GANGAN VERLAG Lieferbare Bücher Buchladen Elektronische Bücher Magazine GANGAROO

4. Kapitel: Melbourne


Ratata – ratata – ratata, endlos klickerten die Räder auf den Schienenstößen.
Werner Benke und Willi Höger hatten ein Abteil für sich allein gefunden, Gott sei Dank, bei dem umfangreichen Gepäck, das sie mit sich führten. Da Gudrun, Werners Zukünftige (so sicher war er sich über diesen Punkt allerdings nicht), ihn von ihrer Abreise aus Bremerhafen informiert hatte, begleitete er nun Willi mit Sack und Pack nach Melbourne. Leichte Bedenken verursachten ihnen nur die insgesamt neun umfangreichen Koffer, die sie mit sich schleppten.

Ihre Gespräche kreisten zur Zeit natürlich nur um einen Punkt: Ihre Zukunft. Es mußte, und würde weitergehen - irgendwie.
Vorsorglich hatte Willi jedoch einen ausgefüllten Fragebogen an das "Arbeitsamt für Gehobene Berufe" gesandt, den er sich bei einem gelegentlichen Besuch Melbourne's besorgt hatte. Der vorbeifliegenden Landschaft Victoria's schenkten sie kaum mehr Beachtung, jedoch Reminiszenzen an das Buschleben tauchten auf. "Erinnert du dich an den kleinen Australier, den wir total voll vor der Pub angetroffen haben, als wir mit Hans und Eddi von Albury nach Mt. Beauty fuhren?... Na, dem nur noch auffiel, daß Hans zur Feier des Tages die Bartstoppeln entfernt hatte?"
"Ja, ich erinnere mich sehr gut an ihn. Was ist mit ihm?" Werner grinste in sich hinein: "Der hat mir mal während einer Arbeitspause erzählt, daß er Waise sei und von der Heilsarmee großgezogen worden war. Haha! Ich muß lachen! Die Hauptbeschäftigung der Zöglinge sei das Singen und Beten gewesen. Die Kinder erhielten natürlich kein Taschengeld. Um seine kleinen materiellen Wünsche befriedigen zu können, verfiel der Knabe auf einen Trick, der ihm jahrelang ein gesichertes Einkommen bescherte: Wenn er drei Penny für die Kirche spendete, entnahm er der Opferschale mit einem raffinierten Griff zwei Shilling! Originell, was?"
Werner blinzelte seinem Freund verschmitzt zu. "Wie man's nimmt", antwortete der gedehnt. "Aber hör' mal zu, ich hab' eine bessere Geschichte auf Lager, die mir die Volksseele genauer zu beschreiben scheint, vor Beginn der Masseneinwanderung aus Europa natürlich." Höger lehnte sich genießerisch zurück, und begann zu erzählen.
"Da gab es vor etlichen Jahren einen Australier, der bei unserer verflossenen Firma – Ehre sei ihrem Angedenken – am Steinbrecher jobbte. Eines Tages nun wollte er den gastlichen Verein verlassen und wartete nur noch auf die Auszahlung der Stehwoche. Zufällig fand er heraus, daß die Firma verpflichtet ist, das Lohnsäckchen direkt an den Arbeitsplatz zu bringen. Die Beamten fuhren also mit dem schweren 'Panzerwagen', dem Geldtransporter, von Mt. Beauty herauf.
Der Digger saß nun bei dessen Eintreffen gerade auf einem Stein und wartete. Nun mußt du dir das Bild mal plastisch vorstellen: Lässig zog er seine Taschenuhr heraus, blickte auf das Ziffernblatt, steckte sie ruhig wieder ein und sagte nur nonchalant 'Overtime!', denn die Auszahlung sei eine Viertelstunde zu spät, nach Arbeitsschluß, eingetroffen.
Fluchend fuhren die Beamten nach Mt. Beauty zurück und berechneten den neuen Auszahlungsbetrag, gleich mit einer beträchtlicher Zeitvorgabe. Nach zwei Stunden oder mehr, nahm der Aussie, der sich unterdessen neben dem Stein ins Gras gelegt hatte, gnädig das Geld entgegen.
Und heute? Heute darf sich niemand mehr solche Mätzchen leisten. Und warum? Weil hunderttausend fucken Migrants - Italians, Germans, Austrians – bereit sind, die gleiche Arbeit bei vernünftiger Bezahlung zu tun. Wenn man nur ein wenig Grütze im Schädel hat, weiß man nach derartigen Schilderungen, warum die Regierung die Einwanderer 'rüberholt – mit gezielten Kampagnen. Wir persönlich, wir Europäer, sind denen allen völlig egal, die mögen uns ja garnicht, mein lieber Werner. Am liebsten möchten sie auf ihrer öden Insel, inmitten ihrer eigenen Inzucht, selig werden. Aber weil es wirtschaftlich untragbar ist, und die Burschen hier mit den aufstrebenden Asiaten und sonstigen konkurrierenden Ländern nicht mehr mitkommen, durften wir, die Million die bisher eingewandert ist, unsere Füße auf den staubigen Boden ihres Paradieses setzen.
Ein paar vernünftige, einsichtsvolle und weitblickende Politiker in Australien haben erkannt, daß es notwendig und äußerst dringend ist, die träge Mentalität umzupolen und dem langweiligen 'In die Sonne blinzeln' ein Ende zu bereiten. Wenn auch einige hunderttausend Europäer, einmal gelandet, bei diesem Prozeß buchstäblich zerrieben werden, seelischen und körperlichen Strapazen, bis an die Grenze der Leidensfähigkeit ausgesetzt sind... Wen kümmert's, wenn sie vor Sehnsucht nach einer Lebensgefährtin oder vor Heimweh krank werden? Verrückt werden oder Selbstmord begehen? Die vielen Reibungsflächen werden auch den störrischsten Aussie abschleifen und zurechtbiegen – und das eigentliche Ziel ist wenigstens zum Teil erreicht!"
Der junge Mann hatte sich so richtig in Rage geredet. Pausenlos und mit ständig steigender Lautstärke argumentierte er vor einem unsichtbaren Publikum, aber nur sein Freund Werner hörte ihm zu. Willi griff in seine Sakkotasche: "Willst du auch eine, Werner?" "Nee, Dankeschön. Nach diesem Gefühlsausbruch hast du aber eine nötig!" Willi trat auf den Gang hinaus und entflammte ein Streichholz. Die Scheibe des Waggonfensters ließ sich nicht öffnen. Er blickte auf die flache Landschaft hinaus, deren Eintönigkeit nur gelegentlich durch Eukalyptusbäume gemildert wurde.
Aus dem Nebenabteil schlüpfte ein blonder Junge heraus, den Willi sogleich als Europäerkind einschätzte. "Bleib hier, Georg. Geh' nicht zu weit weg!" rief eine Frauenstimme auf Deutsch. "Ja, Mutti!" antwortete der etwa siebenjährige Junge folgsam und stellte sich neben Höger, um gleichfalls durch das Fenster zu gucken. "Woher kommst du denn?" wollte Willi wissen, sog bedächtig an der Zigarette und blickte auf das Kind nieder. Überrascht sahen ihn zwei blaue Augen an. "Aus Norddeutschland, Hannover", stand der Junge unsicher Rede. Vorsichtig versuchte er den Fremden zu taxieren, der sich seiner Muttersprache bediente. "Ich heiße Willi und stamme aus Österreich. Weißt du, wo das liegt?" "Ja", gab Gernot zu Antwort, "dort, wo die hohen Berge sind, im Süden."
"Und du kommst mit deiner Mama geradewegs aus Bonegilla, nehme ich an?" forschte er weiter. "Ja, ich fahre mit meinen Eltern nach Adelaide. Dort bekommen sie Arbeit."
Der kleine Knirps gefiel ihm, klug und aufgeweckt, wie er war, nur ein bißchen verschüchtert durch die ungewohnte Umgebung. Und nach zehn oder zwanzig Jahren wird er wahrscheinlich als waschechter Australier dastehen, der 'bloody' und 'fucken' gut anzuwenden weiß und womöglich verächtlich auf seine europäischen Eltern herunter sieht.
"Wie gefällt dir die Landschaft da draussen?" forschte Willi weiter und deutete mit der Zigarettenspitze zum Fenster hinaus. Der Kleine taute bereits etwas auf: "Ach Mensch, alles so öde und verlassen." Der Junge hielt einen Moment inne, um dann leise hinzuzufügen: "Zuhause hat es mir viel besser gefallen."
"Komm, gehen wir zu deinen Eltern", forderte ihn Willi mit sanftem Unterton auf, der nichts mit österreichischem Akzent zu tun hatte. "Es wird dir schneller gefallen als uns Erwachsene, das große Australien", dachte er dabei.
Höger stellte sich dem Ehepaar vor. Außer Klein-Gernot gab es noch ein vierjähriges Mädchen, das gut eingehüllt in eine Decke, auf der Sitzbank schlummerte. Der Mann, von Beruf Maler und Anstreicher, war von Bonegilla nach Südaustralien vermittelt worden. Sichtlich drückte die beiden Eltern die Sorge um die unmittelbare Zukunft. Sie erbaten von Willi Informationen über dieses und jenes, ihr Wissensdurst kannte keine Grenzen. Er versicherte dem Mann, daß sein Beruf gefragt war und er Arbeitslosigkeit kaum zu befürchten habe. Das Mienenspiel der Frau drückte sofort eine spürbare Erleichterung aus.
"Wissen Sie", überfiel sie Willi mit einem Wortschwall, der die Erregung verriet, "eine Bekannte von mir in Deutschland hat das Schwarze an die Wand gemalt: 'Glaubt ihr denn, die Australier empfangen euch mit offenen Armen? Bleibt lieber hier, ihr werdet euch schön täuschen', hat sie gesagt." Die kleine mollige Frau sah Willi flehentlich an, er konnte diesen Ausdruck in ihren Augen nicht übersehen. "Nicht wahr – die Leute heißen uns willkommen, sind doch froh, wenn wir zu ihnen kommen?"
Warum sollte er der Ehefrau und Mutter das Herz noch schwerer machen, als es ohnehin schon war? So bemerkte er nur kurz: "Natürlich, Sie brauchen da keine Angst zu haben. Die Australier werden Sie freundlich behandeln." Da lebte die Frau förmlich auf und begann überschwenglich von ihren Zukunftsplänen zu schwärmen.
Die ersten Vororte von Melbourne tauchten auf. Leichter Regen setzte ein, der die Scheiben besprühte und damit das häßliche Westend, mit deinen geduckten, niederen Häusern, den zerfetzten und verrosteten Wellblechdächern, den abscheulichen Bretterverschlägen für die neuesten Autotypen im Hof, und der Wäsche, die dazwischen auf der Leine flatterte, hinter schemenhaften und verwischten Konturen verschwinden ließ. Beim Einfahren in den Kopfbahnhof goß es bereits in Strömen. Schöner Empfang, die beiden fluchten.
Nachdem sie ihre Habseligkeiten in der Gepäcksaufbewahrung untergebracht hatten, eilte Willi zuerst auf das Arbeitsamt, wo er bereits vorgemerkt war.
Werner Benke sträubte sich vorerst, den gleichen Weg einzuschlagen, verlockend zog ihn der Gedanke, Judith zu besuchen. Denn die Affäre mit Dorothy hatte ein plötzliches Ende genommen, als sie in einem Brief ankündigte, sie wolle ihn bei nächster Gelegenheit ihrer Mum vorstellen. Und das hieß schon etwas.
"Laß die Weiber wenigstens jetzt!" fuhr ihn Willi an. "Vielleicht finden die im Professional Employment Office auch für dich einen passenden Job. Los, komm mit!"
Pünktlich um 2 p.m. breitete er seine Unterlagen vor dem Interviewer aus. Zeugnisse, Arbeitsbestätigungen etc. entnahm er einer Plastikhülle, die er auf der Brust umgehängt trug. "Warum haben Sie, um Gottes Willen, Ihre vorige Arbeitsstelle verlassen?" warf ihm der ältere Australier besorgt vor. "Wir haben momentan große Schwierigkeiten die Leute in der Stadt unterzubringen."
Draussen ragten die Hochhäuser der City empor. Der Regen hatte nachgelassen und die Sonne stahl sich wieder zwischen den Wolkenbänken hervor, strahlte auf die Eineinhalb-Millionen-Stadt hernieder, deren Straßenlärm nur gedämpft bis zum neunten Stockwerk heraufdrang.
"Das ist garnicht das Wesentliche an der Angelegenheit", dachte Willi. "Ich sitze vor dir, damit du mir hilfst, eine neue Stelle zu finden. Daß ich bessere Arbeit leisten kann, als mit Krampen und Schaufel im Dreck herumzustochern, bis ich alt und grau werde, muß dir doch einleuchten".
Also schwieg er und blickte versonnen auf das Panorama der Stadt.
"Sie sind Österreicher...?" "Ja."
"Natürlich noch nicht naturalisiert, Sie sind ja erst vor einigen Monaten angekommen. Sie besitzen keine Australischen Facharbeiterpapiere?" hörte er den Mann fragen. Er enthielt sich jeder Antwort.
"Es wird schwer sein, eine Stelle zu finden. Ich weiß wirklich nicht, wie ich Ihnen helfen soll. Warten Sie, ich rufe die Firma Campbell an, die suchen einen technischen Zeichner." Er telefonierte kurz, schien aber ziemlich ratlos zu sein. "Leider!" meinte der Australier. "Nichts mehr zu machen. Wo wohnen Sie? Ich werde versuchen, etwas zu finden."
"Bin vor einer Stunde mit dem Zug in Melbourne eingetroffen, ich kann Ihnen noch keine Adresse angeben!" Willi notierte sich die Telefonnummer des Büros.
"Help yourself!" meinte der Australier zum Abschied.
"Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott", dachte Willi resigniert und verließ den Raum. Draussen saß Werner, mit der Aktentasche auf den Knien, und wartete auf ihn. "Du, stell' dir vor – eine Frau hat mir eine Stelle in Aussicht gestellt. In einem Irrenhaus!"
"Was, als Patient??" blödelte Der Österreicher zynisch. "Nein, Blödmann, als Pfleger natürlich. Das sind so die Positionen, die auch Einwanderern jederzeit offenstehen. Und die man uns auch bereitwilligst anbietet. Ist ja klar, als Masseur keine Aussicht... Wartest du auf mich?" fragte er. "Habe nur noch eine Kleinigkeit zu erledigen."
"Na klar", antwortete sein Freund Willi. "Zwei Dinge sehe ich immer deutlicher: erstens, daß du bei Frauen unverdientes Glück hast. Und zweitens, daß die Aussichten, als nicht-britisches, nicht-naturalisiertes Subjekt, einen besseren Job zu finden... äußerst gering sind."
Um 4 p.m. desselben Tages war Willi, aufgrund einer Annonce in der Age, glücklicher Untermieter eines Zimmers in einem einstöckigen Haus, etwa zehn Minuten vom Zentrum der Stadt gelegen. Seine Hauswirtin stellte sich als resolute, kleine Person heraus, die mit einem Südländer verheiratet und vor Jahrzehnten aus Deutschland eingewandert war. Ihre Muttersprache beherrschte sie nur mehr gebrochen, doch Willi radebrechte ein wenig auf Deutsch mit ihr. Ihr Mann, etwas schwerfällig in seiner ganzen Art, vermochte sich kaum in der Landessprache auszudrücken und überließ seiner wesentlich gewandteren Gattin die Führung des Hauses, sowie die kleinen geschäftlichen Obliegenheiten.
Es waren, wie sich bald herausstellte, herzliche Leute ohne jede Falschheit. Die Frau sagte es immer gerade heraus, wann immer ihr an dem Gehabe der Mieter etwas mißfiel, denn Willi war nicht ihr einziger Untermieter.
Er einigte sich mit ihr auf zwei Pfund und zehn Shilling in der Woche, und schloß sich vorerst in seinem Zimmer ein, da er zum Umfallen müde war. Nur eine Tür mit Milchglasscheiben führte auf den balkonartigen Gang hinaus, der sämtliche Räume des ersten Stockwerkes miteinander verband. Ein hoher Baum im Hof veranlasste ihn schon in den frühen Abendstunden, das elektrische Licht einzuschalten. Zwischen den Möbelstücken blieb gerade ein schmaler Bewegungsraum frei. Die Einrichtung bestand im wesentlichen aus einem Kleiderkasten, dem sich das Bett anschloß. Gegenüber an der Wand lehnte eine Stellage für das Schuhzeug und eine Kommode mit Spiegel, die von Tellern und Haushaltszubehör überquoll.
Er zog den Vorhang vor die Mattglasscheiben und legte sich auf die Steppdecke. Das Gepäck konnte warten, Gerhard würde es von der Bahnstation abholen.
Morgen, dachte er, morgen laufe ich einfach die Straßenzüge entlang und klappere dort die Betriebe nacheinander ab. Er entnahm seiner Tasche den letzten Brief von Lilli aus Österreich. Immer wieder las er die Stelle, wo es hieß: "Du wirst es schon schaffen!" Diese kurze Bemerkung stimulierte eine starke Zuversicht in ihm.
Abgesehen von einigen einschlägigen Vorlesungen und wenigen praktischen Übungen an der Technischen Hochschule, besaß Willi nur weniges Know-how, das ihn zum selbständigen Konstrukteur befähigt hätte. Wohl aber langte seine bisherige Ausbildung für einen Zeichensaal, wie ihn die Bohrgeräte-Firma Mills Limited in Melbourne betrieb. Eine große Anzahl der dort Beschäftigten diente nur dazu, ein Repräsentativ-Büro aufzufüllen. Mills Ltd wurde durch amerikanisches Kapital gestützt und warf genügend Profit ab, um sich diesen Luxus leisten zu können. Ein sehr sozial denkendes und vor allem solide dastehendes Unternehmen also. In Anbetracht der dürftigen technischen Erfahrung unseres Helden und aller anderen Aspekte, vielleicht seine einzig reelle Chance in ganz Melbourne.
Mr. Hoeger, der junge Österreicher und nicht allzu gewandte Neuaustralier, schlang in den Morgenstunden des folgenden Dienstag einige Wurstbrote hinunter, trank eine Flasche Milch leer und machte sich dermaßen gestärkt auf dem Weg ins Ungewisse.
Die Götter waren ihm gnädig gesonnen.
Noch an den letzten Resten seines Frühstücks kauend, kaufte er an der nächsten Ecke eine Zeitung, überflog die Stellenangebote, und eine riesige Annonce besagter Firma stach ihm in die Augen.
"MILLS LTD: Spezialisten auf dem Gebiet 'Tiefbau- und Tunnelbohr-Geräte' – suchen erfahrene Werkzeugmacher".
In der Werkstätte Walla hatte er oft die Gelegenheit gefunden, solche Geräte in zerlegtem und montierten Zustand zu inspizieren und bei den diversen Reparaturarbeiten selbst Hand anzulegen. So beschloß er, zuerst bei diesem Unternehmen vorzusprechen. In der Flinder Street erwischte er sogar den richtigen Bus, und nach fünfzehn Minuten tauchte die imposante Fassade einer Fabriksanlage modernsten Stils auf. Ungefähr in der Mitte der mehrere hundert Meter langen Front, sah er eine Menschenmenge vor einem Portal warten, und er ging nicht fehl in der Annahme, daß sich hier das Personalbüro befand. Unverkennbar stammten die meisten der wartenden, kräftigen Burschen aus Südeuropa, wie Italien oder Griechenland.
Um acht Uhr fünfundvierzig öffnete sich der Eingang, die Bürostunden begannen. Man ließ sich auf Holzbänken nieder. Ein Angestellter befragte ihn als ersten, da er in der Nähe des einzigen Schreibtisches saß: "Was wünschen Sie?"
"Ich möchte mich erkundigen, ob eine Stelle für einen technischen Zeichner frei ist."
"Besitzen Sie ein Zeugnis über die Anerkennung als Australischer Facharbeiter?"
"Nein", antwortete Willi. "Aber ich habe bereits bei den Behörden angesucht." Ein wenig drauflos flunkern, konnte nicht schaden. "I am sorry", gab der Mann zur Antwort, "aber dann kann ich nichts für Sie tun!"
Das berühmte "I am sorry" war gefallen, es setzte den Schlußpunkt hinter ein abgelehntes Ansuchen. Es ist ein Zauberwort für die Australier, das alle persönlichen Ressentiments ausschaltet – man kann am Verziehen des Gesichtes und dem unsagbar klagendem Ton der Stimme, die tiefe Anteilnahme am Schicksal des Betroffenen heraushören...
Der Österreicher erfasste sehr rasch, daß die Erfüllung seines Begehrens nun sozusagen auf des Messers Schneide stand, unvermittelt platzte er heraus: " Aber ich studierte doch an einem technischen College – und verweise auf zwei Jahre Praxis in der Industrie... Sie können mich sicherlich verwenden!" Der Personalbeamte wurde unschlüssig. Was würde der nächste Augenblick bringen?
"Warten Sie hier, bis ich die anderen abgefertigt habe", bemerkte er schließlich mürrisch. Eine fifty-fifty Chance bestand also noch. Er beobachtete die Vorgänge rings um ihn.
"Ich bin Elektriker, Italiener."
"Haben Sie die australischen Facharbeiterpapiere?"
"Nein, aber meine italienischen Zeugnisse."
"I am sorry, aber wir nehmen nur Tradesmen!"
"Aber ich bin do...", das Wort erstarb dem Bewerber im Munde.
An die zwanzigmal dieselben Fragen, zwanzigfach die gleichen Antworten, dasselbe stereotype "I am sorry". Nur ein oder zwei Mann durften die Bewerbungen ausfüllen, saßen eifrig an den Bleistiftenden kauend da, dachten über englische Vokabeln nach, die ihnen nicht einfielen. Betrübt marschierte das Gros wieder davon.
"Und nun nochmals zu Ihnen!" "Wie ist das also, wieviel Jahre Praxis können Sie nachweisen?" Der junge Mann log das Blaue vom Himmel, erwähnte Firmen, in die er bestenfalls als Praktikant für einen Monat hineingerochen hatte und verdreifachte die Dauer seiner Erfahrungen.
"Gut", meinte der Mann, "ich rufe mal zuerst Ingenieur E. an!"
"Tu' das, lieber Mann, tu's, bevor du es dir nochmals überlegst", dachte Willi vergnügt und zugleich ungeheuer gespannt. Tatsächlich, er wurde aufgefordert, mitzukommmen!
Man führte ihn durch Korridore und durch Stiegenhäuser, überquerte Grünanlagen mit einem Tennisplatz am Rande, bis schließlich gegenüber die Sägedächer der Werkshallen glänzten. Das leise Gebrumm laufender Maschinen drang herüber. Sein Herz fing schneller zu schlagen an, was für ein steiler Aufstieg, wenn er hier Erfolg hatte! Die Seitenwände der Korridore, die er eben durchschritt, wiesen Vertäfelungen aus Mahagoniholz auf, die Fußböden waren mit Teppichen ausgelegt, und die Handklinken der milchglasgefüllten Schwingtüren wurden von emsigen Putzfrauen auf Hochglanz poliert. Leichte Benommenheit befiel den jungen Österreicher, als er an der Seite des Begleiters bei gutgekleideten Mitarbeitern vorübereilte, die ihn samt und sonders neugierig anzustarren schienen. Noch vorige Woche hatte er im Busch die Toiletten gereinigt!
Man war in der Ingenieurabteilung angelangt, die zusammen mit dem Zeichensaal eine Einheit bildete. Man bedeutete Willi, Platz zu nehmen. In seinem Regenmantel fühlte er sich äußerst unbehaglich. Außerdem befürchtete er die Sesselpolitur mit der Nässe zu beschädigen. Deutlich konnte er sehen, wie die Blicke der Schreibdamen ihn zwischen den Zeilenvorschüben rasch taxierten. Linkisch und unsicher betrachtete er die Umgebung. "Mit Jack, dem Quartalsäufer würde ich in momentan lieber zusammen sein", überlegte er, während er mit unruhigen Fingern an seinem Mantel nestelte.
Ein distinguiert aussehender Gentleman um die Fünfzig kam auf ihn zu. Weiße Strähnen durchzogen in der Schläfengegend seine dunklen Haare.
"Nun erzählen Sie mir bitte, was Sie zu uns geführt hat!" forderte er Willi auf, nachdem sie sich die Hände geschüttelt hatten. Der berichtete in kurzen Zügen alles Wissenswerte, angefangen von der Abreise in Europa, bis zum Buschaufenthalt. "Und warum haben Sie die letzte Beschäftigung in der Werkstätte verlassen?"
"Mir gefiel diese Tätigkeit nicht", gestand Willi und erzählte von seinen Aufgaben, wie Schraubenfestziehen und Auskehren der Halle.
"Das kann ich gut verstehen, das war wirklich keine Arbeit für Sie". Wohlwollend und zugleich erwartungsvoll sah er den jungen Mann an. Mit einem treuherzigen "Entschuldigen Sie bitte, ich habe keine Aktentasche", fischte er unter seiner Kleidung das Plastiksäckchen mit den Zeugnissen hervor. Der Chef des Konstruktion vermochte kaum ein Lächeln zu verbeißen. Höger übersetzte ihm den Inhalt. Aufmerksam hörte der Australier zu und stellte nur gelegentlich eine Zwischenfrage. Am Ende drückte Willi verschämt herum und gestand, daß es mit den Praxisjahren nicht ganz stimme. "Ich habe das nur gesagt, damit ich überhaupt zur Unterredung vorgelassen werde." Er merkte sofort, daß seine Freimütigkeit die Wirkung nicht verfehlte. "Well", meinte der Chef freundschaftlich, "nehmen Sie an diesem Schreibtisch Platz. Ich schicke Ihnen noch Mr. James Hartley, den Chef der Mechanischen Abteilung des Konstruktionsbüros."
Während Willi Höger den obersten Boss dieses Büros unbeeinflusst für einen amerikanischen Geschäftsmann gehalten hätte, war der Mann, der nach einigen halblaut gewechselten Worten auf ihn zutrat, unverkennbar ein Abkömmling dieses Landes: hochaufgeschossen, mager und mit leicht abstehenden Ohren versehen. Nichtsdestoweniger fanden sich die zwei ungleichen Männer vom ersten Augenblick an sympathisch. Mitten in seinen Darlegungen, die er nochmals vom Anfang bis zum Ende durchhecheln mußte, trat eine der Damen mit einer Schale Tee an ihren Vorgesetzten heran und erkundigte sich, ob auch Willi eine Erfrischung haben wolle.
"Mit Zucker, ohne Zucker? Mit Milch oder ohne?" Ob er ein Stückchen Keks dazu essen wolle? Das gemeinsame Zeremoniell des Teetrinkens vertiefte das gegenseitige Verstehen fast augenblicklich und rief in Willi eine Art Zugehörigkeitsgefühl zur Firma hervor. Als ob er bereits dem Stab der Ingenieure angehörte. Mr. Hartley erhob sich und zog nach einigem Überlegen aus einem Stoß Zeichnungen einen feinsäuberlich auf Linnen, in Bleistift dargestellten Konstruktionsteil, hervor.
"Sehen Sie sich das Ding mal an. Glauben Sie, daß Sie das zeichnen werden können?" Daß er diese Präzision der Ausführung anfangs nicht erreichen würde, war Willi bewußt und er verhehlte dies auch keine Sekunde. Geschmeichelt über dieses Lob, antwortete der Ingenieur: "Das macht vorerst nichts." Der junge Mann studierte nun das dargestellte Blechteil und vermeinte, das Werkstück bereits irgendwo gesehen zu haben. Krampfhaft dachte er nach. Natürlich! An einem Preßluft-Bohrgerät in der Walla-Werkstätte, bei Instandsetzungsarbeiten!
Mit großer Selbstverständlichkeit erklärte er dem erstaunt aufhorchenden Australier, daß es sich dabei um einen Konstruktionsteil des Gabelträgers einer Bohrkanone handle.
"Sie erkennen es? Sie erkennen es??" Hartley war außer sich vor Freude und Überraschung. "Ja woher denn?" Willi gab Auskunft, und sogleich kam die nächste, entscheidende Frage: " Wann können Sie bei uns anfangen?"
"Von mir aus jetzt gleich", dachte Willi, innerlich jubelnd vor Glück. Artig gab er jedoch zurück: "Falls es Ihnen recht ist – morgen schon, Mr. Hartley!"
"Well, also morgen!" James Hartley drückte ihm fest die Hand.
Der Regenguß hatte inzwischen an Stärke zugenommen, aber unseren jungen Helden störte das garnicht. Vom nächstgelegenen Bus-Stop aus hätte er die City in wenigen Minuten erreicht, doch im Taumel seines Überschwanges schritt er die lange, schnurgerade Straße entlang, die kein Ende zu nehmen schien, jubelnd, mit einem unsagbaren Glücksgefühl, ja Triumphgefühl in seinem Herzen.
Die Schuhe plantschten durch die Pfützen – aber er merkte es kaum, ununterbrochen sang es in seiner Brust: Geschafft! Geschafft!! Er hatte unerhörtes Glück gehabt, gleich beim ersten Versuch hatte es geklappt. Weit hinter ihm lag nun bereits das Werk, Hafeneinrichtungen türmten sich zur Linken. Von Rost angefressene, schwerbeladene Frachter dümpelten im Wasser. Lagerhäuser. Kaum nahm er von der Umwelt Notiz. In einigen Meilen Entfernung ragten dunstverhangen die Wolkenkratzer der City empor – noch weit war der Weg, doch er wollte vorerst seine Freude und Begeisterung abreagieren.
Ein rußverschmierter Holzschuppen tauchte vor ihm auf. Der Regenfall nahm zu, laufend erreichte er das schützende Dach.
Ein alter Mann verbrannte darunter Gummireste. Der junge Mann bat, das Unwetter hier abwarten zu dürfen. "It's allright", meinte der Alte, kurz angebunden. Um ein Gespräch anzuknüpfen, irgendjemanden an seinem Glück teilhaben zu lassen, auch einen wildfremden Menschen, erzählte er, wie es ihm eben gelungen war, eine gute Anstellung zu finden.
"Oh, ich kann deine Freude gut begreifen", begann der Alte bedächtig. "Vor vier Jahrzehnten bin ich auch , genauso wie du jetzt und aus demselben Grunde, übermütig durch die Straßen gelaufen. Allerdings herrschte damals schöneres Wetter!..." Grinsend betrachtete er Willi von der Seite. "Bin nämlich aus England eingewandert. Und jetzt gehört der Betrieb mir und ich besitze Haus, Auto, habe mein gutes Einkommen und fünf Kinder... Ja, so ist es gekommen. Schön langsam und ziemlich hart." Er wischte sich mit dem Ärmel leicht über die buschigen Augenbrauen und starrte in den Gewittersturm hinaus. Respektvoll teilte Willi das Schweigen des Alten.

* * *


Mit seltsam gemischten Gefühlen betrat Willi Höger den großen, quadratisch angelegten Saal, in dem sich Zeichentisch an Zeichentisch reihte. Mr. James Hartley, sein unmittlelbarer Vorgesetzter, bedeutete ihm nachzufolgen und schritt den langen Gang entlang, der das Büro in zwei Teile trennte. Unmittelbar neben einer der beiden Türen, die den Raum mit dem übrigen Gebäude verband, wurde ihm sein Arbeitsplatz zugewiesen. Er legte die mitgebrachte Ausstattung ab und schüttelte den Männern die Hand, wie sie ihm eben vorgestellt wurden. Der Aussprache nach zu urteilen, handelte es sich um gebürtige Australier. Mr. Hartley überreichte ihm einen umfangreichen Band, der in einer schwarzen Nylonhülle steckte. "Hier drinnen, Willy", meinte er, "sind die Standards unserer Gesellschaft niedergelegt. Der Größe unserer Firma angemessen, ist da alles Wissenswerte und Nötige festgelegt und geordnet. Studiere bitte für heute mal das Zeug durch und übe dich in der Normschrift. Ich nehme an, in Austria werdet ihr andere Schriftformen verwendet haben?" Der Chef schlug eine Seite auf und verwies auf Übungsbeispiele. "Ja, allerdings Mr. Hartley", erwiderte Willi. "Well, du wirst es bald beherrschen. Ein wenig Übung – am Anfang wird man von dir keine Meisterleistungen verlangen." Lächelnd wandte er sich zum Gehen.
Dem Himmel sei Dank, ließ Willi ein Stoßgebet los. Wenn du wüßtest, wie gering meine Erfahrungen tatsächlich sind.
"Übrigens noch etwas!" Mr. Hartley hielt inne und kehrte zurück. Vorsichtig setzte er zum Sprechen an, offensichtlich überlegte er sich jeden Satz genau: "Du darfst mich genauso 'James' nennen, wie ich 'Willy' zu dir sage – laß' das 'Mister' ruhig weg. Hier im Büro und überall in Australien ruft man sich unter Arbeitskollegen mit dem Vornamen. Also sag einfach James zu mir!" Er rückte die Augenbrauen etwas in die Höhe, sodaß die Brille auf dem hageren Anlitz verrutschte. James rückte sie wieder an die lange, markante Nase und enteilte.
Höger schlug die erste Seite auf.
Körperlich deutlich, spürte er hunderte stechender Blicke auf sich gerichtet, auf seinen Rücken, den er der Masse zuwandte. Nervös fingerte er am Hemdkragen herum. Ob man bemerkt hatte, daß er ein zerknittertes, ungebügeltes Hemd am Leibe trug? Im Busch hatte es gereicht, wenn sie rein waren, die Mühe mit dem Bügeln ersparte er sich gewöhnlich.
Noch heute werde ich mich dranmachen, die Vermieterin wird mir das Plätteisen sicherlich leihen, nahm er sich vor.
Ein Knurren im Magen erinnerte ihn an die Magerkeit der Ernährung der letzten Tage, selten oder nie eine warme Speise. "Muß mir einige Kochtöpfe zulegen, Eßbesteck – das Geld schwimmt gleich so weg", dachte er bestürzt.
Immerhin wies sein Bankkonto den stolzen Betrag von 250 Pfund auf. Daß es nun mit regelmäßigen Sparraten, von rund zehn Pfund pro Woche, vorbei war, das sah er mit aller Deutlichkeit. Nirgend mehr Sonderpreise und Pauschalverpflegung, jeder Handgriff mußte teuer bezahlt werden. Am einfachsten würde wohl sein, er kaufte gleich neue Hemden, anstatt die alten ausbessern zu lassen. Das kam fast billiger. Die gähnende Leere auf dem Blatt Papier vor ihm erinnerte ihn an die Notizen, die er tätigen wollte. Er riß sich von seinen kleinen privaten Sorgen los und versuchte sich auf den vorliegenden Stoff zu konzentrieren.
"Ich habe gehört, du bist aus Austria?"
"Ein äusserst gemütlich und menschlich wirkender junger Mann etwa seines Alters rückte den Abfallkorb zwischen die Beine und spitzte bedächtig und sorgfältig einen Bleistift zu.
"Ja, das stimmt", gab Willi zur Antwort. "Wieso?" fragte er nach einer Weile.
"Auf deinem Platz saß vordem ein Landsmann von dir. Sein Familienname war Krug... Ich denke, das ist richtig?" "So? Das kann stimmen", nickte er. Die Nachricht überraschte ihn, zumal sich herausstellte, daß besagter Krug aus seiner engeren Heimat stammte. "Krug besaß ein Ingenieurdiplom", bemerkte der junge Mann so nebenbei.
"Welche Art von Schule hat er denn besucht?" Der Australier wußte es nicht genau zu beschreiben. "Er ist jedenfalls der beste Konstrukteur im Saale gewesen. Es werden dir im Laufe der Zeit sicherlich einige seiner Arbeiten unterkommen." Das hatte anerkennend geklungen. Wenn Willi allerdings geahnt hätte, wie verunsichert er dem Gleichaltrigen vorkam, wäre er sich über die noblen Beweggründe klargeworden. John, so hieß der Kollege, der Willi im scherzenden Tone aufbauen wollte, erzählte nun mit offensichtlicher Schadenfreude, daß dieser Krug eine Schachmeisterschaft im Büro überlegen gewonnen habe.
"Das 'Spiel der Könige' ist bei euch ja wesentlicher verbreiteter als bei uns, nicht wahr?" erkundigte sich John. "In Österreich bekommen Schulbuben darin Unterricht!" Die Hochachtung vor dem unbekannten Österreicher und seine eigenen Minderwertigkeitskomplexe nahmen im gleichen Maße zu. Was John sicherlich nicht beabsichtigt hatte.
Der meldete sich nun wieder, er war beim vierten Bleistift angelangt. Offensichtlich spürte er keine wie immer geartete Lust, diese beschauliche Tätigkeit so schnell abzubrechen.
"Bin nur neugierig, was du uns an Überraschungen bieten wirst", meinte er in scherzendem Ton.
"Wieso? Sind unter den Einwanderern so grundsätzlich andersgeartete Menschen – im Vergleich zu euch?" fragte Willi erstaunt. Der Kollege lächelte nur vielsagend.
"Sind eigenartige Leute darunter." Etwas gezwungen wies er unauffällig in Richtung eines Zeichentisches, über den sich ein eifrig arbeitender Mann in weißem Mantel beugte, für den die Umwelt anscheinend nicht existierte. Mit leicht hervorgestreckter Zungenspitze und unheimlicher Konzentration, zauberte er eben mit einem Spezialzirkel weite Kreisbögen aufs Papier. Seine Stirn stieg steil hoch und wölbte sich wie ein Dom über ein Antlitz, das merkwürdig bleich und durchsichtig schimmerte, jedoch intelligente Züge aufwies.
Nun hob er einen kurzen Augenblick seinen Blick vom Brett. Der Österreicher erschrack über den toten, seelenlosen Ausdruck der graugrünen Pupillen, die ihn seltsam starr streiften. Gleichzeitig überzog das Gesicht des Einwanderers ein geistesabwesendes, verzerrtes, idiotisch anmutendes Lächeln.
"Die Leute hier im Saale halten ihn für schwachsinnig", sprach der Mann neben Willi weiter. "Ich bin nicht derselben Ansicht. Nebenbei, er ist Russe und wird hier Felix gerufen."
Der Österreicher brach in ein kurzes, gezwungenes Lachen aus. "Der Name Felix scheint mir nicht gerade zuzutreffen. Er kommt aus dem Lateinischen und bedeutet 'glücklich', 'happy'! Aber so sieht er mir nicht gerade aus."
"Da dürftest du recht haben", gab John zu. "Er scheint alles andere als happy zu sein. Die Kollegen rings um ihn, speziell die jüngeren, die 18 bis 20jährigen, ignorieren ihn entweder völlig oder lassen sich höchstens manchmal dazu herab, einige Worte mit dem armen Teufel zu wechseln. Wie gesagt, man nimmt ihn nicht für voll!"
Ein gewisses Solidaritätsgefühl, das augenblicklich entstand und in ihm eine Trotzreaktion hervorrief, verband ihn mit dem Russen. "Entschuldige mich bitte", wandte er sich an John. "Werde mich mit ihm ein wenig unterhalten."
Er sprach den jungen Mann an: "Darf ich mich vorstellen – mein Name ist Willy Hoeger. Ich komme aus Austria."
Die trüben Augenlichter des anderen leuchteten auf, über das maskenhaft ausdruckslose Gesicht huschte ein Anschein der Freude. "Kenne ich auch", meinte er in tadellosem Englisch.
"Oh, Sie haben Europa ein wenig bereist?"
"Bereist wäre zuviel gesagt. Eine Zeitlang lebte ich in einem deutschen Lager, bis ich zu Verwandten nach Frankreich gehen konnte. Habe dort einige Jahre verbracht. Es war eine sehr schöne, eine sehr glückliche Periode meines Lebens." Wieder jenes stumpfsinnige, verlorene Lächeln. Höger senkte seine Stimme ab und erkundigte sich, wie es ihm hier gefalle.
"Wenn Sie die Wahrheit hören wollen – ich bin nun seit vier Jahren in Australien ansässig – gelacht habe ich selten in dieser Zeit. Ich konnte selten wirklich von Herzen froh werden!" Der Russe musterte Willi kurz. "Und wie lange sind Sie schon hier?"
"Fast ein halbes Jahr", antwortete der und schilderte ihm kurz die Stationen seines Aufenthaltes.
"Sie werden ja bald merken, ob Ihnen das Leben hier behagt!" Felix nahm wieder Dreieck und Bleistift in die Hände und entschuldigte sich: "Ich muß weiterarbeiten. Sonst brauche ich zu lange für diese Detailarbeit."
Das erinnerte Willi an seine Pflicht, so setzte er sich wieder auf den Hocker und studierte die ersten Seiten der Anleitung. Er war noch nicht weit damit gekommen, als ein nicht allzugroßer, schmächtig gebauter Mann um die Fünfundreissig durch die Türe in der Nähe eintrat. Er musterte Willi kurz, um sich dann bei John zu erkundigen: "Ein Neuer?" John ließ sich bereitwilligst von der Berechnung eines Schaltgestänges ablenken und stellte die beiden einander vor.
"Ein Österreicher also", äußerte sich der eben Eingetroffene. Und Willi belustigt ansehend, entkam es ihm hämisch: "Wieder einer von diesen Supermen, diesen Übermenschen!" Der Österreicher horchte ungläubig auf: "Was soll dieser Ausspruch? Warum so bissig?"
In etwas gemäßigterem Tonfall erklärte der kleine Mann nun einlenkend, er denke an den Österreicher, der sein Vorgänger an dem Platz war, und der als Prototyp der Germanischen Herrenrasse, des Übermenschen Goebbel'scher Prägung betrachtet worden sei. Krug hätte alles besser, schneller, sauberer erledigt, als jeder andere in dem ganzen Staff. Ob er, Willy, dem Beispiel nicht folgen wolle?
Achselzuckend nahm der sein Studium wieder auf, kaute langsam Seite für Seite durch. Aber bald rückte die Teepause heran. John bot ihm hilfsbereit zehn Billetts zu zwei Penny an, mit denen er Tee, Milch und ein paar Keks erstehen konnte. Diese Unterbrechung kam ihm äußerst gelegen, nagender Hunger quälte ihn bereits des längeren. Wie er sich so in Reih und Glied anstellte, fielen aus dem Lager der ganz Jungen einige ungenierte und laute Bemerkungen über seine Person, die ihn befremdeten. Nicht etwa der Inhalt, sondern die Tatsache, daß man sich trotz seiner Anwesenheit überhaupt kein Blatt vor dem Mund nahm.
"Der sieht aber ziemlich smart aus." "Wahrscheinlich ein German oder soetwas ähnliches."
"Von welcher Firma er wohl kommt?" "Sicherlich ein ausgewachsener Ingenieur!"
Ohne Unterlass durfte sich Willi solche Bemerkungen aus nächster Nähe anhören. Komische Manieren haben die, das muß ich schon sagen, überlegte der Österreicher. Erwarteten sie vielleicht eine direkte Beantwortung dieser Fragen? Es war doch unmöglich, sich gleich am ersten Tage allen Leuten vorzustellen. Die Aufmerksamkeit die ihm hier jeder entgegenbrachte, gleichviel, ob wohlwollend wie die von John, oder zynisch wie die des schmächtigen Männchens dort neben der Wand, begann allmählich an seinen Nerven zu zerren. Gewiß, es freute ihn, nicht einfach so ignoriert zu werden wie der Russe dort am nächsten Tisch. Aber schließlich und endlich war er kein Wundertier, das man wie im Zoo begaffen und darüber ungeniert parlieren konnte!
Er verschlang die mitgebrachten Marmeladebrote zum Tee, da gesellte sich ihm schon wieder einer zu. Und diesmal ein Freund Johns. Bill entpuppte sich als ein sehr selbstbewußter Jugoslawe, der dem neuen Nachbarn seines Freundes mit leichter Überheblichkeit gegenübertrat, ja, Höger schien es so, als ob er verhindern wollte, daß John mit Willi engere Freundschaftsbande knüpfte. Offenbar betrachtete er John als seine persönliche australische Eroberung, wenn man es so ausdrücken will. Jedenfalls wachte er in der Folge eifersüchtig darüber, das zunehmend vertraute Verhältnis der beiden Bürokollegen nicht zu eng werden zu lassen. Gleich am Anfang ihrer Bekanntschaft machte er sich über die kleine Ortschaft lustig, aus der Willi stammte und behauptete, daß ganz Österreich eigentlich nur ein großes Dorf sei. Auch er erwähnte Krug. Er kam sich sehr geistreich vor, als er auf Deutsch zitierte, 'daß der Krug eben solange zum Brunnen geht, bis er zerbricht'. Trotz dieser anfänglichen Hänseleien wurden Bill und Willi gute Freunde. Gegen einen kleinen Beitrag offerierte Bill ihm eine tägliche Mitfahrgelegenheit, die er gerne wahrnahm. Von einem Schotten, der unmittelbarer Kollege und Nachbar Willis war, erfuhr er, daß John aus Tasmanien stammte.
"Die Menschen aus dieser Weltgegend sind wesentlich sympathischer und freundlicher als die Australier", gab er ihm zu verstehen. "Mir gefällt vor allem der riesige Saal nicht. Überhaupt in dieser Ecke, wo dauernd Leute vorbeigehen und gelegentlich blöde Bemerkungen fallen lassen. Und außerdem ist meine Tätigkeit derartig eintönig, daß es zum Verzweifeln ist. Ich sehe mich dauernd nach einer anderen Beschäftigung um, wo ich meine praktischen Erfahrungen anwenden kann. Habe die vergangenen 15 Jahre mit Detailentwürfen von Dampfkraftwerken zugebracht, das liegt mir mehr als der Kram hier."
In der Mittagspause verzehrte Willi die restlichen Brote an seinem Arbeitsplatz. Er fühlte sich momentan in einem Zustand der völligen Überforderung, der es ihm unmöglich machte die Werkskantine aufzusuchen: Von den vielen neuen Eindrücken überwältigt, entmutigt durch die offenbar selbstherrlichen Gestalten um ihn herum, und unsicher durch das Bewußtsein seiner eigenen beruflichen Unzulänglichkeit. Er nahm sich eine Tageszeitung vor und verharrte wie gelähmt an seinem Platz.
Am Nachmittag erschien James, sein Chef, und führte ihn durch die Werkshallen, erklärte ihm die Fertigungsprozesse und Assembling-Verfahren, bis ihm von den hunderten neuen Begriffen der Kopf schwirrte. Seine geheime Einsicht besagte ja immer wieder, daß er in diesem Betrieb eine Null war, und die Führung wahrscheinlich mehr von ihm erwartete als er zu leisten imstande war. Da stand er nun angesichts der vielen Kollegen, hochaufgerichtet neben dem Boss und ließ dessen Erklärungen über sich ergehen. Er vermutete, daß es für ihn eine komplette Katastrophe bedeuten würde, auch nur eine Schraube für einen Bestandteil mit einer Kennnummer versehen zu müssen. James lachte auf eine diesbezügliche Äusserung von ihm nur auf und versicherte ihm, daß er wirklich nicht alles auf einmal begreifen und behalten müsse.
"Wir in Australien geben jedem 'a fair go', meinte er beruhigend. Was heißen sollte, man gestehe jedermann hierzulande eine gerechte Behandlung zu, und die Chance, sich seinen Fähigkeiten entsprechend zu entwickeln.
"Mir kommt das sehr gelegen – und ich brauche es vor allem, das 'fair go'", dachte Willi.
Ein kahlköpfiger Mann mittleren Alters steuerte die Kartothek an, stöberte drin herum und sprach Willi an, nachdem er das Gesuchte gefunden hatte. "Oh, die Nationalität ist eine gute Empfehlung", ließ der daraufhin verlauten. Wollte der nur um seine Sympathie buhlen, ihm ein Kompliment machen, oder ihn vielleicht sogar beleidigen? Argwöhnisch betrachtete er den Kahlschädel. Er sei auch noch nicht lange bei der Firma, teilte ihm der Mann mit. Schließlich stellte er sich als Russe vor, oder wie er sich zynisch ausdrückte, als "Abkömmling der kultiviertesten Nation der Erde." War Willi bereits am Vormittag über die Anwesenheit eines Sowjet(?)-Russen mehr als erstaunt gewesen, so verschlug es ihm jetzt die Sprache. Warum, und vor allem wie gelangten Vertreter dieser Nation nach Australien? Wie er hierher gelangt sei?
"Ganz einfach. Zuerst war ich gezwungen als Kriegsgefangener in Groß-Deutschland zu arbeiten. Nach der 'Befreiung'(er sprach das Wort deutsch mit hartem russischen Akzent aus) habe ich es vorgezogen, als 'Displaced Person' hierher auszuwandern."
"Ach so, Sie wollten also in Freiheit leben!" meinte Willi, verständnisvoll nickend.
"Jawoll! Freiheit und viel Kulturra!!!" bestätigte ihm der Russe noch immer in Willis Muttersprache, wobei sich sein eiförmiger Glatzkopf mit unzähligen Runzeln überzog und ihn mit zwei Reihen ebenmäßig gewachsener Zähne anblitzte. Doch die Betonung klang irgendwie sonderbar. Der Österreicher begann sich besorgt zu fragen, ob er vielleicht an Halluzinationen litt...
Wie der ältere Russe so davonschritt, gewahrte Willi, daß er niemals sein Lächeln ablegte, das dadurch gezwungen und eingefroren wirkte.
Als sich die Zeiger fünf Uhr näherten, stürzten die Angestellten zu den Kleiderablagen und drängten in Massen auf den Korridor hinaus. Die Busse der städtischen Betriebe rollten nacheinander heran und beförderten die Belegschaft dichtgedrängt wie die Heringe in die City.
Mit der Absicht, diesmal eine ausgiebige Mahlzeit zu sich zu nehmen, beeilte sich Willi den modernen Delikatessenladen an der Ecke aufzusuchen, der bis spät am Abend offen hielt. Vollbeladen mit Lebensmittelpaketen trat er den Rückweg an und traf auf Werner Benke, den er seit Montag mittags nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte. "Da kommst du ja!" rief ihm der schon von weitem entgegen. "Wollte dich eben besuchen. Mensch, du frißt aber anständig!" stichelte er, als er die Makkaroninudeln, Eier, Speck, Tomatensauce, Marmelade und Butter auf Willis Arm erblickte.
"Das habe ich allerdings vor. Komm mit rauf. Kannst gleich mitmachen!" Er öffnete die Haustür, und sie stiegen die dunkle Treppe in den Oberstock hinauf. "Siehst du, hier ist mein Gasherd. Hast du zufällig ein Threepence-Stück bei dir? Dann kannst du gleich Feuer machen!" Er besorgte sich noch rasch Kochtopf und Bratpfanne, stellte Wasser auf und bereitete alles vor, um ein frugales Mahl bereiten zu können.
"Jetzt erzähl' einmal, was du in der Zwischenzeit alles erlebt hast!" forderte er seinen Freund auf, nachdem er Werner einen kurzen Bericht zur Lage geliefert hatte.
"Habe Schwein gehabt. Bin als Operationsgehilfe in einem Privatkrankenhaus tätig", sagte der Berliner. "Weißt du, Sterilisieren der chirurgischen Bestecke und Einsammeln des blutbefleckten Verbandmaterials und so weiter. Ist ja nicht schwer – aber brrrr! Da steigt einem das kalte Grausen hoch. Bei einer Bauchoperation habe ich geglaubt, ich falle um, so gerochen hat es! Aber lassen wir das, sonst vergeht dir noch der Appetit auf deine Spaghetti!" grinste Werner hintergründig, als er Willis zunehmend steifere Miene bemerkte. Der Berliner schilderte ihm noch die näheren Hintergründe, die zu seiner Anstellung im Spital geführt hatten. "Nur eines hat mich ausgesprochen geärgert", gestand er.
"Stell dir vor, Willi: Zum Schluß, als ich die Anstellung bereits in der Tasche hatte, gab mir der Manager zu verstehen - das habt Ihr alles Eurem Führer zu verdanken!... Ich nehme ihm diese kleine Rache an mir ja nicht weiter übel, das ist nur menschlich. Aber der Mann scheint mir einen Fehler zu machen, den er als intelligenter Mensch nicht begehen dürfte: Die glauben hier alle, daß wir in Deutschland noch immer am Verhungern sind, oder der Lebensstandard weit unter dem hiesigen, vielgepriesenen liegt.
Das stinkt mir schon allmählich. Im Busch hat man uns das mehr oder weniger versteckt vorgehalten, und hier, wo man glaubt, endlich unter vernünftige Menschen geraten zu sein, fängt dasselbe Theater wieder von vorne an!"
Der Österreicher beschrieb die ausfallende Begrüßung durch den Kollegen, der ihn als 'Übermenschen' deklariert hatte. "Ich denke, mit den Leuten im Busch sind wir noch besser ausgekommen, als ich es für die Zukunft erwarte", formulierte Werner nachdenklich. "Was wirst du übrigens verdienen?" erkundigte er sich neugierig.
"An die 15/10", antwortete Willi. "Viel ist es ja gerade nicht."
"Ich werde sogar ein ganzes Pfund weniger herauskriegen, stell' dir das mal vor!" begann nun Werner zu jammern.
"Dafür bezahlst du auch für deine Bude um denselben Betrag weniger, wie du mir vorhin gestanden hast!"
"Sie sieht aber auch danach aus", entgegnete ihm Werner. "In so einem Loch hätte ich in Deutschland nicht zu hausen gewagt, das sag ich dir. Ich hätte mich geschämt. Und da rühmt der Kerl noch den australischen Lebensstandard!"
"Ja, den genießt e r vielleicht – aber nicht wir. Die Masse der Bevölkerung ist hier genauso scheiße dran wie überall sonst. Wenn du hier deinen Kühlschrank besitzt und vielleicht mit einer Karre durch die Gegend kutschierst – das bedeutet garnichts. Deswegen bist du relativ gesehen genauso arm, als wenn du zuhause beides nicht besitzt. Denn hier ist sowohl das eine wie das andere eine absolute Notwendigkeit, kein Luxus.
Allerdings, wenn du dazu noch ein Ziegelhaus, 6000 Pfund auf der Bank, ein kleines Motorboot, eine Jagdausrüstung und den sonstigen Krimskrams hast, dann kannst du behaupten, du hast einen höheren Lebensstandard erreicht. Ansonsten bist du noch immer der arme Hund, auf den die anderen herabsehen.
So, und nun werde ich mich mal vernünftig vollfressen, das ist die Grundlage jedes höheren Lebensstandards. Ich könnte ja ein Restaurant aufsuchen, aber das käme auf die Dauer zu teuer."
Willi Höger goß Tomatensoße über die Spaghettinudeln und fing hungrig zu essen an.

* * *


Man überreichte Willi seinen ersten Auftrag. Ein einfacher Gummipuffer war von einem Entwurf abzunehmen und zu detaillieren. Wohlwollend gestattete ihm ein älterer Australier Einblick in die umfangreiche Papierrolle. Insgeheim ergötzte er sich am Arbeitseifer des jungenhaft wirkenden Europäers. Vor lauter Herumschusseln ging sogar diese einfache Angelegenheit schief, mit vielen roten Korrekturen erhielt er die Zeichnung vom Checker zurück. Willi arbeitete mit teilweise ausgeliehenen Geräten, das seine Schulausrüstung der hier verlangten Präzision nicht genügte. Einstweilen half ihm John aus der Patsche. Der scherzte ein wenig bei dieser Gelegenheit. So verwies er auf die Marke "Staedler-Germany" seines Reißzeuges, dann hielt er Willi einen Metallmaßstab vor die Nase und zeigte ihm das "Made in England". Dem Österreicher fiel auf, daß der Tasmanier das 'bloody' vor Germany weggelassen hatte. Darüber entkam ihn ein kurzer Heiterkeitsausbruch, den John nicht deuten konnte. "Warum lachst du jetzt auf einmal?" fragte er argwöhnisch. "Ach nichts. Mir ist nur etwas Spaßiges eingefallen, was mit der Sache nichts zu tun hat", erklärte Willi. Es war eigentlich nichts besonderes, worüber er hätte Klage führen können. Bloß seine Erwartungen, durch die Übersiedlung aus dem Busch in die Stadt in ein gepflegteres Umgangsklima zu gelangen, hatten sich nur zum Teil erfüllt. Täglich aufs neue verblüfften ihn Handlungen und Aussprüche seiner Kollegen derart, daß für ihn jede Vorstellung davon, was in diesem Lande zum guten Ton gehörte, und was nicht ratsam war in eine Unterhaltung aufzunehmen, verlorenging.
Diese zunehmende Unsicherheit im Umgang mit den Menschen dieser Stadt entstand durch viele kleine Zwischenfälle, die den Österreicher jedesmal vor den Kopf stießen. So wollte er sich einem jüngeren Kollegen in der Nachbarschaft vorstellen und ohne jede Absicht entrutschte ihm dabei ein "Mr. Hoeger". Da nun nicht einmal James Hartley mit Mister angesprochen wurde, entlockte dies dem achtzehnjährigen Burschen nur ein höhnisches Gelächter.
"Soso. M i s t e r Hoeger!" reagierte ein anderer darauf. "Very well!" und drehte ihm den Rücken zu.
Es erschien Willi zu kompliziert, die Gedankenassoziation zu erklären, die zu dem "Mister" geführt hatte. Er begnügte sich damit, daß er unauffällig den Rückzug antrat.
Bei den jungen Leuten war er bald als arrogant und eingebildet verschrien, wogegen er in Wirklichkeit die tiefe Unsicherheit und das Bedürfnis nach gesellschaftlichen Anschluß durch Schweigsamkeit, Zurückgezogenheit oder betont forsches Auftreten zu kompensieren versuchte.
Ted Spranger, der klein und schmächtig gebaute Mann mit dem Superman-Komplex und leichter Konkurrenzangst, war kein Einheimischer. Durch den Vorgänger und Landsmann von Willi offensichtlich in die Defensive gedrängt, wollte er sich bei ihm von vorneherein nichts vergeben. Auf jede Frage hatte er nur zynische Antworten auf Lager, die darin gipfelten, daß er äusserte, auch ein Vertreter der Herrenrasse wisse scheinbar nicht alles. Oder er stellte sich dumm und überließ Willi seinem Schicksal. Der begriff natürlich sehr rasch, daß der Engländer ihm keinen reinen Wein einschenkte, machte jedoch gute Miene zum bösen Spiel, da Ted zum Führungsstab gehörte. Er hielt ihm eine gleichmäßig offene und ehrliche Haltung entgegen, die, wie er hoffte, ihre Wirkung nicht verfehlen würde.
Mit offenem Entsetzen betrachtete er in der ersten Woche das Resultat seiner beruflichen Anstrengungen. Wiederholt erhielt er vom Checker die Blaupausen vollständig rot beschmiert zurück. Nicht ein einziger Strich hatte ihnen anscheinend gepaßt. Aber John und Hartley trösteten ihn damit, daß es jedem Neuling in ihrer Firma so erginge. Bedrückt verbiß er sich so in seine Arbeit, daß er alles um sich vergaß.
Frohlockend hatte er in den ersten Tagen bereits allen Bekannten von seiner Landung in Melbourne berichtet. Als erste Reaktion langte nun ein Kartenbrief ein, fein säuberlich mit der Schreibmaschine getippt und von Rosa und Hubert unterzeichnet. Sie schafften noch immer im selben Krankenhaus und informierten ihn von der bevorstehenden Trauung, die am nächsten Sonnabend in einer kleinen katholischen Kirche stattfinden würde. Er sei herzlich dazu eingeladen, man rechne mit seinem Erscheinen.
Am Samstag bemühte sich Willi zuerst vergeblich einen jener Präzisionszirkel zu ergattern. Der Verkäufer erklärte ihm, daß alle Instrumente sofort nach dem Eintreffen der Sendung wie die warmen Semmeln weggingen, da das Einfuhrkontingent begrenzt sei. So ließ er sich vormerken.
Dann besorgte er eine moderne Nachttischlampe für das Brautpaar und begab sich zum Haarschneider. Der zog vielleicht eine Show ab, mit warmen Kompressen und anderem modischen Schnickschnack, war aber relativ preiswert.

* * *


Von Braut und Bräutigam weit und breit nichts zu sehen. Unruhig wanderten Willi Höger und Dietrich Lemmel, der Frauenheld mit seinem interessanten Tagebuch, vor dem unscheinbaren Gotteshaus in einem vernachlässigtem Viertel Melbourne's auf und ab. Endlich kamen die beiden mit den übrigen Hochzeitsgästen in zwei Taxis angebraust.
Der Meßbub benahm sich tolpatschig, schlurfte in schmutzigen, viel zu großen Schuhen umher, und die ganze Kirche erbebte, wenn er sich auf die Knie niederließ. Dann wieder stellte er sich genau vor dem Priester hin, der ihm ärgerlich bedeutete, doch beiseite zu treten. So heilig und ernst die Trauungs-Zeremonie ablief, konnten die wenigen Gäste doch kaum eine gewisse Heiterkeit unterdrücken.
Der Diener Gottes bediente sich der deutschen Sprache und mochte wohl auch ein Auswanderer sein. Seine australisch kurze Einheitsfrisur fand jedenfalls die gebührende Aufmerksamkeit.
Für die spärlich vertretenen Hochzeitsgäste gab es somit Ablenkungsmöglichkeiten genug, so verfolgten sie die Feierlichkeiten mit weniger Interesse, als deren Begleitumstände. Willi Höger, der die ehrenvolle Aufgabe übernommen hatte, diesen denkwürdigen Tag auf Erinnerungsfotos festzuhalten, wurde plötzlich durch lautes Schnarchen aus seiner Konzentriertheit gerissen: Eine alte, etwas abgerissene Australierin aus den umliegenden Slums, wohnte, wohl in Hinblick auf die kostenlose Unterhaltung, der Trauung bei und hielt nun an dem lauwarmen und feuchtschwülen Nachmittag ein kurzes Nickerchen in den kühlen Gewölben des Kirchleins.
Trotz alledem – die Hochzeit wurde ein schönes, unvergeßliches Ereignis für Rosa und Gemahl Hubert. Auch wenn es nicht so nobel herging, wie die Gesellschaftsrubriken täglich in Wort und Bild von den Traumhochzeiten berichteten. Das Brautpaar und die weiblichen Gäste fuhren anschließend zum Fotografen. Es war ausgemacht, daß die Männer inzwischen einen Pub besuchen durften, bis sie von einer Bekannten mit einem riesigen Buick wieder abgeholt werden würden.
Wie sie so an der Theke standen und einander zuprosteten, wurden sie von einem herumlungernden Pensionisten, dessen Rente, nach dem Äußeren zu beurteilen, nicht sehr hoch sein konnte - angestänkert und nach den Maiglöckchen auf ihren Kragenaufschlägen befragt.
Was das bedeute? Hochzeitsschmuck?? Das seien keine australischen Hochzeitsblumen!!! Ob sie es nicht für notwendig erachtet hätten, sich wenigstens diesen australischen Brauch anzueignen?
Einer der deutschen Ehemänner erklärte ihm geduldig, falls er nochmals heiraten sollte, würde er selbstverständlich australische Blumen anstecken. Bis jetzt sei ihnen leider von der Existenz einer spezifisch einheimischen Hochzeitsblume nichts bekannt gewesen. Er möge die Maiglöckchen daher entschuldigen. Der Mann gab sich damit zufrieden und gesellte sich in dem zerschlissenen khakifarbenen Militärmantel wiederum seinem Kumpel zu, dem das Bier über das stoppelige Kinn lief, dann den Hals in dünnen Bächlein hinunter rann und schließlich auf der behaarten Brust versickerte.
Sicher ein unscheinbarer Zwischenfall, dem aber, genauer betrachtet, eine dramatische Bedeutung beizumessen war.
Was ging in den Gehirnen der beiden Gruppen vor sich?
Der alte Australier, einigermaßen schäbig gekleidet, vermutlich aus eigener Schuld, da er die Rente aus Mangel an anderer, sinnvoller Beschäftigung versoff, war durch den Alkoholgenuß streitsüchtig geworden. Die Gruppe der Europäer, aus besonderem Anlaß gut gekleidet und gehobener Stimmung, stach im ins Auge.
Da seht euch die bloody migrants an, wird er vermutlich gefolgert haben, wie sie im Leben vorwärts kommen und uns Australier links liegen lassen! Und, konnte man nicht tagtäglich in den Zeitungen lesen, daß diese Europäer hierzulande ihre Sitten und Gebräuche so unbekümmert ausübten, als ob s i e die Herren dieses Kontinents wären? Unerhört und lächerlich! Dagegen mußte man einschreiten!
Und so war es auch gekommen.
Die Deutschen und Österreicher hingegen überlegten, wenn überhaupt: Wegen euch besoffenen Brüder in dem tristen Zustand geben wir unsere angestammten und jahrhundertelang ausgeübten Gebräuche noch lange nicht auf. Da müßt ihr uns schon ein bißchen mehr zu imponieren versuchen!
In der Elizabeth Street, in der Innenstadt von Melbourne, entstand ein weiterer kleiner Aufruhr, als die Hochzeiter, entgegen der üblichen Sitte, die paar Schritte zum nahegelegenen Continental Restaurant in voller Aufmachung zu Fuß zurücklegten.
Der ungarische Geschäftsführer hatte wirklich gut vorgesorgt, mit großem Behagen ließ Willi das Paprikahuhn, die Wienerschnitzel und die erlesenen Salate in seinem nimmermüden Magen verschwinden. Diskret servierte der Kellner Wein in Limoflaschen – alkoholische Getränke durften aus unerfindlichen Gründen in einem Restaurant nicht ausgeschenkt werden. Die Stimmung hob sich beträchtlich, als Rosa ihren Angetrauten wegen einer heiteren Szene beim Fotografen auf den Arm nahm. Der Mann hatte nämlich auf das Faktum aufmerksam gemacht, daß in Australien die Frau die Hosen trägt, pardon, der Boß ist. Die Braut müsse sich daher an die linke Seite ihres Gemahls stellen!
"Aber ausnahmsweise gestatte ich dir, die führende Rolle als starkes Geschlecht weiterzuspielen!" flüsterte sie ihm mit einem schelmischen Augenaufschlag zu.
Am Nebentisch blickte eine vornehme, etwa fünfzig Lenze zählende Dame, versonnen und verzückt zugleich zur Braut herüber, die zwar nicht mehr ganz taufrisch, deswegen aber nicht weniger glücklich lächelte. Kurz bevor sie an der Seite ihres eleganten Mannes das Lokal verließ, gab sie einem momentanen Impuls nach, reichte Rosa die Hand und wünschte ihr von Herzen "Good Luck" für die Zukunft.
Die Frauen der deutschen Gäste hatten inzwischen in Fitzroy ein kleines Häuschen festlich mit Girlanden geschmückt, Torten und Sandwiches vorbereitet sowie Bier und Wein kaltgestellt.
Den ganzen Nachmittag war es Willi nicht gelungen, aus sich herauszugehen. Erst nach Mitternacht riß es ihn plötzlich hoch und er legte zu den Klängen aus der Musiktruhe einen Rock 'n' Roll hin, daß den Leuten die Spucke weg blieb. In der letzten Ekstase landete er auf einem abgeräumten Tisch und steppte los, sodaß man ihn hinterher allen Ernstes fragte, ob er denn Berufstänzer sei.
"Nein, beileibe nicht", keuchte er, "ich bin im nüchternen Zustand nicht fähig meine Beine im Takt zu bewegen!"
"Das gibt es ja garnicht!" rief einer. "Du mußt nur deine Hemmungen ablegen, dann sieht man ja, was dabei herauskommt!" Ohne es zu merken, war der schüchterne Höger mitten drin in einem Prozeß, der ihn auf drastische Weise lehrte das Leben voll auszukosten – und so seine Minderwertigkeitskomplexe zu verlieren...

* * *


Am Nachmittag dieses Sonntages besuchte ihn Werner Benke und säuselte ihm kläglich gebrochen vor, daß es mit seiner Freundin Gudrun wahrscheinlich gleich nach ihrer Ankunft Krach geben werde. Schuld sei ein unüberlegter Brief, in dem er ihre Treue angezweifelt habe. "In ungefähr einer Woche wird ihr Schiff einlaufen. Wie gesagt, sie wird wütend sein. Unsere guten Beziehungen stehen ernstlich am Spiel. Aber ich werde mich trotzdem um ein Zimmer für sie bemühen. Kannst du mir dabei helfen?" Willi erwähnte seine Wirtin und deren großen Bekanntenkreis. "Sprich einmal mit ihr, die weiß bestimmt was passendes."
Später tauchte Pedro auf, sein bulgarischer Nachbar von nebenan, der ihn um ein Pfund anpumpte. Der schmächtig gebaute, leichtfüßige Mann schien dauernd in Eile begriffen zu sein und fortwährend geheimnisvollen Dingen nachzujagen, die Willi für sein Leben gerne enträtselt hätte. Wenn er von der Arbeit heimkehrte stand der Mann mit der dunkelbraun getönten Haut gewöhnlich schon am Gasherd, um in einer großen Aluminiumpfanne Unmengen von Zwiebel, Knoblauch und Karotten zu rösten. Der Geruch wanderte über die ganze Veranda, um dann auf die Straße hinunterzusinken, wo die vorübergehenden Leute nach allen Seiten in die Luft schnupperten. "Mit dem Zeugs kannst du die ganzen Aussies in die Flucht schlagen!" äußerte er sich einmal über die Kochkünste seines Nachbarn vom Balkan.
"Ich weiß, Australier nicht lieben Knoblauch – aber Australier sein sehr dumm. Bulgaren wissen, daß sehr gesund. Und deswegen essen viel Knoblauch und Zwiebel!" hatte der Mann mit dem kleinen Körper und dem unwahrscheinlich großen Kopf darauf geantwortet, fletschte sein blendend weißes Roßgebiß und rührte weiter in der Soße um.
Derzeit arbeitete er als Cleaner für eine größere Gesellschaft und verdiente magere 14 Pfund die Woche. Seinen erlernten Beruf als Bohrmeister konnte er nach einem schweren Nervenschock, erlitten in einem Tunnel der Snowy Mountains, nicht mehr nachgehen. Stolz zeigte er Willi eines Tages die Leistungsplakette, die ihm von seiner ehemaligen US-Firma verliehen worden war: " Für Weltrekord im Tunnelbohren – 447 Feet in einer Woche." Verliehen an ihn, an Pedro den Knoblauchfresser, mißachtet von der Bevölkerung des Landes, dem diese Leistung diente.
Trotz aller vitaminösen Zuschüsse war Pedro biologisch am absteigendem Ast. Jeden Abend klagte er sein Leid über den rapiden Haarausfall, der seine prächtige schwarze Mähne bedrohte. Unzählige Fläschchen und Tiegelchen mit Haarwuchsmittel reihten sich auf der Kommode in seinem Zimmer. Der Österreicher wunderte sich, daß dem Mann überhaupt noch Geld zur Lebenserhaltung blieb – bei dem Aufwand.
"Ja, es ist schon einmal so", pflegte er regelmäßig zu dozieren, wenn er prüfend die eben ausgerissenen Büschel am Kamm betrachtete. "Manche Einwanderer verlieren ihre Zähne, manche ihre Haare – und nicht wenige den Verstand!"
Nun, Willi konnte dieser Einwandererweisheit nur wohl oder übel beipflichten, denn er bekam nun ernstliche Schwierigkeiten mit seinen Zähnen. Der Kiefer rechts unten und links oben schmerzte bedenklich wenn er nur leicht gegen die Backe drückte. Dann war ihm, als ob seine kräftigen Beißerchen den Halt verloren hätten und locker im Knochen herumwackelten. Der Zustand seines Gebisses bedrückte ihn nicht wenig, zumal seit der Landung in Australien die Schwierigkeiten diesbezüglich nicht mehr aufhörten.
Pedro hatte ihm versprochen, das Geld morgen oder übermorgen zurückzugeben. Er tauchte aber erst Donnerstag spät am Abend auf. "Was ist denn los mit dir?" erkundigte sich Willi verwundert, als sich Pedro schwerfällig auf einen Stuhl fallen ließ. Eine Art, die bei ihm direkt komisch anmutete.
Er stockte einen Augenblick, holte tief Luft und äußerte mit belegter Stimme: "Ein Freund von mir, ein Tscheche, hat sich heute Früh mit Gas vergiftet... Er war mit einer Australierin verheiratet.
Sie sagt, sie fährt vierzehn Tage zu ihren Eltern, bleibt aber zwei Monate weg. Gestern verlor er beim Pokern 10 Pfund – das gab ihm den Rest. Als ich jetzt am Abend bei ihm anklopfte, teilt man mir mit, daß er tot ist..." Pedro nickte mit dem viel zu großen Kopf und sah Willi aus den treuherzigen braunen Augen forschend an.
"Ein Drama, was?... Weißt du, was ich in meiner Freizeit mache, wenn ich nicht in meiner Bude hocke?
Da jage ich zusammen mit einem Privatdetektiv hinter m e i n e r Frau her! Ebenfalls eine Australierin! War vor der Hochzeit ganz nett. Drei Tage nach der Trauung gibt sie mir auf Vorwürfe meinerseits, sie vernachlässige unsere Werkswohnung, zur Antwort: Sie habe mich ohnehin nur wegen meines Bankkontos von 1500 Pfund geheiratet!"
Weiters, erzählte er, habe er starke Verdachtsmomente gefunden, daß sie während seiner Arbeitszeit regelmäßig einen Boyfriend in die Wohnung lasse, und er habe daher die Scheidung beantragt.
" Nichts kann ich mir mehr ersparen – mein halber Verdienst geht allein für den Detektiv drauf, der mir schnellstens einen Flagranti-Beweis für die Hurerei liefern muß. Ich habe nicht die Absicht, drei Jahre geduldig zu warten, bis ich formell von Tisch und Bett geschieden bin." Schockiert meinte Willi: "Aber das sind doch sicherlich Einzelfälle, Ausnahmefälle?"
"Na, mir sind allein zehn solche Schicksale bekannt," führte 'Don Pedro' aus. "Alles dasselbe: erschossen, erhängt, vergiftet, davongelaufen! Keine einzige Ehe zwischen einem Europäer und einer Australierin, zumindest aus meinem Bekanntenkreis, ist wirklich glücklich."
Der Österreicher hatte in der Vergangenheit natürlich auch die Beziehungen zwischen Mann und Frau soweit unter die Lupe genommen, als ihm dies möglich gewesen war. "Ich denke die Weiber hier sind zu dumm, um ein anständiges Leben an der Seite ihrer Ehemänner zu führen. Wenn man bloß an die millimeterdick gepuderten Wangen denkt, die aussehen, als kämen die Trägerinnen geradewegs aus der Fastnacht heim. Kein Wunder, wenn sie längstens mit dreissig Jahren eine vollständig ausgetrocknete Haut haben, die sich in Runzeln um die mageren Gestalten wirft!"
"Na, da hast du es ja", meinte Pedro trocken und trug nun seinerseits gewagte Thesen zum Thema vor:
"Aber was speziell in gemischten Ehen ausschlaggebend ist: Erstens können die Frauen großenteils nicht wirtschaften und haben die Auszahlung vom Freitag bis längstens Montag Abend durchgebracht. Bei den Männern ist es vielfach dasselbe. Der Einheimische lebt mehr in den Tag hinein und legt sein Geld nicht auf die hohe Kante wie der Europäer. Warum? Schuld daran ist der Reichtum des Landes, der Überfluß, der sie noch nie gezwungen hat ökonomisch zu denken. Der Europäer hat Krieg und Not, unter Umständen mehrmals in einer Generation, erfahren und weiß daher, daß er vorsorgen muß!
Aber noch etwas anderes trägt den Keim des Zerfalls in diese Ehen hinein, so paradox dies klingen mag: Australische Ehepaare haben höchstens zweimal die Woche Geschlechtverkehr. Da die europäischen Männer wesentlich öfter vögeln und dabei mehr Glut und Feuer investieren, glauben die Frauen, sie könnten aus der stärkeren Leidenschaft der Männer auch materiell Nutzen ziehen. Genauso wie die Amerikanerinnen sich ihren Männern einfach solange verweigern, bis sie ihren Nerzmantel im Schrank hängen haben. Wie stupide diese Haltung ist, um wieviel Glück sie sich dabei selbst betrügen, wissen sie nicht. Insgeheim bewundern sie voll Neid die europäische Frau, die ihrem Partner höchstes Behagen zu vermitteln vermag – weil sie nicht egoistisch handelt.
Die Australierin? Die glaubt, daß es genügt, die Beine zu spreizen, um den Mann an sich zu binden!"
Diese leidenschaftliche Anklagerede Pedros, des gehörnten Bulgaren, lief allerdings nicht in flüssigem Deutsch ab, sondern strotzte von Kraftausdrücken australischer Provenienz. Was ihm sichtlich leicht fiel, gehörte er doch wahrlich nicht der High Society des Landes an.

* * *


Die Abende in dem fensterlosen, engen Raum wurden ihm langsam zu langweilig. Schweren Herzens trennte sich Willi von 12 Pfund seines sauer ersparten Kapitals und erstand einen gebrauchten Radioapparat. Ein 'Luxus', den er sich sinnvollerweise schon ein halbes Jahr früher hätte leisten sollen, viele einsame Stunden wären ihm leichter gefallen.
Werner Benke, welcher der Ankunft seiner Freundin unruhig und rastlos entgegenfieberte, hatte auf der Straße zufällig einen Malteser getroffen, den er seit der Überfahrt kannte.
Zusammen mit dessen Frau sowie Werner und Willi besuchten sie am Wochenende eine Großfamilie aus Malta, der zahlreiche Söhne und eine siebzehnjährige Tochter angehörten. Australische Mädchen ihres Alters liefen durchwegs mit voller Kriegsbemalung durch die Gegend und klapperten meistens schon mit künstlichen Zähnen – aber bei dem Girl war alles echt, wo man auch hinsah.
Während sich Werner mit dem patriarchalischen Familienoberhaupt unterhielt, begann Willi ein Gespräch mit dem Subjekt seiner stillen Bewunderung. Wie üblich glitt die Unterhaltung auf die Ebene "Wir und Australien" über.
Der Österreicher lernte bei dieser Gelegenheit, daß es den aus südlicheren Breiten stammenden Menschen noch viel schwerer fiel, mit dem Inselvolk einigermaßen gut auszukommen. Ohne ein Wort der Klage, ohne daß der geringste Vorwurf herauszuhören gewesen wäre, erzählte ihm das junge Mädchen, wie ein kleiner Italienerjunge aus der Nachbarschaft heulend nach Hause gekommen war, weil er von seinen australischen Spielgefährten "Dago" (südamerikanischer Mischling) angeschrien worden sei.
"Das brennt natürlich auf der Haut", setzte sie stolz und scheinbar gleichmütig hinzu.
Derartige Eindrücke negativer Art verhalfen dem jungen Österreicher nicht gerade zu einer positiven Einstellung gegenüber seinen australischen Kollegen. Er war viel zu ehrlich und integer, um mit seinen Gefühlen ein Doppelspiel zu treiben. Innerlich distanzierte er sich weiter von seinen einheimischen Bekannten, so unvoreingenommen er sich auch wähnte.
Zwei Tage später warteten Werner und dessen Freund im Hauptbahnhof auf Gudrun. Auf einmal entdeckte Willi mitten in der Halle ein blondes Mädchen, das suchend um sich blickte. Nach den Fotos zu schließen die er gesehen hatte, stand das Ebenbild vor ihm. Nach der ersten freudigen, wenn auch ein wenig reservierten Begrüßung, bummelten die drei gemächlich durch die hellerleuchteten Straßen nach Hause. Gudruns Gepäck lagerte noch im Frauencamp. Natürlich bemühte sich Werner eifrigst, bei seiner Freundin einen möglichst günstigen Eindruck zu hinterlassen. Eifersüchtig versuchte er Rechte zu wahren, die ihm Willi augenblicklich in keiner Weise streitig machen wollte. Die junge Dame schien sichtlich erleichert, daß es ihnen gelungen war, ein Zimmer für sie aufzutreiben.
Im Laufe des Gespräches erwähnte sie, daß sie versuchen wolle bei Mayer's, dem Großkaufhaus, als Mannequin anzukommen. Über soviel Zielbewußtsein konnten sich die beiden Herren nur wundern. Schließlich war die Berlinerin doch erst gestern in Melbourne gelandet, besaß jedoch bereits Lokalkenntnisse, die verblüfften. "Viel zu gut für Werner, den Dampfplauderer. Könnte sie ihm ausspannen, dessen bin ich sicher", erwog Willi gerade, als sie sich mit der Zimmerwirtin von Gudrun unterhielten.
"Und wo ist Ihr Girlfriend?"
Die Stimme der Wirtin ließ ihn aus seinen nicht sehr noblen Gedankengängen emporschrecken. Auch die Berlinerin blickte zu Willi herüber, aufmerksam, forschend.
"Leider", meinte der lächelnd. "Leider habe ich noch keine gefunden."

* * *


Er gelangte langsam zur Erkenntnis, daß auch im Konstruktionbüro nur mittelmäßige Talente saßen. Zwei Gewindebohrungen an der Kurbelwelle eines Dieselaggregates bereiteten ihm Kopfzerbrechen. Nur zögernd vermochte er aus Ted Spranger eine Antwort herauszuquetschen. Das mußte ihm doch im Laufe seiner Praxisjahre x-mal untergekommen sein! Zum ersten Male stieg in ihm der Verdacht hoch, Ted hielt nicht nur ihm, sondern auch den Australiern gegenüber mit seinem Wissen hinter dem Berg. Als er einen Vorschlag, den Ted rundweg abgewiesen hatte, zufällig in einer Montagehalle bereits ausgeführt vorfand, riß er die Augen verwundert auf.
Ted war kein mittelmäßiger Techniker, wie Willi annahm. Sein Wesewnsart erwies sich auch nicht als so zynisch und heimtückisch, wie es den Anschein hatte. Aber Ted hatte dem jungen Österreicher an die fünfzehn Jahre Erfahrung voraus. Er wußte, daß man im Industriemilieu mit Wissen, Können und Ehrlichkeit allein nicht vorankommt, denn der Konkurrenzkampf der vielen emporstrebenden Angestellten ist beinhart. Er wußte, daß man speziell in der Fremde, nicht gleich mit allen Geschützen auffahren darf. Daß man als Ausländer besser sein Licht unter dem Scheffel stellt, da es sonst leicht frühzeitig durch die Giftgase der Neider und Hasser ausgeblasen werden kann. So sah er in Willi von vorneherein einen Konkurrenten, von dem er erwartete, daß er genauso mit allen Mitteln um den Weg nach Oben kämpfen würde, wie die meisten anderen im Saal. Er war es gewöhnt, Neid und Verleumdung um sich zu erleben und versuchte mit denselben Instrumenten seine Existenz zu verteidigen. Der verheiratete Engländer, dessen Lebenssinn die Wohlfahrt seiner Familie darstellte, erkannte aber allmählich, daß Willi ihm anvertraute Dinge nicht gegen die Interessen des Informanten benutzte. Und so änderte Ted sukzessive seine Haltung.
Willi konstatierte dies höchst überrascht, als er kurz vor Fertigstellung einer umfangreichen Konstruktion den betreffenden Spezialisten aufsuchen wollte und Spranger die Zeichnungen nur flüchtig durchsah, jedoch in beiläufigem Ton erwähnte: "Nebenbei gesagt – Ingenieur B. ist ein begeisterter Anhänger des Motorboot-Rennsports. Das ist sein Hobby..." Dann drehte sich Ted Spranger auf dem Absatz um und ließ sich, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, auf seinem Hocker nieder.
Heiße Freude erfüllte den Österreicher, er war nun sicher, er hatte in Ted einen wirklichen Freund in der Abteilung gefunden. Einen wohlwollenden Freund, der noch dazu eine leitende Stellung einnahm.

* * *


Der 22.November 1956 näherte sich, der Beginn der Olympischen Spiele in Melbourne. Der australische Sommer mit seinen immens hohen, unangenehmen Temperaturen, brach herein. Wochen vorher hatte es nur geregnet, und das Veranstaltungs-Komitee bangte um den reibungslosen Ablauf der bevorstehenden Ereignisse. Aber heute strahlte die Sonne unbarmherzig hernieder. Willi lag ermattet auf dem Bett und hörte sich ein Opernkonzert an. Der Moderator von der Station 3KZ meldete sich eben: "La Mére von Claude Debussy, gespielt vom Wiener Symphonischen Orchester." Und er fügte noch eine Anmerkung hinzu, die den Österreicher mit stiller Freude und Stolz auf sein Vaterland erfüllte: "Nach Anhören dieser PLatte werden Sie zugeben müssen, daß das eine der besten Aufnahmen ist, die Sie je gehört haben!"
Als die Luft sich ein wenig abgekühlt hatte und der Nachtwind durch die Bäume des nahegelegenen Parks strich, begab er sich auf die Straße hinunter, um noch frische Luft zu schöpfen. Über dem Zentrum der Stadt lag ein auffallend heller, rötlicher schimmernder Abglanz, der sich irgendwie von der Abstrahlung der normalen Reklamebeleuchtung unterschied. Richtig, die olympische Fackel war entzündet worden. Die Zeitungen quollen über voll Begeisterung über die praktische Ausführung der Idee.
Sein Freund Werner suchte ihn jetzt nicht mehr auf, da er vollauf mit Gudrun beschäftigt war: Sie gab ihm manche harte Nuß zu knacken.
Allein schlenderte er durch die breiten Prachtstraßen, genoß das Menschengetriebe, das da in Form von zehntausenden Besuchern aus allen Teilen Australiens, der pazifischen Inseln, Amerikas, des Orients und Okzidents über die Gehsteige flanierte. Für den Tag der Eröffnung der Spiele hatte seine Firma die Arbeiter und Angestellten freigestellt. Der morgige Tag würde seine Kräfte brauchen. Erwartungsvoll sah er ihm entgegen.
Gegen die Mittagszeit spazierte er in Begleitung Pedros zur Melbourne Town Hall, begierig, die Ankunft des Herzogs von Edinburgh zu erleben, der die Feierlichkeiten eröffnen würde. Überall wirbelten aus Pappkarton hergestellte farbige Girlanden zwischen den Masten der Straßenbeleuchtung, riesige Sperrholz-Konstruktionen stellten symbolisch Buschnegerfiguren dar, die sich die Hochhäuser emporrankten. Blumenarrangements grüßten die Besucher des "größten Olympischen Ereignisses, das die Welt je erlebt hat!"
Endlich vermochte Melbourne zu beweisen, daß es bedeutender, schöner, fröhlicher war als Sydney – ein ewiger Streit um Überlegenheit, der immer wieder aufs neue aufflammte. Wie verschiedenartig die Menschen auch sonst zu sein schienen, die Grundprobleme blieben anscheinend überall dieselben.
"Auf die österreichischen Verhältnisse übertragen läuft es simpel auf den Wettstreit zwischen Villach und Klagenfurt hinaus – der besonders zur Faschingszeit stark entflammt", dachte Willi vergnügt, wenn er die Berichte las. Oder die Bäume auf der Collins Street, sollte man sie umhauen, um dem anschwellenden Verkehr Platz zu schaffen? Überall die selben Probleme. Wie soll man Rowdies beikommen, die hordenweise Kirchen demolieren und plündern? Nein, soweit war es in der Heimat noch nicht gekommen. "Aber wir sind ja meist hinten dran, in Austria...", gingen seine Gedanken rund.
An die 20 000 Menschen säumten dichtgedrängt die Umgebung des Rathauses. Tribünen stöhnten unter der Last der Schaulustigen, Radioreporter und Fernsehkameraleute wetteiferten miteinander, drängten sich auf den Balkons der Geschäftshäuser. Am Himmel drehte ein Reklameflieger seine Schleifen: "Overall-Weine."
Ja, die Weinfirmen hatten Werbung notwendig, sehr sogar. Auch Pedro hatte ihm geraten, lieber Bier zu trinken. Die billigeren Weinsorten seien mit Giftstoffen angereichert, die das Nervensystem angreifen. "Sieh' dir doch die Einheimischen an! Neunzig Prozent von ihnen trinken Bier, Bier und nochmals Bier. Wein wird verächtlich 'Fusel' genannt. Ob wirklich mit Recht, kann ich nicht beurteilen. Aber laß die Finger von dem billigen Gesöff!"
Unruhe durchwogte die buntgemischte Menschenmenge in der heißen Mittagssonne. Jetzt sprengte die berittene Polizei mit weißen Tropenhelmen daher. Jeden Augenblick konnte der Duke auftauchen! Er ist da! Die Menge tobt vor Begeisterung. Kein Wunder, der Herzog spricht sehr männliche und einschmeichelnde Worte, die wie Balsam auf die Volksseele wirken: "... und gleichzeitig benutze ich die Eröffnung der Spiele in Melbourne als Vorwand, wieder hierher zurückkehren zu können!"
Bravo! Hurra!! Ohrenbetäubender Beifall toste auf. Der Herzog verstand es, die Australier an der richtigen Stelle zu packen, nein, einzuwickeln. Da waren sehr charmante und wohlüberlegte Sätze gefallen. Sein schwarzes Jaguar-Cabriolet rauschte vorbei. Nur Bruchteile von Sekunden huschte der Rand der goldbetressten Mütze vor seinem Kameraobjektiv vorbei.
Um die Eröffnung nicht zu versäumen, machte sich Willi Höger unmittelbar danach auf dem Weg zum Stadion.
Das kreisrunde Stadion war an der Frontseite modernisiert worden. Von den Fahnenstangen flatterten die bunten Symbole der teilnehmenden Nationen, Kurzwellenantennen wurden von Technikern umringt, Flugzeuge und Hubschrauber kreuzten in geringer Höhe über den Zuschauermassen. Kind und Kegel lagerte auf dem verdorrten Rasen, suchten Schatten unter Parkbäumen oder kämpften verbissen um eine Flasche Limonade in den Verkaufszelten, wo die Luft heiß und unerträglich stickig war. Immer auf der Suche nach exotischen Gestalten, knipste Willi Pakistani mit hohen Schaffellmützen, grünen Jacken und weißen Hosen, zierliche Japanerinnen, stämmige Russen und ebenholzschwarze Neger aus Nigeria.
Auch die Heilsarmee durfte nicht fehlen. Sandwichmänner, Knaben von zwölf Jahren, marschierten über die staubigen Flächen mit Plakaten, auf denen es drohend herunterschrie:
DER LOHN DER SÜNDE IST DER TOD.
Da es Willi nicht gelungen war, Karten für die Eröffnungszeremonie zu ergattern, begnügte er sich damit, hinter einem Drahtzaun aus einiger Entfernung den Einmarsch der Nationen zu verfolgen.
Endlos zogen sie vorüber: Große und kleine Gestalten, entschlossen und grimmig dreinblickende Osteuropäer, lächelnde Schlitzaugen, selbstbewußte Amerikanerinnen und leichtfüßig tänzelnde Italienerinnen. Je nach Nation und Sympathie heulte die Menge auf oder klatschte nur mäßig Beifall. An den immer wiederkehrenden Flaggen des Commonwealth bekam der junge Österreicher eindrucksvoll vor Augen geführt, wie mächtig und weltbeherrschend das Mutterland dieser Nation Australien einmal gewesen sein mußte, welch' geistigen Bande dieses "English Commonwealth of Nations" noch immer verknüpfte. Wie armselig und verloren wirkte dagegen das kümmerliche Häufchen der Österreicher, das da eben vorbeizog.
Welch unbedeutende Rolle mußte dieses Land in den Augen des Durchschnittsaustraliers wohl spielen? Und doch – aus seinem Blickwinkel konnte dieses kleine Land mit den größten und mächtigsten Staaten auf vielen Gebieten erfolgreich konkurrieren. Die nationalen Überlegenheitsgefühle der Australier waren unbegründet. Gewiß, sie hatten in den ungefähr 270 Jahren seit der Landung der ersten Siedler auf diesem Kontinent viel und unter schwierigsten Bedingungen geleistet. Aber in seinen Augen war bis dato alles mittelmäßig geblieben, in jeder Beziehung...
"Hallo! Höger!" brüllte auf einmal jemand seinen Namen. Es kam ihm vor, eine Stimme direkt aus dem Himmel rief ihn. Da, im Geäst eines Baumes hockte Erwin der Textiltechniker, den er des längeren aus den Augen verloren hatte. Erwin kletterte nun herunter, begrüßte ihn stürmisch und schleppte ihn zu einem Wagen. "Gehört einem Freund von mir!" erklärte er. "Du hast doch Zeit mit uns zu fahren?"
Während Erwin zuhause ein Duschbad nahm, hörte Willi die Durchsage im Radio, daß ein Amerikaner und ein Jugoslawe während der Feier im Stadion zusammengebrochen waren. Die Hitze war ja wirklich zum aus der Haut fahren! Und das stellte erst den Anfang der sommerlichen Schwüle dar.
"Du hast aber eine tolle Bude!" bemerkte Willi, als Erwin zurückkehrte. "Klein, sonnig, nett eingerichtet, wunderbarer Ausblick – alles da!"
"Und wenn ich dir erst den Eigentümer und Vermieter vorstellen könnte! Ich sag' dir, ein Pfundskerl. Ein älterer Australier, schon ein wenig herumgekommen in dieser Welt. Er hält mich wie einen Sohn, ebenso seine Frau. Ich gehe hier aus und ein, wie es mir beliebt. Benütze Kühlschrank und Badezimmer, genauso wie das Wohnzimmer. Und er hat nichteinmal etwas dagegen, wenn ich gelegentlich eine Freundin mit heraufschleppe! Soetwas findest du zuhause nicht leicht."
"Was treibst du sonst eigentlich?"
"Ich arbeite in einer Fabrik am Webstuhl. Bekomme an die Pfund 16/10 heraus."
Auf der Straße vor dem gepflegten Haus lehnte Erwins leicht verlotterte Jawa. Der junge Mann stand anscheinend mit der ganzen Nachbarschaft auf bestem Fuß, grüßte den mit "Hello!" oder jenen mit "How are you going?" Erwin war ein flotter Bursche, unbekümmert und wenig zielbewußt, aber herzlich und goldrichtig. Höger nahm fast mit Sicherheit an, daß er nicht ein Pfund auf der Bank liegen hatte.
"Wie gefällt es dir hier, so nach einem dreiviertel Jahr?" erkundigte sich Willi.
"Ich muß sagen, ziemlich gut", antwortete Erwin. "Ich habe einen großen Bekanntenkreis, komme selten vor Mitternacht ins Bett – besuche eine Party nach der anderen. Werde dich künftig mitnehmen, wenn du willst. Aber...", Erwin versank in eine kurze Nachdenklichkeit, "...auf die Dauer kann das ja auch nicht so weitergehen. Ich bin schließlich und endlich nur Hilfsarbeiter. Und werde es auch bleiben, wenn ich nicht größere Anstrengungen unternehme. Außer dem Motorrad besitze ich praktisch nichts. Also steht meine ganze Lebensführung auf fragwürdigem Grund."
Es war ja alles sonnenklar: Entweder man lebte – und man konnte hier eine wirklich angenehme Existenz führen, vielleicht angenehmer als sonstwo, oder man arbeitete auf ein Ziel drauflos und knauserte mit jedem Penny. Das fiel genauso schwer wie im Heimatland – eigentlich noch schwerer.
Willi fiel die Kartonschachtel in seiner dunklen Bude ein, wo zeitweilig 15 Paar Nylonsocken von einem penetrant stinkendem Dasein verkündeten und aufs Waschen warteten. Immerhin hatte ihm die erklecklich Zahl den Spitznamen "Sockenkönig" eingebracht. Er sinnierte weiter.
Zuhause konnte man stundenlang über grüne Wiesen wandern und sich in der freien Natur erholen, sofern man die paar Schilling für die Bahn ausgegeben hatte, lebte man in der Stadt. Abgesehen von der Beach, wo die Menschen dichtgedrängt wie die Sardinen in der Büchse, die Sonne auf das Hirn scheinen ließen, gab es kaum vergleichbare Erholungsmöglichkeiten. Bushwalking, das Wandern durchs Buschgelände, stellte nach seinen Vorstellungen keinen übertriebenen Spaß dar. Überall Staub, Hitze und lauernde Reptilien. Man war also gezwungen, für Vergnügungen aller Art viel Geld auszugeben. Wer dies tat, konnte herrlich leben und der "easy way of living", der leichten Lebensart, die der Aussie für sich gepachtet zu haben glaubt, frönen. Das Leben hier ist ja so 'easy going,' so leicht und unbeschwert! Das bleuten die örtlichen Gazetten tagtäglich den Hirnen und Herzen der ahnungslosen Inselbewohner ein. Ja, wenn man nur von einem Tag auf den anderen zu disponieren gewillt war, stimmte das.
Aber wo stecken die australischen Millionäre?
Bleiben sie zu Hause und genießen sie den australischen Lebensstil? Mitnichten!
Für neun Monate im Jahr findet man sie überall auf der Welt, nur nicht in Diggers Paradies!
Der junge Wilde mit seiner Maschine drehte den Gasgriff noch weiter auf, sie jagten über das Asphaltband nur so dahin. "Deine Fahrerei ist aber nicht von schlechten Eltern", rief Willi gegen den Wind in Erwins Ohr, dessen rasantes Vehikel ihn seiner Behausung näher brachte. "Wäre nicht meine erste Polizeistrafe!" brüllte der zurück.
Der leichtsinnige Kerl fühlt sich in dem Klima wohl, dem fliegen die Herzen der Einheimischen zu. Aber ich, der ich ein wenig abwägender, zurückhaltender bin, werde nun im Büro bereits als arrogant angesehen. Scheinbar bin ich doch nicht "the right type of immigrant", der richtige, der passende Einwanderer, den man dauernd in der australischen Öffentlichkeit diskutiert.
Solche und ähnliche Überlegungen stellte Willi am Soziussitz an, während sie durch die Gegend brausten.
Aber soviel Willi Höger aus Leserzuschriften bisher hatte entnehmen können, suchte man Menschen, deren Mentalität und Traditionen möglichst den Bewohnern der Insel entsprach, die möglichst nicht der katholischen Religion angehörten, welche die technische Intelligenz der Deutschen besitzen, jedoch bei Bedarf auch ohne weiteres als Kulis bei der Zuckerrohrernte in Queensland eingesetzt werden können. Eine Schufterei, die zur Zeit von Südeuropäern durchgeführt wurde, die man aber wegen der dunkleren Hautfarbe, dem lauten Benehmen und der sippenweisen Zusammenrottung bis aufs Blut haßte und verachtete. Auf keinen Fall gehe es an, und das betonte man in der Öffentlichkeit immer wieder, daß die runde Million Neuaustralier, die seit dem Kriegsende zugewandert war, die Lebensart von neun Millionen Einheimischen maßgeblich beeinflußten. Ganz egal, ob der Einwanderer nun ein Pommy, ein bloody German oder bloß ein dunkelhäutiger Dago sei. Immer wieder fragte sich Willi, mit welchem Recht der Australier soviel an d e n Menschen auszusetzen hatte, die auf Grund der Werbekampagnen, Aufrufe und Missionsstellen in allen Ländern Europas ihr Schicksal vertrauensvoll in die Hände dieses Inselvolkes legten. Waren sie minderwertigere Menschen als die dominierende Rasse dieses Kontinents? Leisteten sie weniger? Konnte man ihnen verübeln, daß sie Geborgenheit und Schutz bei Landsleuten suchten, wenn die Aussies mit höhnisch ausgestreckten Fingern auf die Fremden wiesen? Daß es viele vernünftige, verständnisvolle und intelligente Einheimische gab, wie etwa Erwins 'Landlord', bewies unter anderem eine Leserzuschrift, die Willi sorgfältig ausgeschnitten hatte und in seinem Koffer aufbewahrte.
"Weißt du, Erwin", gestand er dem Freund später, "die ungeheuren menschlichen Probleme der 'Assimilierung', wie das große Schlagwort hier lautet, verfolge ich beinahe wie ein neutraler Beobachter. Obwohl ich zutiefst darin verwickelt bin! Ich finde einfach die Ereignisse, in die wir verquickt sind, so spannend und für die Zukunft des Landes so bedeutungsvoll.
Lies dir bitte diesen Absatz durch und sag mir, ob es nicht ein wunderbares Gefühl ist, daß es unter den zehn Personen, die uns auf der Straße als eingefleischte Australier gegenübertreten, wenigstens einen gibt, der seinen Landsleuten mit Mut sozusagen das Wilde runter räumt!"
Erwin nahm das Blatt entgegen und begann zu lesen: "Wir wissen alle wie wunderbar es ist, ein im Lande geborener, echter, großzügiger und sportliebender Australier zu sein. Aber wie lange soll es eigentlich noch so weitergehen, daß wir die mehr als eine Million Australier mit dem Etikett 'Neuaustralier' auf Armeslänge von uns halten? Wenn sie soviel Mut und Glauben an uns haben, um zu uns zu kommen, um uns ihr eigenes und das Schicksal ihrer Kinder anzuvertrauen, dann können wir wahrlich großmütig genug sein, um ihnen 'Willkommen' und 'Gut Glück!' zuzurufen.
Statt dessen wird jeder mit fremden Akzent, andersartigen Geschmack oder europäischer Kleidung unbarmherzig 'Neuaustralier' genannt. Wann immer eine Messerstecherei gemeldet wird, schreit jemand 'Neuaustralier!'. Und vergißt dabei die Saufkultur der A l t – Australier!
Wir sind unseren Einwanderern gegenüber freundlich und hilfsbereit – solange es nicht allzuviele Schwierigkeiten verursacht. Aber wir unternehmen keinen wirklichen Versuch, sie anzuerkennen oder sie zu verstehen.
Es ist an der Zeit, daß wir erkennen, daß wir alle im selben Boot sitzen; und daß wir endlich lernen, Leute - Einheimische und Neuankömmlinge – danach zu beurteilen, wie sie sich aufführen – und nicht nach dem Maßstab der Nationalität!"
Das Portrait einer hübschen jungen Frau, die nachdenklich, versonnen, aber offensichtlich glücklich in die weite Welt blickte, zierte die Spalte nebenan: "Sie ist aus Adelaide, oder aus Amsterdam. Wer kann das schon sagen..., wenn es überhaupt eine Rolle spielt?"
"Die zwei Zeilen Untertitel zum Bild drücken dasselbe aus, wie der lange Artikel von vorhin", meinte Erwin nach kurzem Schweigen. "Wenn alle Leute so denken würden – keine Minute lang käme mir der Gedanke ans Nachhausefahren in den Sinn... Aber mir gefällt insbesondere der Satz:'...Was spielt das für eine Rolle, woher das Weib stammt?' Hübsch muß sie sein!"
Damit war es mit dem Ernst des jungen Mannes auch schon wieder vorbei; das Thema glitt automatisch über auf das Problem Nr.1: Die Frauen in Australien.

* * *


Nicht ganz ohne Hintergedanken klopfte Willi eines Abends im Halbdunkel des muffig riechenden Ganges an Gerhards Tür. Insgeheim hoffte er, mit Judith zusammenzutreffen. Werner Benke, Gerhards alter Bekannter, hatte sich seit Ankunft seiner Freundin Gudrun hier nicht mehr blicken lassen. Und Willi beabsichtigte auch nicht, ihn in seinem Glück zu stören. Aber die reine Männergesellschaft, von der er umgeben war, ging ihm zeitweise auf die Nerven. Pedro mit der ewigen Zwiebelrösterei, dem hastigen Fortlaufen in die Nacht hinaus, immer auf den Spuren seiner trauten Ehegattin. Aber auch Jimmy und Robert, das Brüderpaar aus Irland, die zwei Türen weiter wohnten und vor Langeweile umzukommen drohten. Die Spanier im Parterre mit ihren stundenlangen Palavern, endlosen Diskussionen über dieses Land und seine Frauen...
An diesem bewußten Abend hegte der junge Mann den verständlichen Wunsch, einmal rotlackierte Nägel statt schwarzumrandeter Fingerkuppen zu sehen, einer weicheren, sanfteren Stimme statt den heiseren, schrill aufstoßenden Lauten der Männer zu lauschen.
Es war Willi bekannt, daß Gerhard Briefmarken sammelte. Dies gab ihm einen plausiblen Vorwand, zu diese Tageszeit in die Wohnung zu krachen. Während nun Judith in der Küche Tee zubereitete, erkundigte sich Willi so nebenbei, wie es um Judith und ihm stünde, ob er beabsichtige, sie zu heiraten? "Nee, Gott bewahre", gab er zur Antwort. "Sie ist ja ein netter, gutmütiger Kerl, aber daß ich vielleicht für sie und die beiden Kinder schufte – kommt nicht in Frage. Auch wenn sie mir jetzt noch so schön Tee kocht."
"Was? Sie hat zwei Kinder?" Willi war einfach platt.
"Ja, ist in Scheidung begriffen. Wie eben jede siebente Ehe in Australien flöten geht", bemerkte Gerhard gleichmütig. Er setzt hinzu: "Unser Verhältnis ist übrigens ein rein kameradschaftliches."
"Ich denke, das hättest du mir nichteinmal zu sagen brauchen", dachte Willi. "Da liegt nämlich der Hase im Pfeffer. Deine Eigentümlichkeiten, an der dein Freund Werner öfters herumhackt – erklärt sich aus deiner Einstellung zum weiblichen Gechlecht. Unter dieser zur Schau getragenen Kälte, dieser abweisenden Haltung, steckt ein tiefes Verlangen nach einem sauberen, innerlich und äußerlich sauberen Mädel."
Und da kam auch schon die Bestätigung seiner Überlegungen. "Wenn ich überhaupt heirate, dann nur ein Mädchen, wie die 17-jährige Brigitte, die ich vor meiner Abreise aus Deutschland kennengelernt habe – nett und unverdorben!"
"Dann hol' sie doch rüber!" rief ihm Willi zu.
"Denke, das geht nicht. Ihre Eltern würden das nicht erlauben. Etwas feinere Leute, weißt du!"
Gerhard berichtete von seinen Eindrücken aus dem Olympischen Dorf, wohin er für die Dauer der Spiele von seiner Firma versetzt worden war. "Ich muß euch Österreichern als Ganzes ein Kompliment machen", meinte der Berliner im Gespräch. "Als Individuum seid ihr Österreicher viel schneller und wahrscheinlich reifer als wir – sowohl bei den Girls als auch beim Englisch lernen. Ich kann das einwandfrei bei den Olympiateilnehmern feststellen. So komisch das klingen mag, herrscht deshalb im Olympiadorf Heidelberg dauernd eine gewisse Spannung zwischen Euch und den Bundesrepublikanern!"
Gerhard wurde schläfrig und nickte kurz darauf draussen im Wohnzimmer ein. Der Österreicher setzte sich zu Judith in die Küche und schwatzte drauflos. Er erzählte der um einige Jahre älteren Australierin seine Reiseabenteuer in Italien: Wie er einmal ein einem Nonnenkloster übernachtet hatte, wie er sich vor Hunger den Bauch mit Weintrauben vollgestopft hatte... und dergleichen amüsante Dinge mehr. Judith unterhielt sich köstlich. Willi konnte sich bereits ziemlich fließend in Englisch ausdrücken – er war nicht wenig stolz darauf - aber er verdrehte manchesmal bewußt und willkürlich die Ausdrücke, um die Australierin noch mehr zum Lachen zu reizen.
"Her mit einem Blatt Papier!" rief sie plötzlich aus, "Das muß niedergeschrieben werden! Wenn du dieselben Vokabeln verwendest, wird das ein Bestseller unter der humoristischen Literatur dieses Landes!" Sie gluckste nur so vor Heiterkeit. "Ich habe mal ein Buch gelesen, das im Stile eines noch nicht allzulange im Lande lebenden Neuaustraliers geschrieben war – also ich habe mich beinahe totgelacht!" rief sie nun aus.
Gerhard schrak durch die Heiterkeitsausbrüche in der Küche aus seinem Schlummer hoch. "Was ist denn da drinnen los?" erkundigte er sich schlaftrunken. Judith erklärte ihm das ganze Theater und fügte laut und ein wenig vorwurfsvoll hinzu: "Work and no enjoy makes Gerhard a dull boy!"
Scheint ihres Freundes – oder ihres Bekannten? – ein wenig müde zu sein, sonst würde sie sich kaum so äußern, dachte Willi pikiert. Aber vielleicht will sie ihn auch nur provokant aufpulvern, ist ja auch möglich.
Judith plauderte weiter und versuchte den Österreicher zu überzeugen, daß die Deutschen nach Ansicht der Australier viel zu sehr in ihrem Beruf aufgingen. "Das ist der Trouble mit euch Germans", meinte sie. "Ihr arbeitet wie verrückt; und wenn ihr mit dem Kopf nicht gleich durch die Wand könnt, spielt ihr gleich verrückt!"
Dagegen ließ sich wenig einwenden, überlegte Willi, enthielt sich jedoch jeder Äusserung. Sollte er die Anfeindungen erwähnen, denen er in zunehmenden Maße bei Mills Ltd. ausgesetzt war? War es so schwer zu begreifen, daß einem ledigen jungen Mann, der erst vor eineinhalb Monaten in diese Stadt gezogen war, garnichts anderes übrigblieb, als in seiner Arbeit aufzugehen? Daß er ja versuchen mußte, mit seinen gleichaltrigen einheimischen Kollegen irgendwie gleichzuziehen? Gewiß, er war nicht von vorneherein mit der Absicht gekommen, sich niederzulassen. Aber falls sich jenes sagenhafte Australien als das Paradies herausstellen sollte, für das es immer gepriesen wurde - warum sollte er dann nicht hier seine Existenz aufbauen?
Sie kamen auf die Ungarnrevolte zu sprechen, und Judith erwähnte, daß ihre Eltern die Absicht hegten, eine komplette Flüchtlingsfamilie in ihr großes Haus aufzunehmen. "Wir können doch nicht hinter der Hilfsbereitschaft deiner österreichischen Landsleute in dieser Katastrophe zurückstehen!" meinte sie lächelnd. Höchst verdattert, fragte er sie: "Wieso bist du darüber so genau informiert?"
"Na hör' mal, die Zeitungen sind doch voll von Interviews mit Ungarnflüchtlingen. Trotz der Aufregung über die sportlichen Großereignisse!
Ich hätte beinahe geweint vor Rührung, als ich las, daß österreichische Stellen die australischen Einwanderungsbehörden unter anderem darauf hingewiesen haben, daß das Töchterlein einer Familie Salusinsky am soundsovielten Dezember Geburtstag hat. Es ist so beruhigend, wenn man weiß, daß es überall auf der Welt gute Menschen gibt!" Ihre Augen glänzten feucht.
Der junge Mann sprach es nicht aus, was er in diesem Augenblick dachte: "Judith, du gehörst ganz bestimmt zu jenen Leuten..."

* * *


Höger trat auf die Veranda hinaus, um seine Kleidung gründlich auszubürsten. Der Gedanke an das Entsetzen seiner Mutter über seine Haushaltsführung, bekäme sie je Wind davon, belustigte ihn.
Jimmy und Robert, seine beiden irischen Nachbarn, eiserne Junggesellen, hingen lässig in Stühlen und streckten die nackten Plattfüße den wärmenden Strahlen der Sonne entgegen.
"Was ist los mit dir, Hoeger? Warum bist du heute so vergnügt?" Jimmy hob die Sonnenbrille hoch und sah ihn fragend an. "Wenn man euch faule Säcke so betrachtet, muß man ja unwillkürlich ins Grinsen kommen", antwortete Willi ausweichend. Eben stellte er sich die allabendliche Szene im Bad plastisch vor. Sobald er sich nämlich gesättigt hatte, schlüpfte er unter die Dusche. Und jetzt kam der Clou: Das Nylonhemd behielt er am Leib, die Socken streifte er ab. Nun ließ er das Wasser herunterrieseln und reinigte so gleichzeitig seinen Körper und das Hemd mit Bürste und Seife! War erst mal genug Wasser in der Badewanne, schlenkerte er die Beine hin und her und hoffte so auch die verschwitzten Strümpfe zu waschen. Das System funktionierte, die Zeitersparnis war beträchtlich. Es gab nur einen gravierenden Nachteil: Weder er selbst, noch die Hemden, geschweige denn die Socken wurden jemals blendend sauber. Aber das merkte er garnicht.
Ein Zettel mit der Adresse Kurt Meiers fiel ihm bei seiner Säuberungsaktion in die Hände. Er nahm sich vor, das Ehepaar noch heute zu besuchen.
Er traf die beiden zwar glücklicherweise, jedoch nicht sonderlich glückselig an. Gleich nach ihrer Ankunft in Melbourne hatten sie sich eine Vespa zugelegt und an den Wochenenden viele und ausgedehnte Ausflüge in die landschaftlich wildromantische Umgebung von Melbourne gemacht. Nach einem Kinobesuch waren sie von einem unvorschriftsmäßig abbiegenden Auto niedergestoßen worden.
" Es ist im Sommer ja ein ausgesprochener Krampf, in der Stadt herumzufahren", klagte Kurti Meier.
"Die Hitze bewirkt eine leichte Gehirnlähmung. Und die Leute steuern ihre Fahrzeuge zeitweise, als ob sie den Verstand verloren hätten. Keine Disziplin, what so ever. Ich habe es ja an mir selbst beobachten können. Manchmal war mir plötzlich nicht klar, muß ich nun rechts oder links fahren, haben wir Rechts- oder Linksverkehr?
Na, dann sind wir eben mitten auf der Kreuzung gelegen. Ich mit einer Gehirnerschütterung, meine Frau mit einem lädierten Fuß. Wie sie so halb ohnmächtig neben dem Roller lag, trat ein Australier herzu, zog seinen Rock aus und bedeckte damit ihren Schoß, da sich das Kleid verschoben hatte.
Ich muß schon sagen, diese Handlungsweise, diesen Respekt vor der Frau im allgemeinen, rechne ich diesem Volk hoch an! Als mich dann Kollegen im Krankenhaus besuchten, galt die erste Frage immer dem Befinden meiner Gattin. Wenn's der Frau gut geht, dann ist alles in Butter. Haben ihr auch öfters Blumen mitgebracht..."
"Von außen sehen die meisten Krankenhäuser ja großartig aus. Wie sind sie eigentlich eingerichtet?" Willi schenkte sich ein Glas Wein ein und knabberte an den hausgemachten Süßigkeiten.
"Ach, es ist alles wunderbar ausgestattet und modern", antwortete Kurtis blonde Frau. "Schließlich lagen wir ja im Royal Melbourne Hopital. Über die Behandlungsmethoden kann ich als Laie wenig aussagen. In vielen Dingen kommen mir die Einheimischen schon sehr naiv vor. Der Staff, Schwestern wie Ärzte, legen nach unseren Begriffen ein kindisches Verhalten an den Tag.
Da setzt sich zum Beispiel ein Arzt zu seinem eigenen Vergnügen in einen Rollstuhl und kurvt damit durch die Gegend. Oder er schäkert vor den Patienten mit einer Schwester. Ich denke, das wäre.."
"Darf ich unterbrechen?" bat Willi. "Ja, bitte?"
"Ich war Gott sei Dank noch in keinem Krankenhaus. Aber was mir am australischen Spitalswesen wirklich gefällt, ja imponiert, ist die geachtete soziale Stellung der Schwestern, die Image-Werbung, die für diesen Beruf getätigt wird. Häufig sieht man Absolventinnen der Schwesternschule in den Zeitungen abgebildet. Man sollte sich in Europa mehr um diese Mädels bemühen. Dort klagt man dauernd über den Mangel an Pflegepersonal. Hier drängt sich geradezu jedes Girl danach, diesen schweren und verantwortungsvollen Beruf aufzunehmen."
Stundenlang diskutierten die drei Österreicher das unerschöpfliche Thema "Australien", nun waren sie bei einem anderen Punkt angelangt.
"Die Frauen tun geradezu, als ob der Geschlechtsverkehr nur gnadenweise gewährt würde...", wetterte Kurti eben. "Hier ist sicherlich die puritanische Haltung der Kirche und der Einfluß der Frauenvereine maßgeblich Schuld dran."
" Ja, deshalb sucht man sich vielleicht auch gegen die Masseneinwanderung von Katholiken zu schützen, die in diesem Punkt doch realere Anschauungen vertreten", warf Willi ein.
"Ich entnehme ja meinen Gesprächen mit Arbeitskollegen", fuhr Meier fort, "die Ehe ist nicht wie bei uns mehr auf kameradschaftlicher Basis aufgebaut, sondern Money-Angelegenheit, wie alles übrige. Das beginnt schon beim fünfzehnjährigen, verwahrlosten Buben, der an der Straßenecke Zeitungen verkauft. Das gehört verboten, das ist jedenfalls meine Ansicht."
Lachend erzählte Willi von den nächtlichen Abenteuern Pedros, und von den Beweggründen dessen Frau, ihn zu heiraten.
Dann kamen sie auf die Interesselosigkeit der Australier an fremden Sitten und Gebräuchen zu sprechen. "Wenn du einem Negerstamm in Zentralafrika von den Eskimos erzählen würdest, fändest du wahrscheinlich aufmerksamere Zuhörer wie hier, wo sich jeder gelangweilt abwendet. Das ist etwas, das ich überhaupt nicht begreifen kann. Mich interessiert das Leben, die Sitten und Gebräuche dieses Landes jedenfalls sehr! Man sollte doch annehmen, daß auch die Aussies ein wenig unseren Background studieren wollen. Aber die beachten uns im allgemeinen soviel, wie wir uns für das Liebesleben der Maikäfer interessieren: Nämlich garnicht. Mich hat noch keiner um irgendeine Auskunft über unser Heimatland gebeten."
"Nein, auch mir wurde noch nie eine Frage gestellt, die ein gewisses Interesse gezeigt hätte", meinte Willi drauf.
"Und das Tolle ist ja, daß sie nicht einmal über ihre eigene Heimat Bescheid wissen! Ich habe im vergangenen halben Jahr mehr von Australien gesehen, als die meisten Digger die mir bis jetzt untergekommen sind." Der Mann fügte nachdenklich hinzu: "Aber vielleicht ist diese Gleichgültigkeit nur auf die unteren, primitiven Gesellschaftsschichten beschränkt? Schließlich habe ich es ja in der Hauptsache mit einfachen Arbeitern zu tun..."
"Nun, soweit meine Erfahrungen reichen, geht es auch in den Büros nicht anders zu", erwiderte Willi.
"Scheint schon ein sehr gleichgültiges Volk zu sein. Sehr bedauerlich für uns, die wir hier leben. Wir denken öfter an eine Heimreise, umso mehr, da meine Frau nun mit dem Fuß laboriert." Kurti Meier pausierte und überlegte anscheinend: "Aber wenn man dann wieder von den Angstkäufen, den politischen Flüchtlingen und den kleinlichen innerpolitischen Intrigen zuhause liest... Ich bekomme nämlich wöchentlich mein ehemaliges Leibblatt zugesandt", erklärte Meier, Willi die Wochenendausgabe reichend, "dann überlegt man sich wieder, ob es nicht doch vernünftiger wäre, hierzubleiben, wo man von politischen Krimskrams vollständig unbehelligt bleibt. Wenigstens außerhalb der Arbeitszeit..."

* * *


Nur schwer vermochte sich Willi an den eigenartigen, harten Klang von Jimmys und Roberts Lauten zu gewöhnen. Allabendlich verbrachte er eine Stunde in der Gesellschaft der beiden grundsoliden, wenn auch recht einfachen Burschen, die gemeinsam ein Zimmer bewohnten. Jimmy, der kleine, dickliche und jüngere der beiden Brüder, erwähnte, daß er als Besatzungssoldat in Österreich stationiert gewesen sei. Erfreut schleppte Willi sogleich seinen Bildband herbei und überließ ihn den Irländern einige Tage zur Ansicht. Der Österreicher unterhielt sich gerne mit den beiden, besonders mit Jimmy, da der Dreissigjährige als Seemann bereits ein schönes Stück von der Welt gesehen hatte.
Jimmy berichtete ihm von spannenden Erlebnissen in China, wo er einige Jahre seines Lebens verbracht hatte. So zeigte er ihm Fotos, wo er inmitten eines ganzen Harems hübscher Chinesinnen posierte, die alle an Jimmys nicht allzuschwachen Halse hingen.
Er erzählte von chinesischen Frauen, die angefeuchteten Reis literweise verschluckten und so eine Schwangerschaft vortäuschten, um einer Vergewaltigung durch die Japaner zu entgehen. Der junge Österreicher dachte an die unruhigen, ereignisreichen, sich überstürzenden Tage nach dem Zusammenbruch des Hitler-Reiches, an den Einmarsch der Sowjet-Russen und an die zerlumpten Frauen-Gestalten mit den riesigen Kopftüchern, unter denen ängstlich-verschmutzte Gesichter den Befreiern entgegenstarrten, aus demselben Grunde, in der gleichen Situation...eine fremde Soldateska marschierte ein. Was durften diese Menschen in Australien ihre Umgangsformen be- und verurteilen, wo diese Europäer doch durch Jahrhunderte die Stürme aus den Nachbarländern, oder noch fürchterlicher, die Bruderkämpfe – überlebt hatten. Kriege, für die das Einzelindividuum, der Mensch der hierher auswanderte, meist so gut wie garnicht verantwortlich war. Wie konnten sie gedankenlos Kleidung, Ernährung, Lebensregeln, mit einem Wort Kulturen belächeln, die vielfach bereits existierten, als auf diesem Kontinent nicht mehr als 300 000 Australneger und einige tausend Kangaroos herumhüpften!
Was war ihm kürzlich im Büro zu Ohren gekommen, als er, nicht sonderlich guter Laune, auf das "keep smiling" vergessen hatte. Augenblicklich begannen einige der Brüder ihre Possen zu reissen und ließen Bemerkungen fallen, wie: Er sehnt sich wahrscheinlich nach Erdäpfel und Sauerkraut zurück!
Und dies alles in einem Ton, der durchblicken ließ, daß man in den Heimatländern der Einwanderer ohnehin nur Hungerleider antreffen könne. Am liebsten wäre Willi aufgesprungen und hätte ihnen ins Gesicht geschleudert: Ich fresse zwar das eintönige und ewige 'Steak and Eggs' eurer Erfindung ganz gerne, meine Herren, aber beileibe nicht alle Tage, wie ihr Idioten!
Nicht umsonst fallen euch frühzeitig Haare, Zähne und Nägel aus, und Kalkablagerungen verstopfen die Arterien. Und aus eben diesem Grunde bereiten wir uns mal Sauerkraut zu, essen Schwarzbrot statt kraftloses Weißbrot und versuchen unserem Körper möglichst viele Vitamine zuzuführen!
Ja, ihr habt alle miteinander einen kleinen Horizont, engbegrenzt und nieder. Deswegen führt ihr euch auch so überlegen auf. Ihr habt aus eigener Anschauung nichts gesehen und nichts erlebt. Eure Pioniertage sind längst verklungen und in den Städten lebt ihr nur mehr in sattem Gleichmut dahin.
Auf dem Lande, auf einsamen Farmen, in entlegenen Townships, findet man weit mehr offene Herzen und Hirne als bei der hämisch grinsenden Stadtbevölkerung. Euch fehlt noch ein Krieg im eigenen Land, der euch so durcheinander rüttelt, daß ihr für die Nöte und Sehnsüchte, für die Fehler und Laster eurer Mitmenschen mehr Verständnis und etwas mehr Mitgefühl aufbringt!
Aber zurück zu Jimmy.
Einige Tage vor Weihnachten bracht er das Buch mit den Worten zurück: "Die österreichische Landschaft sieht so peacefully, so friedlich aus!" Willi verglich seinen Kommentar mit dem Beryls, der gebildete Dame, in deren Armen er vor langer, langer Zeit, wie ihm vorkam, gelegen war. Wie hatte sie sich ausgedrückt? "Very nice!" Sehr nett. Das waren Worte, die alles besagen konnten oder garnichts. Wie verschiedenartig doch die Menschen sind...
In diesen Tagen flatterte ein Brief seines Freundes und Buschkämpen Hugo Prattert auf den Tisch. Der Berliner schrieb nur drei Zeilen, die aber von der Verzweiflung ahnen ließen, die den Jungen, allein unter wildfremden Menschen, befallen haben mußte: "...werde das erste Mal, ganz vergessen und einsam hoch oben in den Wolken Weihnachten feiern müssen. Gegenwärtig weder Deutsche noch Österreicher im Lager Mc.Kay..."
Ärgerlich schlug sich Willi gegen die Stirn, er hätte ihn doch einladen können. Aber Werner Benke versichterte ihm, daß er dies bereits getan hätte, Hugo jedoch Bedenken geäußert habe, da er ihn und Gudrun nicht stören wolle.
Vom 23.Dezember bis 2.Jänner gewährte Mills Ltd bezahlte Weihnachtsfeiertage. Sie konnte es sich ja leisten.
Willi überlegte ernsthaft, ob er bereit war, auch nur einen einzigen Penny für eine kleine Reise oder ein sonstiges Vergnügen auszugeben. Sein Salary war gerade hoch genug, um das Allernotwendigste für die Lebenserhaltung erstehen zu können. Eben 'Basic Wages', 'Ehernes Lohngesetz von Lasalle', oder wie immer man sich auszudrücken beliebte. Er tröstete sich damit, daß er wenigstens technisch-praktische Erfahrung sammelte. Wie hatte sich Bill der Jugoslawe unlängst über dieses Thema geäussert? "In England arbeitete ich für ein Butterbrot. Hier ist die Butterschichte um 1/64 Inch dicker!"
Der hoffnungsvolle junge Mann hatte schon vor geraumer Zeit beschlossen, seinem kommunistischem Vaterland die Liebe aufzusagen, um künftighin nur mehr als "Handlanger der Kapitalisten" zu schaffen. Bills Traum seit der marxistisch angehauchten Jugendzeit war es gewesen, dereinst mit weißen Glacehandschuhen am Steuer des eigenen Wagens sitzen zu dürfen. Nun lag die Erfüllung seiner Vision vor ihm: Bald würde er seinen Secondhand-Car abstoßen, um dann mit den Fingern über das Lenkrad eines nagelneuen, 1200-Pfund teuren Holden zu streicheln.

* * *


Fünf Meter hohe Darstellungen von Santa Claus, mit Rentieren vor dem gehörnten Schlitten, drehten sich vor Myer's Großkaufhaus. Periodisch erschien auch ein langhaariger goldener Engel mit einer Kerze zwischen den gefalteten Händen. Lautsprecher brüllten "White Christmas", gesungen von Bing Crosby, auf die vollgepackten Gehsteige herunter. Aber noch häufiger ertönte "Jingle Bell"...
In den Auslagen leuchteten elektrische Christbaumkerzen in allen Farben. Flitter in schreiendem Rot, Papiergirlanden und Plastikkugeln, warben für den Tag der Bescherung. Willi stolzierte die schnurgerade Collins Street hinunter. Er bemerkte, daß bei den nun herrschenden Temperaturen um die vierzig Grad Celsius, der Lack vom Weihnachtsmann absplitterte und sich die Sperrholzplatten verzogen. Er stellte sich in den Schatten eines Bücherkiosk und betupfte seine Stirn mit dem Taschentuch. Neben ihm drängten die Menschen vorbei, suchten nach passenden Geschenken, Zeitschriften und Weihnachtsgrußkarten.
Eine ältere Dame war offensichtlich mit der gebotenen Auswahl nicht zufrieden. "Hören Sie mal", pfauchte sie die Verkäuferin an, "ich bin gegen diese religiöse Zeugs hier! Ich möchte die Karten hübsch und weihnachtlich sehen..." Der Österreicher zog den Kopf ein und haute ab. Hier bedeutete die Weihnachtszeit Fun, Fun für alle. Fröhliche Gesichter, Tanzen, Parties, eisgekühltes Coca Cola. Die Vorbereitungen der Menschen dieser großen Stadt auf die Feiertage weckten in ihm nicht die geringste weihnachtliche Stimmung. Wie konnten sie auch? Es war alles ganz, ganz anders.
Am Heiligen Abend kaufte Willi Höger eine Kinokarte, zusammen mit einem Berliner – die Stadt wimmelte anscheinend von diesen sympathischen Typen – den er erst kürzlich in einer Milk Bar kennengelernt hatte. So warteten sie gegen neun Uhr abends vor einem Lichtspieltheater zweiter Klasse, wo der Film "Gunfight at O.K.Corral" lief. Und als zweites Programm einen Streifen, der für einige Minuten James Dean, das Idol von Millionen Teenagern, zeigte.
Zum ersten Male in seinem Leben sah er vor den Standfotos zehnjährige Buben so selbstverständlich wie Erwachsene Zigaretten rauchen. Mit Ringen an den Fingern und unter den Augen. Niemand bekümmerte dies anscheinend. Nur Rolf, den Berliner Bootsbauer, Willi und einen Italiener reizte die Situation unwillkürlich zum Lachen, obwohl der Anblick nichts Erheiterndes bot.
"Das wird es wohl in jeder Großstadt der Welt geben, was Rolf?" Er sah den Berliner fragend an. "Du mußt es ja wissen? Die Bengel wachsen offensichtlich wie die Bäume im Wald heran. Nein, die haben mehr Pflege. Sonst könnte es ja nicht zu solchen Ausschreitungen kommen, wie der bandenweisen Plünderung von Kirchen."
"Komm, setzen wir uns rein. Ich möchte das nicht länger mitansehen. Am Ende rutscht mir noch die Hand aus."
Die Filme waren leidlich gut, am besten gefiel den beiden jedoch die Szene, wo James Dean über die Leinwand geisterte. Nicht etwa wegen des "Unsterblichen", sondern wegen der Wirkung, die er auf einige Girls hinter ihnen ausübte.
"Bitte, bitte! Dreh' dein Gesicht noch einmal zu mir her, lieber James! Darling!! Please!" Ununterbrochen flehten und jammerten die Gören laut und zum Steinerweichen, fast zum Brüllen komisch. Aber nur beinahe; auf die beiden Burschen wirkte es mehr tragikkomisch.
Ihr armen, hirnlosen Puten! Ist das euer einziges Idol, das euch zu Begeisterungsstürmen hinreißen kann? Das die maskengleichen Gesichter, mit denen ihr uns auf der Straße gewöhnlich anblickt, verzaubert und beweist, daß ihr emotioneller Ausbrüche fähig seid? Ja, natürlich, auch bei uns zuhause gibt es bei Jazzkonzerten gelegentlich Temperamentsausbrüche, werden Saaleinrichtungen zertrümmert. Aber die Jugendlichen tun es hauptsächlich, weil es einfach einen Mordspaß bereitet, man kannte die Grenzen.
Aber die Erschütterung der Mädchen war echt gewesen.
Und das war für die beiden Burschen das einzig Erschütternde an diesem Vorfall.

* * *


Jimmy forderte Höger auf, mit ihm einen Pub in der Nähe aufzusuchen. "Komm mit, du wirst dort einen Deutschprechenden, einen Schweizer treffen!" lockte er ihn. Um den gemütlichen Dicken nicht zu beleidigen, begleitete ihn Willi.
Das Lokal lag am Rande eines Slumviertels und erweckte von vorneherein keine Begeisterung in ihm. Der Schweizer war ihm auf dem ersten Blick hin gleichgültig. Von kleiner Statur, gelblicher, ungesunder Gesichtsfarbe und fahrigen Bewegungen, reihte er ihn in die Kategorie langsam absinkender Individuen ein, die hier dem Untergang geweiht waren. Desweiteren fand sich in der Gesellschaft noch ein hagerer, buckliger Irländer – aus dem selben letzten Graben wie Jimmy, verheiratet mit einer Deutschen. Der Irländer staunte nach den ersten Sätzen über Willis Englisch, verstohlen raunte er seinen Freunden zu: "He is an educated man." Einen einigermaßen gebildeten Menschen in diesem Milieu anzutreffen, überraschte ihn sichtlich. Ein kleiner, clowniger Australier trank noch in der Runde mit, der sich, vermutlich durch den Umgang mit Neuaustraliern, an Dingen interessiert zeigte, über die seine Landsleute kaum von selbst zu sprechen begonnen hätten. Nach der üblichen Sauferei knallte der Barman Punkt sechs Uhr die Läden herunter – ein schrilles Klingelzeichen hatte die Männer zehn Minuten vorher noch ermahnt, rasch einige 'Middies' hinunterzuspülen – und komplimentierte das Publikum unsanft zur Tür hinaus. Aber Jimmy hatte vorgesorgt und seine Kumpane mit zehn Flaschen Bier beladen, da er die "Feier" in seinem Zimmer fortzusetzen gedachte.
Vor dem Pub bettelte ein unglaublich dreckiger, struppiger alter Pensionist um Zigaretten. "Look at his hands!" raunte der bucklige Irländer seinen Begleitern entsetzt zu. Die Arme des Greises hatten sicherlich wochenlang weder Wasser noch Seife gesehen.
In Jimmies Bude kreisten dann die Flaschen. Der Schweizer, leicht angeheitert, erwies sich als Schwächling, der mit dem Leben nicht fertig wurde. Aus den hervorgestammelten Bruchstücken reimte sich Willi dessen Lebensgeschichte zusammen.
"Meine Schwester ließ mich fallen...bin das schwarze Schaf meiner Familie...Gymnasium... Genf aufgewachsen... Gebt mir eine Pistole...niemand will mich ...niemand!!!"
"Der Mensch ist ja vollkommen fertig", registrierte Willi betroffen. Schauerliche Tragödien, die einem da unterkommen. Gemütskrank, schwer. Schleppt sich nur noch so dahin. Ob dem Mann in einer freundlicheren Atmosphäre geholfen werden könnte?
Man weiß ja nicht, wie er früher war. Auf jedem Fall emotionell labil. Soso, unwillkommen fühlst du dich. Auch ich, mein Freund! Nicht bei meinen Bekannten und Freunden, aber am Arbeitsplatz, überhaupt im Lande. Wir werden hier alle nur geduldet, damit wirst du dich wohl abfinden müssen...
Jimmies Bruder Robert war inzwischen eingetrudelt. Der nahm das Leben leicht. Immer gut aufgelegt, grinste er der Welt ins Angesicht. War wohl eben von einer erfolglosen Schürzenjagd heimgekehrt. Erfolglos, andernfalls er nicht vor vier Uhr morgens aufgetaucht wäre.
Die drei Irländer stimmten nun laut gröhlend ein Lied an, dessen Melodie aus den Glanztagen des Dritten Reiches zu stammen schien. Willi horchte genauer hin und vermochte trotz der bierseligen, lallenden Stimmen einige Textstücke herauszuhören: "...daß der Englischmann uns nicht länger traurig macht!" Das bekannte 'England-Lied' in einer freiheitlich-irischen Fassung!
Es war kaum zu fassen. Die Männer brüllten so laut in die Nacht hinaus, daß sich die Spanier unterhalb aufzuregen begannen.
Der einzige Australier in der Schar gesellte sich Willi zu, der, erheitert und betroffen zugleich, dem Sing-Song der drei Irländer lauschte.
"Deine Art gefällt mir", begann er, "du bist so richtig der Typ, den wir uns unter einem German vorstellen." Der Österreicher verzichtete auf die Entgegnung, daß er kein Deutscher, sondern ein Österreicher sei. Er fand es immer wieder schwierig, den Leuten den Unterschied zu erklären. So unterließ er es und hörte sich gelassen an, was dem Mann auf dem Herzen lag.
"Du mußt verstehen, wir Australier bewundern die Germans und ihre Smartheit", erklärte er ihm vertraulich. "Ja, Bewunderung ist noch keine Liebe, und kann leicht in Neid umschlagen", dachte Willi mißvergnügt, schwieg aber wohlweislich.
"Aber die Dagos, die Italiener und Griechen und das ganze andere südländische Gesindel – die Hunde arbeiten 24 Stunden am Tag. Ja, und dann besitzen sie die Geschäfte, in die wir einkaufen gehen müssen!" Wütend starrte der Aussie vor sich hin. Willi hätte ihm manches entgegenhalten, erklären können. Seine Argumente hätten etwa so gelautet.
"Ihr könnt ja auch den ganzen Tag fest zupacken und Geld verdienen, dann wären die Italiener vielleicht gezwungen, bei euch den Salat für die Mittagstafel zu kaufen. Denn irgendwer muß ja schließlich neue Läden für die jährlich um 100 000 Personen zunehmende Bevölkerung eröffnen, und zwar rasch und effektiv.
Wenn die Italiener in der Lage sind, den gestiegenen Bedarf an Spinatblättern zu decken, dann laßt sie doch gewähren. Oder sollen die Europäer euretwegen vielleicht kein Grünzeug mehr fressen? So sehe ich es jedenfalls...", wollte Willi antworten, aber er unterließ es, denn er hatte nicht die Absicht seinen neu gewonnenen australischen Bekannten unnötigerweise zu verstimmen.
Am Ende der großangelegten Besäufnis, als die Pappkarton-Kiste leer am Boden stand, die Bierflaschen herumkollerten und die Aschenbecher von Stummeln überquollen, neigte sich der Aussie nocheinmal zu Willi hin, betrachtete schweigend den Saustall und flüsterte ihm dann geheimnisvoll raunend zu:
"Der lange Irländer dort, der mit dem Buckel – mein Freund, der hat eine Deutsche als Gattin...Die rührt das Bier nicht einmal an!" Und das sollte etwas heißen in einem Lande, wo selbst die Mütter der Nation ihre Freizeit regelmäßig in der Ladies Lounge verbringen...

* * *


Durch Rolf, seinem neuesten Bekannten, lernte er auch dessen Bruder kennen, der seit einigen Jahren in einer Leuchtstoffröhrenfabrik als Elektriker beschäftigt war. Er hatte damit eine Lebensstellung, bei guter Bezahlung und viel Freizeit und war stolzer Besitzer eines Mercedes.
"Was der aus seinem Leben macht, ist furchtbar", klagte ihm Rolf sein Leid. "Er ist vollkommen schlapp geworden, liegt dauernd auf der Couch herum und liest Romane. Kaufte sich eine riesige Filmkamera, mit der er nun Streifen im Obstgarten dreht, nützt weder Auto noch Kamera aus..."
Nachdem Willi den Älteren kennengelernt, sagte er sich resigniert, wenn ich in drei bis vier Jahren auch denselben 'Lebensstandard' erreicht habe, wie Rolfs Bruder – Nein Danke!
Aber wie überzeugend der Mann für Australien das Wort ergriff! Man solle doch hier bleiben! Die wirtschaftlichen Aussichten, das "easy way of life", und so weiter. Und kein Wort davon, daß die meisten der Einwanderer nach all den langen, harten, entbehrungsreichen, oft von wirklichen materiellen Erfolgen begleiteten Jahren in Australien – in ihrer Vitalität und ihrem Unternehmungsgeist so weit abgesunken waren, daß es immer aufs Neue überraschte und deprimierte.
Er ahnte, daß jeder, der einmal dem Trott, der Gedankenlosigkeit und Apathie dieses Landes zum Opfer gefallen war, sich vor dem Gedanken an eine Rückkehr in das Heimatland fürchtete, da er sich dem Lebenstempo dort nicht mehr gewachsen fühlte. Obwohl er sich nach frischer Atemluft, nach der seit der Kindheit vertrauten Umgebung sehnte, ja verzehrte.
Und Willi fühlte, daß jeder Neuaustralier in jedem Neuankömmling einen Menschen sah, der seine eigene Position, sein Lebensrecht hierzulande verstärkte. Und weil sich damit Millionen Europäer weniger verlassen und auf sich gestellt vorkamen. So sollte er es hunderte Male erleben, wie man Rückwanderer bat und zuredete: "Bleibt doch bei uns!"

* * *


An einem der letzten Tage des Jahres 1956 gastierte in Melbourne das National-Chinesische Klassische Opern-Ensemble und hielt das kunstverständige Publikum in Atem. Für Willi bildete diese Begegnung mit dem Land seiner Jugendträume etwas Faszinierendes. Er bemerkte zu Werner Benke, daß die Australier in der beneidenswerten Lage wären, sowohl die Völker des Fernen Ostens, wie auch die Europäer in unmittelbarem Kontakt studieren zu können. Wieviele Nationalitäten und Rassen lagen nicht über das ganze Stadtgebiet verstreut, boten in ihren speziellen Restaurants interessierten Besuchern das Beste an lukullischen Genüssen. Italienische Espressos schossen wie Pilze aus dem Boden, und Filme in Originalfassung liefen in einigen Kinos.
"Stell' dir vor, wie leicht es hier ist, eine Fremdsprache zu studieren! Es gibt tausend Möglichkeiten durch persönlichen Umgang Sprache und Brauchtum irgendeines Landes kennenzulernen!" schwärmte Willi seinem Freund vor. "Aber wie viele machen schon davon Gebrauch?"
"Tust du es denn?" erkundigte sich Werner spöttisch.
"Ich bemühe mich zumindest", antwortete der. "Bei mir im Haus wohnen fünf Spanier. Vor Jahren belegte ich mal auf der Volkshochschule einen Konversationskurs in Spanisch – heute erteilt mir einer von den Fünf, ein Maturant, Unterricht. Hier arbeitet er, nebenbei gesagt, als Tellerwäscher. Ich wiederum unterweise ihn in englischer Grammatik. Das Ganze ist äußerst amüsant. Für ihn als Spanier ist es fast unmöglich, das 'little' richtig auszusprechen, genauso wie für einen Italiener. Wenn ich lache, glaubt er, ich lache ihn aus und ärgert sich deswegen. Aber ich korrigiere seine Fehler immer wieder, denn nur so wird er zu einer korrekten Aussprache gelangen. Leider unterziehen sich die Australier bei uns kaum dieser Mühe. Man schimpft und kritisiert zwar dauernd, daß es Einwanderer gibt, die nach jahrelangem Aufenthalt kaum ein Wort Englisch beherrschen – aber im Umgang mit den Einheimischen geht es halt normalerweise am schnellsten. Gerade hier hapert es aber!" meinte Willi.
"Du kannst ja auch zweimal in der Woche kostenlos Unterricht nehmen, der Australische Staat bemüht sich ja wirklich um eine Lösung des Problems", wandte Werner ein.
"Das möchte ich ja garnicht verkennen. Aber was mir absolut nicht gefällt ist, daß sich selten einer der Leute, mit denen du in Kontakt kommst, bemüßigt fühlt auch nur deine schwersten Fehler auszubessern! Du kannst zum Beispiel X-mal sagen 'avaivable', wie es mir passiert ist. Kein Mensch hat mich aufmerksam gemacht, daß es richtig 'available' heißt. Der Fehler muß einem Australier doch auffallen!" Der Österreicher hatte sich wiedereinmal so richtig in Wut geredet und wäre mit seiner harten Kritik weiter fortgefahren, doch Werner unterbrach ihn. "Was du da kritisierst, ist alles gut und schön – jeder weiß davon ein Lied zu singen. Sowohl der Einwanderer, als auch der Australier. Vielleicht ist es auch für ihn bedauerlich, denn früher oder später wird er an den Folgen dieser Nachlässigkeiten zu leiden haben. Aber höchst eigenartig finde ich den Grund, den man ihrerseits für diese Unterlassung anführt. Weißt du, wie man sich in der Öffentlichkeit rechtfertigt?"
"Nein, keine Ahnung", gestand Willi.
"Der Australier behauptet nämlich, er sie zu – wohlerzogen dazu! Es gehe doch nicht an, daß man einem Bekannten Sprachfehler ausbessere! Ich sehe ja ein, daß es auf die Dauer ermüdet, das Gestammel seines Gegenüber auszubessern. Aber nach Wochen glättet sich dann dieses Stottern und geht in flüssigere Formen über."
Werner Benke, dessen Freundin Gudrun und Willi Höger spazierten durch die gepflegten Parkanlagen dem hellerleuchteten Theater zu, das durch hunderte nackter Glühbirnen, die girlandenförmig zur Kuppel emporliefen, illuminiert wurde. Das Innere dieses immerhin ehrwürdig anmutenden Baues erwies sich als restaurierungsbedürftig. Kabelstränge wandten sich, für das Publikum sichtbar, empor, und der Orchesterraum mochte noch aus der Viktorianischen Ära herübergerettet worden sein. Doch schien sich eine neue Welle eines Kulturbedürfnisses anzubahnen, diskutierte man doch gerade heftigst den ultramodernen Entwurf eines dänischen Architekten, der in Syndney das erste Opernhaus des Fünften Kontinents erbauen sollte.
Auch für die beliebten sommerlichen Freiluftkonzerte in den Parkanlagen Melbourne's, wo tausende Menschen den Klängen der Meister lauschten, sollte es bald eine Überraschung geben, plante man doch eine Music-Bowl nach amerikanischem Vorbild.
Mit unheimlicher Präzision, tollem Schwung und ungeheurem Aufwand an kostbaren, wallenden, goldverzierten Gewändern rollten die Auszüge aus der Peking Opera vor dem gemischten Publikum ab. Die phantastischen Gestalten der chinesischen Mythologie hüpften als Affen, Schlangen, Könige, Prinzessinnen und Generäle zum nervenaufpeitschenden Getöse fremdartiger Musikinstrumente über die Bretter.
Furchterregende Kampfesszenen wurden von drolligen Spaßmachern und lieblichen Volkstänzen abgelöst. Gespannt verfolgte Willi Höger das ungewohnte Schauspiel. Aus der dritten Reihe konnte er die freudesprühenden Augen der anmutigen Chinesinnen, die perfekt einstudierten Bewegungen der Tänzer genauest verfolgen.
Zufällig saß ihm zur Seite ein Chinese, der dem anscheinend lustigen Dialog von "Der Herbstfluß" mit unverhohlenem Vergnügen folgte. Während einer Ansage des australischen Managers lachte er hellauf heraus. Als sich Willi erstaunt bei ihm erkundigte, was daran denn so witzig sei, erklärte der Chinese kichernd, der Mann habe einen Frauen- mit einem Männernamen verwechselt. Auf Ersuchen des Österreichers malte er mit bemerkenswerter Fixheit das Programm in verschnörkelten chinesischen Symbolen auf die Rückseite der Broschüre. Der junge Chinese war sichtlich erfreut mit dem Europäer ins Gespräch zu kommen. Mit leichter Wehmut überlegte Willi, ob wohl die Zukunft aus Australien ein Land formen würde, in dem sich Vertreter aller Rassen unbeschwert niederlassen durften, ihre Kulturen hier einpflanzen und doch friedlich nebeneinander, ihren Eigenarten entsprechend, leben konnten. Welch Paradies müßte so entstehen, welch schöpferische und vitale Nation würde daraus geboren!

* * *


Das neue Jahr brachte gleich eine unangenehme Überraschung. Seit Wochen fühlte sich sein Kiefer äußerst druckempfindich und schmwerzhaft an. Dann schwoll überraschend der Gaumen an, eine Eiterbeule entwickelte sich neben den oberen Backenzähnen. Instinktiv hatte er schon jahrelang geahnt, daß in seinem Organismus eine Infektionsquelle steckte, die ihn schleichend und heimtückisch an den Rand eines Zusammenbruches trieb. Bereits im Busch hatte sich der Gaumen manchmal flammend rot verfärbt, aber der Arzt vermochte nichts absonderliches festzustellen. Wegen der zwei gelben Knötchen im Rachen befragt, hatten die konsultierten Mediziner nur mit der Achsel gezuckt. Das linke Ohr, das andauernd rauschte und zeitweise völlig ertaubte, blieb die beständige Quelle geheimer Qual.
Das hoffnungslose, aussichtslose Leiden und das vergebliche Warten auf ein Wunder hatte ihn zermürbt, nahezu am Boden vernichtet. Wenn er mit Freunden scherzte, vergaß er zeitweilig seine Besorgnisse und Leiden. Sobald er jedoch in sein ruhiges Zimmer zurückkehrte und allein war, kreiste sein Denken unaufhörlich um jenen Punkt. Unerklärliche Kopfschmerzen befielen ihn, Magenkrämpfe traten auf – es war zum Verzweifeln. Pfund für Pfund war für Dentisten, Röntgenaufnahmen und Magenuntersuchungen draufgegangen – ohne eindeutige Resultate.
Im Büro begannen seine Kollegen zu munkeln. Sein gequälter Gesichtsausdruck ließ sie alle möglichen und unmöglichen Mutmaßungen aufstellen. Aber bis jetzt war er unter älteren, soliden, verständnisvollen Kollegen gesessen, die über sein ungewollt zur Schau gestelltes Mißbehagen einfach hinweggesehen hatten.
Es war gut, daß Willi eine so aufgeschlossene und rege Wirtin zur Hand hatte. Sie schrieb ihm die Adresse eines Zahnarztes auf, den sie gelegentlich konsultierte.
Das Ordinationsschild wies abgeblätterte Buchstaben auf, die Fensterscheiben neben der Tür mit dem altmodischen Klopfer aus Messing blickten matt und trübe in den hellen Tag. Einige Meter weiter balgten sich Straßenjungen, und eine fette griechische Gemüsehändlerin sah ihnen gelangweilt zu. Auf dem Gehsteig trieb ein Windhauch Papierfetzen und zerrissene Zeitungen über achtlos weggeworfene Bananenschalen. Das ganze Viertel machte keinen vertrauenserweckenden Eindruck.
Komisch, Polizisten sieht man in australischen Städten sehr wenige, durchfuhr es Willi plötzlich. Zuhause steht an jeder Straßenecke einer.
Der Wartesaal schauerte vor Dunkelheit. Über eine knarrende Treppe stieg eine unordentlich gekämmte Frau herunter. "Wir sind gerade vom Urlaub zurückgekommen. Sie müssen sich ein wenig gedulden, muß vorher den Ordinationsraum saubermachen", bat sie. Es dauerte nur eine halbe Stunde, bis Willi mit gemischten Gefühlen auf dem Marterstuhl Platz nehmen konnte. Der Arzt rumorte nebenan in einer Kammer herum. Das Spülbecken wies Krusten von Dreck auf. Die Bohrer lagen zwischen blutbefleckten Wattebäuschen, daneben eine rostbedeckte Reißzange. Wandbilder mit Abbildungen des Nervensystems, noch aus der Jahrhundertwende stammend, stellten die Gefahren vereiterter Zähne drastisch dar.
Am liebsten wäre er aufgesprungen und geflohen: der ganze Anblick war einfach furchterregend. Das Bild offensichtlicher Verwahrlosung erfüllte ihn mit Abscheu und Entsetzen, wie gelähmt saß er in dem Stuhl.
"Kein Mensch in Zentraleuropa würde sich zu einem solchen Bader wagen. Das Ganze gehört behördlich geschlossen und versiegelt", überlegte er geschockt.
Schon hatte er sich dazu durchgerungen, mit einer Ausrede schnellstens das Weite zu suchen, da trat der Zahnarzt an ihn heran. "How do you like Australia?" erkundigte er sich teilnahmsvoll. "Oh, not so bad!" lautete die kühle, vage Formel, die gemeinhin ein Lob darstellte.
Das Extrahieren erwies sich für Willi als grauenhaft, für den Mann mit der rostigen Zange als äußerst anstrengend. Erst nach einem Blutbad gaben die drei Backenzähne nach und waren draussen. Der Österreicher bezahlte die paar "Quid" und wankte zur Tür hinaus, ohne auf den Gruß des Baders zu achten. Zuhause angekommen, nahm er ein schmerzstillendes Mittel und ließ sich aufs Bett fallen.

Am nächsten Morgen erwachte er früh. Als er die Augen öffnete, drehte sich alles um ihn. Das Blut pulsierte fieberhaft durch den Körper, im Schädel verspürte er einen Druck, als ob ihm der Kopf zerreissen würde. Unter der Backe wölbte sich eine Schwellung. Von dem Dreckzeugs war sicherlich der Kiefer infiziert worden, er hatte es ja geahnt. Wäre er doch aus der lausigen Bruchbude verschwunden, bevor es zu spät war!
"Was passiert mit mir, wenn ich eine Blutvergiftung, eine Sepsis bekomme", fragte er sich verzweifelt. "Mein ganzes Geld wäre zum Teufel, ich würde vielleicht meinen Job verlieren, müßte wieder ganz von vorne anfangen. Wer würde sich ernstlich um mich kümmern, wenn ich ins Krankenhaus käme? Hier hat doch keiner Zeit für den anderen. Werner? Der würde sich kaum für mich einsetzen, da mache ich mir nichts vor", überlegte er fieberhaft. Seine Gudrun bereitete Werner Sorgen genug. Er hatte Angst, sie zu verlieren. Sie war inzwischen arbeitslos geworden. Hatte vorerst als Näherin ihr Brot verdient, aber der Chef interessierte sich allzusehr für sie und war abgeblitzt. Die Konsequenz – als sie dann zufolge des Klimawechsels, oder wegen der ungewohnten Nahrungsmittel, an einer Magenerkrankung laborierte, hatte er sie kurzerhand auf die Straße gesetzt. Das war ausgesprochenes Pech gewesen.
Und Rolf, der Berliner Tischler, seine jüngste Bekanntschaft? Besaß selbst keinen Penny zuviel. Und außerdem stand die Ankunft seiner vielgeliebten Uschi kurz bevor. Von ihren Eltern in Deutschland hatte er einen Brief erhalten, sie magere vor lauter Sehnsucht immer mehr ab. Der war versorgt mit eigenen Problemen.
Aber Erwin wäre ein Mensch, der ihm helfen könnte, sollte wirklich etwas schief gehen. Erwin war ein flotter Bursche und keineswegs kleinlich. Oder vielleicht das Ehepaar Finze?
Er war nicht vollkommen allein und verlassen!
Er taumelte mehr als er ging in das nächstgelegene Krankenhaus. Dort vewrpasste ihm eine Schwesternschülerin eine Injektion in den Allerwertesten, nicht ganz ohne Vertändnisschwierigkeiten. Bereitwillig und ganz ohne Aufforderung hatte er den linken Oberarm freigemacht und auf den Einstich gewartet. Aber auch die nette kleine Schwester wartete und murmelte etwas ungeduldig ein paar Worte, die er nicht verstand. Schließlich hatte sie ihm kurzangebunden bedeutet, er möge die Hose runterlassen. Wenn ihm nicht der Schmerz die ganze Visage verzogen hätte, würde er jetzt gelächelt haben. So aber gefror sein Gesicht nur zu einer Grimasse.

* * *


Die Schmerzen ließen nur geringfügig nach. Mit aller Willensanstrengung raffte er sich dazu auf, ins Büro zu gehen. Gleich als erstes teilte man ihm mit, daß für ihn ein neuer Platz in der Mitte des Saales vorgesehen sei. Um ihn herum bemerkte er nur verhältnismäßig junge Leute. Verbissen setzte er sich an das Brett und begann mit der Arbeit. Er wollte weder Mitleid noch Teilnahme für sich erheischen. Und niemand sollte behaupten können: Da seht, er kann die Arbeit nicht leisten, für die er bezahlt wird!
Er hätte sich ja einen Tag freinehmen können, aber er war in den vergangenen Wochen ohnehin zu Genüge gezwungen gewesen, Krankentage in Anspruch zu nehmen. Er schämte sich dessen. Er wollte denen beweisen, daß er jeder Anforderung gewachsen war. Sonst würde man wieder munkeln: Aha! Besonders viel ist nicht mit ihm los.
Und dann steckte etwas in ihm, dessen er sich nicht voll bewußt war: Die Angst, nochmals zu versagen, hängen zu bleiben oder aufgeben zu müssen, wie es vor seiner Abreise in Europa der Fall gewesen war.
So legte er mit zitternden Fingern die Dreiecke aneinander und versuchte die Symmetrielinien aufzureißen. Aber die Augen, vielmehr das Sehzentrum, versagte unter den fiebrigen Schauern die ihn durchfluteten. Die Aufgabe war unkompliziert, aber stundenlang probierte er herum, bis es ihm endlich gelungen war, die Sache ins rechte Lot zu bringen.
Seine neuen Nachbarn beobachteten ihn argwöhnisch von der Seite her. Einer begann zu kichern und riß Witze über den "smarten" Europäer, der da an simplen Entwürfen verstört herumfuchtelte, mit dem offensichtlich irgendetwas los war.
Was, das würden sie schon noch herausbekommen!
Zu Mittag begab sich Willi nicht wie üblich in die Kantine, um Fish and Chips zu essen, sondern ließ sich auf einer der Bänke nieder, die am Rande eines Mini-Golfplatzes standen und bot seine schmerzende Gesichtshälfte den wärmenden Strahlen der Sonne dar. Er hätte die vielen neugierigen Blicke im Speisesaal nicht ertragen, wohl wissend, daß er elend aussah.
Von allen Anfang an hatte er sich bemüht, bei den älteren Australiern Anschluß zu finden. Und sein Stammplatz beim Mittagstisch lag einem etwa dreissigjährigen Australier gegenüber, der ein Jahr lang in den USA gearbeitet hatte. Zu Jack Whitt besaß er vollkommenes Vertrauen. Jack behandelte ihn als einen in jeder Beziehung gleichwertigen Kollegen, er hatte niemals auch nur die kleinste Distanzierung aufgebaut. Gewiß, John der Tasmanier ließ es selten an Freundlichkeit fehlen, behielt jedoch eine gewisse, abwartende Reserviertheit bei.
Willi war eben dabei herauszufinden, daß den Digger nichts so sehr in geifernde Wut zu setzen vermochte, wie Kritik an Institutionen oder Errungenschaften dieses Landes, wenn auch noch so wohlgemeinte. Dem Österreicher, mit dem stürmischen Drang der Jugend nach Wahrheit und Gerechtigkeit, fiel es mitunter furchtbar schwer, eine scharfe Entgegnung hinunterzuschlucken, obwohl dies auf längere Sicht für ihn entschieden besser gewesen wäre.
Ein kleiner, zerknitterter Mann hatte ihn gleich in der ersten Minute in ein Gespräch verwickelt, das bezeichnend war für die naive Denkungsart seiner Kollegen. Witzig, schlagfertig und ein klein wenig infantil wirkend – man nannte ihn 'Baby' – sprach er davon, daß Willi nun wohl an Gewicht zulegen werde. Nun, da er ausreichend Nahrungsmittel erstehen und sich an Steak and Eggs gütlich tun könne. Der Österreicher klärte ihn auf, daß in Mitteleuropa Mitte der Fünfziger Jahre kein Mensch mehr des Hungers sterben müsse, nichteinmal die Altersrentner, wie er mit einem Seitenhieb auf die australischen Zustände anspielte. Er gab fairerweise zu, daß in unwirtlichen Gebieten Südeuropas die Menschen mit kärglicheren Rationen ihr Auslangen finden mußten. Das Männchen mit der ungesunden, fahlen Gesichtsfarbe war ob dieser Offenbarung regelrecht enttäuscht. In seiner Vorstellung hatte er nun gegenüber dem Europäer an Terrain eingebüßt.
Nur der dringende Wille, durchzuhalten, ließ Höger diesen und den folgenden Arbeitstag überstehen.
Am Wochenende bedrängte ihn Rolf, doch mit ihm Canoe-Rudern zu gehen. Willi war jede Abwechslung willkommen, wenn er sich auch weder physisch noch psychisch auf der Höhe wußte. Beim Fairfield Canoe Club mieteten sie ein Boot und paddelten, nach Indianerart am Bug und Heck knieend, die Windungen der Yarra hinauf.
Rolf erzählte von seiner Arbeitsstelle. Unter anderem, daß er selbst mit seinen Leistungen nicht zufrieden sei. Daß es ihn nicht wundern würde, wenn ihn der Boß rausfeure.
"Ich weiß nicht, habe ich alles verlernt? Oder spielen da andere Faktoren mit, Gesundheit, Geschlechtsleben und so weiter?" fragte sich Rolf verbittert und zugleich resigniert.
Während sie gemächlich flußaufwärts ruderten, schwärmte er von den Tugenden seiner Braut, die offenbar vollkommen war. Wie toll sie gebaut sei. Was für eine Hausfrau! Und so weiter in den höchsten Tonarten. Seine Phantasie gauckelte dem jungen Berliner vor, was er alles mit seiner Uschi anstellen würde, wenn sie nur erst mal bei ihm wäre: "Ich werde den Fluß runterfahren, ...siehst du das Gebüsch dort? Da werde ich mich mit Uschilein hinhauen und sie umarmen, und küssen, und...Ooooch, Mensch, Junge!!! Das wird eine Wucht werden!"
Willi hegte nur die Hoffnung, daß sowohl Rolf wie seiner geliebten Partnerin eine bittere Enttäuschung erspart blieb. Da die Frauen sehr häufig feststellen mußten, daß aus ihren ehemals soliden Geliebten haltlose Männer und Trinker geworden waren, die ohne jede Energie dem Hergott einen Tag nach dem anderen stahlen.
Den ganzen sonnigen Nachmittag auf der Yarra hätte er vor Kopfschmerzen heulen mögen. Es war Willi einfach unerklärlich, daß die Qualen selbst nach drei Tagen nicht nachließen.
Zum Abschluß des Sonntages besuchten die beiden noch ein Kino, das auschließlich 'Continental Pictures' brachte - zufällig eine österreichische Produktion in unverfälschtem Wienerisch. Beim Nachhause gehen hörte er, wie eine Frau an ihren europäischen Gatten erstaunt die Frage richtete "...Und ich dachte immer, die Wiener sprechen auch Deutsch??" Was Willi trotz seiner Schmerzen ein breites Schmunzeln entlockte.

* * *


Als Willi die Stiege in den ersten Stock hinaufkletterte, fiel ein Lichtstreifen quer über den Korridor. Seine Schritte dröhnten in der Stille der Nacht überraschend laut. Die Glastüre zu dem hellerleuchteten Zimmer der beiden Irländer war weit geöffnet, man war also noch auf den Beinen. Jimmy befand sich allein im Raum. Er hing total deprimiert am Stuhl und war richtiggehend besoffen. Der Österreicher trat bei ihm ein. Schwerfällig erhob sich der Irländer, stellte sich vor den großen Wandspiegel und blinzelte aus verquollenen Äuglein hinein. Tränen liefen ihm dabei über die Wangen hinunter. Mit der Rechten umklammerte er krampfhaft ein Trinkglas voll Whisky, das er nun Willi entgegenstreckte, und klöhnte mit weinerlicher Stimme:
"Trink, Hoeger, du bist genauso einsam wie ich!
Ich muß dir was sagen, Hoeger – mich freut nichts mehr auf dieser Welt. Und dann noch etwas...", seine Stimme stockte, er lallte nur mehr, "...Ich war mit einem österreichischen Mädchen verlobt. Ich war Besatzungssoldat – in dieser Zeit - und sie lebte in – Styria. Wie sagt ihr doch? St-Steier-mark?? Ich hoffe, das ist richtig?" Pause. "Ich habe sie in den zehn Jahren nicht vergessen. Hoeger, I tell you – ich habe Frauen in China, in Amerika und Australien ... überall auf der ganzen Welt, the whole world over...aufs Kreuz gelegt. Aber dieses österreichische Mädchen geht mir nicht aus den Sinn..."
Er stierte auf das halbleere Glas, soff es dann mit einem Zug aus. Schwankte unsicher hin und her, griff nach der Stuhllehne, um sich festzuhalten.
Urplötzlich schrie es vehement aus ihn hervor: "Ihr Kind ist mein Kind!! Her child is my child!! My child, my ...", wiederholte er tonlos, mit absterbender Stimme.
"Deswegen kann ich nicht heiraten, weil sie mir nicht aus dem Kopf geht, weil ich sie nicht vergessen kann..." Fast entschuldigend klangen seine Worte. Und von einem Augenblick zum anderen fuhr er wild hoch, rollte die Augen und schrie Willi an: "Hoeger, verlasse dieses Land! Es ist nicht gut, ist nicht gut! Es treibt dich zum Wahnsinn!!" Zu einem nahezu unhörbaren Flüstern abgesunken, mit verlöschender Kraft, brachte er nochmals hervor: "Du bist genauso wie ich – einsam..." Dann fiel der Irländer über seine Liegestatt und blieb wie ein gefällter Klotz liegen.
Erschüttert knipste Willi die Deckenlampe ab und schloß behutsam die Glastüre hinter sich.
"How do you do this morning?"
"How are you going mate, 'orright?"
Grüsse? Erkundigung nach dem Befinden?
Nein, das waren routinemäßig angewandte Phrasen, die er da allmorgendlich zu hören bekam. Nein, sie wurden gewöhnlich nicht an ihn gerichtet, außer von Baby, Ted, John oder Jack Whitt etwa. Aber untereinander traten sie so aufeinander zu, die Aussies.
Rechts neben Willi zeichnete ein 21jähriger, fanatisch dreinblickender Australier. Es war dem an sich freundlichen und gutmütigem Österreicher noch nicht einmal gelungen, den Nachbarn zu einem flüchtigen Gruß am Morgen zu bewegen. Finster saß er die Stunden ab, zog seine Striche, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen. Er ignorierte den Österreicher vollständig. Der hatte keine Ahnung, warum.
In den ersten Tagen, die er in der neuen Umgebung verbrachte, war er von einer Überraschung in die nächste Bestürzung geschlittert. Die Dinge, die da um ihn vorgingen, raubten ihm den Atem. Was er da im Zentrum des Zeichensaals von Mills Ltd, Erzeuger von Bohraggregaten und Tochterfirma eines US-amerikanischen Unternehmens, in den ersten Stunden mitanzusehen gezwungen war, ließ in ihm Zweifel aufsteigen, daß er es mit normalen Individuen zu tun habe. Zumindest nach seinen, von heimatlichen Verhältnissen befangenen Verstand nach zu beurteilen.
Sein Nachbar griff nach einer Stunde seelenruhig nach dem Scotchband, das er sich vorhin besorgt hatte, und riß sich einen Meter davon ab, ohne auch nur ein Wort zu verlieren. Mit der morgendlichen Teepause gesellte sich ein Schwung junger Burschen an den Platz des jungen Australiers, lagerte auf Zeichentischen, Rollenablage und fremden Sesseln. Einer langte nach einem Bleistift auf Willis Brett, rührte damit den Zucker im Tee um und legte ihn irgendwo wieder ab.
Willi blieb vor Erstaunen der Mund offen. Während sie mit lautem Geschwätz ihre Autoprobleme diskutierten, ergriff der Nachbar, der Kapo der Bande zu sein schien, Högers schönen weißen Radiergummi und feuerte ihn einen zwanzig Meter entfernt Sitzendem an den Schädel. Der blickte wütend von seinem Sexmagazin hoch, und die Menge heulte vor Freude auf. Mit wachsendem Befremden versuchte Willi diese kleinen Ereignisse in seine Erfahrungswelt einzuordnen.
Was war das für eine unkultivierte Horde? Die benahmen sich ja so, als ob sie allein im Saale existierten. Solche Rüpelhaftigkeiten hatte er nicht einmal im Busch erlebt. Wo waren die Kerle aufgewachsen? In den Slumvierteln von Melbourne? Im Gangsterclub? Oder waren dies die ersten Früchte der hochgelobten antiautoritären Erziehung, die er, Willi Höger, noch nicht genossen hatte?
Da kniete einer der Jungen auf einem Hocker und las aus der Truth die letzten Sportnachrichten vor, sein verlängertes Rückgrat ragte also gewissermaßen deutlich in die Luft. Flugs ergriff einer der 'Kollegen' einen kurzen Handbesen und fuhr ihm mit dem Stiel zwischen die Schenkel...
Der jaulte auf, schlug um sich und fegte eine abgestellte Tasse vom Tisch. Klirrend zerbrach sie am Boden, und der Tee ergoß sich über die Bananenschalen, die man vorhin achtlos dorthin gefeuert hatte.
War es dem halbwegs wohl erzogenem Willi Höger übel zu nehmen, wenn er nach solchem Einblick in das Geistesleben der jungen australischen Generation, angewidert seine ausgestreckten Fühler wieder zurückzog? Daß die wenigen Europäer unter ihnen von ähnliche Gedanken bewegt wurden, zeigte sich in den Mittagspausen. Der jüngst eingestellte Italiener stand unbeweglich im Schatten eines Baumes und kaute an seiner Jause, der eine Russe grinst sein geistesabwesendes Lächeln, schritt allein die Werkshallen entlang und dachte dabei vermutlich an seine Freunde in Sydney, die er so gerne besuchte. Die deutsche Stenotypistin trippelte einsam mit dem Tablett daher, um dann schweigsam mit Messer und Gabel zu hantieren: Rasch, damit sie schnell fertig wurde. Warum konnte er sie nie unter der Schar von Frauen entdecken, die alle auf einem Haufen beieinander saßen?
Die drei Jugoslawen diskutierten gewöhnlich miteinander, und der Holländer schloß sich ihnen häufig an. Und gelegentlich trafen sich alle Europäer draussen bei den Sitzgelegenheiten entlang der Grünanlagen, debattierten die ganze Mittagspause hindurch, bis es wieder an der Zeit war, in den Saal zurückzukehren.
Komisch, in Europa glaubten die verschiedenen Nationen nicht miteinander existieren zu können. Aber dieser isolierten Gruppe gelang es ohne Schwierigkeiten. Nicht ein einziges Mal tauchten ernstliche Meinungsdifferenzen auf. Was bedeutete dies?
Daß das Denken dieser Gruppe, dieser kleinen europäischen Population, konform verlief, einem gemeinsamen Geist entsprungen: Der gemeinsamen Kultur des Abendlandes. Daß ein alle europäische Völker und Nationen umfassendes Kulturgut, ein Denken und Fühlen, aus einem unausweichlichem Schicksal entstanden, vorhanden sein mußte.
Dies wurde Willi Höger in eben diesen Wochen und Monaten klar wie noch nie zuvor.
Denn wie sonst sollte man das Phänomen erklären, daß in einer Unterhaltung zwischen Australiern und Vertretern verschiedener europäischer Nationen, es immer nur die im Lande geborenen Australier waren, deren Ansichten in einem bestimmten Diskussionspunkt von allen anderen strikte abwich, ja meist diametral entgegengesetzt war? Bei angenommen ungefähr demselben Bildungsgrad und perfekten Sprachkenntnissen der Teilnehmer?
Da erwähnte etwa der Holländer, daß kommenden Samstag 'on the river head' ein Motorbootrennen ausgetragen wird. Ein gebildeter, belesener Australier meinte drauf, ihm gefalle so eine literarische Ausdrucksweise wie 'am Kopf des Flusses' nicht. Man solle sich doch exakter ausdrücken. "Na hör' mal", überfielen ihn die Europäer, "wir würden eine Sprache solcherart schön primitiv finden. Man soll ruhig ein wenig Phantasie in seine Ausdrucksweise legen, oder etwa nicht?"
Der Aussie zuckte nur mit der Schulter. Er war nicht dieser Ansicht.
Eine Abend bummelte Willi eine Stunde durch die Innenstadt. Vor dem Schaufenster eines Schallplattengeschäftes versank er in die Betrachtung der farbenprächtigen Schutzhüllen. Einige waren Lizenzprodukte, doch die meisten der Platten stammten aus Übersee. Da prangte die Mähne Beethovens neben einem Werk eines norwegischen Komponisten, Klavierkonzerte von Rachmaninoff, von Liszt – alle bekannten Werke genialer Tonkünstler lagen sorgfältig ausgebreitet inmitten einer Auswahl elektrischer Plattenspieler. Über die menschenleeren Straßen war ein Mann dahergekommen, um ebenfalls die Kostbarkeiten hinter der Glasscheibe zu betrachten. Vielleicht fühlte sich der Mann durch die Stille um sie bewogen, ein Gespräch anzuknüpfen. Ähnlich, wie sich wildfremde Menschen auf entlegenen Gebirgspfaden zumindest einen flüchtigen Gruß zunicken.
"Diese Musik ist wohl das Einzige, was a l l e Menschen auf dieser buckligen Welt verstehen", begann er. "Einschränkend muß man wohl hinzufügen – zumindest unter der weißen Rasse. Denn einem Araber wird eine Wagner-Oper wahrscheinlich auch nicht allzuviel geben."
Der Österreicher pflichtete ihm höflich bei. Der Mann war Australier und weitgereist, wie sich bald herausstellte. "Habe bei der Gelegenheit Verwandte in Schweden besucht", erwähnte er. "Obwohl die Nordländer unserer Mentalität, vielmehr der Briten, die ja unsere Vorfahren sind, sehr nahestehen, habe ich mich oft über die Unmöglichkeit, andere Völker vollkommen verstehen zu können, gewundert", dozierte er nachdenklich.
"Es liegt nicht daran, daß man die Sprache eventuell nicht fließend beherrscht, es liegt auch nicht am Vokabularium: Die Gedankengänge laufen einfach anders. Sehen Sie", erzählte er Willi, "da fuhr ich fünf Wochen in Gesellschaft eines netten Franzosen um die halbe Welt. Wenn er einen improvisierten Witz vom Stapel ließ, lachten die Europäer hell auf. Ich verstand den tieferen Sinn der Bemerkung nicht, oder fand wenig Humorvolles dran. Genauso erging es den anderen, wenn ich versuchte, meinen Geist leuchten zu lassen. Man lachte zwar höflich, aber von einer zündenden Wirkung kann keine Rede sein...Da tut sich eine Kluft auf zwischen uns und den Einwanderern, die sich weder durch fleissiges Englischlernen, noch durch andere Versuche der Assimilierung in wenigen Monaten überbrücken läßt: Der Neuaustralier denkt europäisch, der fair dinkum Aussie eben australisch!"
"Und gerade das will man in der australischen Öffentlichkeit nicht wahrhaben. Ich selbst benötigte ein Jahr, um das herauszufinden, was Sie da eben festgestellt haben!" antwortete Willi. Und er spann den Gedanken weiter: "Die Polen, Engländer, Norweger oder Deutschen mögen den lässigsten australischen Slang beherrschen, mit euch in dem Pub saufen oder sich sogar zum Crickettspielen aufgeschwungen haben – wenn sie 20, 30 oder mehr Jahre in Europa verbracht haben, bleiben sie trotz allem Europäer – genauso, wie ihr euch rühmt 'fair dinkum Aussies' zu sein. Ihr könnt doch nicht von einer Million Andersdenkender verlangen, daß sie quasi über Nacht eure Wesensart verstehen und annehmen. Das ist doch unsinnig! Das dauert Generationen. Da muß man eben genügend Toleranz für den Mitmenschen aufbringen!"
Daß in diesen starken Worten ein gewisser Widerspruch mit seinen eigenen Ansichten über Australien lag, übersah er unbewußt. Oder doch geflissentlich?

* * *


Baby, Willis Nachbar zur Linken, war ein seelensguter Mensch, der keiner Fliege etwas zu Leide tun konnte. Meist war der Australier gut aufgelegt, voll origineller Einfälle, die von makaberen Bleistift-Portraits seiner Kollegen bis zu barocken Verzierungen am Griff einer Handbremse reichten. Für Willi bedeutete ein Gespräch mit dem munteren Kerlchen die reinste Erholung und Ablenkung von den düsteren Gedanken, die sich in seiner Seele wie Unrat häuften. Meist kam er des Morgens bedrückt zur Arbeit und schlich abgekämpft wieder von dannen. Und da erzählte ihm Baby von einer Kangaroo-Jagd oder sprach von der Ausstellung im Exhibition Building, und forschte wohl ein wenig neugierig und eifersüchtig nach, ob denn solche Veranstaltungen in Europa genauso großartig aufgezogen seien.
Meist jedoch drehten sich ihre Gespräche um seinen VW-Käfer. Welch Wunderleistungen er aus dem Fahrzeug herausgeholt habe, und warum der Wagen allen anderen Autotypen überlegen sei.
Die anderen Australier machten sich ob dieser Manie lustig, aber Baby verteidigte mutig seinen 'Egg beater', den Eierschüttler, wie er im Volksmund genannt wurde. Er verwies unermüdlich auf die phantastischen Erfolge dieses Autos bei den diversen Mobil Gas Trials rund um Australien.
Nur in einem Punkt schwieg Baby beharrlich – über das weibliche Geschlecht im allgemeinen. Sich darüber auszulassen bevor man verheiratet war, oder etwa mit sexuellen Erfahrungen vor der Ehe zu prahlen, kam ihm höchst unschicklich und tabu, und was die Erfahrungen anbetraf – ungeheuerlich vor.
Als Willi einmal die Affäre mit Beryl erwähnte, brach das gute Baby sofort in Rufe des Abscheus aus und erklärte ihm, daß die eben geschilderten Dinge in Australien höchst verpönt seien. Er solle sich hüten, derartige Geschichten weiterzuerzählen, da er ansonsten in den Ruf eines Rowdies oder Teddy Boys gelangen würde.
Willi war bestürzt, welche negative Wirkung die nur andeutungsweise skizzierte Story auf das Gemüt des Australiers ausübte.
Anscheinend hatte Baby nicht dicht gehalten, denn er merkte, daß man ihn jetzt als ausgekochten Schürzenjäger betrachtete, der er aus seiner Sicht nun garnicht war.

Obwohl seit der Zahnextraktion mehrere Wochen verstrichen waren, schmerzte ihm der Kiefer nach wie vor. Dazu quälten ihn Magenschmerzen, die möglicherweise durch die fette Zubereitung der Spaghetti oder die eindeutig auf Kohlehydrate aufgebaute Nahrung zurückzuführen war. So kam es, daß man die tiefen Ringe unter den Augen und seinen müden Gang auf ganz andere Ursachen zurückführte. Er wurde nun von vielen Kollegen in auffallender Weise geschnitten und man sparte nicht mit spöttischen Angriffen auf seine Person. Tatsächlich sackte Willi Höger in seiner körperlichen und geistigen Gesundheit rapide ab.
Gleichgültig geworden, vernachlässigte er auch sein Äusseres. Immer häufiger erschien er mit ungepflegten Schuhen im Büro und trug ungebügelte Hosen. Im Bus traf er einmal einen jungen australischen Kollegen mit seiner ebenfalls bei Mills Ltd beschäftigten Verlobten, als er eine Schnürlsamthose trug, die an sich ungeplättet, weit um die Beine schlotterte.
"Schau den mal an!" vernahm er eine verächtliche Stimme hinter sich. "Der sieht aus, als ob er geradewegs von einer Jitterbug-Party käme!" Willi reagierte nicht auf die Provokation, er blieb ruhig.
"Da behaupten die Migrants immer, wir seien dumm!" hatte ihm Baby gestern empört vorgeworfen. "Aber urteile selbst, wie sich diese Menschen oft benehmen, wie hirnlos und läppisch!"
"Schieß los, ich bin sehr neugierig", meinte Willi nur skeptisch.
"Kürzlich sah ich eine Europäerin, die von der Straßenbahn abstieg. Ohne um sich zu blicken, lief sie direkt in ein herankommendes Auto und wurde auf der Stelle gekilled. So was Blödes!!" ereiferte sich der kleine Aussie.
"Mein lieber Freund!" Höger betonte das 'Freund' und sprach absichtlich langsam und vorsichtig. "Was weißt du von dieser Frau, außer daß sie eine Einwanderin war?
Denk doch einmal nach: vielleicht lebte sie erst seit wenigen Wochen im Land. Vielleicht brummte ihr der Kopf voll Sorgen, wie sie ihre Kinder versorgen soll, woher sie das Geld für die nächste Miete nehmen wird! Vielleicht war ihr Mann arbeitslos oder arbeitsunfähig geworden? Ich weiß es nicht. D u hast alle diese Probleme nicht! D u kannst jederzeit in das Landhaus deiner Mum zurückkehren.
Vielleicht vergaß sie für einen Augenblick, daß in Australien der Linksverkehr gilt und rannte so in ihr Verderben? Wie kannst du nur so hart urteilen – wie blöde sich die Einwanderer benehmen!"
"You are right, Willy", hatte Baby darauf kleinlaut geantwortet. Oh, es gab Probleme genug, die Australier und Europäer von ganz verschiedener Warte aus betrachteten.