5. Kapitel:
Melbourne
Nachlässig rasiert, erregte der Österreicher am
Mittagstisch die Gemüter einiger Angestellter. Sie
flüsterten einander zu: "Sieh' ihn dir an, wie unappetitlich
und unästhetisch er aussieht! Soetwas arbeitet in unserer
Mitte, soetwas müssen wir dulden. Abscheulich der Mann, hurt
nächtelang herum und kommt so abgerissen zu Tisch!"
Er war sich bewußt, daß er seine Kleidung
vernachlässigte, daß seine Bartstoppeln hie und da zu
flüchtig abgemäht waren. War denn keiner da, der die
Verheirateten unter ihnen auf die verschmutzten, von auffallenden
Rissen unter den Achseln durchzogenen Hemden aufmerksam machte?
War dies vielleicht notwendig? Oder war man nur über die
dargebotene Ablenkung von der täglichen Routine froh und
nützte die Minuten der Muße mit schadenfrohen Attacken
auf die Europäer aus? Er versuchte alle diese Bemerkungen,
die ihm zu Ohren kamen, einfach zu überhören. Aber dann
ereignete sich ein Vorfall, durch den Willi Höger in bittere
Situationen geriet.
Er bekam nun täglich durch Bill dem Jugoslawen einen Lift zu
seiner Arbeitsstätte, was ihm wegen der häufig
wechselnden Wetterverhältnisse und der Bequemlichkeit halber
sehr gelegen kam. Eines Morgens nun wartete er vergeblich auf
Bill. Unruhig schritt er auf dem Gehsteig auf und ab.
Schließlich lief er zur Straßenbahn, stieg in den
Omnibus um und erreichte seinen Platz im Büro keuchend und
mit einer Viertelstunde Verspätung.
"Ist Bill schon hier?" erkundigte er sich, abgekämpft von der
Hetzerei, die hinter ihm lag, bei einem gerade
großjährig gewordenen Australier, der wegen seines
verdrehten Schädels mit kaum millimeterlangen Borsten drauf
heimlich die 'Ratte' genannt wurde. "Be quick or you are dead!"
lautete dessen zynische Antwort, lässig aus
häßlich verzogenem Mund hervorgestoßen.
Oh, der Österreicher wußte genau, was der Bursche damit
ausdrücken wollte. Es ärgerte ihn, daß Willi immer
interessantere und umfangreichere Entwürfe zugewiesen bekam,
während Rat und seine etwa gleichaltrigen Kumpane stur und
einseitig bei einmal eingeübten Maschinenteilen hängen
blieben. Es war ja auch nahezu unglaublich, was sich einzelne der
Burschen an Nachlässigkeiten und Bequemlichkeit leisteten.
Das fiel natürlich auch den Bossen auf.
Und der Bemerkung zweiter Teil: "...oder du bist des Todes!"
sollte wohl eine Spitze auf deutsche Verhältnisse sein,
soweit sie zumindest in den Köpfen der Australier
existierten. Allgemein herrschte hier die Ansicht, daß in
Deutschland – und natürlich auch in Österreich – die
Menschen mit roher Gewalt und drastischen Mitteln zu einem
zügigen Arbeitstempo getrieben wurden. Man konnte sich
einfach nicht vorstellen, daß ein Mensch von sich aus das
Bedürfnis nach besonderen Leistungen verspüren
könne – außer im Sport.
So war es nicht weiter verwunderlich, jedoch äußerst
unbedacht, daß Willi den Ignoranten in ungewohnter
Schärfe übers Maul fuhr. "Du brauchst nicht so
höhnisch zu grinsen, wenn ich mich beeile. Schließlich
bin ich kein fair dinkum Aussie, der tun und lassen kann, was ihm
paßt. Schließlich wird mir von euch Burschen ja scharf
genug auf die Finger gesehen!"
Nachdem er sich so zur Wehr gesetzt hatte, ließ sich der
Österreicher auf keine der maulenden Selbstgespräche von
Rat mehr ein. Leider konnte er nicht verhindern, daß sein
Ausspruch, er sei ja kein Australier, nach Herzenslust im Saale
verbreitet wurde. Bestürzt und zutiefst betroffen erlebte er,
wie ein weiterer junger Australier am nächsten Tag sich mit
scharfen Angriffen auf seine Person äußerte. Der
größte Faulenzer der Blase, zugleich der
größte Neider Willis, der stundenlang in seinen
blendend weißen Mantel gehüllt an der Wand lehnte,
untätig die kleinen Zwischenfälle im Büro aus
tiefgelegenen, rotumränderten und bläulichgelb
umschatteten Augen verfolgte, breitete die Arme weit aus, wies auf
Willi und rief seinen jungen Kollegen laut und pathetisch zu:
"Was tut der überhaupt in unserem Office? Warum steckt man
ihn nicht in den Busch und läßt ihn dort mit Krampen
und Schaufel schuften?" Diese mißgünstige
Äusserung, die nur wiedergab, was ohnehin jeder Australier
von jedem Einwanderer zu allererst erwartete, traf Willi mehr und
nachhaltiger, als er augenblicklich zugegeben hätte.
Du bist unerwünscht hier, man will dich raus haben. Du
störst den gleichförmigen Ablauf des Tagesgeschehens mit
deiner Arbeitraserei. Du paßt einfach nicht in ihre
Mitte!
Zwangsläufig prägten sich diese Gedanken ein, machten
ihn verschlossener, abweisender, und damit noch einsamer, als er
ohnehin schon war. Gewiß, es gab auch unter den
gleichaltrigen Australiern so manchen, der für ihn das Wort
ergriff. "Hört doch endlich mit dem Kohl auf!" hatte ein
knapp achtzehnjähriger, hinter ihm sitzender Junge, dem ewig
beißenden und nörgelnden Don zugerufen. "Du bist ja nur
auf seine Erfolge eifersüchtig. Streng dich gefälligst
mehr an!" Aber solche Rufer in der Wüste traten selten
auf.
Die Meute verfolgte die hochgespannten, unter der Oberfläche
sich entladenden Spannungen, mit unverhohlener Schadenfreude. Es
fand sich niemand, der dem unverantwortlichen Treiben der
undisziplinierten Horde offen Einhalt gebot. Der Österreicher
hätte mit einer Ohrfeige reagieren können, aber dann
wäre der Skandal perfekt gewesen, und gerade das wollte er
vermeiden: Aufsehen. Im Grunde verhielt er sich wie das Gros der
Einwanderer: ruhig und abwartend. Er tröstete sich damit,
daß es Hunderttausenden so ergehen mochte.
Er dachte dabei an die vieldiskutierte generelle Entscheidung der
Ärztekammer Victorias, dem Ansuchen von 90 europäischen
Ärzten um Anerkennung ihrer Studien nicht nachzukommen. Dies
war umso bedauerlicher, als in entlegenen Gebieten Victorias ein
notorischer Mangel an ausgebildeten medizinischem Personal
herrschte, und laut Zeitungsberichten viele der ansuchenden
Mediziner bis zu 20 Jahre Praxis in besten Krankenhäusern
Europas nachweisen konnten.
Somit waren diese 90 vollausgebildeten Ärzte gezwungen, ihren
Lebensunterhalt mit Nahrungsmitteluntersuchungen, in der
Versicherungsbranche, als Milchausführer und anderen
wesensfremden Jobs zu verdienen. Oder sie mußten eben noch
weitere drei Jahre des Studiums an der Universität Melbourne
hinter sich bringen, um endlich den austalischen Ansprüchen
gerecht zu werden. Die Ärztekammer behauptete, das
Ärztegesetz aus dem Jahre 1956 besage, "daß nur solchen
Ansuchen um Anerkennung stattgegeben werden könne, in denen
bewiesen werde, daß der Ansuchende das Wissen um einen
Zustand oder eine Krankheit, die für Victoria
eigentümlich sei, besitze."
Diese Auslegung war reichlich phantastisch zu nennen und zielte
klar darauf ab, europäische Ärzte von vorneherein
beruflich kaltzustellen.
Was hatte er sich also zu beklagen? Wie mußte den
Männern und Frauen zu Mute sein, die ihre jahrzehntelange
Mühe und Erfahrung in einem Lande, das sie brauchte, wirklich
brauchte, so schlecht belohnt sahen? So fügte er sich immer
wieder geduldig und vermied es, seinen australischen Kollegen
unangenehme und höchst persönliche Dinge um die Ohren zu
schreien.
Gelegentlich war er dem Verzweifeln nahe.
Wie es anderen Leidensgenossen erging, sah er an dem zweiten
Russen, der unweit von Willi häufig mit rotem Kopf den
Frechheiten und Anzüglichkeiten der hoffnungsvollen
australischen Jugend hilflos ausgesetzt war: Er besaß Frau
und Kind, war 45 Jahre alt und machte daher notgedrungen gute
Miene zum bösen Spiel.
Als er sich einmal nicht mehr zu helfen wußte, trat er zu
Willi hin und flüsterte ihm leise zu:
"Was soll ich tun? Die Schweine lassen mir keine Ruhe!"
Tränen standen in seinen Augen, sein kahler Kopf überzog
sich mit Runzeln, der Blutdruck presste die Äderchen an den
Schläfen aus der Haut.
"Bloody Russian Spy!" "Verdammter russischer Spion!" rief ihm eben
Don zu, der sein blödes Mundwerk ungeschoren wetzen durfte.
Wie witzig.
"Wie Sie noch nicht hier waren, trieben sie es noch viel
ärger. Jetzt haben sie in Ihnen eine neue Zielscheibe
für ihren Sadismus gefunden!"
Der Russe setzte wieder das starre Lächeln auf und begab sich
an seinen Sitz zurück. Im übrigen zog sich der Mann aus
der Affäre, so gut er eben konnte, indem er den Dummen
spielte und täglich Clownerien beging, die ihn bald in den
Ruf eines Halbverrückten brachten. Das war es ja gerade, was
er bezweckte: diese zweifelhafte Einstufung brach den Angriffen
die Spitze ab – halb glaubte man nämlich das Märchen vom
russischen Spitzel.
Dieses infame Spiel, für den Russen allerdings blutiger
Ernst, raubte ihm derart viel der Energie, daß er die
Mittagspause benützte, um sich abgesondert von jeder
'menschlichen' Gesellschaft nervlich zu erholen.
Mit der Klassifizierung "he is mad", war man überhaupt rasch
bei der Hand.
In der Reparaturhalle, die sich dem Konstruktionssaal
anschloß, waren zwei Österreicher als Monteure
beschäftigt, schön allein und ohne Aufsicht. Ihr
häufigen Ausbrüche unbändiger Lebenslust
äusserten sie durch langgezogene Jodler, die bühnenreif
waren und bis zum Zeichensaal herüberschallten.
"Da, hör dir seine verrückten Landsleute an!" hieß
es dann, und man wies mit den Fingern zu Willi hin. Kein Tag
verging ohne neue Überraschungen für ihn. Er war
erstmalig vollkommen allein auf sich gestellt, weit weg von
Zuhause. Tiefere Lebenserfahrungen sammelte er jetzt, in diesen
Monaten, in einem harten und rücksichtslosen Kampf mit seinem
inneren Schweinehund und dem der Australier.
Die Schmerzen hatten noch immer nicht nachgelassen. Es war ihm
unerklärlich, wieso die Stelle am Kiefer mit den drei
extrahierten Zähnen stets geschwollen und druckempfindlich
war. Von dauernden Magenschmerzen geplagt, mußte er sich Tag
um Tag die sarkastischen, durchaus nicht wohlgemeinten
Äusserungen seiner jungen Kollegen anhören, ohne viel
dagegen unternehmen zu können.
Gelegentlich fing er nun schon unmerklich zu zittern an, wenn ihm
die Ratte wieder einmal zusetzte. "Ihr Scheiß-Einwanderer",
warf er Willi grinsend vor, "seid ja so alle Kriminelle und
Verrückte. Und soetwas läßt man in unser Land
herein!"
"Nichts als Vorurteile, verdammter Idiot!!" brüllte ihn der
Österreicher daraufhin gereizt an. Die Nerven ließen
ihn im Stich. "Es ist klar, daß unter einer Million wahllos
herausgegriffener Menschen aller Nationen auch Diebe, Neurotiker
oder vielleicht sogar Mörder zu finden sein werden!
Aber ich möchte behaupten: wenn einer von vorneherein nicht
verrückt war – i h r, ihr Aussies könnt einen um den
Verstand bringen mit eurer Stupidität und Eifersucht!"
Von diese Stunde an war Rat wie ausgewechselt. Anscheinend hatte
er sich eines Besseren besonnen. Er zeigte zwar keine wie immer
geartete Symphatie für den Österreicher, aber er
ließ ihn fortan unbehelligt. Intelligent war der Bursche
ja.
Der allgemeine Gesundheitszustand Högers hatte sich so
verschlimmert, daß er sich nur mit größter
Mühe dazu zwingen konnte, die Firma überhaupt zu
betreten. Sein Denken verlief in langsameren Bahnen und wesentlich
unkonzentrierter. Häufig vergaß er Dinge
auszuführen, die er sich kurz vorher vorgenommen hatte. Seine
Bewegungen wirkten unsicher, ruckartig und gehemmt, insgesamt rief
den Eindruck eines schläfrigen Menschen hervor...
Der Checker sandte eine Zeichnung zum Ausbessern retour, er
radierte die falschen Stellen aus, vergaß im nächsten
Augenblick die Konstruktion zu vervollständigen und brachte
die halbfertige Ausarbeitung wieder zum Kontrollor. Der
ärgerte sich natürlich über den "fellow" und
glaubte anfangs, Willi tue dies aus Nachlässigkeit. Als seine
Zerstreutheit größere Dimensionen annahm und ihm immer
gröbere Fehler unterliefen, hielt ihn der Prüfer eine
Zeit lang für dumm und nahm sich vor dem 'stupid chap' kein
Blatt vor dem Munde. Nachdem ihn aber ein Nachbar dahingehend
informiert hatte, daß der Austrian an
Bewußtseinsstörungen leide und nicht mehr wisse, was um
ihn vorgehe, schälte sich allgemein die Ansicht heraus, Willi
Höger sei schwer geistesgestört.
Der arbeitete tatsächlich wie verrückt an seinen
Zeichnungen. Aber mit einem kleinen Unterschied: er versuchte sich
so zu konzentrieren, daß alles um ihn versank, daß er
diese grauenvolle Umwelt einfach nicht zur Kenntnis nehmen
brauchte. Er versuchte sie zu verdrängen. Er wollte, er
durfte nicht mehr mitbekommen, was man um ihn munkelte und
tuschelte.
Ganz offen, unverschämt und unverhüllt – schamlos, wie
es dem Volkscharakter entspricht, beriet man um den Fremden herum,
ob er blöd, verrückt oder bloß ohne Frau sei. Und
der letzterwähnte Umstand war sicherlich auch ausschlaggebend
für seinen jetzigen Zustand. Mit ungeheurer Intensität
erhob sich manchesmal der Wunsch nach einem intimen Zusammensein
mit einem weiblichen Wesen. Er brauchte jedoch eine Frau, in die
er sich wenigstens eine gewisse Zeit verlieben konnte – und die
fand er nicht. Er versuchte in seiner Verzweiflung über die
verschiedensten Mißgeschicke, die pausenlose Folge von
Erkrankungen, der erfolglosen Suche nach einer Partnerin, und vor
allem der demütigenden Lage im Büro dadurch für
einige Stunden zu entrinnen, daß er sich Abend für
Abend in seiner dunklen Bude betrank. Nicht aus Sucht – er
wäre jederzeit in der Lage gewesen, die Flaschen unangetastet
stehen zu lassen. Er trank den Alkohol, um sich zu stabilisieren.
Tat dies sozusagen nüchtern und leidenschaftslos, wie er
üblicherweise alles mit wissenschaftlichem Geist betrachtete.
Mit wildverzerrten Zügen, vom Wein in entsetzliche Wut
versetzt, baute er sich vor dem Spiegel auf und knurrte zwischen
zusammengebissenen Zähnen fürchterliche Drohungen gegen
die Schar seiner Peiniger hervor.
"Ihr Schweine", knirschte er hervor, "ihr werdet mich nicht
unterkriegen,...ich l a s s e mich nicht unterkriegen! Ich werde
euch diesen Triumph nicht bereiten – nein, ihr Hunde!
Ihr Hunde! Ihr Hunde, Hunde!" brüllte er los, trommelte mit
den Fäusten gegen das Holz des Kastens. Durch die umnebelten
Sinne drängte sich immer wieder ein Gedanke in den
Vordergrund: wenn er jetzt aufgab und seinen Platz im Büro
auch nur einen Tag, einen einzigen Tag im Stich lassen würde,
war er verloren. Nie wieder würde er das verlorene
Selbstbewußtsein wieder erlangen, nie wieder würde er
einen neuerlichen Mißerfolg, eine neuerliche Aufgabe seines
unmittelbaren Ziels verwinden. Seine Seelenqualen
äußerten sich in Alpträumen, die ihn des Nachts
heimsuchten: verkappte Gangster tauchten mit Maschinenpistolen auf
dem Gang draussen auf, drängten ihn in eine Ecke. Da hob auch
schon einer die MP, stellte sich breitbeinig vor dem Wehrlosen
hin, und zersägte ihn kaltlächelnd mit den
Feuerstößen...
In allen Träumen kehrte ein Gefühl immer wieder:
daß er vollkommen wehrlos hinterlistigen Attacken
preisgegeben war.
In all diesen abscheulichen Kämpfen, Wirrnissen, Zweifel und
Leiden half ihm das verständnisvolle und
unerschütterliche Vertrauen Jack Whitts, seines australischen
Vorgesetzten. Er mochte wohl nur von einem Bruchteil der Angriffe
Kenntnis haben, denen Willi tagtäglich ausgesetzt war, er war
aber sicherlich über seine zunehmende Zerstreutheit und die
steigenden Fehlerquoten informiert. Aber genausowenig wie James
Hartley, Högers nächsthöherer Boss in der
Hierarchie, verlor er darüber eine Silbe. Leider auch nicht
gegenüber den jugendlichen Erpressern, sei es nun aus
Unkenntnis oder Gutmütigkeit, die man ihm schon an der Nase
ansehen konnte.
Ja, und von den Europäern, soweit man ihn dazurechnen durfte,
war es vor allem Ted Spranger, der Engländer, der ihm
moralische Unterstützung zukommen ließ.
Aber was Willi eigentlich am meisten überraschte, war das
aktive Eintreten eines jungen Mannes für ihn, von dem er eine
solche Haltung am wenigsten erwartet hätte. Bill, der
Jugoslawe, versuchte als einziger die Quatscherei der
Aussie-Brüder zu stoppen. Vielleicht lag es daran, daß
er den Österreicher am genauesten kannte, daß er um den
anständigen Charakter des Jungen wußte. Daß er im
Laufe ihrer hitzigen Debatten auf der gemeinsamen Fahrt im Wagen
erkannte, daß Willi keineswegs an
Gedächtnisstörungen oder Halluzinationen, oder
weiß der Teufel, was die Aussies ihm andichteten, litt. Er
wußte, daß diese Fehlleistungen nur einem
augenblicklichen seelischem Ausnahmezustand zuzuschreiben waren.
Daß sie verschwanden, sobald Willi den Fuß
außerhalb von Mills Ltd setzte. Alle Gehemmtheit,
Nervosität und Scheuheit schien dann von ihm abzufallen.
Vielleicht machte sich bei Bill auch ein gewisses
Solidaritätsgefühl aller Europäer bemerkbar, das
sich stärker erwies als die hie und da durchbrechenden
Unstimmigkeitsgefühle zwischen Jugoslawen und
Österreichern.
"Ich bin mir ganz genau bewußt, daß deine Landsleute
die Jugoslawen nicht besonders gut leiden mögen", hatte Bill
einmal so nebenbei fallen gelassen.
"Wieso, habe ich dir jemals einen Anlaß gegeben, das zu
glauben?" fragte ihn der Österreicher drauf.
"Nein, das nicht. Aber du weißt ja, welche Nachwirkungen der
'Totale Krieg' in den Beziehungen der beiden Länder
hinterlassen hat. Ich hasse die Nazis und alles, was damit zu tun
hat."
Und dann tat Höger einen provozierenden Schritt,
entschlossen, ihre Freundschaft daran zerbrechen zu lassen – oder
erneut zu festigen: "Jetzt wirst du mich wohl nicht mehr ansehen,
wenn ich dir sage, daß auch mein Vater einer der Millionen
kleinen Parteigenossen war?"
Bill gab damals darauf keine Antwort. Er blickte geradeaus auf die
Fahrbahn.
Es sprach also sehr für seinen Charakter, wenn er jetzt
öffentlich für den Österreicher eintrat, obwohl er
befürchten mußte, selbst die Sympathien zu verscherzen.
Im übrigen manipulierte der Jugoslawe geschickt die Stimmung
der Australier, was für Willi von einem gewissen Punkt an
unmöglich war, da er einen Widerwillen gegen gewisse Methoden
empfand, die seiner Meinung nach an Selbstverrat grenzten.
"Heul' doch mit den Wölfen oder sie werden dich zerreissen!"
hatte ihm Bill oft genug gepredigt. "Stimm' doch ein in ihre
Phrasen, ohne viel nachzudenken."
"Nein, die werden mich nicht dazu bringen, bei jeder Gelegenheit
in ihr blödes 'I am mad' einzustimmem. Meiner Meinung nach
brauchen sie dies erst garnicht zu betonen!" erwiderte Willi
wütend.
"Ich tu's jedenfalls – und fahr gut damit. Schau die Boys an, wie
sie mich dauernd um Rat fragen. Ich hab' sie so in der
Hand..."
"Man sollte seine Intelligenz vielleicht wirklich so benutzen,
daß man die Dümmeren übervorteilt, wo es nur
geht", antwortete ihm Willi nachdenklich. Aber gleichzeitig war
ihm klar, daß er dies mit anderen Mitteln bewerkstelligen
würde als Bill. Heuchelei, und sei es noch so harmlose, war
ihm von Jugend auf fremd gewesen. Eher hätte er sich die
Zunge abgebissen, als irgendwelche Intrigen zu spinnen. Nicht so
Bill. Für ihn war alles 'wonderful' und 'terrific', was mit
Australien zusammenhing. Und er schlug Kapital aus der
Bauchpinselei.
Wenn Willi abends allein den Park durchquerte, fühlte er sich
meist so abgespannt und in seine zermürbenden Gedanken
vertieft, daß er die Umgebung wenig beachtete.
Gleichgültig sah er den Opossums zu, wie sie auf den Wegen
und Bäumen herumtollten und mit ihren rosigen Schnauzen im
Abfall nach Süßigkeiten wühlten. Wieviel
Widersinn, wieviel herrlich Schönes und abgrundtief
Schlechtes doch zugleich auf der Welt existierte, die zu entdecken
er ausgezogen war...
* * *
Am Wochenende suchte ihn nun häufig Erwin auf, nachdem sie
sich bei den Olympischen Spielen überraschend wieder
getroffen hatten. Erwin hatte sich sofort bereit erklärt, das
neuvermählte Paar Finze aufzusuchen, nachdem ihm Willi von
Rosas Kochkünsten vorgeschwärmt hatte. Zwar betrachtete
Willi mißtrauisch die rote Jawa, der gelegentlich ein
Auspufftopf fehlte oder der nur nach mühseligem
Zusammenflicken diverser elektrischer Kabel Leben einzuhauchen
war, aber sie brauste los.
Der Tag war herrlich schön, und das Ehepaar deckte sie mit
feinsten hausgemachten Gerichten ein, bis ihnen der Bauch zu
platzen drohte. Dann lehnte man sich behaglich in die
Korbstühle im Schatten des Hauses zurück und tauschte
Neuigkeiten aus. Anfangs hänselte man Willi, der ganze
zwanzig Kilo zugenommen hatte, nachdem er früher von
ausgesprochen magerer Statur gewesen war.
Die Finzes berichteten von zwei überraschenden
Todesfällen aus ihrem gemeinsamen Bekanntenkreis von der
Flamingo.
Da war ein blutjunger, verwaister Österreicher bei einem
Jagdunfall in Tasmanien ums Leben gekommen, dem es zuhause immer
dreckig ergangen war. Und der andere Fall traf die beiden Burschen
wirklich hart.
Mr. Salzburger, mit dem Willi in Bonegilla noch gemeinsam
Unterricht bei Beryl genommen hatte, lebte nicht mehr. Wie es dazu
gekommen war? Seine um einiges jüngere Frau legte
täglich ein Stückchen des Weges zur Arbeit mit einem
Deutschen zurück, was das Mißtrauen des Ehegatten
hervorrief. Er erwarb mitten in der ödesten Gegend von
Melbourne ein Stück Land, um seine Frau ganz für sich
allein zu haben, aber sie weigerte sich aus verständlichen
Gründen, dorthin zu übersiedeln. Da erschoß sich
Mr. Salzburger einfach in einem Anfall von Eifersucht...
Was er mit allen Mitteln verhindern wollte, trat ein: Nun ging die
Österreicherin wirklich mit der Zufallsbekanntschaft...
In der Heimat hätte der Mann die Tat wahrscheinlich nie
begangen, aber hier übersteigerten sich durch die soziale
Isolation alle Gefühle.
Mit welchen Hoffnungen waren sie nicht alle in dieses Land
gekommen! Vom anfänglichen Überschwang bemerkte man bei
den meisten nichts mehr, die sorgendurchfurchten Mienen bewiesen
dies zu Genüge.
Vom Geschrei der Zuschauer angelockt, erlebten sie dann einen
Tennis-Schaukampf, den Berufsspieler für die Schuljugend des
Ortes gaben. Die Jungen und Mädchen lagerten entlang des
Drahtnetzes, in adrette Sportjacken gekleidet, aufmerksam und
sachkundig jeden Ballwechsel kommentierend. Erwin verfolgte das
Spiel als Amateur-Fachmann, gehörte er doch einem
deutschsprachigen Tennisklub in Melbourne an. Willi war ganz
begeistert und bat Erwin, ihn dort einzuführen.
Spät nachts rasten sie über die Hügel dem Flachland
zu, wo sich ein immenses Lichtermeer ausbreitete, das sich
über 40 Km im Durchmesser erstreckte: Melbourne mit seinen
Vororten.
* * *
Mit der löblichen Absicht, die Abendstunden sinnvoller
auszunutzen, nahm sich Willi Höger vor beim Melbourne
Technical College Erkundigungen wegen der Anerkennung seiner
Vorstudien einzuholen. Der Chef zeigte sich hocherfreut.
So lag Willi um acht Uhr morgens noch im Bett, zu einem Zeitpunkt,
wo er normalerweise bereits außer Haus war. Vom kleinen
Radiogerät her ertönte Jazzmusik. Eben hatte Peter
Golding von der Station 3UZ seinen morgendlichen Kommentar
gesprochen: "Wir sollten endlich beginnen die Ankommenden weniger
als Migrants oder Newaustralians zu betrachten denn als Human
Fellows, als Menschenbrüder. Weiters sollten wir nicht
diejenigen, deren Muttersprache nicht Englisch ist, als
Untermenschen ansehen. Alles Schlechte im Leben, wie Bodgies,
Mörder, Vandalismus und Arbeitslosigkeit kommt von den
Einwanderern – glaubt die Mehrzahl der Australier.
Ich selbst hatte auf dem Weg zum Studio ein solches Erlebnis, das
kennzeichnend ist: Ich habe heute einer Italienerin mit vier
Kindern beim Einsteigen in die Straßenbahn geholfen. Eine
Dame der australischen Gesellschaft äußerte drauf in
einem Ton, der jedes Mißverständnis ausschloß
'Wenn es nach mir ginge, können diese Dagos für immer
draussen bleiben!'".
Dem Österreicher befiel ein heißes Gefühl der
Dankbarkeit: Lieber Peter Golding! Du weißt ja garnicht, wie
sehr deine menschlichen, vernünftigen und aus eigenem Erleben
formulierten Worte, in Tausenden von verbitterten Einwanderern die
Zuversicht und Hoffnung bestärken, daß es auch in
Australien nur die Dummen sind, die den Mitmenschen gegenüber
eine solch sture Haltung einnehmen. Leider ist diese Gruppe, wie
in jedem Land der Erde – in der Mehrzahl.
Er überlegte weiter: Hätten die Europäer genauso
gehandelt, wenn die Australier in der Minderheit wären? Im
umgekehrten Falle? Eine offenstehende Frage.
Da waren ihm vergangene Woche sämtliche weißen Hemden
ausgegangen. Nur ein khakifarbenes Amihemd, das er in einen der
vielen Läden erstanden hatte, die
Militär-Überschußwaren führten, war ihm zum
Anziehen geblieben. Er ahnte schon im voraus, was daraus entstehen
würde, als er es überstreifte.
Obwohl im selben Raum zwei Aussie-Boys mit genau denselben Hemd
saßen – auf seinem Körper wandelte sich das Khaki
sofort in eine Naziuniform. Selbst Ted Spranger ließ seinen
Sarkasmus wiedereinmal von Stapel. Wie tief mußten die
Erinnerungen an das Dritte Reich noch im Ausland wurzeln!
Bloß zuhause wurde alles nur mehr wie ein böser Traum
gehandelt, fast unwirklich weit zurückliegend.
Als Europäer trug er außerdem einen längeren
Haarschnitt als wie hier üblich. Seine körperliche
Größe, die kräftige Gestalt und die mattbraune
Tönung seiner Haut verliehen ihm ein sehr prägnantes
Aussehen, das ihm selbst eher peinlich war, da es in diesem
Betriebsklima nur Mißgunst hervorrief.
Die offenkundig zur Schau getragene Überheblichkeit der
Einheimischen anderen Völkern gegenüber kam Höger
stupide, nein, eher snobistisch vor.
Ja, das war der richtige Ausdruck dafür: Snobistisch.
Denn die Kerle bildeten sich soviel auf ihre rauhen Manieren ein,
die jedem gebildeten Dandytum ferne lagen, auf die
Geringschätzung jeder Elitebildung unter Individuen, mit
einem Wort auf die absolute Gleichheit in der australischen
Gesellschaft, daß sie sich stolz als frei von jeder Art
Snobismus bezeichneten.
Dabei merkten sie garnicht, daß man sie ruhig als die
eingebildesten Gesinnungssnobs der Welt ansehen durfte.
Am College tummelten sich auffallend viele asiatische Studenten
herum, die unter dem Colombo-Plan zur Förderung
unterentwickelter Länder des Pazifikraumes hier ihr
Stipendium genossen.
Es war bekannt, daß die dunkelhäutigen Männer und
Frauen in der Öffentlichkeit einen steten Stein des
Anstoßes bildeten. Man warf ihnen außer ihrer
Hautfarbe vor allem vor, daß nur ein geringer Prozentsatz
der Studierenden das vorgeschriebene Ziel erreichte. Und, falls
sie ihre Studien wider Erwarten programmgemäß
abwickelten, es Selbstmord gleichkäme, künftige
Konkurrenten heranzubilden. Das für die Stipendiaten
aufgewendete Geld also entweder zum Fenster hinausgeworfen sei,
oder noch schlimmer, zur Heranzüchtung von Intelligenzlern
verwendet werde, deren Heimatländer bereits mit unverhohlener
Lust begierige Augen auf Australien richteten...
Aber weit auffallender als das Auftreten so vieler
fremdländischer Studenten war für Willi eine
Beobachtung, die er an den Fingernägeln einzelner Lehrender
ablesen konnte: Die Hände der Professoren wiesen Spuren
manueller Tätigkeit auf, die Fingernägel waren von
schwarzen Rändern flankiert. Dies deutete daraufhin,
daß die Lehrkräfte selbst eifrig an praktischen
Problemen arbeiteten. Das konnte einmal aus einem Mangel an
Assistenten resultieren, oder, was Willi bedeutsamer und
wahrscheinlicher vorkam, man schien hier weniger auf eine
theoretische als auf eine solide, unmittelbare anwendbare
praktische Ausbildung Wert zu legen. Es wurde Willi daher klar,
daß er den bei Mills Ltd neu eingestellten Ingenieuren
hinsichtlich des theoretischen Wissens weit überlegen
war.
Man bedeutete ihm letztendlich, daß man ihm in einigen
Wochen einen Bescheid zukommen lassen würde.
* * *
Seit Wochen hatte ihm Rolf mit bangen Vermutungen und in
ängstlicher Sorge um die Treue seiner Uschi in den Ohren
gelegen. Rolf durchlief genau dieselben Qualen, wie Werner Benke
mit seiner Gudrun einige Wochen vorher. Aber last not least war
die Holde, die mit dem Schiffchen die halbe Welt hinter ihm
hergereist war, glücklich, wohlbehalten und unbeschädigt
in Melbourne gelandet.
Aber damit fingen die Sorgen des jungen Bräutigams erst so
richtig an. Er konnte für seine Uschi keine Arbeit finden. Da
er sich mit seinem Bruder eben wiedereinmal zerkracht hatte,
pumpte er Willi zerknirscht um 50 Pfund für die bevorstehende
Hochzeit an. Er sei blank. Der lieh ihm 30 Quid und gab ihm
gleichzeitig den guten Rat, bei der Landlady wegen Uschi
vorzusprechen.
Eine Woche später klopfte es an Willis Tür und die
jungen Verliebten standen vor ihm, wesentlich aufgeheiterter.
Denn Uschilein war bereits fleissig dabei, ihren Rolf bei der
Gründung eines eigenen, noch in weiter Ferne liegenden
Haushaltes zu unterstützen. Die geschäftige Frau des
Hauses hatte sie zu zehn verschiedenen
Wäschefabrikationsstätten, Schneidern,
Modegeschäften und ähnlichen Betrieben der Textilbranche
geschleppt, überall hatte man nur bedauernd mit der Achsel
gezuckt.
"Weißt du, Willi" – die Kleine gab sich entzückend
ungekünstelt – "man glaubte wegen meiner langen, dunklen
Haare, ich sei eine Italienerin. Toll, was?"
Bei der zehnten Stelle hatte es dann endlich geklappt. Munter, mit
der herrlichen Unschuld ihrer achtzehn Jahre, plauderte das
Mädchen drauflos: "Nun arbeite ich in einer
Blusenfabrikation. Und stell dir vor, ich habe gleich am ersten
Tag mehr Stücke genäht als jede andere Arbeiterin! Wir
haben nämlich Griechinnen, Italienerinnen, Australierinnen -
sogar eine Russin in unserem Betrieb. Ich bin die einzige
Deutsche.
Die Russin hat mich in gebrochenem Deutsch gefragt, wie es mir in
Australien gefällt. Ohne eine Antwort abzuwarten, meinte sie
dann – denk mal Willi – 'Ich würde noch heute nach Moskau
zurückkehren, aber das Geld!'"
Ihr Verlobter unterbrach ihren Redefluß und forderte sie
auf, Willi zu erzählen, welche Dinge sie bereits am dritten
Tag ihrer Beschäftigung gedreht habe. Sichtlich stolz
lauschte er ihren Worten, als sie in ihrer lebhaften Art
berichtete:
"Ja, da hat uns der Chef eine dringende Arbeit übergeben. Ich
steck' mir verschiedene Nadeln mit verschieden gefärbten
Zwirnsfäden auf ein Blatt Papier und befestige das ganze
vorne an meinem Kostüm. So ersparte ich mir das lästige
und langwierige Auswechseln des Garns und schaffte an diesem Tag -
elf Blusen mehr als die beste Näherin! Der australische Boss
hat vor Verwunderung nur den Kopf geschüttelt."
"Mensch, wir kommen doch nicht umsonst aus Berlin!" prahlte Rolf
ein wenig. "Weiß schon, Berlin ist doch kein Dorf...", sagte
Willi verstehend und freute sich über das Glück seiner
Freunde.
Aber ein wenig traurig wurde ihm schon ums Herz. Warum kam ihm
nicht einmal ein so süßes Mädel unter? Die kleinen
Abenteuer mit reifen Frauen, geschieden oder nicht, davon konnte
er nicht lange zehren.
"Dinge kommen dir hier unter, es ist manchmal kaum zu glauben!"
fing Rolf nun wieder an. "Da frage ich einen parkenden Autofahrer
um die und die Straße. Der Mann, ein Australier, beschreibt
mir den Weg haargenau, und ich haue dankend ab. Ich gehe einige
hundert Meter weit, eine Allee entlang. Was meinst du, was
passiert? Kommt der Autofahrer nachgefahren, bleibt stehen,
entschuldigt sich. Sagt mir, er habe mir den Weg falsch angesagt.
Über diese Freundlichkeit geht doch nichts, oder?" Der
Berliner blickte den Österreicher fragend an.
"Eine andere Szene. War gestern in einem Pub. Sauferei wie
gewöhnlich. Ein Aussie haut auf den Tisch: Australien sei ja
wirklich ein Paradies! Worauf ein Pommy aus der Runde
höhnisch hervorplatzt: Ja, das stimmt! Aber für Steak
and Eggs! Da warfen ihn die anderen kurzerhand hinaus."
Grinste Willi hämisch: "Ich kann den Standpunkt des Briten
leicht verstehen, obwohl deren Küche auch nicht mit 'culinary
art' gesegnet ist."
"Da kann ich dir einen heiteren Fall schildern", nahm Rolf den
Faden wieder auf. "Ich hab' mal ein Stück Lungenbraten
gekauft. Mensch, ich sag dir, der Fleischer guckte mich nur aus
großen Augen an, als hätte ich einen ausgeschlachteten
Hund verlangt! Dem werden die Augen erst übergehen, wenn
Uschilein anfängt mir Gerichte auf den Tisch zu stellen. Da
wird 'ne Abwechslung in den Laden kommen, was Kleene?"
* * *
Knapp vor Ostern heirateten die zwei. Sie baten Willi als
Trauzeuge zu fungieren. Vor dem Standesbeamten spielte er zugleich
den Dolmetscher, da er als einziger der kleinen Runde in der Lage
war, die Trauungsurkunde zu übersetzen. Uschi sah in ihrem
eng anliegenden dunklen Kostüm sehr elegant aus.
Kunststück, bei der strahlenden Schönheit ihrer achtzehn
Jahre.
Gegen acht Uhr abends fuhr Willi in den entlegenen Vorort hinaus,
wo das Domizil der Neuvermählten lag. Es war bereits eine
ganze Schar junger Menschen anwesend – alles Freunde von Rolf -
aus Berlin. Leider wollte trotz alledem keine richtige Stimmung
aufkommen. Die Burschen saßen einsilbig herum, Dickerchen
stierte ausdauernd in seinen Gehörgängen und die
Mädchen guckten doof aus der Wäsche...
Rolfs Bruder ehrte die Anwesenden zwar mit seinem Erscheinen, trug
aber eine beleidigte Miene zur Schau.
Es war, als ob jeder der Hochzeitsgäste sonstwohin denken
würde, nur nicht an das Hier und Heute.
Eine flotte Blondine, dem Aussehen nach, erkundigte sich
spöttisch bei Willi, wie lange er sich schon in Australien
aufhalte.
"Ungefähr ein Jahr lang. Wieso?", fragte er etwas
perplex.
"Es ist nur, ihr Brüder seht mir alle sehr müde aus!"
gab sie zur Antwort.
"Ach Sie meinen: Ich hab' noch einen Koffer in Berlin... in
übertragenem Sinn?" lachte Willi gezwungen auf. "Sie meinen,
wir alle haben Sehnsucht nach der Heimat?" Sie erwiderte
nichts.
"Ja, daran wird es wohl liegen", dachte er.
* * *
Am nächsten Vormittag, Samstags, traf er mit dem eilfertig
herumschusselnden Pedro zusammen, den er die ganze Woche nicht zu
Gesicht bekommen hatte.
"Wo steckst du denn immer?" rief er ihm zu, der am Anrichtetisch
eifrig Zwiebel schälte.
"Du weißt doch, bin hinter meiner Frau her. Sind ja alles
Huren, alle Weiber hier."
"Na na! Übertreib' nicht so stark!" entgegnete ihm Willi
heftig. "Weil du zufällig an eine Nutte geraten bist, kannst
du nicht gleich alle in Grund und Boden verdammen!"
"I tell you what!!" Der schmächtige Bursche richtete seine
Basedow-Augen auf den Jüngeren. Der gutsitzende Anzug, die
pechschwarzen, lang zurückgekämmten Haare, ein
monströser Goldring und die spitzen italienischen Lackschuhe
verliehen ihm die Aura einer Ganovengestalt aus einem
Gangsterfilm. Manchmal erinnerte seine Erscheinung auch an einen
stark heruntergekommenen Gutsbesitzer östlicher Prägung.
Die Worte des ehemaligen Tunnelbohrers erreichten dadurch
jedenfalls eine besondere Bedeutung: "Als die Migration startete,
gab es in Australien kein wie immer geartetes
Prostituiertenproblem. Aber nun, da viel mehr männliche
Einwanderer als Frauen herüberkommen, steigt der
Männerüberschuß ins Unerträgliche. Bei den
Griechen zum Beispiel sind es 46% !
Hast du von dem Vergewaltigungsversuch eines Südländers
an einer Australierin gehört? Vorige Woche? Auf offener
Straße, um neun Uhr Abend fiel er sie an. Soetwas macht man
doch nur in einer ungeheuren Zwangslage!
Was ist die Folge davon?
Die gesamte weibliche Bevölkerung Australiens wird in Frauen
umgewandelt, die Liebe mit Geschäft verbindet. Ganz logisch:
mit der immensen Nachfrage steigen die Ansprüche der Weiber
ins Uferlose. Und wo so starke finanzielle Interessen mitspielen,
ist es mit einem soliden Lebenswandel vorbei – Prostitution nennt
man das dann!"
Der Österreicher konnte da nicht mitreden, ihm fehlte die
unmittelbare Erfahrung und Einsicht auf diesem speziellen
Gebiet.
"Schuld an der ganzen Misere ist das Einwanderungsprogramm der
Regierung." Pedro rührte das dampfende Grünzeug, die
Karotten, Zwiebel und Kohlrabi, in der Pfanne um.
"Die bringen zum Beispiel tausende Italiener herüber, die nur
kommen, weil ihnen die Überfahrt bezahlt wird; und die sich
hier 1000 bis 2000 Pfund ersparen wollen – worauf sie nach
Erreichen dieses Ziels wieder abhauen.
Und diese Einwanderer, die keine sind, verderben den wirklichen
Migrants, die sich hier freiwillig oder gezwungenermaßen
festsetzen wollen, alle Chancen! Diese Auch-Migrants haben nur
eine Absicht: sie wollen in möglichst kurzer Zeit
möglichst viel Geld verdienen. Zehn 'Newssies' (Pedro
benutzte durch seinen auserwählten Umgang viele
Slangausdrücke, die Willi unbekannt waren) vollbringen heute
Arbeitsleistungen, die früher nur von hundert Einheimischen
zustandegebracht wurden! Das ist keine Übertreibung!" meinte
Pedro auf die ungläubige Miene Willis hin.
"Den Unternehmern gefällt dies natürlich sehr. Bei einem
Bruchteil der Lohnkosten werden äquivalente Arbeitsleistungen
erbracht. Mein Vorarbeiter hat zu mir gesagt: Wir würden ja
lieber Neuaustralier einstellen. Aber was wäre die Folge
davon? Dann würden w i r entlassen – oder von unseren eigenen
Leuten verprügelt werden!"
Höger erzählte dem Cleaner von seinen persönlichen
Schwierigkeiten im Büro, vor allem mit den jungen
australischen Kollegen.
"Ich verstehe ja vollkommen, daß sie mich aus ihrem
Nichtstuer-Klub heraushaben wollen", führte er aus. "Aber ich
würde ohne Beschäftigung, beim bloßen Herumsitzen,
einfach verrückt werden. Ich muß mit einigermaßen
gleichmäßigem Tempo fortarbeiten. Die Trödelei,
wie ich sie bei den Jungen sehe, liegt mir nicht. So leiste ich
eben das Pensum von drei der Lästerer. Die noch froh sind,
wenn sie nichts zu tun haben. Wie du schon erwähnt hast, beim
Chef hat man dadurch einen Stein im Brett. Aber dafür fallen
die anderen über dich her!"
Vor einer Woche war Willi in Begleitung von Gudrun und Werner
durch die City gebummelt, um ein Hochzeitsgeschenk für Uschi
und Rolf auszusuchen. Mit einem Geshäftsinhaber, der zugleich
Produzent elektrischer Haushaltsgeräte war, kamen die drei in
ein längeres Gespräch. Als der Australier erfuhr,
daß Willi technische Ausbildung besaß, erwähnte
er, sein größtes Problem sei es, dem australischen
Arbeiter Sorgfalt und Genauigkeit anzugewöhnen. Auch lerne er
Deutsch, da er viele Handelsbeziehungen mit Western Germany
unterhielt. Die importierten Waren seien zwar auch nicht
fehlerlos, aber im Durchschnitt von guter Qualität.
Es tat dem Österreicher ungemein wohl, mit einem Menschen
sprechen zu können, der ihm so aufgeschlossen entgegenkam und
ihn als gleichwertig behandelte. Als die drei Europäer
bereits ihre Schritte über die Schwelle lenkten, begleitete
er sie hinaus und rief ihnen beim Abschied zu: "Ich freue mich,
euch junge Menschen in Australien zu sehen. Good Luck!"
Ob des bewiesenen guten Willens übersah der Österreicher
gerne, daß das Paket mit dem eben erstandenen Geschenk nicht
besonders sorgfältig verschnürt worden war...
* * *
Die Sonntage verliefen nun für Willi abwechslungsreicher. In
aller Frühe holte ihn Erwin mit seinem klapprigen Morris ab -
er hatte sich weiter in Schulden gestürzt – und sie fuhren
zum Tennisplatz hinaus, wo bald Mädchen und Burschen mit
Autos, Motorrädern oder per Pedes eintrudelten. Die
Gesellschaft setzte sich aus Deutschen, Österreichern,
Holländerinnen und einem deutschsprechenden Australier
zusammen.
Als Willi den kernigen Schlosser Fritz aus Kärnten zum ersten
Mal seit Bonegilla hier wiedersah und sich mit ihm unterhielt,
wirkte das so belebend wie ein frischer Wind von den Bergen seiner
Heimat. Fritz verdiente gut, fuhr mit einer nagelneuen,
rotblitzenden Puch-Sportmaschine herum und hatte es sogar zu einer
dazupassenden rothaarigen Freundin aus Neuseeland gebracht.
Wie üblich, war er guter Laune und voll Humor. Umso mehr
überraschte es Willi, als er ihm erzählte, daß er
eisern spare, um in wenigen Jahren wieder nach Europa
zurückkehren zu können.
"Ich kann nicht behaupten, daß mir die Landschaft oder das
Klima nicht zusagt – aber die Menschen passen mir nicht.
Wenn ich durch den Betrieb gehe, wenden sich alle Blicke mir zu,
und es wird getuschelt und geraunt. Keine Ahnung, was die da immer
zu besprechen haben!" Der Österreicher brachte dies
natürlich im urigsten kärntnerisch vor. Seine blauen
Augen lachten dabei hell.
"Dieselbe Erfahrung muß ich leider auch tagtäglich
machen." Willi vermied es aber, den heimlichen Nervenkrieg zu
schildern. "Und das eine kann ich dir sagen: auch mir gefällt
diese Art nicht besonders."
Es blieb natürlich nicht allein beim Tennisspielen, man
pflegte nebenbei eine gesellige Runde. Die Neuseeländerin
hatte eine Freundin, die Willi in den folgenden Wochen als
temperamentvolle Gastgeberin 'internationaler' Parties
kennenlernen sollte. In ihrem großen Wohnraum trafen sich so
alle vierzehn Tage gutgekleidete, halbwegs gutgelaunte
Europäer beiderlei Geschlechts und der verschiedensten
Nationalitäten, um dort in diesem exklusiven Zirkel zu
plaudern, ein wenig zu trinken und viel zu tanzen. Unter der sanft
führenden Anleitung einer charmanten jungen Dame riß
sich Willi immer öfter zusammen, legte seine Hemmungen ab und
schwang das Tanzbein bald wie alle anderen auch. In kurzer Zeit
besaß er mehr Bekannte als er in Österreich je gehabt
hatte. Hier im Ausland reichte ihn ein Emigrant zum anderen
weiter, denn jeder war froh und willig, in der isolierten
Situation unter den Australiern, einen möglichst großen
Kreis gleichgesinnter Menschen zu kennen.
Da der Kärnter mit der Neuseeländerin ziemlich oft und
intim herumtändelte, erkundigte sich Willi, ob er vielleicht
die Absicht habe sie zu heiraten.
"Jo, des is so a Gschicht!" fing Fritz verlegen zu erklären
an.
"Wann sie net a so a guate Haut wa, hätt i ma dös no
gornet übalegt." Der Kärntner besann sich kurz und fuhr
dann in gespreiztem Hochdeutsch weiter: "Aber seit ich sie vor
kurzem in ihrem Untermietzimmer heulend überrascht habe, geht
mir die Idee öfter durch den Kopf. 'Bist du dir im klaren',
hab' ich sie gefragt und ihr die Tränen aus den Augen
gewischt, 'daß ich wieder zurückfahren werde? Daß
ich dir anfangs vielleicht keine Waschmaschine werde hinstellen
können? Und du unsere Leintücher mit der Hand auswringen
wirst müssen? Daß die Frauen bei uns zuhause nicht in
dem Maße den Boß spielen, wie sie es hier tun?' 'Das
ist mir alles egal, aber bitte heirate mich!' hat sie draufhin
losgeheult."
Der Kärntner senkte seine Stimme leicht ab, denn die
langhaarige, rotblonde Neuseeländerin ließ sich nun in
ihrer Nähe nieder, um mit einem Tschechen zu plaudern. "Sie
versteht nämlich schon ziemlich viel Deutsch", klärte er
Willi auf. "Ist ja ein intelligentes und nettes Mädel. Aber",
er seufzte etwas auf, "ich weiß ganz bestimmt – unsere
Frauen sind doch anders. Und das macht die Entscheidung so
schwierig! Ja, wenn ich hierbleiben würde..."
In der ungezwungenen, freundschaftlichen Intimität ihrer
Parties, überwand Willi langsam seine Scheu vor fremden
Menschen und entwickelte sich zu einem gesuchten Party-Löwen.
Durch den Umgang mit so verschiedenartigen Menschen gewann er
beträchtlich an Selbstsicherheit, was ihn in zunehmendem
Maße gereifter erscheinen ließ. Ganz, ganz langsam
fiel das extrem Jungenhafte von ihm ab, eine härtere Schale
wurde sichtbar, die er in dem dauerndem Kampf um die
Selbstbehauptung erwarb.
Manchmal ließen sich einige der Burschen spät in der
Nacht mit dem Taxi nach Hause fahren. Da führte ihr Weg meist
ein Stückchen am Hafen vorbei, wo hellerleuchtete
Ozeandampfer vor Anker lagen. Deren Anblick riß den
Kärntner einmal zu dem Ausspruch hin: "Wann i amol hamfoa,
dann bestell' i a Musikkapölln, und di muaß blosn, bis
eana die Zungan aussihängt!" Fritz hatte sich dann in die
Polsterung des Holden zurückgelehnt, und seine schiefe
Adlernase verzog sich vor Belustigung über das eben
ausgemalte Stimmungsbild.
* * *
Ein Ereignis veränderte die Position Willis im Büro
wesentlich. Vor Jahren war ihm als Werkstudent eine technische
Idee gekommen, für die er später, nach einigem
Herum-Experimentieren und einem langwierigen Papierkrieg,
schließlich ein Patent erwarb. Das Mißlingen der
finanziellen Auswertung des Schutzrechtes, der damit verbundene
Zeitaufwand, der ihn beim Studium behinderte, und nicht zuletzt
die betrogenen, allzu großen Hoffnungen hatten
schließlich ihren Teil dazu beigetragen, daß Willi
Höger alles hingeworfen und dem Alten Kontinent wütend,
enttäuscht und niedergeschlagen den Rücken gekehrt
hatte.
Nun griff das Wirken in der Vergangenheit mit einem Schlag in die
augenblicklich nicht sehr rosige Gegenwart herein und verhalf
Willi zu einer Periode ruhigen und angesehenen Schaffens in seiner
australischen Wahlheimat.
Bei einem Gang durch die Montagehalle entdeckte er eine
pneumatische Hebevorrichtung an einer der riesigen
Tunnelbohrmaschinen, die ihn brennend interessierte. Er
untersuchte die Konstruktion näher und stellte zu seinem
Erstaunen fest, daß die Ausführung seiner in
Österreich geschützten Idee nahezu nachgebildet zu sein
schien. Beim Mittagessen erwähnte er diese Entdeckung vor
Jack Whitt, der dies kaum zu glauben vermochte.
Am nächsten Tag brachte Willi die Patenturkunde mit ins
Büro.
Die meisten der Angestellten nutzten nun üblicherweise die
Mittagszeit zum Kartenspielen oder Zeitungslesen, oder guckten als
Kiebitze beim Schachspielen zu. Es erregte daher einiges Aufsehen,
als sie den jungen Österreicher inmitten einer Gruppe der
angesehensten Designer erblickten, und er den anerkannten
Fachleuten des Betriebes an Hand von Skizzen offensichtlich etwas
zu demonstrieren versuchte. Man konnte sehen, wie die alten Hasen
auf ihn einredeten, aber der Österreicher schüttelte nur
energisch und temperamentvoll den Kopf und verwies auf eine
Druckschrift, worauf sich die ihn umgebenden Australier erstaunt
und bedeutsam anblickten.
Die Diskussion dauerte eine volle Stunde. Anschließend nahm
Jack Whitt die Druckschrift an sich und verschwand damit im
Ingenieurbüro.
Eine Unzahl fragender Blicke ruhten mehr oder minder verstohlen
auf Willi Höger, als er sich hinter dem Reißbrett
wieder in Positur setzte.
Der ältere Russe stolzierte bald darauf daher und erkundigte
sich spöttisch, ob Willi den Australiern etwa das
Kommunistische Manifest erläutert habe. Aber der
Österreicher wehrte nur unwillig ab und schwieg sich
beharrlich aus. Er ließ ganz bewußt die Zeit und die
Klatschsucht der Aussie-Brüder wirken.
Und tatsächlich, bereits am folgenden Morgen vermochte er die
ersten Auswirkungen dieser Unterredung am Benehmen einzelner
Personen wahrzunehmen. Der Checker ließ die
verächtliche Herablassung im Umgang mit ihm auf einmal weg.
Obwohl er mit dem Österreicher ganz gerne ein Hühnchen
gerupft hätte, dem es ein einziges Mal gelungen war, ihm, dem
Prüfer einen Fehler nachzuweisen. Ihm ein Unrecht
nachzuweisen. Und nun auf einmal sah der Australier den
Österreicher in einem anderen Licht und zwang sich sogar zu
einem belanglosem Gespräch.
In Windeseile hatte sich im Büro herumgesprochen, daß
der bloody Austrian schon vor Jahren die derzeit als technische
Neuheit gepriesene Entwicklung vorweggenommen, das spezielle
Problem zumindest theoretisch am Papier gelöst hatte.
* * *
Mitten in der Woche klopfte es plötzlich an Willis
Mattglasscheibe zuhause, und vor ihm stand – Hugo Prattert, der
beinahe vergessene Kumpan aus der Buschzeit.
Durch seine erschreckende Magerkeit noch größer wirkend
als früher, glänzten seine Augen unruhig oberhalb der
hohlen, eingefallenen Wangen. Der Österreicher erschrack ob
des abgezehrten, gespenstischen Aussehens seines Freundes.
"Wie siehst du denn aus?" erkundigte er sich entsetzt. Hugo
erklärte, daß er nach Abreise des Wieners aus dem
literarischen Kreis unter der abendlichen Dusche, furchtbar unter
der Einsamkeit zu leiden begonnen habe. Sein Englisch ließ
noch immer zu wünschen übrig, und die restlichen Kumpel
im Busch sprachen alle miteinander kein Wort deutsch.
"Kurz nachdem der letzte Deutschsprechende weggezogen war, eben
der Wiener, bekam ich regelrecht Wahnvorstellungen. Rannte
zeitweise wie belämmert durch die Gegend. Bevor ich da in den
Eukalyptuswäldern einen richtigen Koller bekomme, bin ich
eben abgehauen. Jetzt sitze ich da, in Melbourne. Wohne ebenfalls
in eurer Nähe. Werner und seiner Gudrun habe ich schon einen
Besuch abgestattet."
Er berichtete desweiteren, daß man an den Baustellen nun
ziemlich schufte. Als Folge davon sei die Zahl der Unfälle im
Steigen begriffen.
"Allmählich zieht auch im letzten Winkel Australiens der
neue, der europäische Geist ein", setzte Hugo sarkastisch
hinzu. Der Wiener sei mit der ROMA nach Europa abgedampft. Wie war
der nicht von Australien begeistert gewesen, obwohl er
genaugenommen nur zweieinhalb Jahre die Bäume im Busch
gesehen hatte!
"Und jetzt muß ich eben versuchen in der Stadt eine
Arbeitsmöglichkeit zu finden", meinte Hugo
abschließend. "Hoffentlich gelingt mir dies bald."
Froh gelaunt und zuversichtlichen Mutes spazierten die beiden
über naßglänzende Gehsteige in Richtung
Innenstadt, wo sie ein China-Restaurant aufsuchten, um ihr
Wiedersehen gebührend zu feiern – mit wohlzubereiteten, von
der üblichen Einheitskost abweichenden Speisen. Der
"Buschläufer" lechzte geradezu danach.
* * *
Auch in der unmittelbaren Nachbarschaft traten einige bedeutenden
Veränderungen ein.
Der Bulgare Pedro zog in ein anderes Stadtviertel, von wo er die
nächtlichen Eskapaden seiner Angetrauten besser und
effektiver verfolgen konnte.
Jimmy und Robert hatten, quasi über Nacht, sang- und klanglos
ihr Zuhause in Melbourne verlassen, da sie in einem Goldbergwerk,
hunderte Meilen weiter, ihr Glück versuchen wollten, und der
Job unmittelbare Arbeitsaufnahme erforderte.
So maßlos alltäglich die Beweggründe für das
Verschwinden dieser drei Personen auch war, umso übertrieben
tragikkomisch gestaltete sich die 'Umsiedlung' von vier im Hause
lebenden Argentiniern, die als Seeleute von ihrem Schiff
desertiert waren, nur um an den Wundern des australischen Lebens
teilhaben zu können.
Alle vier waren unbescholtene, arbeitswillige Handwerker. Aber
nach sechs Monaten gnadenweise gewährten Aufenthaltes im
Lande, brach eines Morgens das Verhängnis über sie
herein.
Sie hatten sich dem berühmt-berüchtigten Dictation Test,
einem höchst staunenswertem Produkt australischer
Hinterfotzigkeit, unterziehen müssen.
Unerwünschte Ausländer, denen kein kriminelles Vergehen
nachgewiesen werden konnte, wurden nicht etwa einfach ausgewiesen,
das hätte eine äußerst ungünstige Optik
ergeben. So ein Vorgehen verträgt sich nicht mit der
Mentalität der Einwohner des Fünften Kontinents. Soetwas
könnte einen Fremden vielleicht in Germany passieren, may be.
Nicht aber hier.
Hierzulande wurde dieses Problem auf fernöstliche Weise, ja
beinahe asiatisch fein durch die Blume mitgeteilt, wenn auch der
australische Sprachgebrauch ansonsten kaum zu blumenreichen
Wendungen neigt.
Kurz und gut, die Einwanderungsbehörde wies die
unerwünschten Asylanten an, sich einer Sprachprüfung zu
unterziehen. Nicht etwa in Englisch, das wäre zu einfach und
würde überdies möglicherweise nicht den
gewünschten Effekt zeitigen. Nein, in irgendeiner der vielen
hundert lebenden Sprachen dieser unserer Welt.
Bestand der Kandidat diese Prüfung in Wort und Schrift,
durfte er weiter im Paradies der Massen verweilen. Ansonsten wurde
man eben deportiert, weil man den 'Sprachtest' nicht bestanden
hatte, immerhin eine feine Umschreibung für die
Ausweisung.
Bei den vier Argentiniern fiel übrigens einer in Griechisch
durch, ein anderer kam nicht ganz mit den cyrillischen Buchstaben
zu Rande, und die restlichen zwei scheiterten fatalerweise an der
Übersetzung eines Gedichtes von Konfutse.
An jenem bewußten Morgen kochte Willi gerade die Milch am
Gasherd, als er auf der Straße zwei schwarze Limousinen
erblickte, in der seine vier Bekannten, sorgsam von Herren in
Zivil begleitet, entschwanden. Drei Tage später lief das
Schiff nach Südamerika aus, auf dem die Deserteure, trotz
verzweifelter Intervenierungsversuche der Hausfrau, einem
verfrühten Wiedersehen mit ihren Familien entgegenfuhren.
Jenes Haus in nicht allzugroßer Entfernung von der City, in
dem Willi wohnte, lag nun für Wochen totenstill und
vereinsamt da, bis wieder neue Mieter einliefen. Unter ihnen
befand sich eine abgelebte Dreissigerin, die angeblich als
Sängerin in Nachtlokalen zweiter Klasse aufgetreten war – in
England. Vor noch nicht allzulanger Zeit in Australien gelandet,
weil ihr das Heimweh in London zu schaffen gemacht hatte, ging sie
derzeit keiner ersichtlichen Tätigkeit nach. Sie marschierte
zwar jeden Vormittag auf Stellensuche, aber ohne Erfolg. Das
Nachtleben in Melbourne war eben nicht genügend
ausgeprägt oder entwickelt zu nennen.
Wie dem auch sei – jene Dame interessierte sich ganz gewaltig
für den jungen Österreicher. Vergebens versuchte sie ihn
zu Ausflügen mit ihrem Wagen zu animieren, vergebens
verstrickte sie ihn in Gespräche am gemeinsamen Gasherd. Er
verhielt sich ihr gegenüber gleichmäßig freundlich
– und stur. Obwohl die vielen Steak and Eggs die Fleischeslust
nicht gerade verminderten, konnte er in ihr nicht mehr als eine
mittelmäßig intelligente Gesprächspartnerin
erblicken. Schon die Art, wie sie sich kleidete, insbesondere die
Farbauswahl, fand er gräßlich. Meist hopste sie in
rotkarierten Hosen herum, trug einen grauen Pulli über die
flachen Brüste und, beim Kochen, eine knallgelbe
Schürze. Willi flößte die Kombination all dieser
Eindrücke eine solche Vorstellung von Perversem und
Ordinärem ein, daß er sich nicht entschließen
konnte, ihre Annährungsversuche zu erwidern.
Am Anfang ihrer Bekanntschaft war er sich natürlich
keineswegs über ihre Gefühle im klaren. Doch in diesem
Punkt erwartete ihn eine baldige Aufklärung, als er ungewollt
ein Gespräch belauschte. Im Bett noch wach liegend,
hörte er eines Nachts die Barsängerin mit einer
älteren, alleinstehenden Mieterin, die bisher ein
jahrzehntelanges, abgeschlossenes Leben im Haus geführt
hatte, auf der Veranda plaudern. Die überfette Alte, die sich
vornehmlich von Würstchen ernährte und selbst schon
einem ähnelte, erkundigte sich bei der Jüngeren im
scherzendem Ton, wie es ihrem Boyfriend gehe.
"Ach, der will nicht anbeißen. Aber ich hoffe ihn noch
soweit zu bringen. Sie meinen doch den Austrian?"
"Ja, denselben!"
"Einmal wäre ich beinahe schon aufs Ganze gegangen", fuhr die
Stimme fort. Der junge Mann richtete sich im Bett halb auf, damit
ihm ja kein Wort der Unterhaltung entging. Aufmerksam lauschte er
nun. Das ging ja ihn an!
"Da komme ich mal spät nachts nach Hause und klopfe an die
Glasscheibe seiner Tür, in der Hoffnung, daß er
vielleicht aufwacht. Aber es hat sich nichts gerührt." Vor
Spannung fiebernd, horchte Willi im Dunklen.
Jetzt erinnerte er sich an das Geräusch im Halbschlaf, als ob
jemand mit einem Fingerring geklopft hätte. Höchst
undeutlich hatte er damals einen vorüberhuschenden Schatten
wahrgenommen, war aber im nächsten Augenblick wieder ins Land
der Träume entglitten. Nun wußte er: die
Künstlerin war zu allem bereit. Doch leider nicht er, obwohl
ihm klar war, daß es so ohne ein weibliches Wesen nicht
weitergehen konnte. Die Chancen und Möglichkeiten bei Judith
waren auch endgültig vorbei, hatten doch Gerhard und sie
außerhalb Melbourne's einen besser bezahlten Job gefunden
und waren verzogen.
An einem langen, rohgezimmerten Holztisch, umgeben von
antiquarischen Möbeln, saßen an einem Ende seine
Landlady mit der Sängerin, die sich ziemlich rasch
miteinander angefreundet hatten. Am anderen Ende diskutierte Willi
mit einem Bekannten seiner Vermieterin, obwohl seine Konzentration
auf das Gespräch zu wünschen übrig ließ. Mit
einem Ohr lauschte er gleichzeitig der Unterhaltung der beiden
Damen, denn das blöde Kichern seines männlichen
Gegenüber konnte ihn nicht fesseln. Was er dabei
aufschnappte, war bestürzend genug, äusserte die famose
Künstlerin doch eben, unverhohlen zu Willi
herüberschielend, an die etwa 25 Jahre ältere,
weißhaarige Dame gerichtet:
"...Und ich würde gut und gerne drei Pfund geben, wenn ich
eine Nacht mit ihm verbringen könnte..."
Flink wanderten ihre Schweinsäuglein zwischen ihm und der
Frau hin und her. Die Ältere warf ihr einen kurzen,
verächtlichen Blick zu und brachte dann halblaut heraus:
"Schämst du dich denn garnicht, soetwas zu sagen?" Und nach
einer Weile, während sie sich ruhig mit ihrer Näharbeit
beschäftigte: "Aber du bist schon so – du versuchst die
Männer immer nur zu entwürdigen, wenn du mit ihnen
beisammen bist!"
Der junge Mann ließ sich nicht anmerken, daß er Zeuge
dieses Wortwechsels geworden war. Nur sein Abscheu vor diesem Weib
verstärkte sich weiter.
* * *
Mitte des Jahres erhielt Willi, nicht zuletzt als Ergebnis seiner
jüngst erreichten Anerkennung in der Firma, eine
Gehaltserhöhung. Vielleicht war dies auch auf eine
Intervention Jack Whitts zurückzuführen, den er einmal
unwillig zur Rede gestellt und sich erkundigt hatte, ob man
eigentlich mit seinen Leistungen zufrieden sei.
"You are not too bad, Willy", hatte die Antwort gelautet. Und
Willi war mit den Australiern immerhin so vertraut, daß er
diese Äusserung als Lob auffasste. Doch er hatte nun mal die
Absicht, seinem Vorgesetzten mehr als diese reichlich
abgedroschene Phrase zu entlocken. Und es gelang ihm auch.
" Du kannst sicher sein, daß dein Output an den
höchsten Stellen im Unternehmen Beachtung finden wird...",
vernahm er schließlich mit einiger Genugtuung.
"Deine Zukunft ist bei uns gesichert!" hatte Mr. James Hartley
bemerkt, als er ihn von der Gehaltserhöhung informierte und
beglückwünschte. Und das bedeutete immerhin
something!
Das Unternehmen stand in Australien und dem Pazifischen Raum
konkurrenzlos da. Entlassungen waren nicht zu befürchten,
viel wert in einer Zeit, wo es sowohl den Altaustraliern wie im
gesteigerten Maße den "Newssies" schwerer und schwerer fiel,
einen Job zu finden. Immerhin sprach man in diesen Monaten bereits
von zirka 62.000 gemeldeten Arbeitslosen...
Trotz alledem verließen monatlich zwei bis drei Mann Mills
Ltd, um bei besser zahlenden Firmen unterzukommen, oder auch nur
um sich einen Job mit günstigerem Betriebsklima zu suchen.
Obwohl die Australier praktisch unter sich waren, störte
viele die Atmosphäre dieses Großraumbüros. So
waren Abgänge und Neueinstellungen an der Tagesordnung, und
niemand regte sich darüber weiter auf.
Bloß, als ein dunkelhäutiger indischer Ingenieur, der
hier einige Praxismonate verbrachte, auf einmal spurlos
verschwunden war, und auch in der Führungsspitze niemand
wußte, was mit ihm geschehen war, stellte man die tollsten
Mutmaßungen an.
* * *
Im Miethaus fand Willi nun keine geeigneten Gesprächspartner
mehr vor, deshalb suchte er nach Büroschluß manchmal
Hugo auf, der jetzt bereits die sechste Woche vergeblich auf
Jobsuche ging. Augenblicklich lag er mit einer Verkühlung zu
Bett. Auf dem Stuhl daneben stand eine halbleere Pulle Wein und
die letzten Überbleibsel einer Packung Lucky Strike neben dem
randvoll gefüllten Aschenbecher. Seit Tagen schon lag er in
diesem Zustand mit hoher Körpertemperatur herum. Um sich die
Langeweile zu vertreiben, hatte er begonnen Lampenschirme und
Dekorationen aus Papier herzustellen.
Nun kramte er unter seinen Briefen: "Da, sieh mal! Wird dich
interessieren." Hugo reichte ihm eine Ansichtskarte hin. "Ach, der
Wiener, der Richtung Heimat abgereist ist." Willi überflog
die Zeilen. Er stutzte, las noch einmal und blickte dann
entgeistert auf seinen Freund hernieder.
"Ist der Mensch denn wahnsinnig geworden? Nach einer Woche in
seiner Heimatstadt Wien will er mit dem nächsten Dampfer
wieder nach Australien 'zurückschiffen'? Ja, was ist denn
bloß in den gefahren?"
Hugo wiegte bedächtig sein Asketenhaupt, das durch die
Krankheit noch eingefallener war und seltsam fiebrig glühte:
"Ich weiß, daß er an die 1000 Pfund mitgenommen hat.
Er könnte sich also in Ruhe eine Dauerstellung suchen und
dann eine kleine Wohnung einrichten, oder einen Wagen
kaufen..."
Der Österreicher suchte eifrig nach einer Erklärung:
"Wie ich ihn kenne, wird ihn einfach eine Art Panik befallen
haben, als er sich zuhause mit dem nun bereits ungewohnten
Lebenstil konfrontiert sah. Aber den Schock hätte er sich
doch vorher bereits ausmalen können. Hätte sich geistig
auf diese große Umstellung Busch – Großstadt Wien
vorbereiten müssen, aber so...?"
"Der Trouble liegt woanders", fuhr Hugo dazwischen. "Er hat in
Wien nur mehr seinen Vater, mit dem er sich aber nicht richtig
versteht. Alle anderen Angehörigen sind bereits verstorben.
Deswegen wird er sich in der Stadt so unheimlich fremd vorgekommen
sein, so verlassen und allein. Hier in Australien, im Busch, hatte
er doch gute Kameraden, brauchte er sich nie ganz einsam zu
fühlen. Na, und bei den Gören hat er leider wenig
Erfolg, der Arme!"
"Ja, aber du selbst warst doch verzweifelt, als du der einzige
deutschsprechende Kumpel da oben warst...?" entgegnete ihm Willi
verständnislos.
"Stimmt, aber da gibt es einen kleinen Unterschied zwischen uns
beiden. Freddy sprach gut Englisch, erinnere dich nur! Und vor
ein-zwei Jahren wimmelte die Baustelle noch von Deutschen. Es hat
ihm dort nie an Gesellschaft gefehlt."
Eine minutenlange Redepause füllte die Zeit aus. Der
Österreicher fing wieder zu sprechen an: "Ein Australier
würde dir bei dieser Story einfach triumphierend ins Wort
fallen: 'Aha! Da hast du es wieder! Er liebt den australischen
Lebensstandard, den australischen Lebensstil! Freddy liebt den
lovely bush mehr als euer bloody Vienna!' Und das Eigenartige
daran ist, daß er nicht einmal ganz Unrecht hätte. Nur,
Freddy zieht das Buschleben nicht vor, weil es etwa besser,
schöner, gesünder oder weiß der Kuckuck was
ist..., gerade das unterstellt ihm aber der Durchschnittsaussie.
Sondern nur, weil er sich im Lagerleben geborgener fühlt als
im Dschungel der Großstadt. Weil er zutiefst verunsichert
ist, weil er nicht weiß, wie er sein Leben künftighin
sinnvoll aufbauen soll! Der dort bis ins Letzte geregelte
Tagesablauf ihm aber alle diese Entscheidungen abnimmt!!" Immer
schriller erhob sich die Stimme des Österreichers, in
wütender Gereiztheit schrie er diese Thesen heraus. Allzuviel
lastete auf seinem Gemüt, das nach Erleichterung
drängte.
"Die Australier brauchen sich also einen Dreck darauf einzubilden,
wenn Fred aus Europa hierher zurückkehrt und wieder in die
Einsamkeit der Buschlandschaft flüchtet. Nun ist er für
ein normales Dasein in einer zivilisierten Welt endgültig
untauglich geworden, nach zwei geschlagenen Jahren in der
Hölle diese Eukalyptuswälder.
Was ist das schon für ein Leben?
Ein verlorenes, ein Hundeleben.
Kannst du dich erinnern, wie der Ungar droben in Mc.Kay Creek
gebrüllt hat, wenn er besoffen war?
'Warum bin ich nach Australien gefahren? Warum bin ich hier? Sechs
Jahre – ein verpfuschtes Leben!!!'." Sie schwiegen beide lange
Minuten, in Nachdenken versunken.
"Hören wir zum Lamentieren auf, sonst beginnen wir uns noch
selbst leid zu tun", schlug Hugo vor. "Ich tue es ja ohnehin zur
Genüge."
Als Willi darauf kaum reagierte und in ein stumpfes, bohrendes
Grübeln verfiel, fing Hugo wieder an zu reden.
"Soll ich dir mal 'ne ganz schweinische Geschichte erzählen -
die nebenbei noch zum Lachen reizt? Nur so zur Ablenkung und
Aufheiterung?"
Der Freund nickte nur begierig und erfuhr so wohl seine letzte
Buschgeschichte, eine unverhüllte Schilderung von Frechheit,
Not und menschlichem 'Erfindungsgeist'.
"Wir hatten da einen flotten, etwa dreissigjährigen Polen in
unserer Arbeitspartie, der, nun...den man wohl als argen Rowdy
bezeichnen konnte. Er und sein Kamerad erfuhren nun eines Tages,
daß im Auffanglager Bonegilla eine polnische Familie
festsitzt und seit zwei Monaten auf die Arbeitszuteilung
wartet.
Du weißt ja, wie schnell solche Gerüchte weitergetragen
werden. Die beiden heckten nun einen unverschämten Plan aus,
der mit der Zwangslage des Ehepaares rechnete, das auch für
zwei Kinder zu sorgen hatte.
Sie liehen sich gute Anzüge aus, fuhren in das Lager, fanden
die Familie. Der Mann befand sich gerade auf Stellensuche in der
Umgebung. Unverschämt stellten sie sich als Fotoreporter
einer Einwanderer-Zeitung vor und erzählten der Frau, sie
würden von ihrem Los berichten und ein Bild von ihr bringen.
Und vielleicht schon nach kurzer Zeit würde sich ihr
Schicksal und das der ganzen Familie zum Besseren
ändern...
Natürlich war die Frau bereit, und so machten sie zuerst im
Lager einige Aufnahmen von ihr und den Kindern. Dann schlugen sie
der nicht unhübschen Polin vor, eine zwanglose Tour in die
nähere Umgebung zu machen, da man da ungenierter miteinander
reden und eventuell noch ein paar Fotos knipsen könne.
Nach kurzem Zögern willigte sie ein."
Hugo, sein alter Buschgefährte, brach in einen Lachkrampf
aus.
"Ich habe die Bilder später gesehen. Ein Striptease-Akt war
noch der ungefährliche Beginn der Aufnahmeserie dieser beiden
'Fotoreporter'. Du kannst mir glauben, daß diese Gauner voll
auf ihre Rechnung gekommen sind! Durch ihr sicheres Auftreten hat
die Frau bis zuletzt an den Dreh mit der Reportage geglaubt, und
sich dabei immer mehr vergeben, bis...na eben.
'Gehört das auch noch dazu?' hat sie dann zitternd gefragt.
Na, was sagst du dazu?"
"Wenn ich nicht selbst ein wenig Einblick in die skurrilen
Verhältnisse dieses 'Landes der unbegrenzten
Unmöglichkeiten' hätte, würde ich mich einfach
weigern, das zu glauben!" Willi räusperte sich trocken. "Aber
so...?"
"Wenn Fred in Melbourne einlangt, kann er es bestätigen, er
hat die Abzüge ebenfalls in der Hand gehabt", versicherte
Hugo noch zum Abschluß.
"Solche Geschichten kann man bei BalzacU nachlesen. Hätte mir
nie träumen lassen, daß soetwas wirklich passiert, hier
und heute...", äußerte Willi noch, ein wenig
enttäuscht über die nackte Banalität alles
Geschehens auf dieser Welt.
* * *
Gleichmäßig eilte der Zeichenstift übers Papier.
Seine Bewegungen muteten automatisch an. Während er sich mit
der vorliegenden Aufgabe beschäftigte, wälzte er
gleichzeitig ruhelos seine privaten Probleme um und um. Das
verkürzte die Bürozeit wesentlich.
Anfangs hatte er gehofft, man würde ihm nun interessantere,
selbständigere Konstruktionen zumuten, nun, da er bewiesen
hatte welche Ideen in ihm steckten. Aber nichts dergleichen
geschah.
Jack Whitt, der nette, sympathische Kerl hatte ihm heute Früh
die Patentschrift wieder zurückgegeben. "Ein sehr solider,
vernünftiger Vorschlag!" habe der Chefingenieur
geäußert und weiters: "Der Mann ist offenbar ein
Denker. Aber wir haben die Idee ja bereits in die Tat
umgesetzt."
Insgeheim hatte Willi erwartet, der Ingenieur würde
vielleicht ein paar persönliche Worte über die
Angelegenheit verlieren. Aber er hatte ihn nicht einmal zu Gesicht
bekommen.
Und dann trat das ein, was seiner Karriere bei Mills Ltd, wenn man
so sagen will, ein jähes Ende bereitete.
Der Anlaß erwies sich als eher geringfügig. Aber wie
bei einem Relais, das durch geringste Stromstöße
große Energien umzulenken vermag, wirkte jetzt die
Äusserung eines Aussies an einen anderen als auslösender
Impuls, um bei Willi alle Sicherungen durchbrennen zu lassen.
Als sich der Österreicher emsig, mit unbeweglichem,
vielleicht leicht verärgert dreinblickendem Ausdruck,
über die Zeichenblätter gebeugt hielt, pflanzten sich
zwei junge Australier geradewegs vor seinem Tisch auf.
"Ich wette mit dir was du willst! Der fährt wieder nach
Hause, der will sich auch nur 1000 Pfund ersparen!"
"I think, you are right, boy!" grinste der andere Bursche
hämisch und schielte mit unaussprechlicher
Geringschätzung auf den vor ihm arbeitenden Europäer
hinunter.
Der junge Mann war sich bewußt, daß alles nur Theater
war, in Szene gesetzt, um ihn zu ärgern. Oder auch, damit er
begreifen sollte, daß sich die Australier keineswegs
über seine wahren Absichten täuschen ließen: Genau
das wollten sie ihm durch das laut geführte Zwiegespräch
zu verstehen geben. Warum fanden sie nicht den Mut, ihn direkt
anzusprechen, mit ihm darüber zu diskutieren?
"Sieh ihn dir an! Sieh ihn dir genau an: A Stranger in Paradies!
Er ist mit den Arbeits- und Lebensbedingungen nicht
einverstanden.
Er hat von lovely Steak and..."
Eine ungeheure Wut über die Demütigungen und
Erniedrigungen, der man ihn bisher unterworfen hatte, ein
unaussprechlicher Ekel vor diesen plappernden Idioten, die da
über ihn herzogen, als ob sie die Reaktionen eines
Versuchskaninchens beobachten wollten, nicht die eines denkenden
und fühlenden Menschen, erfüllte den Österreicher
plötzlich mit rasender Gewalt.
Langsam seinen Kopf hebend, sah er die beiden mit einem Blick an,
vor dem sie unwillkürlich zurückwichen. Dann fauchte er
einen Satz hervor, den die Burschen nur mit zynischem Grinsen
quittierten: "Ja, Australien ist ein Paradies – aber ein
'Narrenparadies'!" Seine Augenlider zuckten und flimmerten, doch
er versuchte sich zu sammeln. Einfach nicht hinhören und
weitermachen, war seine Parole. Vergebens versuchte er die
unaufhörlich heranschwellenden Wellen der Erregung zu
kontrollieren.
Vergebens. Die Hypothalamusdrüse verströmte ungehemmt
ihre Sekrete in das Kreislaufsystem des Körpers, der
Blutdruck stieg, die Finger, die den Bleistift führen
sollten, fingern zu zittern an, die Pulsfrequenz begann wie
verrückt zu jagen und Fieberschauer schüttelten den
jungen Mann, der mit furchtbaren Anstrengungen den Alarmreaktionen
seiner irdischen Hülle Herr zu werden versuchte.
Vergebens.
Durch den Schleier des dröhnenden Blutes in seinen Adern
hindurch wurde ihm bewußt, daß sich seine
Gesichtszüge unter dem Erregungszustand grauenhaft
verzerrten, allen zur Schau gestellt, unkontrollierbar
eingefroren. Wie im Trancezustand erhob er sich, schritt taumelnd
zum Kleiderschrank, zog sein Sakko über und eilte aus dem
Saal, dessen Menschen er in diesen Minuten zu hassen begann.
Beim Betriebsarzt ließ er sich in einen Stuhl fallen,
erklärte, daß er sich außerstande fühle,
heute nochmals seine Arbeit aufzunehmen.
Er verheimlichte die Ursache seiner hochgradigen Erregtheit und
ließ teilnahmslos die medizinische Untersuchung über
sich ergehen. Noch eine Viertelstunde nach diesem panikartigen
Anfall hämmerte der Puls mit 120 Schlägen in der
Minute.
Beim Nebenausgang schlich er sich beim Portier vorbei und atmete
erstmals befreit auf, als sei er eben einer Schreckenskammer
entronnen. Innerlich hatte er bereits gekündigt bei Mills
Ltd. Nichts, absolut nichts mehr zog ihn dorthin zurück. Das
Gefühl der Erleichterung, das ihn beschlich war, als ob nach
dem Besuch eines mittelmäßigen Films die Lichter im
Kino wieder aufflammten.
Er trat auf die sonnendurchflutete Straße, und mit einem
Schritt fand er sich mitten in einer anderen Welt, in der die eben
erlebten Szenen im Handumdrehen der Vergessenheit anheimfielen.
Der Bus brachte ihn in die Stadt, er bummelte gemächlich und
genüßlich durch die verkehrsreichen Straßen.
Ein herrliches Gefühl der Freiheit überkam ihn.
* * *
Eine volle Woche lang hegte Willi nicht die geringste Absicht,
jemals wieder das Werksgelände von Mills Ltd zu betreten. Er
studierte sorgfältig die Rubriken der Stellenangebote, sandte
Bewerbungsschreiben ab, besuchte die Bibliothek, lieh sich dort
Bücher über Psychologie und Lebensführung aus. Er
suchte nach einer wissenschaftlichen Erklärungen für das
Versagen seines vegetativen Nervensystems in jenen bewußten
Augenblicken bei Mills Ltd. Er erging sich in Grünanlagen,
Parks, dem Botanischen Garten, lächelte über
Sitzbänke im Stadtgebiet, die er mit schwarzen Buchstaben
deutlich als "Nur für Frauen" reserviert vorfand. Ein
Überbleibsel aus dem Victorianischen Zeitalter? Wie
grundverschieden doch dieses Land von seiner Heimat war...
Häufig besuchte er Hugo, der nun das dritte Monat in
Melbourne arbeitslos logierte. Der erklärte ihm, es sei ihm
schon alles egal. Er warte nur noch auf die Ankunft Freddys und
würde dann mit ihm irgendwohin in die Provinz ziehen. Hier
könne man ja sowieso nicht sparen. Wenn hier in Melbourne
keine Arbeit aufzutreiben sei, fahre er eben mit dem Wiener wieder
nach Bonegilla. Dort sei man dann gezwungen, sie entweder
aufzunehmen und zu verpflegen oder ihnen schleunigst eine Stelle
zu verschaffen. Willi äusserte die Vermutung, daß man
das in ihrem Falle nicht tun werde, hätten sie doch aus
eigenem Antrieb ihre Arbeitsplätze verlassen.
Gleichzeitig wurde dem Österreicher nun bewußt, warum
gerade Mitteleuropäer und Skandinavier mit so verzwickten,
sorgendurchfurchten Mienen über die sonnigen Straßen
Australiens liefen, warum gerade sie am ehesten zum Verzweifeln
neigten, wenn es mit Wohnung oder Arbeitsplatz nicht gleich
klappte. Warum gerade Menschen aus Staaten höchster sozialer
Ordnung hier zu nutzloser Kritik, zu Schimpfkanonaden und am Ende
zur Resignation neigten: Man war von Jugend auf gewöhnt durch
öffentliche Einrichtungen, Institute, Schulen und
Versicherungen einigermaßen sicher durch das Leben geleitet
zu werden. Man wußte genau, wenn man entlassen wird, wartete
eine ausreichende Unterstützung. Wenn sich irgendwo im
Körper ein Wehwechen einstellt, läuft man zum Arzt und
erhält fast kostenlos ein Medikament. Von der Geburt bis zum
Sterben wird der Bürger vom Staat wohlbehütet.
Er hat mit Recht das Gefühl, daß ihm nicht
zustoßen kann. Niemand kann einfach verhungern oder
verschwinden, ohne daß die Öffentlichkeit helfend
eingreift. Greift sie nicht sofort ein, sind noch immer Verwandte
und Bekannte da, die geistige und materielle Unterstützung
gewähren.
Nun wandert ein in solchem Klima aufgewachsener Mensch aus. Vom
ersten Augenblick an wird er wiederum unter die Fittiche diverser
Organisationen genommen, fährt frisch und munter um die halbe
Welt, um dann tatendurstig in einem Auffanglager zu landen, wo
noch immer für sein Wohlergehen Vorsorge getroffen wird. Der
Einwanderer ist gewillt, sein Bestes für die neue Heimat zu
geben und geht mit Optimismus und Zuversicht daran, den neuen
Kontinent für sich zu erobern.
Aber gar bald merkt er, daß Arbeitsämter mitunter
keinen Job anzubieten haben, Wohnungsvermittler erfolglos bleiben.
Damit erreicht er ein Übergangsstadium, wo er, der
Einwanderer, leicht verzweifelt und deprimiert sein Schicksal
beklagt.
In diesem Stadium war Hugo Prattert angelangt. Auf einmal
verließ er sich auf seinen Kumpel Fred. Mit ihm zusammen
würde es sicherlich klappen, hoffte er. Und baute die
Illusion auf, daß man sie schlimmstenfalls in Bonegilla
versorgen würde. Doch die Wohnblocks dort waren mit
Neuankömmlingen überfüllt, die Aussichten, Hilfe zu
erhalten praktisch Null.
Er selbst, Willi Höger, war gleich am 'Tag danach' aufs
Arbeitsamt gelaufen. Derselbe Beamte, wie vor nahezu einem Jahr.
Die gleichen Fragen, dieselben Antworten.
"Sie hätten Ihre Arbeitsstelle nicht aufgeben sollen.
Es ist nahezu unmöglich, für Sie einen Job zu
finden.
Help yourself! Hilf Dir selbst! "
Er war überhaupt nicht enttäuscht über den Ausgang
dieses Interviews. Er mußte seinen eigenen Weg finden,
durfte und konnte sich auf niemand sonst verlassen, als auf sich
selbst, auf seine eigene Kraft und Findigkeit.
Das Wichtigste zunächst war, bei Mills Ltd Schluß zu
machen, offiziell ein Ende zu setzen. Dazu war er gezwungen, noch
einmal dort vorzusprechen, seinem Chef James Hartley von seiner
Kündigung Mitteilung zu machen. Er schob diese Entscheidung
auf die lange Bank, versuchte sich vor ihr zu drücken.
Gelegentlich eines Besuches beim Ehepaar Meier war er baß
erstaunt, als er vernahm, daß Kurti Meier bereits die
Schiffspassage nach Europa gebucht hatte und die Freizeit nur mehr
mit dem Sammeln von Souvenirs, Retrospektiven und
Pläneschmieden für die Zukunft totschlug.
"Also nichts mit dem 2000-Pfund Aufenthalt in Australien?" drang
Willi bissig in seine Landsleute.
"Das haben wir nicht mehr notwendig", erklärte Kurti in
seiner lauten, großsprecherischen Art. "Haben vom Onkel,
haha!! Ein guter Gag! Hahaha!! Haben vom Onkel aus Europa – ein
Geschäft geerbt. Was sollen wir noch hier?"
Nachdem er in den letzten Monaten die derben Ausdrücke, mit
denen er gewöhnlich um sich zu werfen pflegte, vermieden
hatte – die Schwierigkeiten der Assimilierung hatten ihn zusehens
bescheidener und ruhiger gemacht – brach mit dem Silberstreifen am
Horizont sogleich wieder die alte Natur hervor. Nun, knapp vor
ihrer Abreise nach dem alten Kontinent, lautete das Resümee
ihres Australien-Abenteuers: Man könne bei vernünftiger
Einstellung auch in Australien ganz gut leben.
Unvernünftige Menschen, ziellose Charaktere – alles
Schwächlinge. Und ich gehöre auch dazu. Schöne
Erkenntnis.
Mit diesen bitteren Erkenntnissen zog Willi an diesem Tag leicht
entmutigt Bilanz über seine eigene Vergangenheit.
* * *
Eine Woche danach machte sich Willi Höger auf dem Weg zu
Mills Ldt. Er trug sich mit dem Gedanken, es noch einmal zu
versuchen. Beim Herannahen des Autobus schwanden alle
Vorsätze dahin. In Sekundenschnelle fielen ihm all die
Diskriminierung, Ärgernisse und Stunden der Verzweiflung
wieder ein, die er in der Firma erlebt hatte. Rasch machte er
kehrt, warf sich in seinen besten Anzug, verfasste ein
Kündigungsschreiben und stand Mitte des Vormittages am Gang
zum Zeichensaal. Die bloße Vorstellung, hier weitermachen zu
müssen, flößte ihm Grauen ein. Ein junger
Italiener wollte zufällig an ihm vorbei in den Kopierraum,
der Österreicher hielt ihn auf und ersuchte ihn, Jack aus dem
Saal zu holen.
Leicht erstaunt und wie gewöhnlich mit einem wohlwollenden,
belustigtem Lächeln um die Lippen, musterte ihn sein
Vorgesetzter: Kein Wort des Vorwurfs wegen der unentschuldigten
Abwesenheit.
Mit knappen Worten informierte ihn Willi über seinen
plötzlichem Entschluß, ohne weitere Erklärungen
abzugeben.
Jack öffnete wortlos die Glastür und führte ihn an
den Schreibtisch des Chefs. Noch niemals war ihm ein Gespräch
so schwer gefallen.
Es war ihm bekannt, daß er die Sympathien der beiden
Australier besaß und weder wollte noch konnte er sie
verletzen, indem er ihnen die unmißverständliche
Wahrheit sagte: Er habe den Eindruck, vor allem bei seinen
jüngeren Arbeitskollegen so unerwünscht zu sein,
daß er die Konsequenzen daraus ziehen müsse. Ja,
daß er diese Personen so sehr verabscheue, daß es ihm
unmöglich sei, hier weiter zu arbeiten.
Hartley und Whitt behämmerten ihn eine Stunde lang mit
Fragen, lockten ihn mit Versprechungen, wollten nähere
Einzelheiten aus ihn herausquetschen. Der baumlange James
saß neben ihm auf der Schreibtischplatte, hielt das
Kündigungsschreiben abwägend zwischen den Händen,
faltete es zusammen und meinte in einem Anflug von Heiterkeit zu
dem jungen Mann, der in dumpfer Resignation neben ihm hockte und
sich bemühte, den alleinigen Beweggrund seines Handelns zu
verschleiern:
"Am liebsten würde ich ja diesen Zettel zerreißen und
über die ganze Angelegenheit weiter kein Wort verlieren. Was
meinst du, Willy?"
Der blickte wortlos zu Boden.
"Ich versteh' dich wirklich nicht", begann James wieder und
funkelte ihn aus seinen Brillengläsern an. "Du hast hier so
fleißig, ausdauernd und gut gearbeitet, daß wir dir
kürzlich mit ruhigem Gewissen eine Gehaltserhöhung
zubilligen konnten. Wir wissen um deine Anfangsschwierigkeiten -
du hast sie gut hinter dich gebracht. Bedenke doch eines: in
längstens zwei Jahren kannst du aufgrund deiner Ausbildung da
drinnen landen", er wies auf das Ingenieurbüro hin.
"Du bist deinen etwas jüngeren Kollegen fünf Jahre im
Studium voraus. Das ist wohl nicht übertrieben gesagt, nicht
wahr?"
"Das ist vielleicht einer der Faktoren, warum die auf mich so
einen Krampf haben", dachte Willi und nickte pflichtbewußt
auf die Frage des Chefs.
"Also, was willst du mehr?" Hartley zögerte einen Augenblick
und erkundigte sich dann: "Oder hast du eine andere, bessere
Stelle gefunden?"
"Nein, James", antwortete er wahrheitsgemäß. "Ich
muß wieder ganz von vorne anfangen. Und ich werde nicht in
Melbourne bleiben. Das dauernd wechselnde Wetter bekommt mir
nicht. Ein Ohrenleiden, das noch nicht ausgeheilt ist, zwingt
mich, in eine gleichmäßig temperierte Gegend zu ziehen,
James. Vermutlich werde ich nach Sydney gehen."
Willi flunkerte drauflos. Aber alles kam ihm erträglicher
vor, als dem Australier einfach zu gestehen: deine Landsleute
haben mich fertig gemacht. Es war sinnlos, es noch einmal mit
Mills Ltd zu versuchen, das verlorene Terrain war nicht mehr zu
erobern.
Später zweifelte er natürlich an der Richtigkeit seiner
Überlegungen. Aber für den Moment schien ihm dieser Weg
so zwingend und unausweichlich, daß er nicht anders handeln
konnte.
Der Australier blickte ungläubig drein.
"Du mußt wieder auf Wohnungssuche gehen, dir dann einen Job
suchen – du stehst genauso da wie vor einem Jahr?"
"Ja, nur mit dem Unterschied, daß ich mittlerweile viel
hinzugelernt habe – als Zeichner und über das Leben in
Australien."
Jack, der halb über den Tisch gelehnt stand, sah James an und
der streifte seinen Assistenten mit einem Blick, aus dem
Verständnislosigkeit und Bewunderung zugleich sprach.
"Nein, das wäre nichts für uns zwei", bemerkte er
trocken. Er wandte sich wieder an Willi.
"Aber reden wir vernünftig. Ich vermute, deine
Schwierigkeiten sind in deinen Lebensverhältnissen zu suchen,
Willy? Ich habe von Jack gehört, daß du den ganzen
Haushalt allein besorgst. Das ist auf Dauer keine Mannesarbeit und
muß deprimierend wirken..."
"Lieber James", dachte Willi resigniert, "bei dem Gehalt, das ich
bis vor kurzem hier bezog, blieb mir ja gar keine andere Wahl.
Schließlich muß ich mir ja auch einen Notgroschen
zurücklegen. Wie kann ich da jemals einen eigenen Haushalt
gründen?" Ergeben nickte er mit dem Kopf.
"Ich gebe zu, daß das eine große Rolle spielt",
antwortete er, die Schmerzen in der Magengegend fühlend. Noch
immer stand er in Behandlung.
"Du besorgst auch die Wäsche selbst?"
"Leider auch das, alles!" Er versuchte ein Grinsen, es blieb ihm
aber im Halse stecken. Der Chef lächelte hintergründig:
"Warum siehst du dich nicht nach einem netten australischen
Mädchen um? Heiratest?" Und einer momentanen
Gedankenassoziation folgend, erklärte er: "Schau! Wir,
speziell in diesem Betrieb, sind uns im Klaren, daß sich
Australien künftig aus Menschen vieler Nationen
zusammensetzen wird. Wir kennen keine rassische Bevorzugung. Wir
wollen vor allem auch dir, an dem uns w i r k l i c h viel liegt,
eine Chance bieten!"
"Ich weiß das ganz genau, James. Ich schätze diese, vor
allem deine Haltung in dieser Frage, nur..." Gequält brach er
ab.
"Haben wir dir nicht die gleichen Möglichkeiten geboten wie
den anderen? Ist dein Fortschritt nicht schnell genug vor sich
gegangen? Ich habe dir zu Weihnachten eine weitere Vorrückung
in deiner beruflichen Position versprochen. Ich halte meine
Versprechen." Lange Pause. James wartete geduldig. Vergebens.
"Nun?"
"James, ich, ich...ich habe das Gefühl, als ob ich nicht
...in Eure ...Kreise passe!" Stockend brachte es Willi endlich
heraus.
Jack Whitt blickte weg. Auf die Sekretärinnen, die an der
gegenüberliegenden Wandseite hochaufgerichtet saßen und
mit unbewegten Gesichtern die Tasten der Schreibmaschinen
bearbeiteten.
Hartley krümmte die Finger gegen die Handflächen und
betrachtete intensiv seine Nägel.
"Ich habe es vermutet, doch ich wollte es von dir selber
hören. Es ist bedauerlich, daß du die ganze Sache so
siehst..." Er hielt nochmals inne.
"Trotzdem", er lächelte Willi wieder an – er war ein
perfekter Gentleman, "halte bis Weihnachten aus! Bis dahin haben
wir das Büro in einzelne, abgetrennte Sektoren
aufgeteilt.
Wir werden dir eine eigene, ruhige Ecke geben. Das wäre dir
doch recht? Du siehst, ich versuche alles, um dich zu halten.
Wir schätzen dich sehr, ich betone es nochmals!"
"I am sorry, James", preßte Willi hervor. "Ich glaube, es
wird nicht mehr gehen. Du weißt vermutlich, daß ich
kürzlich einen nervösen Anfall bekam – an dem Tag, als
ich Mills Ltd verließ. Ich habe simpel gesagt Angst,
daß sich das nochmals wiederholen könnte."
Unruhig rutschte der Österreicher auf dem Sessel hin und
her.
"Die reden mir zu wie einem kranken Roß", sagte er sich.
"James kann die Sache nicht recht begreifen. Aber er bemüht
sich redlich, mir zu helfen."
Der Assistent lauschte nur bedrückt, verhielt sich aber
ruhig.
"Ich verstehe, Willy. Du hast den ganzen Ärger nur immer
hinuntergeschluckt und hast nun einfach genug. Daran wird wenig zu
ändern sein." Er erhob sich, streckte ihm die Hand
entgegen.
"Überlege es dir noch einmal bis Morgen. Überschlafe die
ganze Angelegenheit. Komm morgen rein und teile mir deinen
Entschluß mit. Wegen der eventuellen finanziellen Abrechnung
brauchst du dir keine Sorgen zu machen..."
Die peinliche Unterredung war vorüber.
Die vierundzwanzig Stunden Bedenkzeit änderten nichts mehr an
seinem Entschluß. Bill versprach ihm, die Zeichenrequisiten
mitzubringen. Er selbst hätte keinen Schritt mehr in den Saal
gesetzt.
Die zweite Unterredung verlief wie die vorangegangene. James sah
ausnahmsweise von der zweiwöchigen Kündigungsfrist ab.
"Komm nun bitte zum Personalreferenten mit!" Er gab also auf.
Jack Whitt, der auch diesmal den Überredungskünsten
seines Chefs beigewohnt hatte, machte sich zum Gehen bereit. Der
Zeichensaal wartete auf ihn. Der kleine, gemütliche Ingenieur
trat kurz zu Willi heran. Sie sahen sich an, ein letztes Mal.
Ernst, und mit dem Bemühen seine innerliche Bewegung zu
verbergen, brachte er hervor: "Was immer du auch angehst, Willy -
Good Luck to you!"
"Thanks Jack." Mehr hätte er nicht herausgebracht.
An der Seite seines Bosses schritt Willi über die betonierten
Wege an dem Rasen vorbei, wo er sooft im Kreise gleichgesinnter
Kollegen gesessen hatte. Schweigen lastete auf beiden. Der
Österreicher kam sich schuldbeladen vor: "I am sorry, aber
ich kann wirklich nicht anders handeln, James."
"It's alright. Aber ich frage mich nur nach dem wahren Grund
deines Weggehens..." Höger ahnte, wie es hinter der Stirn
seines Chefs arbeitete. Er antwortete nicht.
"Es war also wegen der Arbeitskollegen. Ich hätte es mir
denken können." Er schien niedergedrückter Stimmung zu
sein, mit weitausholenden Schritten strebte er wieder seinem
Office zu.
"Es ist meine Pflicht als Personalreferent, Sie zum Verbleib in
der Firma zu bewegen. Aber darüberhinaus..."
Der gutaussehende Dreissiger machte sich ausgezeichnet hinter dem
monumentalen Schreibtisch.
"Wie ich den Akten entnehmen kann, haben Sie..."
Nach einer halben Stunde sah er endlich ein, daß seine
Anstrengungen nutzlos waren. Der Österreicher hatte ihm seine
Schwierigkeiten mit den jungen australischen Kollegen angedeutet.
Ihm konnte er dies beibringen, vor James hätte er es nicht
fertiggebracht.
"Ich denke, wir Australier sollten für unsere Migrants ein
klein wenig mehr Verständnis aufbringen...", meinte der
Referent am Ende des Gespräches nachdenklich.
"Es würde viel Gutes bewirken."
Gegen Mittag ließ er das Werksgelände hinter sich und
prallte beinahe mit dem ehemaligen russischen Ingenieur zusammen.
Sie verabschiedeten sich, wobei der Emigrant schloß: "Was
mich an der Angelegenheit freut ist, daß du seit deinem
Eintritt bei Mills nicht nur deine fachlichen Kenntnisse sondern
vor allem deine Persönlichkeit entwickelt hast!"
Als Willi die Straße vor der langgestreckten Front vor den
Hallen überquerte und einen letzten Blick auf das Werk warf,
wurde er sich dieser Tatsache voll bewußt.
Ja, die Kämpfe die hinter ihm lagen, hatten ihn nur zu seinem
Vorteil verändert. Sie hatten ihn entschlossener,
selbstsicherer und härter gemacht.
Der junge Österreicher drehte noch einmal kurz den Kopf, um
zu sehen, daß der kahlköpfige Russe noch immer auf
derselben Stelle verharrte. Der hob nun die Hand und spreizte zwei
Finger zum "V": Victory.
* * *
Woche um Woche war Willi nun eifrig auf den Beinen, las
Stellenangebote, beantwortete sie, schwang sich in Autobusse, in
Vorortzüge, rannte sich die Sohlen kaputt und schwitzte in
der feuchtwarmen Luft Melbourne's seine Hemden durch, um sich eine
neue Existenzmöglichkeit zu schaffen. Die Fahrspesen
erreichten wegen der ausgedehnten Dimension der Stadt schwindelnde
Höhen.
Es wirkte entmutigend, immer aufs Neue das "I am sorry" oder "Der
Boss ist nicht da" zu hören, auf schriftliche Bewerbungen
nach zwei, drei Wochen eine kurze, bedauernde Absage in der Hand
zu halten. Die Erfahrungen bei den persönlichen Vorsprachen
bereicherten jedoch seinen Horizont beträchtlich, wenn sie
auch wegen der Erfolglosigkeit der Bemühungen ziemlich
trostlos ausfielen.
Da wurde er etwa in den Glasverbau des Chefkonstrukteurs eines
Großbetriebes der Chemie geführt. Sorgfältig
breitete er Personalien, Zeugnisse und Proben seiner beruflichen
Tätigkeit vor ihm aus.
"Ja, wir werden in Kürze einen neuen Mann benötigen",
bestätigte ihm der Mann. "Es verläßt einer das
Büro."
Er las den von Willi ausgefüllten Fragebogen flüchtig
durch und stutzte bei einer Zeile: "Sie sprechen Deutsch?"
"Ja natürlich, ich bin ja geborener Österreicher."
"Aber Sie sind k e i n Deutscher?"
Überrascht über den sonderbaren Tonfall, sah er den
Australier an: "Warum diese Frage?" Gedehnt, abwartend,
mißtrauisch klang die Stimme des Österreichers.
"Ach, wissen Sie, es ist nur...Nun, der Mann, der uns nächste
Woche verlassen wird, ist ein Deutscher. Wir haben ihm nahegelegt,
daß er sein Bündel schnürt."
"Und weshalb?" Das Lächeln erstarb dem jungen Mann auf den
Lippen, der es bis dahin auf die charmante Art versucht hatte.
"Ja, die Sache ist so... Ich verstehe, daß Ihnen die Frage
von vorhin seltsam anmuten mußte..." Der Australier suchte
nach der geeigneten Ausdrucksweise und wand sich in leichter
Verlegenheit. Dann platzte er plötzlich damit heraus: "Der
Deutsche hat sich arrogant benommen. Er wußte immer alles
besser oder glaubte es zumindest, spielte sich als Lehrmeister
auf. Wir haben in unserem Büro viele Rassen – auch ein Jude
befindet sich darunter. Dauernd bekamen wir wegen des Deutschen
Scherereien.
Ein zweites Mal wollen wir ein solches Risiko nicht mehr eingehen,
das ist doch verständlich, oder?"
Willi brauchte einen Arbeitsplatz, sehr, sehr dringend. Er
versicherte dem Australier daher, daß Austrians in dieser
Hinsicht eine rühmliche Ausnahme darstellen, er also keine
Schwierigkeiten whatsoever zu befürchten habe. Der Mann
versprach schließlich zögernd, sich die Sache durch den
Kopf gehen zu lassen.
Der Austrian verzog sich, und die Gedanken über das soeben
Gehörte begannen zu rotieren.
Ich weiß natürlich nicht, ob sich der Deutsche wirklich
so arrogant aufgeführt hat. Es ist ohne weiteres möglich
– ich kenne diese Typen mit dem deutschen
Überwertigkeitskomplex.
Aber vielleicht stecken auch politische Gründe dahinter, oder
was der kleine Mann von der Straße halt dafür
hält.
Aber eines ist mir inzwischen auch klar geworden: daß die
Australier vieles für arrogant halten, was bei uns in bloody
Old Europe zum guten Ton gehört...
Seine Aufmerksamkeit wurde aufeinmal in eine andere Richtung
gelenkt. Etwa zwanzig Meter von ihm entfernt sackte ein
älterer Mann, der beide Arme um den Mast einer Ampelanlage
geklammert hielt, lautlos zu Boden. Keine Menschenseele in dieser
Geschäftsstraße, keiner von den Hunderten die
vorübereilten, ließ sich in seiner Betriebsamkeit
stören. Herangekommen, trat Willi zu dem am Pflaster
Liegenden heran und versuchte ihn hochzuzerren. "Thanks, mate!"
stammelte der Mann weinselig und versuchte schwankend das
Gleichgewicht zu halten. Eine meterlange Alkoholfahne wehte vor
ihm her.
"Typisch Australien!" dachte er. Erheitert schritt er von dannen,
kreuzte einige hundert Meter weiter die Fahrbahn. Durch die
Auslage eines Motorradgeschäftes magnetisch angezogen,
schnitt er unabsichtlich die Bahn einer Passantin.
Im nächsten Augenblick krachten deren Schuhe gegen seine
Knöchel und Schienbeine, krallten sich spinnenförmige
Finger an seinem Sakko fest und trommelten wütende
Fäuste gegen seine Brust. Er starrte entsetzt in das
wutverzerrte Antlitz eines Weibes, die aus zahnlosem Munde
unartikulierte Schreie stieß, ihn mit unflätigen
Ausdrücken bewarf. In der ersten Schrecksekunde verharrte er
regungslos vor Entgeisterung über den unerwarteten Angriff,
doch dann versuchte er die Frau wegzustoßen, die aber immer
wieder auf ihn eindrang. Hilfesuchende, gehetzte Blicke um sich
werfend, sah er auf der Schwelle eines nahegelegenen
Geschäftes einen Mann, der gleichmütig die
unerquickliche Szene betrachtete. Niemand kümmerte sich um
die Rasende, niemand um den jungen Mann.
Ebenso plötzlich wie sie begonnen, ließ die Alte von
ihm ab und rannte weg. In der Ferne flatterten die Fetzen ihrer
Kleider, sah er die wirr durcheinanderfliegenden verfilzten Haare,
das Aufblitzen des wilden, verrückten Blickes – dann war die
Gestalt in der Menge verschwunden.
Der Spuk war vorbei, die Erstarrung löste sich von ihm.
Achselzuckend setzte er seinen Weg fort.
Auch das war Australien: Menschliche Verwahrlosung,
Gleichgültigkeit, nackter Wahnsinn...
* * *
Freddy, der Wiener, war aus Österreich kommend wieder
glücklich in Melbourne gelandet.
"Du hast dich seit unserer gemeinsamen Buschzeit verändert",
bemerkte er, nachdem er Willi kurz gemustert hatte.
"Wie denn?" erkundigte sich der, neugierig geworden.
"Nun, ich denke du bist reifer geworden – männlicher, wenn du
willst!"
Jetzt waren Hugo und Freddy nach Bonegilla abgehauen. Ob sie dort
Glück haben würden?
Er war nun ziemlich allein angekommen, unser Herr Höger. Auch
mit Werner Benke konnte er nicht rechnen. Noch hielt Werner und
Gudrun der Kitt der alten Liebe zusammen, aber... Er wollte keine
Unkenrufe ausstoßen.
Die übrigen Berliner aus seinem Bekanntenkreis hatten sich in
alle Windrichtungen zerstreut oder wohnten, wie seine Freunde vom
Tennisklub, weit außerhalb der Stadt. Wochentags kam er sich
also ziemlich allein und verloren vor. Sein Bedürfnis nach
weiblicher Gesellschaft wuchs. Seine unsichere Lage
verstärkte noch diesen Wunsch.
Immer häufiger ertappte er sich bei dem Gedanken, bei seiner
zwar nicht sonderlich hübschen aber immerhin mit allen
wesentlichen Attributen eines weiblichen Wesens ausgestatteten
Nachbarin einmal intimer vorzusprechen. Am zweiten Wochenende
seines Zwangsurlaubes sah er sich einen französischen Film
an, in dem Brigitte Bardot solange halbnackt auf Heuböden
herumgeisterte oder sich in schwülstigen Pfühlen
wälzte, bis Willi vermeinte, er müsse die Frau im
Klappsessel nebenan an Ort und Stelle beglücken. Die einzig
reelle Aussicht auf Befriedigung seiner entbrannten Triebe war
eine Visite bei seiner Mitbewohnerin...
Die Idee bohrte sich in ihm fest, lustentbrannt stürzte er
nach Hause. Mit pochendem Herzen lauerte er nun vor dem dunklen
Rahmen ihrer Glastür. Wenn sie drinnen war – er brauchte nur
anzuklopfen, und er würde sich am Ziel seiner Wünsche
finden.
Doch war s i e, war sie wirklich der Inbegriff dessen, was er
wollte und suchte? Ihre abgeschleckten Gesichtszüge, die
tiefen Falten und Pölster der Augenumrandung – die knallgelbe
Schürze, vor die rotkarierte Hose gebunden? Das alles
schoß ihm in diesen Sekunden durch den Kopf, als er
regungslos verharrte.
Die Spannung löste sich, er begann wieder klar und ruhig zu
denken. Nein, er wollte sie nicht. Morgen früh würde er
es bereuen, wenn er jetzt den Eingang öffnete.
Auf leisen Sohlen schlich er in sein Zimmer.
* * *
In der dritten Woche seiner Arbeitslosigkeit sprach er bei einem
blechverarbeitenden Betrieb vor und wurde eingestellt. Mit der
üblichen Probezeit, da er ja auf diesem Gebiet so gut wie
keine Erfahrung aufweisen konnte.
Wieder einmal nahte ein Wochenende, dem er diesmal mit
großer Freude entgegensah. Mit gefasster innerer Ruhe
blickte er der Zukunft entgegen, die für ihn nun aufs neue
beginnen würde. Seine ausgezeichnete Laune erhöhte sich
noch durch ein Schreiben Rosa Finzes, in dem sie ihn zum
Mittagessen einlud.
Seit zwei Monaten lebte sie nun allein in Melbourne. Da Hubert in
seinem Beruf unterkommen wollte, hatten sie das Provinzspital
verlassen. Nun war sie Strohwitwe, weil ihr Gatte nach Cairns
abgehauen war, um dort Geld zu scheffeln. Ein Italiener hatte ihm
von den großen Verdienstmöglichkeiten bei der
Zuckerrohrernte vorgeschwärmt. Er verhehlte allerdings nicht
die immensen Strapazen dieses Jobs im subtropischen Queensland,
der nahezu als Domäne der Süditaliener betrachtet wurde.
Schiffsladungsweise wurden sie dort, direkt aus Europa kommend,
dieser Schinderei als Saisonarbeiter ausgesetzt.
Auch Hubert war dieser Manie, rasch zu Geld kommen zu müssen,
zum Opfer gefallen.
Nach einigem Suchen fand Willi den Bungalow im Hof hinter einem
Ziegelbau. Die kleine Rosa fühlte sich ganz schutzlos und
verlassen; er war direkt verpflichtet, sich ihrer ein wenig
anzunehmen. Hocherfreut begrüßte sie ihn und bewirtete
ihn sogleich mit allen erdenklichen Künsten einer erfahrenen
Hausfrau. Während er von seinen Erlebnissen erzählte,
bruzelten Schnitzel in der Pfanne, der Duft vertrauter Suppen
stieg ihm in die Nase, kurzum, allein die Vorfreude war
köstlich.
Dann deckte sie auf, daß sich die Tischplatte unter der Last
bog. Salate, Bier, Kompotte, Torte und Tee. In ununterbrochener
Reihenfolge ging das den ganzen Nachmittag so weiter. Ach, sie
hatten sich ja soviel mitzuteilen. Rosa berichtete von dem
Krankenhaus, in dem sie jetzt angestellt war, Willi von seiner
neuen Arbeitsstätte, wo er morgen Montag einen neuen Start
versuchen würde.
Die Abenddämmerung brach herein, automatisch glitt das
Gespräch auf schlüpfrige Themen über: Rosa
unterhielt ihn mit Stories aus ihrem neuen Wirkunsbereich.
So etwa, wie ein australischer Arzt die Klinik verlassen
mußte, da ihm der Boden unter den Füßen zu
heiß geworden war, weil er die Frauen genauer untersucht
hatte, als es eigentlich notwendig war. Oder wie ein älterer,
bloody Newaustralian, der völlig gesund im Bett liege, was er
sich zufolge seines immensen Reichtums leisten könne, die
junge Schwester ersuchte..., und so weiter.
Leicht erschrocken registrierte der junge Mann, wie sein Blutdruck
rasant anstieg. Unversehens fiel ihm der arme Hubert ein, der
jetzt wie ein Sklave hoch oben im Norden rackerte und schuftete,
und daß Rosa dessen angetraute Gattin war.
Er übersah nicht, daß Rosa nervös und zerfahren
wirkte. Über ihre Stirn liefen Furchen, die sich während
dieser schwülstigen Erzählungen vertieften, ihre
Hände zitterten beim Anzünden der Zigaretten.
Sie saßen einander gegenüber, Willi halb hingestreckt
auf der Eckbank, Rosa auf einem hohen Rundhocker, mit dem
Rücken gegen die Wand gelehnt. Dem jungen Mann fiel auf,
daß der schwarze Rock besonders kurz und adrett wirkte. Die
rote Bluse verlieh ihr einen beinahe jugendlichen Sex-Appeal.
"Hier war noch kein Fremder herinnen", flüsterte sie in das
angespannte Schweigen hinein. "Hier kommt nur einer herein, den
ich hereinlassen will!"
Mit stummen Blicken verfolgte er jede ihrer Bewegungen, von
widersprechenden Gefühlen hin und her gerissen. Nun stellte
sie einen Fuß auf die Sprossen des Hockers. Langsam
spreizten sich die Beine. Ihre schlanken Glieder glänzten
unter den Seidenstrümpfen, und trotz der matten
Küchenbeleuchtung konnte er die Linie ihres Beines bis unter
dem Rock verfolgen, der straff gespannt, den Einblick in den
Schoß des Weibes freigab.
Sein Atem ging keuchend, vor Begierde trocknete ihm der Mund aus.
Unter ihrer dünnen Bluse hob und senkte sich der Busen
rhythmisch, seine Fantasie entzündete sich mit jedem
hervorgekeuchtem Wort.
Vibrierend vor Nervosität stieß Rosa hervor:
"Bewundernswert, wie du dich beherrschen kannst! Wenn du nicht
mehr Rauchen willst, gibst du es einfach auf. Wenn dir eine Frau
nicht sympathisch ist, ziehst du dich zurück!"
"Was heißt hier sympathisch..., das ist es nicht..."
Durch den Schleier, der sich vor seine Augen legte, schimmerte der
Rand ihres kleinen Unterhöschens. Mit einem Ruck erhob er
sich, das Denken war ausgeschaltet: Was zählte es, wem diese
Frau gehörte? Sie war ein Weib, ein Weib!
Mühsam lallte seine Stimme: "Wo hast du mein Sakko
hingehängt – im Schlafzimmer? Ich möchte die Zigaretten
holen!"
Leichtfüßig und barfuß lief sie in das Zimmer
nebenan, er folgte ihr langsam. Sah beim Eintreten, wie sie im
Halbdunkel vor ihm stand, die Augen weit geöffnet.
Warum sollten sie sich quälen? Hubert war an allem selbst
schuld!
Wildumschlungen fielen sie auf das Doppelbett.
Nun, nachdem es passiert war, das Unvermeidliche, änderte
sich seine Einstellung ihr gegenüber nicht. Sicher liebte sie
ihren Gatten noch genauso wie vorher. An seiner Seite im Bett
liegend, hatte sie ihm gestanden, wie einsam sie hier lebte, wie
sehr sie sich nach einem männlichen Beschützer sehnte.
Sie hatte auch noch keine Freunde oder Bekannten in der neuen
Umgebung erworben.
Zitternd wie ein kleiner Vogel hatte sie sich an ihn geklammert
und dabei geweint: "Was soll ich bloß tun, wenn Hubert etwas
zustößt?"
Er hatte einen Ehebruch begangen, aber seltsamerweise
überfielen ihn keine Gewissensbisse. Nicht in diesem
Falle.
Komisch, nie hätte er dies von sich geglaubt.
* * *
In der Früh, kurz vor Morgengrauen, wanderte er über die
leeren Straßen zwischen den Villen der Vorortkolonie in
Richtung Bahnhof.
Der neue Boß und die wenigen Kollegen schüttelten ihm
die Hand. Alle sehr nett, das war der allererste Eindruck.
Die Gemeinschaftsküche erreichte nicht das
Qualitätsniveau von Mills Ltd. Das war vorläufig der
einzige Nachteil, den Willi entdecken konnte.
Aber etwas störte ihn, um nicht zu sagen irritierte ihn: Den
Technische Leiter des Betriebes fand er vom ersten Augenblick an
unsympathisch. Natürlich ließ er sich nichts anmerken,
aber kleine berufliche Differenzen waren einfach nicht zu
vermeiden. Eigentlich betraf es nur Lappalien, aber
immerhin...
Da sollte er dem 65jährigen beim Anbringen großer
Blaupausen an der Wand helfen. Binnen weniger Minuten gemeinsamer
Tätigkeit lag es für Willi außerhalb jedes
Zweifels, daß bei dem Alten der Kalk bereits heftig
rieselte. Senile Dekadenz, oder wie immer die wissenschaftliche
Bezeichnung lauten mochte. Das Kurzzeitgedächtnis des alten
Mannes funktionierte nicht mehr, von einem Augenblick auf den
anderen vergaß er, was er angeordnet hatte. Mit leeren Blick
betrachtete er die Zeichnungen, befestigte sie verkehrt auf der
Platte und fuhr Willi dann unwirsch an, wenn er ihn höflich
drauf aufmerksam machte.
Es würde schwer werden mit dem Mann gut auszukommen.
Er äußerte gegenüber seinen unmittelbaren
Kollegen, einem jungen Australier und einer mittelalterlichen
Jungfrau, seine Befürchtungen.
"Das macht uns schon genug zu schaffen", meinte der junge Mann.
"Wir fürchten uns direkt, wenn er nur hereinkommt",
fügte die alte Maid hinzu. "Man muß ja um seinen
Arbeitsplatz zittern!"
"Es wird schon schief gehen!" hoffte der Österreicher und
ging frisch und fröhlich ans Werk. Der Ingenieur, der im
angrenzenden Raum nervös herumschusselte, gab sich schnoddrig
und kurz angebunden. Aber sein schneller Verstand imponierte
Willi.
"Kein Wunder, sein Vater ist Deutscher", hatte ihm die
kränklich aussehende Bibliothekarin erzählt. Die Dame
sprach deutsch, zwar gebrochen, aber immerhin. Sie hatte 1938 aus
politischen Gründen Wien verlassen müssen. "Ich bin
fertiger Doktor der Medizin!" erzählte sie Willi voll Stolz.
Und derzeit oblag ihr die Verwaltung einer technischen Bibliothek
mit etwa 2000 Bänden. Hatte man für sie in Australien
keine besser geeignete Verwendung gefunden?
"Ich darf kein Kino besuchen, da ich sonst krank werde."...
"Das Essen in der Kantine ist nichts für mich, wissen Sie.
Der Lärm geht mir so wahnsinnig auf die Nerven!"...
"Ja wissen Sie, ich habe mich noch immer nicht erholt!"
"Wovon", überlegte Willi, wagte es aber nicht, weiter in sie
zu dringen. Vom letzten Nervenzusammenbruch?
Entsetzlich, wie das Land oder die Lebensweise oder das Klima,
oder alles zusammen, die Menschen hier zerstörte.
Die altjüngferliche Australierin nahm die Sonnenbrillen erst
im Büro ab, wenn sie von zuhause kam. Ob nun die Sonne vom
Himmel strahlte oder nicht, sie rannte mit den dunklen
Gläsern herum. "Die machen sich hierzulande gegenseitig das
Leben so sauer wie nur möglich. Da liegt der Hund begraben.
Aber ich werde mich da heraushalten, komme was da wolle",
beschloß der Österreicher voller Zuversicht.
Sein junger australischer Bürokollege kam ihm hilfreich
entgegen wo er nur konnte. In wenigen Tagen entstand zwischen den
beiden eine angenehme und wirkliche Freundschaft, die auf
gegenseitiger Wertschätzung beruhte.
"Meine Frau und ich sehen die Einwanderer gerne", vertraute er
sich Willi an, und der staunte über die Aufgeschlossenheit
des Australiers. Gleich für den folgenden Samstag erhielt er
die Einladung, ihn in seinem Heim aufzusuchen und zu Abend zu
essen.
"Aber bitte, richte deiner Frau aus, sie soll für mich nicht
allzuviel bereitstellen. Ich leide häufig unter
Magenschmerzen und weiß nicht, ob ich viel hinunterbringen
werde!" forderte Willi seinen neuen Freund inständig auf.
"Oh, ich weiß, du hast Angst, daß du unsere
australischen Kochkünste nicht verträgst!" lachte der
nur verständnisvoll.
"Nein, es ist wirklich wahr!" beteuerte Willi. Das also war die
erste Einladung in ein australisches Heim, auf die er seit
eineinhalb Jahren gehofft hatte...
Samstag Abend erwartete er seinen Kollegen an der Flinder Street
Station, denn der junge Mann half an seinem freien Tag in einer
Milkbar der City aus, um die Ratenzahlungen für sein Haus
leichter tätigen zu können. Doch dies stellte, nebenbei
gesagt, nicht seine einzige Nebenbeschäftigung dar mit der er
seiner Frau das Leben so angenehm wie nur möglich zu
gestalten versuchte. Teddy Blacke sah man schon an der Nasenspitze
den tüchtigen und intelligenten Burschen an. Wie tüchtig
und wendig er war, sollte Willi rein zufällig einmal aus dem
Radio erfahren...
Die Frau, die ihm Teddy vorstellte, hatte ein zweijähriges
Söhnchen zu versorgen und blieb aus diesem Grunde
Nur-Hausfrau. Sie ließen sich in der Küche nieder, die
zweckmäßig und modern eingerichtet war. Andere
Räume standen teilweise noch halbleer da, denn Teddy war
Alleinverdiener und noch keine einundzwanzig Jahre alt, wie
gesagt.
Gleich nach den erstem Probieren stellte Willi zu seiner
Verlegenheit fest, daß die Zubereitung der Speisen – eine
Art Fleischstrudel mit roh gedünsteten Möhren, ohne Saft
zubereitet – ihn jedes Appetits beraubte und die Quantität
bei weitem seine Kräfte übersteigen würde. Das
Ehepaar, das ihm gegenüber eifrig mit Messer und Gabel
hantierte, merkte wie vorsichtig und gezwungen er jeden Bissen
hinunterwürgte. Die Befürchtung, das schleichende
Eßtempo ihres Gastes könnte immer längeren Pausen
weichen, ließ ihnen keine Ruhe. Willi spürte bald das
bekannte Drücken unterhalb der letzten Rippe und war
schließlich gezwungen, die halbe Portion stehen zu lassen.
Vor Scham und Entsetzen legte die junge Hausfrau das Besteck
nieder und blickte wie gebannt auf Willis immer langsamer kauenden
Mund.
Der Österreicher versicherte ihr hoch und heilig, nur wegen
der beginnenden chronischen Magenschmerzen aufgeben zu
müssen. Ihr Gatte Teddy könne bezeugen, daß er ihn
bereits im Betrieb auf diese Möglichkeit aufmerksam gemacht
hätte.
Nach der vorzeitigen Beendigung des Abendmahls rückte die
junge Frau an seine Seite, um ihm Gesellschaft zu leisten,
während der arme Teddy die Ärmel aufkrempelte und sich
daran machte, das Geschirr zu spülen. Der junge
Österreicher stänkerte mit lächelnder Miene ein
wenig darüber, um seinen Geschlechtsgenossen wenigstens
mental unter die Arme zu greifen.
"Vor einigen Jahren gab es in Österreich hitzige Debatten um
die Frage, ob und wie weit der Mann seiner Frau im Haushalt
helfend zur Seite stehen solle. Unter anderem wehrten sich die
Männer ganz entschieden dagegen, dauernd zum
Geschirrabwaschen abkommandiert zu werden!" Willi grinste die
junge Australierin freundschaftlich an, die Bemerkung war an ihre
Adresse gerichtet. Die junge Dame reagierte rasch und sauer:
"Diese Frage wird sich für Sie in der Zwischenzeit ja
entschieden haben!" Spitzer hätte es ja garnicht mehr klingen
können.
Die beiden Männer lachten über die Empörung der
jungen Frau. Doch Willi wußte, wie sehr der Australier
schuftete, wahrscheinlich schon seit Jahren. Als seine Frau einen
Sprung aus der Küche machte, ermahnte ihn der
Österreicher ernsthaft: "Wenn du so weiter machst, wirst du
über kurz oder lang zusammenbrechen. Davon hat aber deine
Frau auch nichts, das muß sie doch einsehen..."
Es entwickelte sich noch ein anregender Abend, zufrieden
verabschiedeten sich beide Teile von einander.
* * *
Die nächsten Tage verliefen für den jungen Mann aus
Österreich recht heiter. Eine junge, achtzehnjährige
Empfangsdame wurde den Betriebsangehörigen vorgestellt. Man
schüttelte sich die Hände und tauschte belanglose
Höflichkeiten aus. Um irgendetwas zu sagen, einen
Anknüpfungspunkt für ein kurzes Gespräch zu haben,
erkundigte sich die Kleine interessiert, was das für ein
komisches Ding sei, das Willi eben in der Hand hielt.
"Ein Kurvenlineal", erklärte er ihr lächelnd, "a french
curve."
"A french what...?" schnappte das Dämchen nervös und
lief gleich bis hinter die Öhrchen rot an. Die Verwechslung
mit einem bestimmten Markenartikel auf dem hygienischen
Gummisektor, prägnant "french letter" genannt, führte zu
dieser überraschenden Panikreaktion...
Mit dem Alten, der sich anscheinend unersetzlich dünkte, da
er seit seinem 15. Lebensjahr die Firma beehrte und nun
diktatorisch die technische Seite des Betriebes überwachte,
hatte Willi seine liebe Not. Befremdet hörte er, wie der
pensionsreife Wirrkopf äußerte: "Mir gefallen diese
Austrians nicht."
Zwischen ihnen herrschte eine nervös-abtastende
Gefühlssituation, in der jeder vorsichtig bemüht war,
den anderen nicht zu reizen. Ob der Alte aus früheren
bösen Erfahrungen schöpfte oder bloß die
Bibliothekarin und ihn ins Auge fasste, war ihm natürlich
nicht klar. Aber so wie er die Gesamtlage einschätzte, durfte
Willi diese Äusserung wohl in erster Linie auf sich beziehen.
Ein Privileg, das ihm leichtes Unbehagen verschaffte.
Nun konstruierte er bereits den dritten Tag an einem
Blechverformungs-Werkzeug herum. Alle paar Stunden schlurfte der
Mann an seinem Tisch und blickte vorwurfsvoll auf die
Papierbögen, die Willi vollgezeichnet hatte.
"So war das gemeint!" äusserte er sich und wies auf eine
lächerlich primitive Handskizze, die er dem Österreicher
mit ein paar dürftigen Brocken der Erklärung hingeworfen
hatte. Der brütete vorerst einmal zwei Stunden über dem
Geschmiere, bis ihm halbwegs klar wurde, was der alte Praktiker
da, scheinbar ohne jede theoretische Vorbelastung, mit zittrigen,
ungelenken Fingern aufgemalt hatte. Wenn ihm ein halbwegs
vernünftiger Mensch nur fünf Minuten lang klipp und klar
erklärt hätte, worauf es ankam – er hätte die
Angelegenheit an einem Vormittag zu Papier gebracht. Leider
widerrief der Mummelgreis seine Anordnungen bei jedem Auftauchen
aufs neue, sodaß Willi am Ende überhaupt nicht mehr
spannte, was der Mann eigentlich wollte.
Und nun, am dritten Tag, nachdem er alles bis ins Detail
ausgearbeitet hatte, schüttelte der Australier wieder
mißbilligend sein Haupt und zog grollend von dannen.
Das war doch nicht möglich!
Der Österreicher war sich sicher, daß er jeden Satz des
Chefs wortwörtlich und genau verstanden hatte. Das Englische
bereitete ihm nicht mehr die geringsten Schwierigkeiten. Beim
Einschlafen ertappte er sich des öfteren, wie er komplizierte
Gedankengänge in der Fremdsprache abwickelte. Daran konnte es
nicht liegen.
Es lag auch nicht an fehlendem technischen Verstand seinerseits,
oft genug hatte er dies nun schon beweisen können. Man konnte
von ihm, dem Neuling auf dem Gebiet des Werkzeugbaues,
andererseits doch nicht erwarten, daß er die
Spezialkenntnisse dieser Branche aus dem Ärmel
schüttelte. Man mußte ihm doch ein wenig an die Hand
gehen!
Diese stumpfe Verständnislosigkeit begriff er einfach nicht.
Selbst ein jahrelanger Experte auf diesem Gebiet hätte einige
Wochen zur Einarbeitung gebraucht...
Mit einem Schlag ging ihm nun ein Licht auf, verstand er, warum
Teddy, der sich immerhin seit eineinhalb Jahren in dieser Firma
mit Detailarbeiten beschäftigte, nicht selbst die
Entwürfe anfertigte.
Er wußte genau, daß es mit dem Alten kein Auskommen
gab, eine vernünftige Zusammenarbeit unmöglich war!
Lieber gab er sich mit dem niedrigeren Gehalt eines
Detailzeichners zufrieden. Deshalb hatte man ihn, Willi den
Austrian, wohl auch so rasch eingestellt. Mit ihm konnte man das
Experiment risikolos wagen.... Er war ja nur ein Einwanderer.
Freitag Nachmittag, so eine Viertelstunde vor Arbeitsschluß,
brachte er die nun komplett ausgeführte Konstruktion in das
Büro des Ingenieurs.
Der beachtete die Zeichnung überhaupt nicht, ließ sie
einfach achtlos liegen und fing sogleich zu sprechen an: "Was ich
noch sagen wollte..." Näselnd und hochmütig zog er die
Stimme durch das Riechorgan. "Ich muß Ihnen leider
mitteilen...äh, im Auftrag Mr.Millers..., äh, daß
Sie mit achttägiger Kündigungsfrist entlassen sind!"
Dem Österreicher, eben noch halbwegs gutgelaunt, sank das
Papier aus der Hand. Sekundenlang stand er wie versteinert da.
Plötzlich wurde er krebsrot im Gesicht – eine maßlose
Empörung ergriff von ihm Besitz, eine bisher noch nie erlebte
Wut rumorte in seinem Bauch, daß er vermeinte, er müsse
mit den Fäusten zuschlagen, um sich Luft zu machen.
Das hatte er nicht erwartet, daß man ihn so mirnichts
dirnichts an die frische Luft setzen würde!
So, als ob er ein aussätziger Kranker wäre, den man
möglichst rasch aus dem eigenen Bereich entfernen
mußte!
Knurrend stieg die Frage aus seiner Kehle: "Und warum, wenn ich
fragen darf?"
"Oh – Mr.Miller geht bald auf Urlaub, sechs Monate lang,
anläßlich seines 50. Dienstjahres bei der Firma. Nun,
und ich selbst bin ebenfalls bald auf Ferien. Und Sie besitzen
noch zuwenig Erfahrung."
"Das habe ich doch schon bei meiner Vorstellung erwähnt, habe
meine bisherigen Arbeiten gezeigt, habe euch alles genau
erklärt! Ihr hättet doch beurteilen können
müssen, ob ich zu der geplanten Beschäftigung fähig
bin!
Oder glauben Sie vielleicht, ich bin ein Vollidiot?"
Der smarte Mann schwieg.
"Also, was ist der wahre Grund der Kündigung?
Der w a h r e?" Brutal stieß der junge Mann die Frage
hervor, blickte den lässig im dunkelblauen Anzug vor ihm
Sitzenden haßerfüllt an. Er verlor jeden Respekt vor
den Leuten hier. Nun stand er wieder auf der Straße,
mußte nochmals von vorne anfangen. Ein weiterer Geld- und
Zeitverlust, den er sich nicht leisten konnte.
Endlich bequemte sich der Australier zu einer näheren
Erläuterung: "Well, Mr. Miller kann sich mit Ihnen nicht
verständigen – wie es eben manchmal so mit den Neuaustraliern
ist!" Ironisch grinsend brachte er den Nachsatz genießerisch
über die Lippen.
Offenbar gefiel ihm die Situation. Sicherlich war ihm auch nicht
entgangen, daß der Österreicher in relativ kurzer Zeit
das Vertrauen von zumindest drei Personen seiner unmittelbaren
Umgebung gewonnen hatte...
Jetzt vermochte sich Willi nicht länger zu beherrschen, er
riß seinem Vorgesetzten den Bleistift aus der Hand, wollte
ihm beweisen, daß etwaige Mißverständnisse
sicherlich nicht nur auf sein Konto gingen. Hier lag die
ungeschickte Skizze, da der von ihm verfertigte Entwurf. Es lag
auf der Hand, daß sich die nun einwandfreie Konstruktion und
der Entwurf völlig widersprachen.
"Was wollen Sie noch mehr? Kann ich etwas dafür, wenn Mr.
Miller so zerstreut ist?" fragte er den Ingenieur.
"Alright!" gab ihm der nur zur Antwort. So, als ob er einen
lästigen Dreck zur Seite schieben wollte. "Es ist bald
fünf Uhr!"
Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr, Made in W.Germany. "Ich
muß gehen." Sprach's und verduftete schleunigst.
Voll Empörung über die geringschätzige,
erniedrigende Behandlung, kochend vor Zorn, stürmte Willi ins
Freie hinaus, um sich zu beruhigen. Nach minutenlangen,
pausenlosen Auf- und Abgehen kehrte er schließlich in das
Büro zurück.
Doch die Kollegen nahmen seine Erregung natürlich wahr und
erkundigten sich nach der Ursache. Betreten schwiegen sie.
"Ich glaube nicht, daß sie dir eine faire Chance geboten
haben", meinte Teddy Blacke schließlich.
"Was wirst du jetzt tun?"
"Das kann ich dir genau sagen", antwortete Willi. "Wenn ich nicht
binnen zwei Wochen einen neuen Job finde, haue ich aus diesem
verfluchten Land ab!"
Es wäre schade gewesen, hätte der junge Mann diese seine
Absicht wirklich durchgeführt. So aber stand ihm ein Erlebnis
bevor, das ergreifender, schöner und unvergesslicher nicht
gedacht werden kann. Ein Erlebnis, von dem der nun junge Mann noch
viele, viele Jahre später sagen würde: Alles was mir
sonst in dieser Periode des Lebens untergekommen ist, all das
Schwere, das Heitere, die echte Männerkameradschaft im Busch,
das Tal der Erniedrigungen, das ich durchschritten – nichts
zählte so sehr, nichts brannte sich so unauslöschlich in
meine Seele ein...
* * *
Eine so vergnügliche Zeit, wie die letzte Arbeitswoche bei
der Blechfabrik, hatte Willi in Australien selten erlebt. Er
machte sich einen Heidenspaß daraus, den Herrn Ingenieur
aufzuziehen, wo er nur konnte. Im übrigen verrichtete er nur
mehr die notwendigsten Handgriffe und unterhielt ansonsten seine
Kollegen mit übermütigen Einfällen.
So begab es sich etwa, daß nur die vertrocknete alte Jungfer
und er das kleine Büro teilten.
An der Wand hing ein farbenprächtiges Kalenderblatt, das eine
klassische Ballettszene darstellte: ein blondgelockter
Jüngling kniete vor der holden Angebeteten und breitete
verlangend die Arme nach ihr aus. In die Stille des Nachmittags
hinein stöhnte nun Willi urplötzlich inbrünstig
auf: "Oh, wie ich dich liebe!"
Die arme Miss, die mit dem Rücken zu ihm saß, kreischte
darob auf, erschrack ganz fürchterlich und stieß bei
der Gelegenheit das Tusche-Fäßchen um, sodaß sich
eine schwarze Spur quer über das Zeichenbrett zog.
Aus angstgeweiteten Augen starrte sie Willi an wie ein Gespenst.
Gleichmütig wies der auf das Bild und meinte theatralisch:
"Liebesszene..."
"Oh God, und ich dachte schon, Sie haben einen Liebeskoller",
gestand die Miss erleichtert. Seufzend setzte sie hinzu: "Man
hört ja soviel von den Gewalttaten der Einwanderer – ich
wollte schon um Hilfe schreien!"
Befriedigt stellte der Österreicher fest, daß er die
Wirkung seiner Wortwahl genau vorauskalkuliert hatte. Soweit
kannte er sich also in der Mentalität der Australier aus.
War er anfangs übereifrig bemüht gewesen, alles sorgsam
und schnell auszuführen, verlegte er sich jetzt darauf, den
Ingenieur und Vorgesetzten durch betont zur Schau gestellte
Lässigkeit und geschickte Fangfragen zeitweilig völlig
aus dem Konzept zu bringen.
So verging auch diese Woche.
Abends stieg er zuhause soeben die Treppen hinunter, als die
"Dame" von nebenan, in der Halle stehend, einen Brief las.
"Oh, Mr.Hoeger!" rief sie, "Können Sie für mich eine
halbe Stunde erübrigen?" "Aber bitte, gerne!" erwiderte er,
der sich gerade in Richtung Chinesisches Restaurant absetzen
wollte.
Ob er ihr helfen wolle, ein Möbelstück bei einer ihrer
Freundinnen umzustellen? Mit ihrem Wagen fuhren sie in eine der
besten Wohngegenden Melbourne's und hielten vor einer eleganten
Villa. Etwas unbehaglich zumute, folgte Willi seiner Fahrerin in
das Haus, das von drei Frauen bewohnt wurde.
Aber was für welchen!
So etwas Megärenhaftes, eingefallen Bleiches, mit
tiefschwarzen Augenrändern und knallroten, krallenartigen
Fingernägeln Versehenes hatte der naive junge Mann in seinem
fünfundzwanzigjährigen Leben noch nicht zu Gesicht
bekommen. Aus brennenden schwarzen Augen starrten die drei Medusen
Willi an, der sich verlegen unter ihren Blicken wand.
"Eine Szene, wie aus einer Bühnendekoration zu Dantes
'Unterwelt' ", schoß es ihm durch den Kopf.
"Das sind Künstlerfreunde von mir", hörte er seine
Bekannte sagen. Ja, das mochte sogar stimmen... An den Wänden
hingen Fotos halbnackter Weiber, und unter der gläsernen
Tischplatte lugten Portraits männlicher Schauspieler
hervor.
Benommen nahm er diese Eindrücke wahr. Eine Rothaarige, die
annehmbarste der vier Frauen, bot ihm ein Gläschen Kognak an,
das er hastig hinunterstürzte. Dann ging es in ein
Schlafzimmer, wo er auf Wunsch der Damen einen schweren Holzkoffer
unter einem Bett hervorzog, während die Megären das
Gestell hochhoben.
Die ganze Angelegenheit entwickelte sich für ihn immer
geheimnisvoller und undurchsichtiger. Alle vier Weiber verfielen
in ein Gezänke, das sie mit Slangausdrücken so
garnierten, daß er dem Redefluß nicht folgen
konnte.
"I could'nt care less!!" "Ist mir völlig egal!!" Wohl an die
zehnmal stieß die Älteste, anscheinend die Inhaberin
der Wohnung, diese häufig gebrauchte Redewendung in einer
häßlichen, abstoßenden Stimme hervor. Nun
saß sie in einen knallroten Schlafmantel gehüllt, die
Oberschenkel frei, unverhüllt und überkreuzt, auf einem
Stuhl und schimpfte auf die Nachtklubsängerin ein. Willi
wußte überhaupt nicht mehr, was er von der Situation
halten sollte. Er versuchte sich langsam gegen den Ausgang hin
abzusetzen, denn er hegte momentan nur den einen Wunsch: raus von
hier! Im Wohnzimmer setzte er sich unaufgefordert nieder, da die
vier Damen ihren Wortwechsel noch nicht beendet hatten. Er
versuchte die Siamkatze auf dem japanischen Hocker neben ihm zu
streicheln, doch die biß ihm in den Finger. Die älteste
der Medusen hatte dies flugs erspäht. "Sie mag keine
Ausländer!" äusserte sie bissig.
Er hatte richtig gehört: 'Ausländer' und nicht 'Fremde'
hatte sie formuliert. Dies kam ihm nicht sonderlich gastfreundlich
vor.
Langsam stieg in ihm der Verdacht hoch, seine Person sei der Stein
des Anstoßes in dieser hitzigen Diskussion: Sollten sie
vielleicht jemand anderen erwartet haben? Vielleicht einen
kräftigen, flotten jungen Mann, der sie alle Vier...? Der
Gedanke schien verrückt.
Nun glaubte er, herausfinden zu können, wovon sie
sprachen.
"Ob er uns helfen kann?"
"Ich glaube kaum!"
"Sieht nicht so aus, aber..." – "Warum ist er mitgekommen?"-
"...Bin ganz abgebrannt..."
In diesem Tonfall ging es weiter. Zum Teufel, wobei oder womit
sollte er den Weibern denn helfen? In der Liebe? Oder mit Geld?
Oder in beidem?" Jetzt sprachen sie offen über ihm. Wenn er
der schnellen Wechselrede nur besser folgen könnte!
"Was geben wir ihm als Belohnung? Ein paar
Süßigkeiten?"
"Nein, was der braucht, ist ein kleiner, süßer Cheese
Cake...!" rief die Rote dazwischen.
Ihm wirbelte es im Schädel: Cheese Cake? Käsekuchen? Ja
um Himmels Willen, was sollte er gerade mit einem Käsekuchen
anfangen? Wie er die Sache auch drehte und wendete, er kam zu
keiner befriedigenden Antwort.
Erst viel, viel später kam er hinter des Rätsels
Lösung: Wenn ein Girl eine raffinierte Strip Tease-Position
einnimmt – dann nennt man dies Cheese Cake. Weil es so
süß aussieht!
Also hatte er sich damals nicht getäuscht. Die vier
Kulturträgerinnen waren wirklich so – gewöhnlich -
gewesen, wie es den Anschein gehabt hatte...
* * *
Ein unerwarteter Brief aus der Gegend um Sydney erinnerte Willi
Höger an zwei Jugendfreunde, die nun dort ansässig
waren. An Paul, bereits verheiratet, der ihm das ermutigende
Telegramm nach Salzburg gesandt hatte.
Und an Anton Melzer, der sich noch im Stande eines Junggesellen
befand, der zwar nach Paul, aber noch vor Willi den weiten Weg in
das Land der Verheißung angetreten hatte. Nun teilte er in
dem Brief mit, daß er schon noch zu Geld kommen werde,
"...denn meine Pferde laufen ein, verlaß dich darauf!"
Verwundert schüttelte Willi den Kopf und las weiter: "Damit
du siehst, wie lustig es bei uns zugeht und wie ich nun aussehe,
schicke ich dir einen Schnappschuß vom letzten
größeren Österreicher-Fest in Banston."
Tatsächlich, hier im Umschlag steckte ein Foto. Typisch, der
Anton!
Unverkennbar vierschrötig untersetzt, leicht tolpatschig,
hopste er da am Arm einer um einen halben Kopf größeren
Partnerin daher, die Willi zwar nicht ausgesprochen hübsch
fand – aber Toni hatte sich noch nie sonderlich um das Aussehen
seiner diversen Partnerinnen gekümmert.
"Du hast dich wohl kaum verändert", dachte er. Doch
plötzlich stutzte er. Gleich neben Anton, ziemlich groß
im Bild, ging ein Mädchen auf die Kamera zu, dessen Anblick
Willi Höger sogleich magisch fesselte.
Um besser zu sehen, sprang er auf und trat zum Licht. Sie war mit
einer langen weißen Hose bekleidet, trug einen adretten
Pullover, und überhaupt – kam sie ihm wie die
Verkörperung zarter Weiblichkeit vor. Die Schulterpartie lag
frei und zeigte graziöse Grübchen, lange Vertiefungen
zum Halsansatz, der durch eine prächtige schwarze Mähne
verdeckt wurde, die den Kopf des Mädchens wellenförmig
umrahmte. Zwei seltsam große, runde Augen blickten ein wenig
traurig auf das Gewühl der Tanzenden.
Auch das kleine Schmollmündchen wirkte melancholisch, was
selbst der einzige Schmuck, in Form einer einfachen, engen
Halskette, nicht mildern konnte.
Ganz versunken in die Betrachtung dieses Bildes, legte sich Willi
geistesabwesend über das Bett in seinem kargen Zimmer und
versuchte sich vorzustellen, was dieses Mädchen (oder war es
eine verheiratete Frau?) wohl treiben mochte, woher sie stammte
und warum ihrem Gesichtsausdruck so ein Zug der Wehmut, ja eines
tiefen Kummers anhaftete, der garnicht in die fröhliche
Gesellschaft um sie herum passte.
Je länger er das Stückchen glänzenden Kartons in
seiner Hand betrachtete, desto intensiver wurde sein Verlangen mit
diesem Wesen zu sprechen, ihr ein paar nette Worte zu sagen.
Mutlos steckte er das Foto wieder in den Briefumschlag
zurück. Es war ihm nicht bekannt, wie sie hieß, noch wo
sie wohnte. Und selbst wenn er es wüßte – was
hätte es für einen Sinn?
In Kürze würde er wieder meilenweit laufen müssen,
bis er -vielleicht – eine andere Stellung fand.
Gesetzt der Fall, dieses Mädchen wäre unverheiratet -
was könnte er ihr schon bieten?
Nichts! Es war schon schwierig genug, allein durchzukommen!
So wühlte er im trüben Schlamm der Resignation, der
Enttäuschung über sich selbst und der augenscheinlichen
Aussichtslosigkeit der Situation. Er rührte solange herum,
bis dumpfe Blasen aufstiegen und wie Illusionen nacheinander
zerplatzten.
Seit Wochen hatte er seinen Eltern keine Nachricht mehr zukommen
lassen. Was sollte er schreiben? "Geht mir glänzend, verdiene
ausgezeichnet! Bin ein angesehener Bürger dieses Landes – mit
dem nächsten Brief schicke ich ein Bild meiner Verlobten
mit."
Ach was! Lieber unterließ er es, zu schreiben, als seinen
Eltern solche Lügen aufzutischen. Sollen sie ruhig ein wenig
Angst um ihn haben.
Nein, sagte er sich, ich werde jetzt nicht nach Europa
zurückkehren. Nicht, weil mich die Aussies fertig gemacht
haben! Mit diesem Gefühl möchte ich nicht heimkehren,
lieber gehe ich hier still und leise vor die Hunde...
Seit 4. Oktober kreiste nun der erste künstliche Satellit um
die Erde, Made in U.S.S.R. Majestätisch war die kleine,
glänzende Kugel über das abendliche Firmament
Melbourne's hinweggeglitten, hatte Autos und Straßenbahnen
zum Stoppen gebracht, und Fußgänger in stummen Staunen
zu dem unbegreiflichem Wunder aufsehen lassen.
Ihn berührte das kaum. Wenn er nicht zufällig
während eines Abendbummels Zeuge dieses Sputnik-Zaubers
geworden wäre, er hätte sich wahrscheinlich kaum aus
eigenem Antrieb um diesen Anblick bemüht.
Wohl niemand in dieser Millionenstadt hatte von diesem
Weltraum-Forschungsprojekt der Sowjets gewußt oder auch nur
geahnt – außer Willi Höger, der bloody Migrant, der
jetzt wegen eines alten Trottels wieder arbeitslos durch die
Straßen irrte.
Möglicherweise erinnerten sich einige Freunde im Busch an
seine fantastische Geschichte mit den Hundeversuchen, weit hinten
in Sibirien. Wie hatten sie alle höhnisch gelacht,
ungläubig gelächelt!
"Jetzt habe ich wenigsten e i n e n Grund zum Lachen. Zu einem
kurzen und höhnischen Lacher", dachte er, faßte wieder
etwas mehr Vertrauen zu sich selbst, das ihm durch die anhaltende
Pechsträhne abhanden zu kommen drohte.
Noch weitere drei Wochen versuchte er sein Glück, jedoch
vergeblich. Dann, eines Abends, faßte er einen
Entschluß, eilte um 10 p.m. aufs Postamt und sandte an Anton
Melzer in Sydney-Banston ein Telegramm ab, worin er seine Ankunft
für Sonntag ankündigte.
Warum sollte er es nicht dort versuchen? Außerdem war er der
Stadt Melbourne ohnehin längst überdrüssig. Er
suchte seine nächstgelegenen Bekannten und Freunde auf,
verkaufte noch sein Radiogerät, packte die Koffer und bestieg
um sechs Uhr abends den Spirit of Progress.
Melbourne lag hinter ihm.
Victoria würde er bald verlassen haben.
Noch in derselben Nacht rollte er auf den Schienen
Neusüdwales dahin. Wiedereinmal hatte er alle Brücken
hinter sich abgerissen.
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