13. schafe
sein schwarzes schaf haderte mit dem erbarmungslosen schicksal,
das über es hereinbrach, indem es sowohl hier, als auch
überhaupt schmerzlich begreifen mußte, daß es zu
spät war, jetzt noch irgendwie dagegen anzukämpfen. der
weg war zu ende, das gatter war zugesperrt und das schaf
wußte keinen anderen ausweg, als sich einfach tot zu
stellen, so als ob es plötzlich vom schlag getroffen worden
wäre, oder so, als hätte es seine beigebraunen jahre
erreicht und könne jetzt in aller zufriedenheit in die ewigen
jagdgründe überwechseln, wo es zwar auch nicht
jäger war, sondern wiederum gejagt wurde, aber das war eben
deswegen egal, weil es ja nur die illusion des todes vermitteln
wollte und nicht etwa daran dachte, daß dieser wichtigste
zeitpunkt im leben eines jeden schafes auch wirklich gekommen
war.
der hirte sprang über stock und stein, verfolgte sein
schwarzes schaf und warf mit allen möglichen
gegenständen, die er auf seinem rasenden lauf durch wiesen
und wälder auflas, nach ihm. verdammtes mistvieh, ging ihm
durch den kopf, wenn ich dich kriege, dann wirst du etwas erleben,
ich mache dich fertig, töte dich, martere dich, vernichte
dich, du wirst mich anflehen mit deinen blöden schafsaugen,
du wirst darum betteln, endlich sterben zu dürfen, von meiner
hand endlich die gnade des todes zu erhalten. doch werde ich
unerbittlich bleiben, werde dir deine haare einzeln und mit
größter hingabe herausreißen und mir damit von
meiner magd einen pullover stricken lassen, der an jedem festtag
als kostbarstes stück an meinem körper mich an den tag
erinnern wird, an dem ich solche lust genossen habe, wie niemals
zuvor in meinem leben. den tag deiner auslöschung von dieser
erde.
das schwarze schaf sah ihn kommen, den wütenden
wüstling, verschiedene dinge warf er ihm entgegen, doch er
traf es nie und das war gut so. jetzt müßte es
eigentlich gleich mit dem totstellen anfangen, das vieh, denn
jetzt näherte sich der mörder in spe schon auf drei
fuß entfernung. sodann kippte das schaf zur seite, plopp,
und verharrte in absoluter bewegungslosigkeit, denn wenn das ganze
nicht echt aussah, dann war alles verdorben und sterben wollte es
nun wirklich noch nicht, dazu gab es einfach noch zu viel zu
erleben.
hab ich dich, jetzt sitzt du in der falle, du angeschwärzter
bastard, freute sich der verwirrte hirte, doch plötzlich
kippte das vieh einfach zur seite und blieb regungslos liegen. was
war passiert. so geht das nicht, so hatte er sich das wirklich
nicht vorgestellt. wieso krepiert dieses vieh von allein, das ist
einfach nicht fair, das lasse ich mir nicht gefallen, das zahle
ich ihm heim, so wahr mir gott und all die anderen hurensöhne
helfen, schoß es ihm kreuzweise durch den sturen
schädel. das verdammte miststück will sich meiner
gerechten strafe entziehen – glaubt es wohl – aber nicht mit mir,
nicht mit faustus eremitus. dann nahm er einen gewaltigen stein
und schlug ihn sich auf die birne, damit er tot war, um es
weiterzujagen. sein waren die ewigen jagdgründe, sein war die
herrschaft über leben und tod, sein war das universum und das
erschaffen seiner gesetzmäßigkeiten. alles gehörte
ihm und so stieg er einfach ein, in den u-bahnwaggon des todes und
setzte seine jagd fort, stieg bei der haltestelle schafsplatz
wieder aus und rannte mit der erhobenen lanze in der hand durch
die innenstadt der todesstadt, um ein schaf zu jagen, das gar
nicht hier war, weil es sich immer noch in wald und wiese und
somit am leben befand. ganz, wie es sich das ganze vorgestellt
hatte.
es richtete sich wieder auf und hoppelte zu seiner herde
zurück, wo die ganzen weißen tiere vor allem damit
beschäftigt waren, sich gegenseitig auszubooten und zu
denunzieren und um die gunst des hirten zu buhlen, der zur zeit
jedoch abwesend war (und nur wir wissen, wo er sich befand, werden
es ihnen aber nicht auf die scnauze binden, o.k.?).
in der zwischenzeit kämpfte sich der tapfere hirte mit seiner
lanze durch die leergesichtigen massen toter menschen, die auf der
fußgeherzone herumtorkelten und auf ihr ende warteten. alles
war so tot hier, im reich der toten, das war ja wirklich
ungewöhnlich. damit hatte er natürlich nicht gerechnet,
der brave hirte, herrscher über sechzehn sternenreiche, und
es dauerte keinen tag, da kam ihm die idee, daß das schaf
womöglich gar nicht hier sei, und überhaupt ging ihm die
stimmung auf die nerven, alle starrten sie durch ihn hindurch und
niemand wollte etwas von ihm, mit ausnahme von ein paar bettlern,
die ihn um ein stück brot baten, weil sie so etwas wie hunger
hatten und so aussahen, als wären sie nicht von hier. somit
faßte er nach reiflicher überlegung den
entschluß, wieder in das reich der lebenden
überzuwechseln, nicht zuletzt deshalb, weil ihm das schaf
einfach nicht aus dem kopf ging und er immer stärker den
verdacht hegte, erneut von ihm aufs kreuz gelegt worden zu sein.
er stach sich die lanze ins herz und schwupp, wachte im wald vor
dem gatter liegend wieder auf, als wäre er nur kurz
eingedöst. er schwang sich auf die beine und ging
schnurstracks zu seiner herde zurück, wo das böse schaf,
das er ob seiner klugheit wieder zu schätzen gelernt hatte,
mit ziemlicher sicherheit untergetaucht war.
bäääh, bäääh, begrüßten
ihn die treuen tiere, ihr intellektueller zugang zu den weisheiten
des lebens war so begrenzt, daß sie dachten, er wäre
nur kurz zum pinkeln gegangen und hätte dort unter anderem
mit dem schwarzen schaf ein geschäft abgeschlossen, das ihnen
angst machte, weil es die absolute kontrolle über ihr
verhalten bedeutet hätte. sie verhielten sich also
zurückhaltend, legten einen ungewöhnlich harmlosen
gesichtsausdruck an den sonnigen tag und zogen ihre alte
wir-wissen-von-nichts-show ab. natürlich machte ihn das
wieder wütend, ließ es sich aber mit keiner wimper
anmerken. das schwarze schaf trat aus dem geschlossenen kreis
heraus und wies auf die übeltäter, die während
seiner abwesenheit üble taten vollbracht hatten. da endlich
platzte die sicherung bei dem alten hirten und er schiß sich
in die hose.
die guten und die schlechten schafe stoben aufgeregt auseinander
und hielten den sicherheitsabstand zu ihrem herrn und gebieter auf
das exakteste ein. er verströmte jetzt wieder diesen geruch,
den sie beim besten willen nicht ertrugen. er wußte das und
sie wußten das auch und somit waren sie alle zufrieden und
konnten wieder eine woche länger in der furchtbaren
einsamkeit der wildnis zusammenleben.
14. kerker
der ausbruch war bis in das winzigste detail geplant, die zeit war
gekommen, heute mußte er es tun, oder er würde es
niemals mehr versuchen. alles verhielt sich still im kerker, die
insassen schliefen oder meditierten oder dachten an die fetten
brüste ihrer frauen, von denen sie hofften, daß sie da
draußen irgendwo auf sie warteten. ferdinand werosek
überkam das bedürfnis, sich noch einmal in der zelle
umzusehen, in der er sechsundzwanzig seiner wertvollsten jahre
verbracht hatte, unannehmlichkeiten in kauf nahm, die andere schon
nach fünf jahren wie welke blumen eingehen ließen,
ungerechtigkeiten und brutalitäten ertrug, die vielen seiner
artgenossen aus der spezies der häfenbrüder den geist
des lebens bis in alle ewigkeit zerstört hatten.
eine verschissene toilette im zimmer, ein waschbecken, ein
kleiderkasten, angefüllt mit schmucklosen fetzen und das
harte metallbett, auf dem er ungestillte sehnsüchte ertragen
mußte, durch einsamkeit angeheizte fantasien, abgestumpfte,
abgelutschte ausweglosigkeit, verschweißte bettlaken,
zwischen denen eruptive soloentladungen stattfanden,
weißlich-dickflüssige tränen, mit den
berühmt-berüchtigten schmerzstillenden morphinen darin,
die zudeckten, was aufzudecken den verstand geraubt
hätte.
also dann, dachte sich ferdinand werosek mit blickrichtung auf
seine hinter sich lassende zelle, schob den in jahrelanger
feinstarbeit konstruierten nachschlüssel in das schloß
und sperrte seine zelle auf, regulär, unspektakulär,
ohne jeden pathos. die schwere türe öffnete sich,
entließ ihn nach sechsunzwanzigjährigem strafvollzug in
einen ungewissen fluchtverlauf hinaus, der auf dem dunklen, langen
korridor seinen anfang nahm. er kannte jeden schritt, den er auf
dem stockfinsteren flur tat mit jeder zelle seines körpers,
unwiderlöschlich, einzig den zweck erfüllend, hier und
heute seine flucht möglich zu machen.
die wächter, die ihre regelmäßigen rundgänge
machten, stellten die größte hürde dar, sie waren
die einzigen, die ihm seine unmittelbar bevorstehende freiheit
vereiteln konnten, durch anerzogene untoleranz,
sadomasochistischem gehorsamkeitswahn und mit druckmitteln, die
ihnen von einem system in die willenlosen hirne eingebrandt worden
waren, das es sich zur aufgabe gemacht hatte, von der gesellschaft
zerstörte figuren, die die gesellschaft zerstörten,
durch abtrennen von ihr noch weiter zu zerstören. einfache
arithmetik für diese art von behinderten menschen, denen
alles zuviel und trotzdem nichts zu blöd ist.
jetzt, wo er sich nur noch vierzehn minuten vom hauptportal
entfernt wußte und er bereits zwei der acht wächter
erfolgreich an der nase herumgeführt hatte, war ihm das alles
einerlei, vorbei waren die zeiten, in denen er an der
absurdität der künstlich geschaffenen wirklichkeit
verzweifelte. bis jetzt war ja die flucht nicht besonders schwer
gewesen – das indenarschgeficktwerden durch im großen und
ganze nette und freundliche mitinsassen und leidensgenossen war
ihm etwas schwerer gefallen, vor allem, weil die hierarchische
demütigung die schmerzen der zerreissenden intimöffnung
bei weitem überschattete und es ihm schwer bis unmöglich
machte, die zerbrochene seele, die seitdem aus seinen stahlblauen
augen guckte, jemals wieder im spiegel zu betrachten.
zumindest bis heute, war er doch gerade dabei, seine zerschundene
seele wieder zusammenzukitten, die polyphrenen teile seiner
häfenpersönlichkeit mit dem klebstoff der
selbstbestimmung zu bestreichen und die hoffnung auf ein
geheiltwerden wieder aufzunehmen. es war sein gang nach lourdes,
jungfrau maria trat auf die bühne, nahm ihren ferdinand
werosek an ihre butterweiche sensitivitätshand und
führte ihn an sechs weiteren wachorganen vorbei, deren
taschenlampenkegel wie in einer discothek im raum umhertanzten,
nervöse zyklopenaugen, ungeheuer auf der suche nach etwas
freßbarem, um den magen ihres verkümmerten,
magersüchtigen egos zu stärken.
beim siebenten verließ sie ihn wieder, hier hatte er so
etwas wie schwierigkeiten, denn das leuchtende zyklopenauge
erblickte futter in form von häftling nummer
siebendreizehnachtundzwanzig und wollte es verspeisen. ferdinand
griff in seine manteltasche und holte den sand heraus, den er dem
bösen tier in die beiden anderen augen schleuderte oder
streute oder träufelte, damit die scharfe, objektive
introjektsichtweise seiner vorgesetzten getrübt und er es so
mit dessen fehlender persönlichkeit schmerzhaft
konfrontierte. die abgerichtete bestie brach wie vom schlag
getroffen zusammen, das leuchtende kunstauge rollte fröhlich
über den kalten steinboden und schien über die lage
seines benützers nicht im geringsten unglücklich zu
sein.
der immer noch gefangene, weil nicht freie ferdinand ließ
den nunmehr sich ebenfalls seines gefangenseins bewußt
gewordenen wächter mit seinem traurigen schicksal alleine und
arbeitete an der verbesserung seines eigenen weiter. das
hauptportal war bis auf wenige meter nähergerückt, er
zückte den dazupassenden ersatzschlüssel und hielt ihn
mit festem griff in seiner hand. erste anzeichen einer
aufsteigenden nervosität machten sich bemerkbar, leben
strömte in ihn zurück, nach sechsundzwanzig jahren
zitterten seine hände wieder, gefühle wärmten
seinen stumpfen, ausgelaugten körper, machten ihn empfindlich
für verschiedenste außenreize, erschufen einen
menschen, der wieder an die liebe glauben konnte, die da
draußen auf ihn wartete, die seine hingabe und unterwerfung
forderte und das himmlische imperium dafür in aussicht
stellte.
es waren zwei, die sich in der portiershütte neben dem ein-
und auslaßtor befanden. aufpasser, beschützer der
intimsphäre des gebäudekomplexes vor den bösen
eindringlingen von außen oder vor unabsichtlich entkoteten
insaßen dieses verdauungsapparats. analparasiten des
darmschlosses unserer gesellschaft. hämmorhoiden eines
spastischen, verrosteten bürokratenarsches.
sie galt es zu überwinden. den verkrampften ringmuskel von
der freigabe des kotproduktes nummer siebendreizehnachtundzwanzig
zu überzeugen. was machte er also, er trat vor sie, hielt
sich den finger vor den mund und sprach, psssst, ihr armen
kreaturen, lasset uns beten. für unser vaterland und unseren
präsidenten, abkömmling der siebenten
fäkaldynastie. und sie standen andächtig, in
ruhestellung, mit stolz erhobenem kopf, leuchtenden augen und
stumm sich bewegenden lippen, während sie das vaterunser
irgendeines verschissenen gottes herunterbrabbelten, in der
hoffnung, daß man sie aus ihrem zustand befreite, daß
ihnen erlösung aus dem rettungslosen eingekerkertsein
widerführe.
während die beiden schach- und schießbudenfiguren ihre
pflicht ausübten, öffnete ferdinand natürlich die
pforte, es war nun nicht mehr schwer, der schlüssel drehte
sich klickend im zehnfach sicheren sicherheitsschloß und
hinaus trat er, in eine mondbeschienene nacht der freiheit.
sorgsam verschloß er die schwere türe hinter sich,
bevor er die richtung einschlug, die seinen weg fürderhin
bestimmten sollte. es war die richtung, die viele schon gingen und
viele noch gehen würden, die richtung nach irgendwohin und
nach nirgendwohin, der liebe entgegen, der verachtung entgegen,
dem tod und dem leben. der verzweiflung und des glücks. der
freiheit und den gefängnissen. den menschen und den
unmenschen. sich selbst und den anderen. schnurstracks und ohne
sich ein weiteres mal nach seinem sechsundzwanzig jahre dauernden
gefängnis umzudrehen.
15. kongress
heute geht aber auch gar nichts weiter, resignierte haribald und
stützte seine rechte hand auf die weiche sofalehne, nahm aber
auch weiterhin bezug zu dem eben angeschnittenen thema, indem er
nachsetzte, seit fünf stunden sitzen wir jetzt hier und was
hat sich währenddessen verändert – richtig, gar nichts.
die von ihm angesprochenen gesprächspartner nickten kurz, im
großen und ganzen stimmten sie ihm zu, mußten es auch
tun, das sagte ihnen ihr gespür für schwierige
situationen, doch darüberhinaus gab es doch den einen oder
anderen, der leichte zweifel an der soeben von haribald
aufgestellten these hegte und pflegte. wieso, fragte sich
beispielweise gary plotter, wenn schon alles so schleppend
vonstatten ging, hatte dann die territorialrotation der
solarekliptischen fugativimpetanz solche abweichungen vom
integralen subdeterminantenparameter und stellte sich im endeffekt
nur als differentialpogrom zur hemisphärenkorrelation der
hyperplanetaren interferenzformel dar.
das war natürlich eine sache, die haribald nicht würde
beantworten können, auch nicht durfte, weil seine these dann
gleich einem kartenhaus zusammenstürzen würde und das
wollte er nun ganz und gar nicht. vielmehr interessierte ihn die
globalachsenverschiebung einer metalunaren divisionskonstanten,
die sich durch einfache differentialableitungen als das
berühmte komponententheorem von anthony goffrey
herausstellte. das wollte er seinen werten kollegen jetzt auf die
nase binden, hatte nur seine rechnung nicht ohne den wirt gemacht,
denn der trippelte jetzt herein, in das abgetrennte hinterzimmer
des almgasthofs und brachte die bestellten spanferkel nebst dem
dazupassenden weißbier, das frisch mit der heutigen
lieferung aus bayern eingeflogen wurde, weil man im rustikalen
gasthof sehr genau wußte, was man einem kongreß mit
solch hochgebildeten teilnehmern alles schuldig war.
aaah, ein raunen ging durch die runde, als sie die delikaten
schweine, die sich auf den enormen tabletts auszuruhen schienen,
serviert bekam. natürlich waren haribalds ausführungen
jetzt fehl am platz, denn nun hieß es, essen, bevor alles
kalt wird und schon stürzten sich die hungrigen
wissenschaftler auf die säue und fraßen sie, ja, sie
bekamen appetit, wenn sie einmal auf so einer berghütte waren
und viel schiliefen.
gary plotter war einer von den wackeren mannen, die auch
während sie fleischbrocken und bier plus speichel und
semmelknödel im mund hatten, einige kommentare zur
gegenwärtigen lage abgaben. also, kollegen, die nasalresonanz
meiner identitätsklaustrophobie erzeugte im betrachter meiner
basiselementarqualifikation ungemeine fertilitätsschranken,
die in ihrer demarkationssubversivität wirklich von
erstaunlicher inkompetenzzertifikationssublimierung waren, womit
die erstaunliche kontraproduktivitätsstimulation eintrat, mit
der schon hans-hans nansen seine
infantilitätsimaginationsstragegie gegen ein doch
wirkungsvolleres finanzsonderabkommen zur intensivmassage der
sekundärfibrillen eintauschte.
ja, das war es, was wir uns auch gedacht haben, meinte gabriel
dutschheim, er meinte mit uns natürlich seine
arbeitsgemeinschaft, die in den trauten gefilden der heimat
unermüdlich nach ergebnissen forschte, mit denen nicht nur
sie, sondern auch die ganze welt und noch mehr zufrieden waren.
materiell gesehen hatten sie natürlich bei diesen argumenten
alle trümpfe in der hand, wie die fleischkeule, mit der
gabriel gerade heftig gestikulierte, doch bei näherer
betrachtung, vor allem im feinstoflichen metabereich der
trillionenphotonisierungen mußten sie abstriche von ihrer
these vornehmen, sodaß sie eigentlich immer schon so weit
wie am anfang waren und auch keine konstruktivdialektische
integrallösung in aussicht stand. jedenfalls war er mit gary
plotters ansichten und vorgehensweisen voll einverstanden, der
kongreß hatte sich somit wirklich gelohnt und sie
hätten wieder schifahren gehen können, hätte nicht
haribald erneut den ball aufgegriffen, indem er plötzlich von
einer botanischholotrophen divergenzsynthese sprach, mit der er
auf einen schlag alle aufgestellten argumente null und nichtig
machte.
das schockierte die anwesenden schaftler sehr und vielen blieben
die schweinshaxn oder ähnliche fleisch-sehnen-knochenderivate
im halse stecken. es glich einem echten wunder, daß niemand
der verehrten anwesenden koriphäen zu schaden, weil zu tode
kam. alle waren sie fähig, die brocken im letzten moment
auszustoßen, bevor die unterbrechung der sauerstoffzufuhr
zum gehirn, das nicht nur bei ihnen das wichtigste organ des
menschlichen körpers darstellte, den gefährlichen pegel
zum irreparablen schaden erreichte. dies wunder mußte jetzt
auf wissenschaftlicher basis gedreht und gewendet werden, viele
von ihnen, wie haribald oder dutschheim standen vor einem echten
rätsel, andere, wie gary plotter, einer der kreativsten
geister in der ehrenwerten runde, hatten schon erste
erklärungsmodelle parat und gingen jetzt in die
verifikations- und falsifikationsphase über. alles in allem
war jedoch ein neuer gesprächsstoff entzündet, niemand
dachte mehr an schweinsverzehr und biertrunk, ein
murmelgeräuschpegel entstand im hölzern-gemütlichen
kämmerchen des almgasthofs, der freundlich-einfach-stolze
wirt lugte herein, um nach seinen gästen zu sehen und sah sie
in aufgeregter, gestikulierender unterhaltung miteinander,
gegeneinander und untereinander vertieft, wodurch er sich so rasch
als möglich wieder aus dem staub machte und sie bei ihrer
wichtigen sitzung kein weiteres mal mehr unterbrach. er
schloß die fichtenholztür zu dem abgelegenen zimmer und
ging durch seine gaststube, wo ein paar schigäste bei ihrem
grog saßen und angeregt plauderten. dann trat er ins freie,
in die kalte, scharfriechende frischluft und blickte auf den
schnee hinaus, auf die weißen bergkuppen, die
nebelfäden, die blendende bläue des himmels, er
entließ seinen atem, der sofort in form einer
weißlichen wolke in diese welt hinein verdampfte. lange zeit
blieb er einfach so stehen, und sah seinen atemwölkchen zu.
16. mitchell
mitchell rief sich in erinnerung, daß er den sack, in den
sein freund, der hasenfuß, die disteln eingefüllt
hatte, nicht vergessen durfte. beim tod seiner großmutter
mußte er ihm das schwören und das wollte einiges
heißen, war es doch sie gewesen, die ihm seinerzeit die
angekackten windeln wechselte, während seine
streßgeplagte mutter, selbständig wie sie war, ihrer
karriere hinterherjagte und auf dem acker schuftete.
siebenundzwanzig gehminuten vom waldstück entfernt, in dem
der hardy wohnte, dem er seinen netten besuch abstatten wollte,
geschah jedoch etwas äußerst mysteriöses und sogar
in seinem bewegten leben ungewöhnliches.
etwas schlangenähnliches kroch im herabgefallenen laub auf
ihn zu, raschelte ungeniert in die waldidyllenstimmung hinein und
ließ ihn fasziniert darauf blicken. was es wirklich war,
verbargen die gelben und braunen blätter sorgsam, mitchell
begann gerade, sich darüber sorgen zu machen und sein
anfängliches interessiertsein schwappte in furcht über,
als es ihn erreichte und ihm ins locker-leger herabbaumelnde
hosenbein schlüpfte. kacke, das ding war ja heiß, und
glitschig war es und es kroch an seinem jungenbein hoch, umschlang
es, erreichte seine unterhose, durchquerte sie, kitzelte ihn am
bauch und machte erst halt, als es seine brust erreicht hatte.
still stand er da, den sack mit den disteln auf seine rechte
schulter gepackt, und gänsehaut rieselte ihm über den
rücken.
schier unglaublich war das, was es nun mit ihm anstellte, es
klammerte sich an seinem körper fest, fuhr dünne
tentakel aus, die sich durch seine haut bohrten und begann, etwas
aus seinem körper herauszusaugen und etwas in ihn
hineinzupumpen. mitchell konnte das alles nicht begreifen. er
hatte doch immer brav sein butterbrot gefressen und war auch nie
gehässig erwachsenen gegenüber, denen er zutiefst
respekt zollte, weil sie überall so gut bescheid wußten
und alles erklären konnten, was ihm selbst ein rätsel
war. mit sicherheit hätten sie auch hier, bei dem ding, das
sich gerade daranmachte, seine saugnäpfe in den tatenlosen
jungen zu bohren tausende, millionen davon – ihre diagnose
sofort parat gehabt, paranoide schizophrenie mit
sekundärnarzißtischer konversionssymptomatik, oder so,
oder auch anders, wie sollte er das sagen können, er war ja
noch ein kind, hatte keine vorstellungen von den
gesetzmäßigkeiten und regeln der groß- und
erwachsenenbürger. was er allein wußte, war, daß
dieses ding an seinem körper dranhing, sehr heiß war,
und in regelmäßig pulsierenden bewegungen etwas aus ihm
herausnahm und etwas in ihn hineingab. den distelsack hatte er
schon seit längerer zeit zu boden fallen lassen, was er nun
tat, war denken. still dastehend, die arme etwas von sich
gestreckt, um das ding bei seiner tätigkeit nicht zu
behindern und damit zornig zu machen. welche chancen hatte er, was
würde von ihm übrigbleiben, wenn es mit ihm fertig war,
was war es, das es aus ihm heraussaugte, was mochte das sein, das
es in ihn hineinpumpte, sehr viel ging ihm im kopf herum und er
mußte ein lösung finden.
hardy tauchte auf, von weiter drinnen im wald kam er näher,
stapfte durchs fahle herbstlaub und wollte nachsehen, wo sein
freund mitchell denn so lange steckte, der ihm gestern am telefon
prophezeit hatte, um sechszehn uhr mit einem sack disteln bei ihm
zu sein. jetzt war es bereits sechzehn uhr vierunddreißig
und irgendwas in seinem schmutziggelben gehirn sagte ihm,
daß sein freund und distellieferant in schwierigkeiten
steckte. er hatte natürlich recht, wir wissen das zwar schon,
mitchell ahnte es irgendwie auch, aber für hardy war es seine
große stunde, sein starauftritt und die
selbstbestätigung, nach der er schon jahrzehntelang
vergeblich auf der suche war, anhand des beispiels seines freundes
zu erfahren, daß ihn seine vorahnung um keinen deut getrogen
hatte, daß sie vielmehr exakt und zuverlässig
eingetroffen war, wie er sich jetzt vor ort,
lokalaugenscheinmäßig, mit seinen eigenen augen und
ohren überzeugen konnte.
mitchell, was ist denn das, was da aus deinem hosenbein
hängt, schleuderte er seinem alten kumpel seine besorgnis
entgegen und starrte ihm entsetzt ins erstarrte gesicht. mitchell
schien weggetreten, unter seinem sweatshirt und hinunter bis zum
linken bein seiner luftigen sommerhose, die angesichts des
herbstzeitalters ziemlich deplaziert schien, pulsierte etwas, ein
ding, ein tier, irgendetwas, das mitchell versuchte,
schwierigkeiten zu machen und es offensichtlich auch schaffte.
er nahm ihn bei den schultern und schüttelte ihn heftig, um
ihn aus dem traumzustand herauszuholen, in die wirklichkeit
zurück, wo er, sein freund hardy auf die distellieferung
wartete und ihrer beider fingernägel wund vom ewigen
zerbeißen waren. mitchell, was passiert mit dir, er sah ihm
tief in die augen und fiel fast in sie hinein, in einen abgrund,
dessen bloße vorstellung ihm eine unaussprechliche angst
bescherte, das ding, dessen wärme er deutlich spürten
konnte, pulste unbeeindruckt von seiner gegenwart weiter, er wagte
sich nicht vorzustellen, was es wohl unter der kleidung seines
freundes so alles machte und trieb. hardy ließ mitchells
schultern los und trat zurück, einen schritt im raschelnden
laub, ein plötzlicher verdacht schoß ihm wie ein
projektil durch den vorahnungstalentierten kopf.
noch einmal berührte er sachte die schulter seines freundes
und fand seinen verdacht zum zweitenmal an diesem so wichtigen tag
in seinem leben, bestätigt. mitchell, mitchell wurde zu holz,
das warme ding, das aus mitchells hosenbein ragte und irgendwie –
für hardy undurchschaubar – an seinem körper
festsaß, machte ihn zu einem baumstamm, das war leider die
traurige wahrheit und unblutige, holzige realität. verdammt,
wie kann ich ihm nur helfen, ein weiteres gedankenprojektil
schoß hardy durch den schädel, verfehlte aber die
zielscheibe um gut zwanzig meter.
derweil hatte auch mitchell in seinem holzkörper nachgedacht,
ob vielleicht doch noch alles gut ausgehen könnte. zum
beispiel, daß das ding seine haardünnen tentaktel aus
seinem körper herauszog, sich selbst zurückzog und er
dann wieder zum menschen auftaute wie ein eisblock zu wasser. oder
die gute alte traumvariante, er erwachte zu hause in seinem
jungenbettchen, schweißdurchnäßt und stierte an
die mondbeleuchtete wand seines kinderzimmers, an der ein poster
irgendeiner realitätsbezugspopgruppe hing und er sagte zu
sich, mann, war das ein traum. oder hardy griff in den sack mit
den zauberdisteln und piekste ihn damit in den
baumstammholzhintern und er wurde wieder zum menschen auferweckt
beziehungsweise zurückverzaubert. oder es kam ein schlankes,
schönes reh vorbei, das sich an seiner rinde das juckende
seidenfell rieb und siehe da, aus dem reh wurde eine
wunderwunderschöne prinzessin und aus dem baumstamm wurde
mitchell, der mädchenmärchenschwarmprinz und sie
knutschten bis ans ende ihrer tage oder auch nur bis zu ihrer
nächsten regelblutung, was solls, es wäre ja alles
einerlei, nur nicht, daß es so bliebe, wie es jetzt im
moment war. so wie jetzt sah es eher beschissen aus, irgendsoein
dreckvieh, außerirdischer bewohner oder sonstirgendsoein
beschissenes arschloch saugte ihm den knabensaft aus und pumpte
ihn mit verholzungssubstanzen voll, was hatte es da noch für
einen sinn, weiterzuleben, das frage ich euch wirklich, kameraden
und feinde.
na, jedenfalls müssen die disteln entsorgt werden, fand
hardy, nahm mitchells sack auf seine schulter und ging damit zu
sich nach hause. mal sehen, wie es seinem freund morgen ginge.
auch er wollte die hoffnung einfach nicht aufgeben.
01. 02. 03. 04. 05. 06. 07. 08. 09. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29. 30. | Inhalt