es ein einziges Mal gelungen war, ihm, dem Prüfer einen Fehler nachzuweisen. Ihm ein Unrecht nachzuweisen. Und nun auf einmal sah der Australier den Österreicher in einem anderen Licht und zwang sich sogar zu einem belanglosem Gespräch.
In Windeseile hatte sich im Büro herumgesprochen, daß der bloody Austrian schon vor Jahren die derzeit als technische Neuheit gepriesene Entwicklung vorweggenommen, das spezielle Problem zumindest theoretisch am Papier gelöst hatte.

* * *


Mitten in der Woche klopfte es plötzlich an Willis Mattglasscheibe zuhause, und vor ihm stand – Hugo Prattert, der beinahe vergessene Kumpan aus der Buschzeit.
Durch seine erschreckende Magerkeit noch größer wirkend als früher, glänzten seine Augen unruhig oberhalb der hohlen, eingefallenen Wangen. Der Österreicher erschrack ob des abgezehrten, gespenstischen Aussehens seines Freundes.
"Wie siehst du denn aus?" erkundigte er sich entsetzt. Hugo erklärte, daß er nach Abreise des Wieners aus dem literarischen Kreis unter der abendlichen Dusche, furchtbar unter der Einsamkeit zu leiden begonnen habe. Sein Englisch ließ noch immer zu wünschen übrig, und die restlichen Kumpel im Busch sprachen alle miteinander kein Wort deutsch.
"Kurz nachdem der letzte Deutschsprechende weggezogen war, eben der Wiener, bekam ich regelrecht Wahnvorstellungen. Rannte zeitweise wie belämmert durch die Gegend. Bevor ich da in den Eukalyptuswäldern einen richtigen Koller bekomme, bin ich eben abgehauen. Jetzt sitze ich da, in Melbourne. Wohne ebenfalls in eurer Nähe. Werner und seiner Gudrun habe ich schon einen Besuch abgestattet."
Er berichtete desweiteren, daß man an den Baustellen nun ziemlich schufte. Als Folge davon sei die Zahl der Unfälle im Steigen begriffen.
"Allmählich zieht auch im letzten Winkel Australiens der neue, der europäische Geist ein", setzte Hugo sarkastisch hinzu. Der Wiener sei mit der ROMA nach Europa abgedampft. Wie war der nicht von Australien begeistert gewesen, obwohl er genaugenommen nur zweieinhalb Jahre die Bäume im Busch gesehen hatte!
"Und jetzt muß ich eben versuchen in der Stadt eine Arbeitsmöglichkeit zu finden", meinte Hugo abschließend. "Hoffentlich gelingt mir dies bald."
Froh gelaunt und zuversichtlichen Mutes spazierten die beiden über naßglänzende Gehsteige in Richtung Innenstadt, wo sie ein China-Restaurant aufsuchten, um ihr Wiedersehen gebührend zu feiern – mit wohlzubereiteten, von der üblichen Einheitskost abweichenden Speisen. Der "Buschläufer" lechzte geradezu danach.

* * *


Auch in der unmittelbaren Nachbarschaft traten einige bedeutenden Veränderungen ein.
Der Bulgare Pedro zog in ein anderes Stadtviertel, von wo er die nächtlichen Eskapaden seiner Angetrauten besser und effektiver verfolgen konnte.
Jimmy und Robert hatten, quasi über Nacht, sang- und klanglos ihr Zuhause in Melbourne verlassen, da sie in einem Goldbergwerk, hunderte Meilen weiter, ihr Glück versuchen wollten, und der Job unmittelbare Arbeitsaufnahme erforderte.
So maßlos alltäglich die Beweggründe für das Verschwinden dieser drei Personen auch war, umso übertrieben tragikkomisch gestaltete sich die 'Umsiedlung' von vier im Hause lebenden Argentiniern, die als Seeleute von ihrem Schiff desertiert waren, nur um an den Wundern des australischen Lebens teilhaben zu können.
Alle vier waren unbescholtene, arbeitswillige Handwerker. Aber nach sechs Monaten gnadenweise gewährten Aufenthaltes im Lande, brach eines Morgens das Verhängnis über sie herein.
Sie hatten sich dem berühmt-berüchtigten Dictation Test, einem höchst staunenswertem Produkt australischer Hinterfotzigkeit, unterziehen müssen.
Unerwünschte Ausländer, denen kein kriminelles Vergehen nachgewiesen werden konnte, wurden nicht etwa einfach ausgewiesen, das hätte eine äußerst ungünstige Optik ergeben. So ein Vorgehen verträgt sich nicht mit der Mentalität der Einwohner des Fünften Kontinents. Soetwas könnte einen Fremden vielleicht in Germany passieren, may be. Nicht aber hier.
Hierzulande wurde dieses Problem auf fernöstliche Weise, ja beinahe asiatisch fein durch die Blume mitgeteilt, wenn auch der australische Sprachgebrauch ansonsten kaum zu blumenreichen Wendungen neigt.
Kurz und gut, die Einwanderungsbehörde wies die unerwünschten Asylanten an, sich einer Sprachprüfung zu unterziehen. Nicht etwa in Englisch, das wäre zu einfach und würde überdies möglicherweise nicht den gewünschten Effekt zeitigen. Nein, in irgendeiner der vielen hundert lebenden Sprachen dieser unserer Welt.
Bestand der Kandidat diese Prüfung in Wort und Schrift, durfte er weiter im Paradies der Massen verweilen. Ansonsten wurde man eben deportiert, weil man den 'Sprachtest' nicht bestanden hatte, immerhin eine feine Umschreibung für die Ausweisung.
Bei den vier Argentiniern fiel übrigens einer in Griechisch durch, ein anderer kam nicht ganz mit den cyrillischen Buchstaben zu Rande, und die restlichen zwei scheiterten fatalerweise an der Übersetzung eines Gedichtes von Konfutse.
An jenem bewußten Morgen kochte Willi gerade die Milch am Gasherd, als er auf der Straße zwei schwarze Limousinen erblickte, in der seine vier Bekannten, sorgsam von Herren in Zivil begleitet, entschwanden. Drei Tage später lief das Schiff nach Südamerika aus, auf dem die Deserteure, trotz verzweifelter Intervenierungsversuche der Hausfrau, einem verfrühten Wiedersehen mit ihren Familien entgegenfuhren.
Jenes Haus in nicht allzugroßer Entfernung von der City, in dem Willi wohnte, lag nun für Wochen totenstill und vereinsamt da, bis wieder neue Mieter einliefen. Unter ihnen befand sich eine abgelebte Dreissigerin, die angeblich als Sängerin in Nachtlokalen zweiter Klasse aufgetreten war – in England. Vor noch nicht allzulanger Zeit in Australien gelandet, weil ihr das Heimweh in London zu schaffen gemacht hatte, ging sie derzeit keiner ersichtlichen Tätigkeit nach. Sie marschierte zwar jeden Vormittag auf Stellensuche, aber ohne Erfolg. Das Nachtleben in Melbourne war eben nicht genügend ausgeprägt oder entwickelt zu nennen.
Wie dem auch sei – jene Dame interessierte sich ganz gewaltig für den jungen Österreicher. Vergebens versuchte sie ihn zu Ausflügen mit ihrem Wagen zu animieren, vergebens verstrickte sie ihn in Gespräche am gemeinsamen Gasherd. Er verhielt sich ihr gegenüber gleichmäßig freundlich – und stur. Obwohl die vielen Steak and Eggs die Fleischeslust nicht gerade verminderten, konnte er in ihr nicht mehr als eine mittelmäßig intelligente Gesprächspartnerin erblicken. Schon die Art, wie sie sich kleidete, insbesondere die Farbauswahl, fand er gräßlich. Meist hopste sie in rotkarierten Hosen herum, trug einen grauen Pulli über die flachen Brüste und, beim Kochen, eine knallgelbe Schürze. Willi flößte die Kombination all dieser Eindrücke eine solche Vorstellung von Perversem und Ordinärem ein, daß er sich nicht entschließen konnte, ihre Annährungsversuche zu erwidern.
Am Anfang ihrer Bekanntschaft war er sich natürlich keineswegs über ihre Gefühle im klaren. Doch in diesem Punkt erwartete ihn eine baldige Aufklärung, als er ungewollt ein Gespräch belauschte. Im Bett noch wach liegend, hörte er eines Nachts die Barsängerin mit einer älteren, alleinstehenden Mieterin, die bisher ein jahrzehntelanges, abgeschlossenes Leben im Haus geführt hatte, auf der Veranda plaudern. Die überfette Alte, die sich vornehmlich von Würstchen ernährte und selbst schon einem ähnelte, erkundigte sich bei der Jüngeren im scherzendem Ton, wie es ihrem Boyfriend gehe.
"Ach, der will nicht anbeißen. Aber ich hoffe ihn noch soweit zu bringen. Sie meinen doch den Austrian?"
"Ja, denselben!"
"Einmal wäre ich beinahe schon aufs Ganze gegangen", fuhr die Stimme fort. Der junge Mann richtete sich im Bett halb auf, damit ihm ja kein Wort der Unterhaltung entging. Aufmerksam lauschte er nun. Das ging ja ihn an!
"Da komme ich mal spät nachts nach Hause und klopfe an die Glasscheibe seiner Tür, in der Hoffnung, daß er vielleicht aufwacht. Aber es hat sich nichts gerührt." Vor Spannung fiebernd, horchte Willi im Dunklen.
Jetzt erinnerte er sich an das Geräusch im Halbschlaf, als ob jemand mit einem Fingerring geklopft hätte. Höchst undeutlich hatte er damals einen vorüberhuschenden Schatten wahrgenommen, war aber im nächsten Augenblick wieder ins Land der Träume entglitten. Nun wußte er: die Künstlerin war zu allem bereit. Doch leider nicht er, obwohl ihm klar war, daß es so ohne ein weibliches Wesen nicht weitergehen konnte. Die Chancen und Möglichkeiten bei Judith waren auch endgültig vorbei, hatten doch Gerhard und sie außerhalb Melbourne's einen besser bezahlten Job gefunden und waren verzogen.
An einem langen, rohgezimmerten Holztisch, umgeben von antiquarischen Möbeln, saßen an einem Ende seine Landlady mit der Sängerin, die sich ziemlich rasch miteinander angefreundet hatten. Am anderen Ende diskutierte Willi mit einem Bekannten seiner Vermieterin, obwohl seine Konzentration auf das Gespräch zu wünschen übrig ließ. Mit einem Ohr lauschte er gleichzeitig der Unterhaltung der beiden Damen, denn das blöde Kichern seines männlichen Gegenüber konnte ihn nicht fesseln. Was er dabei aufschnappte, war bestürzend genug, äusserte die famose Künstlerin doch eben, unverhohlen zu Willi herüberschielend, an die etwa 25 Jahre ältere, weißhaarige Dame gerichtet:
"...Und ich würde gut und gerne drei Pfund geben, wenn ich eine Nacht mit ihm verbringen könnte..."
Flink wanderten ihre Schweinsäuglein zwischen ihm und der Frau hin und her. Die Ältere warf ihr einen kurzen, verächtlichen Blick zu und brachte dann halblaut heraus: "Schämst du dich denn garnicht, soetwas zu sagen?" Und nach einer Weile, während sie sich ruhig mit ihrer Näharbeit beschäftigte: "Aber du bist schon so – du versuchst die Männer immer nur zu entwürdigen, wenn du mit ihnen beisammen bist!"
Der junge Mann ließ sich nicht anmerken, daß er Zeuge dieses Wortwechsels geworden war. Nur sein Abscheu vor diesem Weib verstärkte sich weiter.

* * *


Mitte des Jahres erhielt Willi, nicht zuletzt als Ergebnis seiner jüngst erreichten Anerkennung in der Firma, eine Gehaltserhöhung. Vielleicht war dies auch auf eine Intervention Jack Whitts zurückzuführen, den er einmal unwillig zur Rede gestellt und sich erkundigt hatte, ob man eigentlich mit seinen Leistungen zufrieden sei.
"You are not too bad, Willy", hatte die Antwort gelautet. Und Willi war mit den Australiern immerhin so vertraut, daß er diese Äusserung als Lob auffasste. Doch er hatte nun mal die Absicht, seinem Vorgesetzten mehr als diese reichlich abgedroschene Phrase zu entlocken. Und es gelang ihm auch.
" Du kannst sicher sein, daß dein Output an den höchsten Stellen im Unternehmen Beachtung finden wird...", vernahm er schließlich mit einiger Genugtuung.
"Deine Zukunft ist bei uns gesichert!" hatte Mr. James Hartley bemerkt, als er ihn von der Gehaltserhöhung informierte und beglückwünschte. Und das bedeutete immerhin something!
Das Unternehmen stand in Australien und dem Pazifischen Raum konkurrenzlos da. Entlassungen waren nicht zu befürchten, viel wert in einer Zeit, wo es sowohl den Altaustraliern wie im gesteigerten Maße den "Newssies" schwerer und schwerer fiel, einen Job zu finden. Immerhin sprach man in diesen Monaten bereits von zirka 62.000 gemeldeten Arbeitslosen...
Trotz alledem verließen monatlich zwei bis drei Mann Mills Ltd, um bei besser zahlenden Firmen unterzukommen, oder auch nur um sich einen Job mit günstigerem Betriebsklima zu suchen. Obwohl die Australier praktisch unter sich waren, störte viele die Atmosphäre dieses Großraumbüros. So waren Abgänge und Neueinstellungen an der Tagesordnung, und niemand regte sich darüber weiter auf.
Bloß, als ein dunkelhäutiger indischer Ingenieur, der hier einige Praxismonate verbrachte, auf einmal spurlos verschwunden war, und auch in der Führungsspitze niemand wußte, was mit ihm geschehen war, stellte man die tollsten Mutmaßungen an.

* * *


Im Miethaus fand Willi nun keine geeigneten Gesprächspartner mehr vor, deshalb suchte er nach Büroschluß manchmal Hugo auf, der jetzt bereits die sechste Woche vergeblich auf Jobsuche ging. Augenblicklich lag er mit einer Verkühlung zu Bett. Auf dem Stuhl daneben stand eine halbleere Pulle Wein und die letzten Überbleibsel einer Packung Lucky Strike neben dem randvoll gefüllten Aschenbecher. Seit Tagen schon lag er in diesem Zustand mit hoher Körpertemperatur herum. Um sich die Langeweile zu vertreiben, hatte er begonnen Lampenschirme und Dekorationen aus Papier herzustellen.
Nun kramte er unter seinen Briefen: "Da, sieh mal! Wird dich interessieren." Hugo reichte ihm eine Ansichtskarte hin. "Ach, der Wiener, der Richtung Heimat abgereist ist." Willi überflog die Zeilen. Er stutzte, las noch einmal und blickte dann entgeistert auf seinen Freund hernieder.
"Ist der Mensch denn wahnsinnig geworden? Nach einer Woche in seiner Heimatstadt Wien will er mit dem nächsten Dampfer wieder nach Australien 'zurückschiffen'? Ja, was ist denn bloß in den gefahren?"
Hugo wiegte bedächtig sein Asketenhaupt, das durch die Krankheit noch eingefallener war und seltsam fiebrig glühte: "Ich weiß, daß er an die 1000 Pfund mitgenommen hat. Er könnte sich also in Ruhe eine Dauerstellung suchen und dann eine kleine Wohnung einrichten, oder einen Wagen kaufen..."
Der Österreicher suchte eifrig nach einer Erklärung: "Wie ich ihn kenne, wird ihn einfach eine Art Panik befallen haben, als er sich zuhause mit dem nun bereits ungewohnten Lebenstil konfrontiert sah. Aber den Schock hätte er sich doch vorher bereits ausmalen können. Hätte sich geistig auf diese große Umstellung Busch – Großstadt Wien vorbereiten müssen, aber so...?"
"Der Trouble liegt woanders", fuhr Hugo dazwischen. "Er hat in Wien nur mehr seinen Vater, mit dem er sich aber nicht richtig versteht. Alle anderen Angehörigen sind bereits verstorben. Deswegen wird er sich in der Stadt so unheimlich fremd vorgekommen sein, so verlassen und allein. Hier in Australien, im Busch, hatte er doch gute Kameraden, brauchte er sich nie ganz einsam zu fühlen. Na, und bei den Gören hat er leider wenig Erfolg, der Arme!"
"Ja, aber du selbst warst doch verzweifelt, als du der einzige deutschsprechende Kumpel da oben warst...?" entgegnete ihm Willi verständnislos.
"Stimmt, aber da gibt es einen kleinen Unterschied zwischen uns beiden. Freddy sprach gut Englisch, erinnere dich nur! Und vor ein-zwei Jahren wimmelte die Baustelle noch von Deutschen. Es hat ihm dort nie an Gesellschaft gefehlt."
Eine minutenlange Redepause füllte die Zeit aus. Der Österreicher fing wieder zu sprechen an: "Ein Australier würde dir bei dieser Story einfach triumphierend ins Wort fallen: 'Aha! Da hast du es wieder! Er liebt den australischen Lebensstandard, den australischen Lebensstil! Freddy liebt den lovely bush mehr als euer bloody Vienna!' Und das Eigenartige daran ist, daß er nicht einmal ganz Unrecht hätte. Nur, Freddy zieht das Buschleben nicht vor, weil es etwa besser, schöner, gesünder oder weiß der Kuckuck was ist..., gerade das unterstellt ihm aber der Durchschnittsaussie. Sondern nur, weil er sich im Lagerleben geborgener fühlt als im Dschungel der Großstadt. Weil er zutiefst verunsichert ist, weil er nicht weiß, wie er sein Leben künftighin sinnvoll aufbauen soll! Der dort bis ins Letzte geregelte Tagesablauf ihm aber alle diese Entscheidungen abnimmt!!" Immer schriller erhob sich die Stimme des Österreichers, in wütender Gereiztheit schrie er diese Thesen heraus. Allzuviel lastete auf seinem Gemüt, das nach Erleichterung drängte.
"Die Australier brauchen sich also einen Dreck darauf einzubilden, wenn Fred aus Europa hierher zurückkehrt und wieder in die Einsamkeit der Buschlandschaft flüchtet. Nun ist er für ein normales Dasein in einer zivilisierten Welt endgültig untauglich geworden, nach zwei geschlagenen Jahren in der Hölle diese Eukalyptuswälder.
Was ist das schon für ein Leben?
Ein verlorenes, ein Hundeleben.
Kannst du dich erinnern, wie der Ungar droben in Mc.Kay Creek gebrüllt hat, wenn er besoffen war?
'Warum bin ich nach Australien gefahren? Warum bin ich hier? Sechs Jahre – ein verpfuschtes Leben!!!'." Sie schwiegen beide lange Minuten, in Nachdenken versunken.
"Hören wir zum Lamentieren auf, sonst beginnen wir uns noch selbst leid zu tun", schlug Hugo vor. "Ich tue es ja ohnehin zur Genüge."
Als Willi darauf kaum reagierte und in ein stumpfes, bohrendes Grübeln verfiel, fing Hugo wieder an zu reden.
"Soll ich dir mal 'ne ganz schweinische Geschichte erzählen - die nebenbei noch zum Lachen reizt? Nur so zur Ablenkung und Aufheiterung?"
Der Freund nickte nur begierig und erfuhr so wohl seine letzte Buschgeschichte, eine unverhüllte Schilderung von Frechheit, Not und menschlichem 'Erfindungsgeist'.
"Wir hatten da einen flotten, etwa dreissigjährigen Polen in unserer Arbeitspartie, der, nun...den man wohl als argen Rowdy bezeichnen konnte. Er und sein Kamerad erfuhren nun eines Tages, daß im Auffanglager Bonegilla eine polnische Familie festsitzt und seit zwei Monaten auf die Arbeitszuteilung wartet.
Du weißt ja, wie schnell solche Gerüchte weitergetragen werden. Die beiden heckten nun einen unverschämten Plan aus, der mit der Zwangslage des Ehepaares rechnete, das auch für zwei Kinder zu sorgen hatte.
Sie liehen sich gute Anzüge aus, fuhren in das Lager, fanden die Familie. Der Mann befand sich gerade auf Stellensuche in der Umgebung. Unverschämt stellten sie sich als Fotoreporter einer Einwanderer-Zeitung vor und erzählten der Frau, sie würden von ihrem Los berichten und ein Bild von ihr bringen. Und vielleicht schon nach kurzer Zeit würde sich ihr Schicksal und das der ganzen Familie zum Besseren ändern...
Natürlich war die Frau bereit, und so machten sie zuerst im Lager einige Aufnahmen von ihr und den Kindern. Dann schlugen sie der nicht unhübschen Polin vor, eine zwanglose Tour in die nähere Umgebung zu machen, da man da ungenierter miteinander reden und eventuell noch ein paar Fotos knipsen könne.
Nach kurzem Zögern willigte sie ein."
Hugo, sein alter Buschgefährte, brach in einen Lachkrampf aus.
"Ich habe die Bilder später gesehen. Ein Striptease-Akt war noch der ungefährliche Beginn der Aufnahmeserie dieser beiden 'Fotoreporter'. Du kannst mir glauben, daß diese Gauner voll auf ihre Rechnung gekommen sind! Durch ihr sicheres Auftreten hat die Frau bis zuletzt an den Dreh mit der Reportage geglaubt, und sich dabei immer mehr vergeben, bis...na eben.
'Gehört das auch noch dazu?' hat sie dann zitternd gefragt. Na, was sagst du dazu?"
"Wenn ich nicht selbst ein wenig Einblick in die skurrilen Verhältnisse dieses 'Landes der unbegrenzten Unmöglichkeiten' hätte, würde ich mich einfach weigern, das zu glauben!" Willi räusperte sich trocken. "Aber so...?"
"Wenn Fred in Melbourne einlangt, kann er es bestätigen, er hat die Abzüge ebenfalls in der Hand gehabt", versicherte Hugo noch zum Abschluß.
"Solche Geschichten kann man bei BalzacU nachlesen. Hätte mir nie träumen lassen, daß soetwas wirklich passiert, hier und heute...", äußerte Willi noch, ein wenig enttäuscht über die nackte Banalität alles Geschehens auf dieser Welt.

* * *


Gleichmäßig eilte der Zeichenstift übers Papier. Seine Bewegungen muteten automatisch an. Während er sich mit der vorliegenden Aufgabe beschäftigte, wälzte er gleichzeitig ruhelos seine privaten Probleme um und um. Das verkürzte die Bürozeit wesentlich.
Anfangs hatte er gehofft, man würde ihm nun interessantere, selbständigere Konstruktionen zumuten, nun, da er bewiesen hatte welche Ideen in ihm steckten. Aber nichts dergleichen geschah.
Jack Whitt, der nette, sympathische Kerl hatte ihm heute Früh die Patentschrift wieder zurückgegeben. "Ein sehr solider, vernünftiger Vorschlag!" habe der Chefingenieur geäußert und weiters: "Der Mann ist offenbar ein Denker. Aber wir haben die Idee ja bereits in die Tat umgesetzt."
Insgeheim hatte Willi erwartet, der Ingenieur würde vielleicht ein paar persönliche Worte über die Angelegenheit verlieren. Aber er hatte ihn nicht einmal zu Gesicht bekommen.

Und dann trat das ein, was seiner Karriere bei Mills Ltd, wenn man so sagen will, ein jähes Ende bereitete.
Der Anlaß erwies sich als eher geringfügig. Aber wie bei einem Relais, das durch geringste Stromstöße große Energien umzulenken vermag, wirkte jetzt die Äusserung eines Aussies an einen anderen als auslösender Impuls, um bei Willi alle Sicherungen durchbrennen zu lassen.
Als sich der Österreicher emsig, mit unbeweglichem, vielleicht leicht verärgert dreinblickendem Ausdruck, über die Zeichenblätter gebeugt hielt, pflanzten sich zwei junge Australier geradewegs vor seinem Tisch auf.
"Ich wette mit dir was du willst! Der fährt wieder nach Hause, der will sich auch nur 1000 Pfund ersparen!"
"I think, you are right, boy!" grinste der andere Bursche hämisch und schielte mit unaussprechlicher Geringschätzung auf den vor ihm arbeitenden Europäer hinunter.
Der junge Mann war sich bewußt, daß alles nur Theater war, in Szene gesetzt, um ihn zu ärgern. Oder auch, damit er begreifen sollte, daß sich die Australier keineswegs über seine wahren Absichten täuschen ließen: Genau das wollten sie ihm durch das laut geführte Zwiegespräch zu verstehen geben. Warum fanden sie nicht den Mut, ihn direkt anzusprechen, mit ihm darüber zu diskutieren?
"Sieh ihn dir an! Sieh ihn dir genau an: A Stranger in Paradies! Er ist mit den Arbeits- und Lebensbedingungen nicht einverstanden.
Er hat von lovely Steak and..."

Eine ungeheure Wut über die Demütigungen und Erniedrigungen, der man ihn bisher unterworfen hatte, ein unaussprechlicher Ekel vor diesen plappernden Idioten, die da über ihn herzogen, als ob sie die Reaktionen eines Versuchskaninchens beobachten wollten, nicht die eines denkenden und fühlenden Menschen, erfüllte den Österreicher plötzlich mit rasender Gewalt.
Langsam seinen Kopf hebend, sah er die beiden mit einem Blick an, vor dem sie unwillkürlich zurückwichen. Dann fauchte er einen Satz hervor, den die Burschen nur mit zynischem Grinsen quittierten: "Ja, Australien ist ein Paradies – aber ein 'Narrenparadies'!" Seine Augenlider zuckten und flimmerten, doch er versuchte sich zu sammeln. Einfach nicht hinhören und weitermachen, war seine Parole. Vergebens versuchte er die unaufhörlich heranschwellenden Wellen der Erregung zu kontrollieren.
Vergebens. Die Hypothalamusdrüse verströmte ungehemmt ihre Sekrete in das Kreislaufsystem des Körpers, der Blutdruck stieg, die Finger, die den Bleistift führen sollten, fingern zu zittern an, die Pulsfrequenz begann wie verrückt zu jagen und Fieberschauer schüttelten den jungen Mann, der mit furchtbaren Anstrengungen den Alarmreaktionen seiner irdischen Hülle Herr zu werden versuchte.
Vergebens.
Durch den Schleier des dröhnenden Blutes in seinen Adern hindurch wurde ihm bewußt, daß sich seine Gesichtszüge unter dem Erregungszustand grauenhaft verzerrten, allen zur Schau gestellt, unkontrollierbar eingefroren. Wie im Trancezustand erhob er sich, schritt taumelnd zum Kleiderschrank, zog sein Sakko über und eilte aus dem Saal, dessen Menschen er in diesen Minuten zu hassen begann.
Beim Betriebsarzt ließ er sich in einen Stuhl fallen, erklärte, daß er sich außerstande fühle, heute nochmals seine Arbeit aufzunehmen.
Er verheimlichte die Ursache seiner hochgradigen Erregtheit und ließ teilnahmslos die medizinische Untersuchung über sich ergehen. Noch eine Viertelstunde nach diesem panikartigen Anfall hämmerte der Puls mit 120 Schlägen in der Minute.
Beim Nebenausgang schlich er sich beim Portier vorbei und atmete erstmals befreit auf, als sei er eben einer Schreckenskammer entronnen. Innerlich hatte er bereits gekündigt bei Mills Ltd. Nichts, absolut nichts mehr zog ihn dorthin zurück. Das Gefühl der Erleichterung, das ihn beschlich war, als ob nach dem Besuch eines mittelmäßigen Films die Lichter im Kino wieder aufflammten.
Er trat auf die sonnendurchflutete Straße, und mit einem Schritt fand er sich mitten in einer anderen Welt, in der die eben erlebten Szenen im Handumdrehen der Vergessenheit anheimfielen. Der Bus brachte ihn in die Stadt, er bummelte gemächlich und genüßlich durch die verkehrsreichen Straßen.
Ein herrliches Gefühl der Freiheit überkam ihn.

* * *


Eine volle Woche lang hegte Willi nicht die geringste Absicht, jemals wieder das Werksgelände von Mills Ltd zu betreten. Er studierte sorgfältig die Rubriken der Stellenangebote, sandte Bewerbungsschreiben ab, besuchte die Bibliothek, lieh sich dort Bücher über Psychologie und Lebensführung aus. Er suchte nach einer wissenschaftlichen Erklärungen für das Versagen seines vegetativen Nervensystems in jenen bewußten Augenblicken bei Mills Ltd. Er erging sich in Grünanlagen, Parks, dem Botanischen Garten, lächelte über Sitzbänke im Stadtgebiet, die er mit schwarzen Buchstaben deutlich als "Nur für Frauen" reserviert vorfand. Ein Überbleibsel aus dem Victorianischen Zeitalter? Wie grundverschieden doch dieses Land von seiner Heimat war...

Häufig besuchte er Hugo, der nun das dritte Monat in Melbourne arbeitslos logierte. Der erklärte ihm, es sei ihm schon alles egal. Er warte nur noch auf die Ankunft Freddys und würde dann mit ihm irgendwohin in die Provinz ziehen. Hier könne man ja sowieso nicht sparen. Wenn hier in Melbourne keine Arbeit aufzutreiben sei, fahre er eben mit dem Wiener wieder nach Bonegilla. Dort sei man dann gezwungen, sie entweder aufzunehmen und zu verpflegen oder ihnen schleunigst eine Stelle zu verschaffen. Willi äusserte die Vermutung, daß man das in ihrem Falle nicht tun werde, hätten sie doch aus eigenem Antrieb ihre Arbeitsplätze verlassen.
Gleichzeitig wurde dem Österreicher nun bewußt, warum gerade Mitteleuropäer und Skandinavier mit so verzwickten, sorgendurchfurchten Mienen über die sonnigen Straßen Australiens liefen, warum gerade sie am ehesten zum Verzweifeln neigten, wenn es mit Wohnung oder Arbeitsplatz nicht gleich klappte. Warum gerade Menschen aus Staaten höchster sozialer Ordnung hier zu nutzloser Kritik, zu Schimpfkanonaden und am Ende zur Resignation neigten: Man war von Jugend auf gewöhnt durch öffentliche Einrichtungen, Institute, Schulen und Versicherungen einigermaßen sicher durch das Leben geleitet zu werden. Man wußte genau, wenn man entlassen wird, wartete eine ausreichende Unterstützung. Wenn sich irgendwo im Körper ein Wehwechen einstellt, läuft man zum Arzt und erhält fast kostenlos ein Medikament. Von der Geburt bis zum Sterben wird der Bürger vom Staat wohlbehütet.
Er hat mit Recht das Gefühl, daß ihm nicht zustoßen kann. Niemand kann einfach verhungern oder verschwinden, ohne daß die Öffentlichkeit helfend eingreift. Greift sie nicht sofort ein, sind noch immer Verwandte und Bekannte da, die geistige und materielle Unterstützung gewähren.
Nun wandert ein in solchem Klima aufgewachsener Mensch aus. Vom ersten Augenblick an wird er wiederum unter die Fittiche diverser Organisationen genommen, fährt frisch und munter um die halbe Welt, um dann tatendurstig in einem Auffanglager zu landen, wo noch immer für sein Wohlergehen Vorsorge getroffen wird. Der Einwanderer ist gewillt, sein Bestes für die neue Heimat zu geben und geht mit Optimismus und Zuversicht daran, den neuen Kontinent für sich zu erobern.
Aber gar bald merkt er, daß Arbeitsämter mitunter keinen Job anzubieten haben, Wohnungsvermittler erfolglos bleiben. Damit erreicht er ein Übergangsstadium, wo er, der Einwanderer, leicht verzweifelt und deprimiert sein Schicksal beklagt.
In diesem Stadium war Hugo Prattert angelangt. Auf einmal verließ er sich auf seinen Kumpel Fred. Mit ihm zusammen würde es sicherlich klappen, hoffte er. Und baute die Illusion auf, daß man sie schlimmstenfalls in Bonegilla versorgen würde. Doch die Wohnblocks dort waren mit Neuankömmlingen überfüllt, die Aussichten, Hilfe zu erhalten praktisch Null.
Er selbst, Willi Höger, war gleich am 'Tag danach' aufs Arbeitsamt gelaufen. Derselbe Beamte, wie vor nahezu einem Jahr. Die gleichen Fragen, dieselben Antworten.
"Sie hätten Ihre Arbeitsstelle nicht aufgeben sollen.
Es ist nahezu unmöglich, für Sie einen Job zu finden.
Help yourself! Hilf Dir selbst! "
Er war überhaupt nicht enttäuscht über den Ausgang dieses Interviews. Er mußte seinen eigenen Weg finden, durfte und konnte sich auf niemand sonst verlassen, als auf sich selbst, auf seine eigene Kraft und Findigkeit.
Das Wichtigste zunächst war, bei Mills Ltd Schluß zu machen, offiziell ein Ende zu setzen. Dazu war er gezwungen, noch einmal dort vorzusprechen, seinem Chef James Hartley von seiner Kündigung Mitteilung zu machen. Er schob diese Entscheidung auf die lange Bank, versuchte sich vor ihr zu drücken.

Gelegentlich eines Besuches beim Ehepaar Meier war er baß erstaunt, als er vernahm, daß Kurti Meier bereits die Schiffspassage nach Europa gebucht hatte und die Freizeit nur mehr mit dem Sammeln von Souvenirs, Retrospektiven und Pläneschmieden für die Zukunft totschlug.
"Also nichts mit dem 2000-Pfund Aufenthalt in Australien?" drang Willi bissig in seine Landsleute.
"Das haben wir nicht mehr notwendig", erklärte Kurti in seiner lauten, großsprecherischen Art. "Haben vom Onkel, haha!! Ein guter Gag! Hahaha!! Haben vom Onkel aus Europa – ein Geschäft geerbt. Was sollen wir noch hier?"
Nachdem er in den letzten Monaten die derben Ausdrücke, mit denen er gewöhnlich um sich zu werfen pflegte, vermieden hatte – die Schwierigkeiten der Assimilierung hatten ihn zusehens bescheidener und ruhiger gemacht – brach mit dem Silberstreifen am Horizont sogleich wieder die alte Natur hervor. Nun, knapp vor ihrer Abreise nach dem alten Kontinent, lautete das Resümee ihres Australien-Abenteuers: Man könne bei vernünftiger Einstellung auch in Australien ganz gut leben.
Unvernünftige Menschen, ziellose Charaktere – alles Schwächlinge. Und ich gehöre auch dazu. Schöne Erkenntnis.
Mit diesen bitteren Erkenntnissen zog Willi an diesem Tag leicht entmutigt Bilanz über seine eigene Vergangenheit.

* * *


Eine Woche danach machte sich Willi Höger auf dem Weg zu Mills Ldt. Er trug sich mit dem Gedanken, es noch einmal zu versuchen. Beim Herannahen des Autobus schwanden alle Vorsätze dahin. In Sekundenschnelle fielen ihm all die Diskriminierung, Ärgernisse und Stunden der Verzweiflung wieder ein, die er in der Firma erlebt hatte. Rasch machte er kehrt, warf sich in seinen besten Anzug, verfasste ein Kündigungsschreiben und stand Mitte des Vormittages am Gang zum Zeichensaal. Die bloße Vorstellung, hier weitermachen zu müssen, flößte ihm Grauen ein. Ein junger Italiener wollte zufällig an ihm vorbei in den Kopierraum, der Österreicher hielt ihn auf und ersuchte ihn, Jack aus dem Saal zu holen.
Leicht erstaunt und wie gewöhnlich mit einem wohlwollenden, belustigtem Lächeln um die Lippen, musterte ihn sein Vorgesetzter: Kein Wort des Vorwurfs wegen der unentschuldigten Abwesenheit.
Mit knappen Worten informierte ihn Willi über seinen plötzlichem Entschluß, ohne weitere Erklärungen abzugeben.
Jack öffnete wortlos die Glastür und führte ihn an den Schreibtisch des Chefs. Noch niemals war ihm ein Gespräch so schwer gefallen.
Es war ihm bekannt, daß er die Sympathien der beiden Australier besaß und weder wollte noch konnte er sie verletzen, indem er ihnen die unmißverständliche Wahrheit sagte: Er habe den Eindruck, vor allem bei seinen jüngeren Arbeitskollegen so unerwünscht zu sein, daß er die Konsequenzen daraus ziehen müsse. Ja, daß er diese Personen so sehr verabscheue, daß es ihm unmöglich sei, hier weiter zu arbeiten.
Hartley und Whitt behämmerten ihn eine Stunde lang mit Fragen, lockten ihn mit Versprechungen, wollten nähere Einzelheiten aus ihn herausquetschen. Der baumlange James saß neben ihm auf der Schreibtischplatte, hielt das Kündigungsschreiben abwägend zwischen den Händen, faltete es zusammen und meinte in einem Anflug von Heiterkeit zu dem jungen Mann, der in dumpfer Resignation neben ihm hockte und sich bemühte, den alleinigen Beweggrund seines Handelns zu verschleiern:
"Am liebsten würde ich ja diesen Zettel zerreißen und über die ganze Angelegenheit weiter kein Wort verlieren. Was meinst du, Willy?"
Der blickte wortlos zu Boden.
"Ich versteh' dich wirklich nicht", begann James wieder und funkelte ihn aus seinen Brillengläsern an. "Du hast hier so fleißig, ausdauernd und gut gearbeitet, daß wir dir kürzlich mit ruhigem Gewissen eine Gehaltserhöhung zubilligen konnten. Wir wissen um deine Anfangsschwierigkeiten - du hast sie gut hinter dich gebracht. Bedenke doch eines: in längstens zwei Jahren kannst du aufgrund deiner Ausbildung da drinnen landen", er wies auf das Ingenieurbüro hin.
"Du bist deinen etwas jüngeren Kollegen fünf Jahre im Studium voraus. Das ist wohl nicht übertrieben gesagt, nicht wahr?"
"Das ist vielleicht einer der Faktoren, warum die auf mich so einen Krampf haben", dachte Willi und nickte pflichtbewußt auf die Frage des Chefs.
"Also, was willst du mehr?" Hartley zögerte einen Augenblick und erkundigte sich dann: "Oder hast du eine andere, bessere Stelle gefunden?"
"Nein, James", antwortete er wahrheitsgemäß. "Ich muß wieder ganz von vorne anfangen. Und ich werde nicht in Melbourne bleiben. Das dauernd wechselnde Wetter bekommt mir nicht. Ein Ohrenleiden, das noch nicht ausgeheilt ist, zwingt mich, in eine gleichmäßig temperierte Gegend zu ziehen, James. Vermutlich werde ich nach Sydney gehen."
Willi flunkerte drauflos. Aber alles kam ihm erträglicher vor, als dem Australier einfach zu gestehen: deine Landsleute haben mich fertig gemacht. Es war sinnlos, es noch einmal mit Mills Ltd zu versuchen, das verlorene Terrain war nicht mehr zu erobern.
Später zweifelte er natürlich an der Richtigkeit seiner Überlegungen. Aber für den Moment schien ihm dieser Weg so zwingend und unausweichlich, daß er nicht anders handeln konnte.
Der Australier blickte ungläubig drein.
"Du mußt wieder auf Wohnungssuche gehen, dir dann einen Job suchen – du stehst genauso da wie vor einem Jahr?"
"Ja, nur mit dem Unterschied, daß ich mittlerweile viel hinzugelernt habe – als Zeichner und über das Leben in Australien."
Jack, der halb über den Tisch gelehnt stand, sah James an und der streifte seinen Assistenten mit einem Blick, aus dem Verständnislosigkeit und Bewunderung zugleich sprach.
"Nein, das wäre nichts für uns zwei", bemerkte er trocken. Er wandte sich wieder an Willi.
"Aber reden wir vernünftig. Ich vermute, deine Schwierigkeiten sind in deinen Lebensverhältnissen zu suchen, Willy? Ich habe von Jack gehört, daß du den ganzen Haushalt allein besorgst. Das ist auf Dauer keine Mannesarbeit und muß deprimierend wirken..."
"Lieber James", dachte Willi resigniert, "bei dem Gehalt, das ich bis vor kurzem hier bezog, blieb mir ja gar keine andere Wahl. Schließlich muß ich mir ja auch einen Notgroschen zurücklegen. Wie kann ich da jemals einen eigenen Haushalt gründen?" Ergeben nickte er mit dem Kopf.
"Ich gebe zu, daß das eine große Rolle spielt", antwortete er, die Schmerzen in der Magengegend fühlend. Noch immer stand er in Behandlung.
"Du besorgst auch die Wäsche selbst?"
"Leider auch das, alles!" Er versuchte ein Grinsen, es blieb ihm aber im Halse stecken. Der Chef lächelte hintergründig: "Warum siehst du dich nicht nach einem netten australischen Mädchen um? Heiratest?" Und einer momentanen Gedankenassoziation folgend, erklärte er: "Schau! Wir, speziell in diesem Betrieb, sind uns im Klaren, daß sich Australien künftig aus Menschen vieler Nationen zusammensetzen wird. Wir kennen keine rassische Bevorzugung. Wir wollen vor allem auch dir, an dem uns w i r k l i c h viel liegt, eine Chance bieten!"
"Ich weiß das ganz genau, James. Ich schätze diese, vor allem deine Haltung in dieser Frage, nur..." Gequält brach er ab.
"Haben wir dir nicht die gleichen Möglichkeiten geboten wie den anderen? Ist dein Fortschritt nicht schnell genug vor sich gegangen? Ich habe dir zu Weihnachten eine weitere Vorrückung in deiner beruflichen Position versprochen. Ich halte meine Versprechen." Lange Pause. James wartete geduldig. Vergebens.
"Nun?"
"James, ich, ich...ich habe das Gefühl, als ob ich nicht ...in Eure ...Kreise passe!" Stockend brachte es Willi endlich heraus.
Jack Whitt blickte weg. Auf die Sekretärinnen, die an der gegenüberliegenden Wandseite hochaufgerichtet saßen und mit unbewegten Gesichtern die Tasten der Schreibmaschinen bearbeiteten.
Hartley krümmte die Finger gegen die Handflächen und betrachtete intensiv seine Nägel.
"Ich habe es vermutet, doch ich wollte es von dir selber hören. Es ist bedauerlich, daß du die ganze Sache so siehst..." Er hielt nochmals inne.
"Trotzdem", er lächelte Willi wieder an – er war ein perfekter Gentleman, "halte bis Weihnachten aus! Bis dahin haben wir das Büro in einzelne, abgetrennte Sektoren aufgeteilt.
Wir werden dir eine eigene, ruhige Ecke geben. Das wäre dir doch recht? Du siehst, ich versuche alles, um dich zu halten.
Wir schätzen dich sehr, ich betone es nochmals!"
"I am sorry, James", preßte Willi hervor. "Ich glaube, es wird nicht mehr gehen. Du weißt vermutlich, daß ich kürzlich einen nervösen Anfall bekam – an dem Tag, als ich Mills Ltd verließ. Ich habe simpel gesagt Angst, daß sich das nochmals wiederholen könnte."
Unruhig rutschte der Österreicher auf dem Sessel hin und her.
"Die reden mir zu wie einem kranken Roß", sagte er sich. "James kann die Sache nicht recht begreifen. Aber er bemüht sich redlich, mir zu helfen."
Der Assistent lauschte nur bedrückt, verhielt sich aber ruhig.
"Ich verstehe, Willy. Du hast den ganzen Ärger nur immer hinuntergeschluckt und hast nun einfach genug. Daran wird wenig zu ändern sein." Er erhob sich, streckte ihm die Hand entgegen.
"Überlege es dir noch einmal bis Morgen. Überschlafe die ganze Angelegenheit. Komm morgen rein und teile mir deinen Entschluß mit. Wegen der eventuellen finanziellen Abrechnung brauchst du dir keine Sorgen zu machen..."
Die peinliche Unterredung war vorüber.

Die vierundzwanzig Stunden Bedenkzeit änderten nichts mehr an seinem Entschluß. Bill versprach ihm, die Zeichenrequisiten mitzubringen. Er selbst hätte keinen Schritt mehr in den Saal gesetzt.
Die zweite Unterredung verlief wie die vorangegangene. James sah ausnahmsweise von der zweiwöchigen Kündigungsfrist ab. "Komm nun bitte zum Personalreferenten mit!" Er gab also auf.
Jack Whitt, der auch diesmal den Überredungskünsten seines Chefs beigewohnt hatte, machte sich zum Gehen bereit. Der Zeichensaal wartete auf ihn. Der kleine, gemütliche Ingenieur trat kurz zu Willi heran. Sie sahen sich an, ein letztes Mal. Ernst, und mit dem Bemühen seine innerliche Bewegung zu verbergen, brachte er hervor: "Was immer du auch angehst, Willy - Good Luck to you!"
"Thanks Jack." Mehr hätte er nicht herausgebracht.
An der Seite seines Bosses schritt Willi über die betonierten Wege an dem Rasen vorbei, wo er sooft im Kreise gleichgesinnter Kollegen gesessen hatte. Schweigen lastete auf beiden. Der Österreicher kam sich schuldbeladen vor: "I am sorry, aber ich kann wirklich nicht anders handeln, James."
"It's alright. Aber ich frage mich nur nach dem wahren Grund deines Weggehens..." Höger ahnte, wie es hinter der Stirn seines Chefs arbeitete. Er antwortete nicht.
"Es war also wegen der Arbeitskollegen. Ich hätte es mir denken können." Er schien niedergedrückter Stimmung zu sein, mit weitausholenden Schritten strebte er wieder seinem Office zu.

"Es ist meine Pflicht als Personalreferent, Sie zum Verbleib in der Firma zu bewegen. Aber darüberhinaus..."
Der gutaussehende Dreissiger machte sich ausgezeichnet hinter dem monumentalen Schreibtisch.
"Wie ich den Akten entnehmen kann, haben Sie..."
Nach einer halben Stunde sah er endlich ein, daß seine Anstrengungen nutzlos waren. Der Österreicher hatte ihm seine Schwierigkeiten mit den jungen australischen Kollegen angedeutet. Ihm konnte er dies beibringen, vor James hätte er es nicht fertiggebracht.
"Ich denke, wir Australier sollten für unsere Migrants ein klein wenig mehr Verständnis aufbringen...", meinte der Referent am Ende des Gespräches nachdenklich.
"Es würde viel Gutes bewirken."
Gegen Mittag ließ er das Werksgelände hinter sich und prallte beinahe mit dem ehemaligen russischen Ingenieur zusammen. Sie verabschiedeten sich, wobei der Emigrant schloß: "Was mich an der Angelegenheit freut ist, daß du seit deinem Eintritt bei Mills nicht nur deine fachlichen Kenntnisse sondern vor allem deine Persönlichkeit entwickelt hast!"
Als Willi die Straße vor der langgestreckten Front vor den Hallen überquerte und einen letzten Blick auf das Werk warf, wurde er sich dieser Tatsache voll bewußt.
Ja, die Kämpfe die hinter ihm lagen, hatten ihn nur zu seinem Vorteil verändert. Sie hatten ihn entschlossener, selbstsicherer und härter gemacht.
Der junge Österreicher drehte noch einmal kurz den Kopf, um zu sehen, daß der kahlköpfige Russe noch immer auf derselben Stelle verharrte. Der hob nun die Hand und spreizte zwei Finger zum "V": Victory.

* * *


Woche um Woche war Willi nun eifrig auf den Beinen, las Stellenangebote, beantwortete sie, schwang sich in Autobusse, in Vorortzüge, rannte sich die Sohlen kaputt und schwitzte in der feuchtwarmen Luft Melbourne's seine Hemden durch, um sich eine neue Existenzmöglichkeit zu schaffen. Die Fahrspesen erreichten wegen der ausgedehnten Dimension der Stadt schwindelnde Höhen.
Es wirkte entmutigend, immer aufs Neue das "I am sorry" oder "Der Boss ist nicht da" zu hören, auf schriftliche Bewerbungen nach zwei, drei Wochen eine kurze, bedauernde Absage in der Hand zu halten. Die Erfahrungen bei den persönlichen Vorsprachen bereicherten jedoch seinen Horizont beträchtlich, wenn sie auch wegen der Erfolglosigkeit der Bemühungen ziemlich trostlos ausfielen.
Da wurde er etwa in den Glasverbau des Chefkonstrukteurs eines Großbetriebes der Chemie geführt. Sorgfältig breitete er Personalien, Zeugnisse und Proben seiner beruflichen Tätigkeit vor ihm aus.
"Ja, wir werden in Kürze einen neuen Mann benötigen", bestätigte ihm der Mann. "Es verläßt einer das Büro."
Er las den von Willi ausgefüllten Fragebogen flüchtig durch und stutzte bei einer Zeile: "Sie sprechen Deutsch?"
"Ja natürlich, ich bin ja geborener Österreicher."
"Aber Sie sind k e i n Deutscher?"
Überrascht über den sonderbaren Tonfall, sah er den Australier an: "Warum diese Frage?" Gedehnt, abwartend, mißtrauisch klang die Stimme des Österreichers.
"Ach, wissen Sie, es ist nur...Nun, der Mann, der uns nächste Woche verlassen wird, ist ein Deutscher. Wir haben ihm nahegelegt, daß er sein Bündel schnürt."
"Und weshalb?" Das Lächeln erstarb dem jungen Mann auf den Lippen, der es bis dahin auf die charmante Art versucht hatte.
"Ja, die Sache ist so... Ich verstehe, daß Ihnen die Frage von vorhin seltsam anmuten mußte..." Der Australier suchte nach der geeigneten Ausdrucksweise und wand sich in leichter Verlegenheit. Dann platzte er plötzlich damit heraus: "Der Deutsche hat sich arrogant benommen. Er wußte immer alles besser oder glaubte es zumindest, spielte sich als Lehrmeister auf. Wir haben in unserem Büro viele Rassen – auch ein Jude befindet sich darunter. Dauernd bekamen wir wegen des Deutschen Scherereien.
Ein zweites Mal wollen wir ein solches Risiko nicht mehr eingehen, das ist doch verständlich, oder?"
Willi brauchte einen Arbeitsplatz, sehr, sehr dringend. Er versicherte dem Australier daher, daß Austrians in dieser Hinsicht eine rühmliche Ausnahme darstellen, er also keine Schwierigkeiten whatsoever zu befürchten habe. Der Mann versprach schließlich zögernd, sich die Sache durch den Kopf gehen zu lassen.
Der Austrian verzog sich, und die Gedanken über das soeben Gehörte begannen zu rotieren.
Ich weiß natürlich nicht, ob sich der Deutsche wirklich so arrogant aufgeführt hat. Es ist ohne weiteres möglich – ich kenne diese Typen mit dem deutschen Überwertigkeitskomplex.
Aber vielleicht stecken auch politische Gründe dahinter, oder was der kleine Mann von der Straße halt dafür hält.
Aber eines ist mir inzwischen auch klar geworden: daß die Australier vieles für arrogant halten, was bei uns in bloody Old Europe zum guten Ton gehört...

Seine Aufmerksamkeit wurde aufeinmal in eine andere Richtung gelenkt. Etwa zwanzig Meter von ihm entfernt sackte ein älterer Mann, der beide Arme um den Mast einer Ampelanlage geklammert hielt, lautlos zu Boden. Keine Menschenseele in dieser Geschäftsstraße, keiner von den Hunderten die vorübereilten, ließ sich in seiner Betriebsamkeit stören. Herangekommen, trat Willi zu dem am Pflaster Liegenden heran und versuchte ihn hochzuzerren. "Thanks, mate!" stammelte der Mann weinselig und versuchte schwankend das Gleichgewicht zu halten. Eine meterlange Alkoholfahne wehte vor ihm her.
"Typisch Australien!" dachte er. Erheitert schritt er von dannen, kreuzte einige hundert Meter weiter die Fahrbahn. Durch die Auslage eines Motorradgeschäftes magnetisch angezogen, schnitt er unabsichtlich die Bahn einer Passantin.
Im nächsten Augenblick krachten deren Schuhe gegen seine Knöchel und Schienbeine, krallten sich spinnenförmige Finger an seinem Sakko fest und trommelten wütende Fäuste gegen seine Brust. Er starrte entsetzt in das wutverzerrte Antlitz eines Weibes, die aus zahnlosem Munde unartikulierte Schreie stieß, ihn mit unflätigen Ausdrücken bewarf. In der ersten Schrecksekunde verharrte er regungslos vor Entgeisterung über den unerwarteten Angriff, doch dann versuchte er die Frau wegzustoßen, die aber immer wieder auf ihn eindrang. Hilfesuchende, gehetzte Blicke um sich werfend, sah er auf der Schwelle eines nahegelegenen Geschäftes einen Mann, der gleichmütig die unerquickliche Szene betrachtete. Niemand kümmerte sich um die Rasende, niemand um den jungen Mann.
Ebenso plötzlich wie sie begonnen, ließ die Alte von ihm ab und rannte weg. In der Ferne flatterten die Fetzen ihrer Kleider, sah er die wirr durcheinanderfliegenden verfilzten Haare, das Aufblitzen des wilden, verrückten Blickes – dann war die Gestalt in der Menge verschwunden.
Der Spuk war vorbei, die Erstarrung löste sich von ihm. Achselzuckend setzte er seinen Weg fort.
Auch das war Australien: Menschliche Verwahrlosung, Gleichgültigkeit, nackter Wahnsinn...

* * *


Freddy, der Wiener, war aus Österreich kommend wieder glücklich in Melbourne gelandet.
"Du hast dich seit unserer gemeinsamen Buschzeit verändert", bemerkte er, nachdem er Willi kurz gemustert hatte.
"Wie denn?" erkundigte sich der, neugierig geworden.
"Nun, ich denke du bist reifer geworden – männlicher, wenn du willst!"
Jetzt waren Hugo und Freddy nach Bonegilla abgehauen. Ob sie dort Glück haben würden?
Er war nun ziemlich allein angekommen, unser Herr Höger. Auch mit Werner Benke konnte er nicht rechnen. Noch hielt Werner und Gudrun der Kitt der alten Liebe zusammen, aber... Er wollte keine Unkenrufe ausstoßen.
Die übrigen Berliner aus seinem Bekanntenkreis hatten sich in alle Windrichtungen zerstreut oder wohnten, wie seine Freunde vom Tennisklub, weit außerhalb der Stadt. Wochentags kam er sich also ziemlich allein und verloren vor. Sein Bedürfnis nach weiblicher Gesellschaft wuchs. Seine unsichere Lage verstärkte noch diesen Wunsch.
Immer häufiger ertappte er sich bei dem Gedanken, bei seiner zwar nicht sonderlich hübschen aber immerhin mit allen wesentlichen Attributen eines weiblichen Wesens ausgestatteten Nachbarin einmal intimer vorzusprechen. Am zweiten Wochenende seines Zwangsurlaubes sah er sich einen französischen Film an, in dem Brigitte Bardot solange halbnackt auf Heuböden herumgeisterte oder sich in schwülstigen Pfühlen wälzte, bis Willi vermeinte, er müsse die Frau im Klappsessel nebenan an Ort und Stelle beglücken. Die einzig reelle Aussicht auf Befriedigung seiner entbrannten Triebe war eine Visite bei seiner Mitbewohnerin...
Die Idee bohrte sich in ihm fest, lustentbrannt stürzte er nach Hause. Mit pochendem Herzen lauerte er nun vor dem dunklen Rahmen ihrer Glastür. Wenn sie drinnen war – er brauchte nur anzuklopfen, und er würde sich am Ziel seiner Wünsche finden.
Doch war s i e, war sie wirklich der Inbegriff dessen, was er wollte und suchte? Ihre abgeschleckten Gesichtszüge, die tiefen Falten und Pölster der Augenumrandung – die knallgelbe Schürze, vor die rotkarierte Hose gebunden? Das alles schoß ihm in diesen Sekunden durch den Kopf, als er regungslos verharrte.
Die Spannung löste sich, er begann wieder klar und ruhig zu denken. Nein, er wollte sie nicht. Morgen früh würde er es bereuen, wenn er jetzt den Eingang öffnete.
Auf leisen Sohlen schlich er in sein Zimmer.

* * *


In der dritten Woche seiner Arbeitslosigkeit sprach er bei einem blechverarbeitenden Betrieb vor und wurde eingestellt. Mit der üblichen Probezeit, da er ja auf diesem Gebiet so gut wie keine Erfahrung aufweisen konnte.
Wieder einmal nahte ein Wochenende, dem er diesmal mit großer Freude entgegensah. Mit gefasster innerer Ruhe blickte er der Zukunft entgegen, die für ihn nun aufs neue beginnen würde. Seine ausgezeichnete Laune erhöhte sich noch durch ein Schreiben Rosa Finzes, in dem sie ihn zum Mittagessen einlud.
Seit zwei Monaten lebte sie nun allein in Melbourne. Da Hubert in seinem Beruf unterkommen wollte, hatten sie das Provinzspital verlassen. Nun war sie Strohwitwe, weil ihr Gatte nach Cairns abgehauen war, um dort Geld zu scheffeln. Ein Italiener hatte ihm von den großen Verdienstmöglichkeiten bei der Zuckerrohrernte vorgeschwärmt. Er verhehlte allerdings nicht die immensen Strapazen dieses Jobs im subtropischen Queensland, der nahezu als Domäne der Süditaliener betrachtet wurde. Schiffsladungsweise wurden sie dort, direkt aus Europa kommend, dieser Schinderei als Saisonarbeiter ausgesetzt.
Auch Hubert war dieser Manie, rasch zu Geld kommen zu müssen, zum Opfer gefallen.
Nach einigem Suchen fand Willi den Bungalow im Hof hinter einem Ziegelbau. Die kleine Rosa fühlte sich ganz schutzlos und verlassen; er war direkt verpflichtet, sich ihrer ein wenig anzunehmen. Hocherfreut begrüßte sie ihn und bewirtete ihn sogleich mit allen erdenklichen Künsten einer erfahrenen Hausfrau. Während er von seinen Erlebnissen erzählte, bruzelten Schnitzel in der Pfanne, der Duft vertrauter Suppen stieg ihm in die Nase, kurzum, allein die Vorfreude war köstlich.
Dann deckte sie auf, daß sich die Tischplatte unter der Last bog. Salate, Bier, Kompotte, Torte und Tee. In ununterbrochener Reihenfolge ging das den ganzen Nachmittag so weiter. Ach, sie hatten sich ja soviel mitzuteilen. Rosa berichtete von dem Krankenhaus, in dem sie jetzt angestellt war, Willi von seiner neuen Arbeitsstätte, wo er morgen Montag einen neuen Start versuchen würde.
Die Abenddämmerung brach herein, automatisch glitt das Gespräch auf schlüpfrige Themen über: Rosa unterhielt ihn mit Stories aus ihrem neuen Wirkunsbereich.
So etwa, wie ein australischer Arzt die Klinik verlassen mußte, da ihm der Boden unter den Füßen zu heiß geworden war, weil er die Frauen genauer untersucht hatte, als es eigentlich notwendig war. Oder wie ein älterer, bloody Newaustralian, der völlig gesund im Bett liege, was er sich zufolge seines immensen Reichtums leisten könne, die junge Schwester ersuchte..., und so weiter.
Leicht erschrocken registrierte der junge Mann, wie sein Blutdruck rasant anstieg. Unversehens fiel ihm der arme Hubert ein, der jetzt wie ein Sklave hoch oben im Norden rackerte und schuftete, und daß Rosa dessen angetraute Gattin war.
Er übersah nicht, daß Rosa nervös und zerfahren wirkte. Über ihre Stirn liefen Furchen, die sich während dieser schwülstigen Erzählungen vertieften, ihre Hände zitterten beim Anzünden der Zigaretten.
Sie saßen einander gegenüber, Willi halb hingestreckt auf der Eckbank, Rosa auf einem hohen Rundhocker, mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt. Dem jungen Mann fiel auf, daß der schwarze Rock besonders kurz und adrett wirkte. Die rote Bluse verlieh ihr einen beinahe jugendlichen Sex-Appeal.
"Hier war noch kein Fremder herinnen", flüsterte sie in das angespannte Schweigen hinein. "Hier kommt nur einer herein, den ich hereinlassen will!"
Mit stummen Blicken verfolgte er jede ihrer Bewegungen, von widersprechenden Gefühlen hin und her gerissen. Nun stellte sie einen Fuß auf die Sprossen des Hockers. Langsam spreizten sich die Beine. Ihre schlanken Glieder glänzten unter den Seidenstrümpfen, und trotz der matten Küchenbeleuchtung konnte er die Linie ihres Beines bis unter dem Rock verfolgen, der straff gespannt, den Einblick in den Schoß des Weibes freigab.
Sein Atem ging keuchend, vor Begierde trocknete ihm der Mund aus. Unter ihrer dünnen Bluse hob und senkte sich der Busen rhythmisch, seine Fantasie entzündete sich mit jedem hervorgekeuchtem Wort.
Vibrierend vor Nervosität stieß Rosa hervor: "Bewundernswert, wie du dich beherrschen kannst! Wenn du nicht mehr Rauchen willst, gibst du es einfach auf. Wenn dir eine Frau nicht sympathisch ist, ziehst du dich zurück!"
"Was heißt hier sympathisch..., das ist es nicht..."
Durch den Schleier, der sich vor seine Augen legte, schimmerte der Rand ihres kleinen Unterhöschens. Mit einem Ruck erhob er sich, das Denken war ausgeschaltet: Was zählte es, wem diese Frau gehörte? Sie war ein Weib, ein Weib!
Mühsam lallte seine Stimme: "Wo hast du mein Sakko hingehängt – im Schlafzimmer? Ich möchte die Zigaretten holen!"
Leichtfüßig und barfuß lief sie in das Zimmer nebenan, er folgte ihr langsam. Sah beim Eintreten, wie sie im Halbdunkel vor ihm stand, die Augen weit geöffnet.
Warum sollten sie sich quälen? Hubert war an allem selbst schuld!
Wildumschlungen fielen sie auf das Doppelbett.

Nun, nachdem es passiert war, das Unvermeidliche, änderte sich seine Einstellung ihr gegenüber nicht. Sicher liebte sie ihren Gatten noch genauso wie vorher. An seiner Seite im Bett liegend, hatte sie ihm gestanden, wie einsam sie hier lebte, wie sehr sie sich nach einem männlichen Beschützer sehnte. Sie hatte auch noch keine Freunde oder Bekannten in der neuen Umgebung erworben.
Zitternd wie ein kleiner Vogel hatte sie sich an ihn geklammert und dabei geweint: "Was soll ich bloß tun, wenn Hubert etwas zustößt?"
Er hatte einen Ehebruch begangen, aber seltsamerweise überfielen ihn keine Gewissensbisse. Nicht in diesem Falle.
Komisch, nie hätte er dies von sich geglaubt.

* * *


In der Früh, kurz vor Morgengrauen, wanderte er über die leeren Straßen zwischen den Villen der Vorortkolonie in Richtung Bahnhof.
Der neue Boß und die wenigen Kollegen schüttelten ihm die Hand. Alle sehr nett, das war der allererste Eindruck.
Die Gemeinschaftsküche erreichte nicht das Qualitätsniveau von Mills Ltd. Das war vorläufig der einzige Nachteil, den Willi entdecken konnte.
Aber etwas störte ihn, um nicht zu sagen irritierte ihn: Den Technische Leiter des Betriebes fand er vom ersten Augenblick an unsympathisch. Natürlich ließ er sich nichts anmerken, aber kleine berufliche Differenzen waren einfach nicht zu vermeiden. Eigentlich betraf es nur Lappalien, aber immerhin...
Da sollte er dem 65jährigen beim Anbringen großer Blaupausen an der Wand helfen. Binnen weniger Minuten gemeinsamer Tätigkeit lag es für Willi außerhalb jedes Zweifels, daß bei dem Alten der Kalk bereits heftig rieselte. Senile Dekadenz, oder wie immer die wissenschaftliche Bezeichnung lauten mochte. Das Kurzzeitgedächtnis des alten Mannes funktionierte nicht mehr, von einem Augenblick auf den anderen vergaß er, was er angeordnet hatte. Mit leeren Blick betrachtete er die Zeichnungen, befestigte sie verkehrt auf der Platte und fuhr Willi dann unwirsch an, wenn er ihn höflich drauf aufmerksam machte.
Es würde schwer werden mit dem Mann gut auszukommen.
Er äußerte gegenüber seinen unmittelbaren Kollegen, einem jungen Australier und einer mittelalterlichen Jungfrau, seine Befürchtungen.
"Das macht uns schon genug zu schaffen", meinte der junge Mann. "Wir fürchten uns direkt, wenn er nur hereinkommt", fügte die alte Maid hinzu. "Man muß ja um seinen Arbeitsplatz zittern!"
"Es wird schon schief gehen!" hoffte der Österreicher und ging frisch und fröhlich ans Werk. Der Ingenieur, der im angrenzenden Raum nervös herumschusselte, gab sich schnoddrig und kurz angebunden. Aber sein schneller Verstand imponierte Willi.
"Kein Wunder, sein Vater ist Deutscher", hatte ihm die kränklich aussehende Bibliothekarin erzählt. Die Dame sprach deutsch, zwar gebrochen, aber immerhin. Sie hatte 1938 aus politischen Gründen Wien verlassen müssen. "Ich bin fertiger Doktor der Medizin!" erzählte sie Willi voll Stolz. Und derzeit oblag ihr die Verwaltung einer technischen Bibliothek mit etwa 2000 Bänden. Hatte man für sie in Australien keine besser geeignete Verwendung gefunden?
"Ich darf kein Kino besuchen, da ich sonst krank werde."...
"Das Essen in der Kantine ist nichts für mich, wissen Sie. Der Lärm geht mir so wahnsinnig auf die Nerven!"...
"Ja wissen Sie, ich habe mich noch immer nicht erholt!"
"Wovon", überlegte Willi, wagte es aber nicht, weiter in sie zu dringen. Vom letzten Nervenzusammenbruch?
Entsetzlich, wie das Land oder die Lebensweise oder das Klima, oder alles zusammen, die Menschen hier zerstörte.
Die altjüngferliche Australierin nahm die Sonnenbrillen erst im Büro ab, wenn sie von zuhause kam. Ob nun die Sonne vom Himmel strahlte oder nicht, sie rannte mit den dunklen Gläsern herum. "Die machen sich hierzulande gegenseitig das Leben so sauer wie nur möglich. Da liegt der Hund begraben. Aber ich werde mich da heraushalten, komme was da wolle", beschloß der Österreicher voller Zuversicht.

Sein junger australischer Bürokollege kam ihm hilfreich entgegen wo er nur konnte. In wenigen Tagen entstand zwischen den beiden eine angenehme und wirkliche Freundschaft, die auf gegenseitiger Wertschätzung beruhte.
"Meine Frau und ich sehen die Einwanderer gerne", vertraute er sich Willi an, und der staunte über die Aufgeschlossenheit des Australiers. Gleich für den folgenden Samstag erhielt er die Einladung, ihn in seinem Heim aufzusuchen und zu Abend zu essen.
"Aber bitte, richte deiner Frau aus, sie soll für mich nicht allzuviel bereitstellen. Ich leide häufig unter Magenschmerzen und weiß nicht, ob ich viel hinunterbringen werde!" forderte Willi seinen neuen Freund inständig auf.
"Oh, ich weiß, du hast Angst, daß du unsere australischen Kochkünste nicht verträgst!" lachte der nur verständnisvoll.
"Nein, es ist wirklich wahr!" beteuerte Willi. Das also war die erste Einladung in ein australisches Heim, auf die er seit eineinhalb Jahren gehofft hatte...
Samstag Abend erwartete er seinen Kollegen an der Flinder Street Station, denn der junge Mann half an seinem freien Tag in einer Milkbar der City aus, um die Ratenzahlungen für sein Haus leichter tätigen zu können. Doch dies stellte, nebenbei gesagt, nicht seine einzige Nebenbeschäftigung dar mit der er seiner Frau das Leben so angenehm wie nur möglich zu gestalten versuchte. Teddy Blacke sah man schon an der Nasenspitze den tüchtigen und intelligenten Burschen an. Wie tüchtig und wendig er war, sollte Willi rein zufällig einmal aus dem Radio erfahren...
Die Frau, die ihm Teddy vorstellte, hatte ein zweijähriges Söhnchen zu versorgen und blieb aus diesem Grunde Nur-Hausfrau. Sie ließen sich in der Küche nieder, die zweckmäßig und modern eingerichtet war. Andere Räume standen teilweise noch halbleer da, denn Teddy war Alleinverdiener und noch keine einundzwanzig Jahre alt, wie gesagt.
Gleich nach den erstem Probieren stellte Willi zu seiner Verlegenheit fest, daß die Zubereitung der Speisen – eine Art Fleischstrudel mit roh gedünsteten Möhren, ohne Saft zubereitet – ihn jedes Appetits beraubte und die Quantität bei weitem seine Kräfte übersteigen würde. Das Ehepaar, das ihm gegenüber eifrig mit Messer und Gabel hantierte, merkte wie vorsichtig und gezwungen er jeden Bissen hinunterwürgte. Die Befürchtung, das schleichende Eßtempo ihres Gastes könnte immer längeren Pausen weichen, ließ ihnen keine Ruhe. Willi spürte bald das bekannte Drücken unterhalb der letzten Rippe und war schließlich gezwungen, die halbe Portion stehen zu lassen. Vor Scham und Entsetzen legte die junge Hausfrau das Besteck nieder und blickte wie gebannt auf Willis immer langsamer kauenden Mund.
Der Österreicher versicherte ihr hoch und heilig, nur wegen der beginnenden chronischen Magenschmerzen aufgeben zu müssen. Ihr Gatte Teddy könne bezeugen, daß er ihn bereits im Betrieb auf diese Möglichkeit aufmerksam gemacht hätte.
Nach der vorzeitigen Beendigung des Abendmahls rückte die junge Frau an seine Seite, um ihm Gesellschaft zu leisten, während der arme Teddy die Ärmel aufkrempelte und sich daran machte, das Geschirr zu spülen. Der junge Österreicher stänkerte mit lächelnder Miene ein wenig darüber, um seinen Geschlechtsgenossen wenigstens mental unter die Arme zu greifen.
"Vor einigen Jahren gab es in Österreich hitzige Debatten um die Frage, ob und wie weit der Mann seiner Frau im Haushalt helfend zur Seite stehen solle. Unter anderem wehrten sich die Männer ganz entschieden dagegen, dauernd zum Geschirrabwaschen abkommandiert zu werden!" Willi grinste die junge Australierin freundschaftlich an, die Bemerkung war an ihre Adresse gerichtet. Die junge Dame reagierte rasch und sauer: "Diese Frage wird sich für Sie in der Zwischenzeit ja entschieden haben!" Spitzer hätte es ja garnicht mehr klingen können.
Die beiden Männer lachten über die Empörung der jungen Frau. Doch Willi wußte, wie sehr der Australier schuftete, wahrscheinlich schon seit Jahren. Als seine Frau einen Sprung aus der Küche machte, ermahnte ihn der Österreicher ernsthaft: "Wenn du so weiter machst, wirst du über kurz oder lang zusammenbrechen. Davon hat aber deine Frau auch nichts, das muß sie doch einsehen..."
Es entwickelte sich noch ein anregender Abend, zufrieden verabschiedeten sich beide Teile von einander.

* * *


Die nächsten Tage verliefen für den jungen Mann aus Österreich recht heiter. Eine junge, achtzehnjährige Empfangsdame wurde den Betriebsangehörigen vorgestellt. Man schüttelte sich die Hände und tauschte belanglose Höflichkeiten aus. Um irgendetwas zu sagen, einen Anknüpfungspunkt für ein kurzes Gespräch zu haben, erkundigte sich die Kleine interessiert, was das für ein komisches Ding sei, das Willi eben in der Hand hielt.
"Ein Kurvenlineal", erklärte er ihr lächelnd, "a french curve."
"A french what...?" schnappte das Dämchen nervös und lief gleich bis hinter die Öhrchen rot an. Die Verwechslung mit einem bestimmten Markenartikel auf dem hygienischen Gummisektor, prägnant "french letter" genannt, führte zu dieser überraschenden Panikreaktion...
Mit dem Alten, der sich anscheinend unersetzlich dünkte, da er seit seinem 15. Lebensjahr die Firma beehrte und nun diktatorisch die technische Seite des Betriebes überwachte, hatte Willi seine liebe Not. Befremdet hörte er, wie der pensionsreife Wirrkopf äußerte: "Mir gefallen diese Austrians nicht."
Zwischen ihnen herrschte eine nervös-abtastende Gefühlssituation, in der jeder vorsichtig bemüht war, den anderen nicht zu reizen. Ob der Alte aus früheren bösen Erfahrungen schöpfte oder bloß die Bibliothekarin und ihn ins Auge fasste, war ihm natürlich nicht klar. Aber so wie er die Gesamtlage einschätzte, durfte Willi diese Äusserung wohl in erster Linie auf sich beziehen. Ein Privileg, das ihm leichtes Unbehagen verschaffte.
Nun konstruierte er bereits den dritten Tag an einem Blechverformungs-Werkzeug herum. Alle paar Stunden schlurfte der Mann an seinem Tisch und blickte vorwurfsvoll auf die Papierbögen, die Willi vollgezeichnet hatte.
"So war das gemeint!" äusserte er sich und wies auf eine lächerlich primitive Handskizze, die er dem Österreicher mit ein paar dürftigen Brocken der Erklärung hingeworfen hatte. Der brütete vorerst einmal zwei Stunden über dem Geschmiere, bis ihm halbwegs klar wurde, was der alte Praktiker da, scheinbar ohne jede theoretische Vorbelastung, mit zittrigen, ungelenken Fingern aufgemalt hatte. Wenn ihm ein halbwegs vernünftiger Mensch nur fünf Minuten lang klipp und klar erklärt hätte, worauf es ankam – er hätte die Angelegenheit an einem Vormittag zu Papier gebracht. Leider widerrief der Mummelgreis seine Anordnungen bei jedem Auftauchen aufs neue, sodaß Willi am Ende überhaupt nicht mehr spannte, was der Mann eigentlich wollte.
Und nun, am dritten Tag, nachdem er alles bis ins Detail ausgearbeitet hatte, schüttelte der Australier wieder mißbilligend sein Haupt und zog grollend von dannen.
Das war doch nicht möglich!
Der Österreicher war sich sicher, daß er jeden Satz des Chefs wortwörtlich und genau verstanden hatte. Das Englische bereitete ihm nicht mehr die geringsten Schwierigkeiten. Beim Einschlafen ertappte er sich des öfteren, wie er komplizierte Gedankengänge in der Fremdsprache abwickelte. Daran konnte es nicht liegen.
Es lag auch nicht an fehlendem technischen Verstand seinerseits, oft genug hatte er dies nun schon beweisen können. Man konnte von ihm, dem Neuling auf dem Gebiet des Werkzeugbaues, andererseits doch nicht erwarten, daß er die Spezialkenntnisse dieser Branche aus dem Ärmel schüttelte. Man mußte ihm doch ein wenig an die Hand gehen!
Diese stumpfe Verständnislosigkeit begriff er einfach nicht. Selbst ein jahrelanger Experte auf diesem Gebiet hätte einige Wochen zur Einarbeitung gebraucht...
Mit einem Schlag ging ihm nun ein Licht auf, verstand er, warum Teddy, der sich immerhin seit eineinhalb Jahren in dieser Firma mit Detailarbeiten beschäftigte, nicht selbst die Entwürfe anfertigte.
Er wußte genau, daß es mit dem Alten kein Auskommen gab, eine vernünftige Zusammenarbeit unmöglich war!
Lieber gab er sich mit dem niedrigeren Gehalt eines Detailzeichners zufrieden. Deshalb hatte man ihn, Willi den Austrian, wohl auch so rasch eingestellt. Mit ihm konnte man das Experiment risikolos wagen.... Er war ja nur ein Einwanderer.

Freitag Nachmittag, so eine Viertelstunde vor Arbeitsschluß, brachte er die nun komplett ausgeführte Konstruktion in das Büro des Ingenieurs.
Der beachtete die Zeichnung überhaupt nicht, ließ sie einfach achtlos liegen und fing sogleich zu sprechen an: "Was ich noch sagen wollte..." Näselnd und hochmütig zog er die Stimme durch das Riechorgan. "Ich muß Ihnen leider mitteilen...äh, im Auftrag Mr.Millers..., äh, daß Sie mit achttägiger Kündigungsfrist entlassen sind!"
Dem Österreicher, eben noch halbwegs gutgelaunt, sank das Papier aus der Hand. Sekundenlang stand er wie versteinert da.
Plötzlich wurde er krebsrot im Gesicht – eine maßlose Empörung ergriff von ihm Besitz, eine bisher noch nie erlebte Wut rumorte in seinem Bauch, daß er vermeinte, er müsse mit den Fäusten zuschlagen, um sich Luft zu machen.
Das hatte er nicht erwartet, daß man ihn so mirnichts dirnichts an die frische Luft setzen würde!
So, als ob er ein aussätziger Kranker wäre, den man möglichst rasch aus dem eigenen Bereich entfernen mußte!
Knurrend stieg die Frage aus seiner Kehle: "Und warum, wenn ich fragen darf?"
"Oh – Mr.Miller geht bald auf Urlaub, sechs Monate lang, anläßlich seines 50. Dienstjahres bei der Firma. Nun, und ich selbst bin ebenfalls bald auf Ferien. Und Sie besitzen noch zuwenig Erfahrung."
"Das habe ich doch schon bei meiner Vorstellung erwähnt, habe meine bisherigen Arbeiten gezeigt, habe euch alles genau erklärt! Ihr hättet doch beurteilen können müssen, ob ich zu der geplanten Beschäftigung fähig bin!
Oder glauben Sie vielleicht, ich bin ein Vollidiot?"
Der smarte Mann schwieg.
"Also, was ist der wahre Grund der Kündigung?
Der w a h r e?" Brutal stieß der junge Mann die Frage hervor, blickte den lässig im dunkelblauen Anzug vor ihm Sitzenden haßerfüllt an. Er verlor jeden Respekt vor den Leuten hier. Nun stand er wieder auf der Straße, mußte nochmals von vorne anfangen. Ein weiterer Geld- und Zeitverlust, den er sich nicht leisten konnte.
Endlich bequemte sich der Australier zu einer näheren Erläuterung: "Well, Mr. Miller kann sich mit Ihnen nicht verständigen – wie es eben manchmal so mit den Neuaustraliern ist!" Ironisch grinsend brachte er den Nachsatz genießerisch über die Lippen.
Offenbar gefiel ihm die Situation. Sicherlich war ihm auch nicht entgangen, daß der Österreicher in relativ kurzer Zeit das Vertrauen von zumindest drei Personen seiner unmittelbaren Umgebung gewonnen hatte...
Jetzt vermochte sich Willi nicht länger zu beherrschen, er riß seinem Vorgesetzten den Bleistift aus der Hand, wollte ihm beweisen, daß etwaige Mißverständnisse sicherlich nicht nur auf sein Konto gingen. Hier lag die ungeschickte Skizze, da der von ihm verfertigte Entwurf. Es lag auf der Hand, daß sich die nun einwandfreie Konstruktion und der Entwurf völlig widersprachen.
"Was wollen Sie noch mehr? Kann ich etwas dafür, wenn Mr. Miller so zerstreut ist?" fragte er den Ingenieur.
"Alright!" gab ihm der nur zur Antwort. So, als ob er einen lästigen Dreck zur Seite schieben wollte. "Es ist bald fünf Uhr!"
Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr, Made in W.Germany. "Ich muß gehen." Sprach's und verduftete schleunigst.
Voll Empörung über die geringschätzige, erniedrigende Behandlung, kochend vor Zorn, stürmte Willi ins Freie hinaus, um sich zu beruhigen. Nach minutenlangen, pausenlosen Auf- und Abgehen kehrte er schließlich in das Büro zurück.
Doch die Kollegen nahmen seine Erregung natürlich wahr und erkundigten sich nach der Ursache. Betreten schwiegen sie.
"Ich glaube nicht, daß sie dir eine faire Chance geboten haben", meinte Teddy Blacke schließlich.
"Was wirst du jetzt tun?"
"Das kann ich dir genau sagen", antwortete Willi. "Wenn ich nicht binnen zwei Wochen einen neuen Job finde, haue ich aus diesem verfluchten Land ab!"
Es wäre schade gewesen, hätte der junge Mann diese seine Absicht wirklich durchgeführt. So aber stand ihm ein Erlebnis bevor, das ergreifender, schöner und unvergesslicher nicht gedacht werden kann. Ein Erlebnis, von dem der nun junge Mann noch viele, viele Jahre später sagen würde: Alles was mir sonst in dieser Periode des Lebens untergekommen ist, all das Schwere, das Heitere, die echte Männerkameradschaft im Busch, das Tal der Erniedrigungen, das ich durchschritten – nichts zählte so sehr, nichts brannte sich so unauslöschlich in meine Seele ein...

* * *


Eine so vergnügliche Zeit, wie die letzte Arbeitswoche bei der Blechfabrik, hatte Willi in Australien selten erlebt. Er machte sich einen Heidenspaß daraus, den Herrn Ingenieur aufzuziehen, wo er nur konnte. Im übrigen verrichtete er nur mehr die notwendigsten Handgriffe und unterhielt ansonsten seine Kollegen mit übermütigen Einfällen.
So begab es sich etwa, daß nur die vertrocknete alte Jungfer und er das kleine Büro teilten.
An der Wand hing ein farbenprächtiges Kalenderblatt, das eine klassische Ballettszene darstellte: ein blondgelockter Jüngling kniete vor der holden Angebeteten und breitete verlangend die Arme nach ihr aus. In die Stille des Nachmittags hinein stöhnte nun Willi urplötzlich inbrünstig auf: "Oh, wie ich dich liebe!"
Die arme Miss, die mit dem Rücken zu ihm saß, kreischte darob auf, erschrack ganz fürchterlich und stieß bei der Gelegenheit das Tusche-Fäßchen um, sodaß sich eine schwarze Spur quer über das Zeichenbrett zog.
Aus angstgeweiteten Augen starrte sie Willi an wie ein Gespenst. Gleichmütig wies der auf das Bild und meinte theatralisch: "Liebesszene..."
"Oh God, und ich dachte schon, Sie haben einen Liebeskoller", gestand die Miss erleichtert. Seufzend setzte sie hinzu: "Man hört ja soviel von den Gewalttaten der Einwanderer – ich wollte schon um Hilfe schreien!"
Befriedigt stellte der Österreicher fest, daß er die Wirkung seiner Wortwahl genau vorauskalkuliert hatte. Soweit kannte er sich also in der Mentalität der Australier aus.
War er anfangs übereifrig bemüht gewesen, alles sorgsam und schnell auszuführen, verlegte er sich jetzt darauf, den Ingenieur und Vorgesetzten durch betont zur Schau gestellte Lässigkeit und geschickte Fangfragen zeitweilig völlig aus dem Konzept zu bringen.
So verging auch diese Woche.
Abends stieg er zuhause soeben die Treppen hinunter, als die "Dame" von nebenan, in der Halle stehend, einen Brief las.
"Oh, Mr.Hoeger!" rief sie, "Können Sie für mich eine halbe Stunde erübrigen?" "Aber bitte, gerne!" erwiderte er, der sich gerade in Richtung Chinesisches Restaurant absetzen wollte.
Ob er ihr helfen wolle, ein Möbelstück bei einer ihrer Freundinnen umzustellen? Mit ihrem Wagen fuhren sie in eine der besten Wohngegenden Melbourne's und hielten vor einer eleganten Villa. Etwas unbehaglich zumute, folgte Willi seiner Fahrerin in das Haus, das von drei Frauen bewohnt wurde.
Aber was für welchen!
So etwas Megärenhaftes, eingefallen Bleiches, mit tiefschwarzen Augenrändern und knallroten, krallenartigen Fingernägeln Versehenes hatte der naive junge Mann in seinem fünfundzwanzigjährigen Leben noch nicht zu Gesicht bekommen. Aus brennenden schwarzen Augen starrten die drei Medusen Willi an, der sich verlegen unter ihren Blicken wand.
"Eine Szene, wie aus einer Bühnendekoration zu Dantes 'Unterwelt' ", schoß es ihm durch den Kopf.
"Das sind Künstlerfreunde von mir", hörte er seine Bekannte sagen. Ja, das mochte sogar stimmen... An den Wänden hingen Fotos halbnackter Weiber, und unter der gläsernen Tischplatte lugten Portraits männlicher Schauspieler hervor.
Benommen nahm er diese Eindrücke wahr. Eine Rothaarige, die annehmbarste der vier Frauen, bot ihm ein Gläschen Kognak an, das er hastig hinunterstürzte. Dann ging es in ein Schlafzimmer, wo er auf Wunsch der Damen einen schweren Holzkoffer unter einem Bett hervorzog, während die Megären das Gestell hochhoben.
Die ganze Angelegenheit entwickelte sich für ihn immer geheimnisvoller und undurchsichtiger. Alle vier Weiber verfielen in ein Gezänke, das sie mit Slangausdrücken so garnierten, daß er dem Redefluß nicht folgen konnte.
"I could'nt care less!!" "Ist mir völlig egal!!" Wohl an die zehnmal stieß die Älteste, anscheinend die Inhaberin der Wohnung, diese häufig gebrauchte Redewendung in einer häßlichen, abstoßenden Stimme hervor. Nun saß sie in einen knallroten Schlafmantel gehüllt, die Oberschenkel frei, unverhüllt und überkreuzt, auf einem Stuhl und schimpfte auf die Nachtklubsängerin ein. Willi wußte überhaupt nicht mehr, was er von der Situation halten sollte. Er versuchte sich langsam gegen den Ausgang hin abzusetzen, denn er hegte momentan nur den einen Wunsch: raus von hier! Im Wohnzimmer setzte er sich unaufgefordert nieder, da die vier Damen ihren Wortwechsel noch nicht beendet hatten. Er versuchte die Siamkatze auf dem japanischen Hocker neben ihm zu streicheln, doch die biß ihm in den Finger. Die älteste der Medusen hatte dies flugs erspäht. "Sie mag keine Ausländer!" äusserte sie bissig.
Er hatte richtig gehört: 'Ausländer' und nicht 'Fremde' hatte sie formuliert. Dies kam ihm nicht sonderlich gastfreundlich vor.
Langsam stieg in ihm der Verdacht hoch, seine Person sei der Stein des Anstoßes in dieser hitzigen Diskussion: Sollten sie vielleicht jemand anderen erwartet haben? Vielleicht einen kräftigen, flotten jungen Mann, der sie alle Vier...? Der Gedanke schien verrückt.
Nun glaubte er, herausfinden zu können, wovon sie sprachen.
"Ob er uns helfen kann?"
"Ich glaube kaum!"
"Sieht nicht so aus, aber..." – "Warum ist er mitgekommen?"- "...Bin ganz abgebrannt..."
In diesem Tonfall ging es weiter. Zum Teufel, wobei oder womit sollte er den Weibern denn helfen? In der Liebe? Oder mit Geld? Oder in beidem?" Jetzt sprachen sie offen über ihm. Wenn er der schnellen Wechselrede nur besser folgen könnte!
"Was geben wir ihm als Belohnung? Ein paar Süßigkeiten?"
"Nein, was der braucht, ist ein kleiner, süßer Cheese Cake...!" rief die Rote dazwischen.
Ihm wirbelte es im Schädel: Cheese Cake? Käsekuchen? Ja um Himmels Willen, was sollte er gerade mit einem Käsekuchen anfangen? Wie er die Sache auch drehte und wendete, er kam zu keiner befriedigenden Antwort.

Erst viel, viel später kam er hinter des Rätsels Lösung: Wenn ein Girl eine raffinierte Strip Tease-Position einnimmt – dann nennt man dies Cheese Cake. Weil es so süß aussieht!
Also hatte er sich damals nicht getäuscht. Die vier Kulturträgerinnen waren wirklich so – gewöhnlich - gewesen, wie es den Anschein gehabt hatte...

* * *


Ein unerwarteter Brief aus der Gegend um Sydney erinnerte Willi Höger an zwei Jugendfreunde, die nun dort ansässig waren. An Paul, bereits verheiratet, der ihm das ermutigende Telegramm nach Salzburg gesandt hatte.
Und an Anton Melzer, der sich noch im Stande eines Junggesellen befand, der zwar nach Paul, aber noch vor Willi den weiten Weg in das Land der Verheißung angetreten hatte. Nun teilte er in dem Brief mit, daß er schon noch zu Geld kommen werde, "...denn meine Pferde laufen ein, verlaß dich darauf!" Verwundert schüttelte Willi den Kopf und las weiter: "Damit du siehst, wie lustig es bei uns zugeht und wie ich nun aussehe, schicke ich dir einen Schnappschuß vom letzten größeren Österreicher-Fest in Banston." Tatsächlich, hier im Umschlag steckte ein Foto. Typisch, der Anton!
Unverkennbar vierschrötig untersetzt, leicht tolpatschig, hopste er da am Arm einer um einen halben Kopf größeren Partnerin daher, die Willi zwar nicht ausgesprochen hübsch fand – aber Toni hatte sich noch nie sonderlich um das Aussehen seiner diversen Partnerinnen gekümmert.
"Du hast dich wohl kaum verändert", dachte er. Doch plötzlich stutzte er. Gleich neben Anton, ziemlich groß im Bild, ging ein Mädchen auf die Kamera zu, dessen Anblick Willi Höger sogleich magisch fesselte.
Um besser zu sehen, sprang er auf und trat zum Licht. Sie war mit einer langen weißen Hose bekleidet, trug einen adretten Pullover, und überhaupt – kam sie ihm wie die Verkörperung zarter Weiblichkeit vor. Die Schulterpartie lag frei und zeigte graziöse Grübchen, lange Vertiefungen zum Halsansatz, der durch eine prächtige schwarze Mähne verdeckt wurde, die den Kopf des Mädchens wellenförmig umrahmte. Zwei seltsam große, runde Augen blickten ein wenig traurig auf das Gewühl der Tanzenden.
Auch das kleine Schmollmündchen wirkte melancholisch, was selbst der einzige Schmuck, in Form einer einfachen, engen Halskette, nicht mildern konnte.
Ganz versunken in die Betrachtung dieses Bildes, legte sich Willi geistesabwesend über das Bett in seinem kargen Zimmer und versuchte sich vorzustellen, was dieses Mädchen (oder war es eine verheiratete Frau?) wohl treiben mochte, woher sie stammte und warum ihrem Gesichtsausdruck so ein Zug der Wehmut, ja eines tiefen Kummers anhaftete, der garnicht in die fröhliche Gesellschaft um sie herum passte.
Je länger er das Stückchen glänzenden Kartons in seiner Hand betrachtete, desto intensiver wurde sein Verlangen mit diesem Wesen zu sprechen, ihr ein paar nette Worte zu sagen.
Mutlos steckte er das Foto wieder in den Briefumschlag zurück. Es war ihm nicht bekannt, wie sie hieß, noch wo sie wohnte. Und selbst wenn er es wüßte – was hätte es für einen Sinn?
In Kürze würde er wieder meilenweit laufen müssen, bis er -vielleicht – eine andere Stellung fand.
Gesetzt der Fall, dieses Mädchen wäre unverheiratet - was könnte er ihr schon bieten?
Nichts! Es war schon schwierig genug, allein durchzukommen!
So wühlte er im trüben Schlamm der Resignation, der Enttäuschung über sich selbst und der augenscheinlichen Aussichtslosigkeit der Situation. Er rührte solange herum, bis dumpfe Blasen aufstiegen und wie Illusionen nacheinander zerplatzten.
Seit Wochen hatte er seinen Eltern keine Nachricht mehr zukommen lassen. Was sollte er schreiben? "Geht mir glänzend, verdiene ausgezeichnet! Bin ein angesehener Bürger dieses Landes – mit dem nächsten Brief schicke ich ein Bild meiner Verlobten mit."
Ach was! Lieber unterließ er es, zu schreiben, als seinen Eltern solche Lügen aufzutischen. Sollen sie ruhig ein wenig Angst um ihn haben.
Nein, sagte er sich, ich werde jetzt nicht nach Europa zurückkehren. Nicht, weil mich die Aussies fertig gemacht haben! Mit diesem Gefühl möchte ich nicht heimkehren, lieber gehe ich hier still und leise vor die Hunde...

Seit 4. Oktober kreiste nun der erste künstliche Satellit um die Erde, Made in U.S.S.R. Majestätisch war die kleine, glänzende Kugel über das abendliche Firmament Melbourne's hinweggeglitten, hatte Autos und Straßenbahnen zum Stoppen gebracht, und Fußgänger in stummen Staunen zu dem unbegreiflichem Wunder aufsehen lassen.
Ihn berührte das kaum. Wenn er nicht zufällig während eines Abendbummels Zeuge dieses Sputnik-Zaubers geworden wäre, er hätte sich wahrscheinlich kaum aus eigenem Antrieb um diesen Anblick bemüht.
Wohl niemand in dieser Millionenstadt hatte von diesem Weltraum-Forschungsprojekt der Sowjets gewußt oder auch nur geahnt – außer Willi Höger, der bloody Migrant, der jetzt wegen eines alten Trottels wieder arbeitslos durch die Straßen irrte.
Möglicherweise erinnerten sich einige Freunde im Busch an seine fantastische Geschichte mit den Hundeversuchen, weit hinten in Sibirien. Wie hatten sie alle höhnisch gelacht, ungläubig gelächelt!
"Jetzt habe ich wenigsten e i n e n Grund zum Lachen. Zu einem kurzen und höhnischen Lacher", dachte er, faßte wieder etwas mehr Vertrauen zu sich selbst, das ihm durch die anhaltende Pechsträhne abhanden zu kommen drohte.
Noch weitere drei Wochen versuchte er sein Glück, jedoch vergeblich. Dann, eines Abends, faßte er einen Entschluß, eilte um 10 p.m. aufs Postamt und sandte an Anton Melzer in Sydney-Banston ein Telegramm ab, worin er seine Ankunft für Sonntag ankündigte.
Warum sollte er es nicht dort versuchen? Außerdem war er der Stadt Melbourne ohnehin längst überdrüssig. Er suchte seine nächstgelegenen Bekannten und Freunde auf, verkaufte noch sein Radiogerät, packte die Koffer und bestieg um sechs Uhr abends den Spirit of Progress.
Melbourne lag hinter ihm.
Victoria würde er bald verlassen haben.
Noch in derselben Nacht rollte er auf den Schienen Neusüdwales dahin. Wiedereinmal hatte er alle Brücken hinter sich abgerissen.