Reinhard Schleining RAW CUT Grausamen & Liebreizer

13. schafe


sein schwarzes schaf haderte mit dem erbarmungslosen schicksal, das über es hereinbrach, indem es sowohl hier, als auch überhaupt schmerzlich begreifen mußte, daß es zu spät war, jetzt noch irgendwie dagegen anzukämpfen. der weg war zu ende, das gatter war zugesperrt und das schaf wußte keinen anderen ausweg, als sich einfach tot zu stellen, so als ob es plötzlich vom schlag getroffen worden wäre, oder so, als hätte es seine beigebraunen jahre erreicht und könne jetzt in aller zufriedenheit in die ewigen jagdgründe überwechseln, wo es zwar auch nicht jäger war, sondern wiederum gejagt wurde, aber das war eben deswegen egal, weil es ja nur die illusion des todes vermitteln wollte und nicht etwa daran dachte, daß dieser wichtigste zeitpunkt im leben eines jeden schafes auch wirklich gekommen war.
der hirte sprang über stock und stein, verfolgte sein schwarzes schaf und warf mit allen möglichen gegenständen, die er auf seinem rasenden lauf durch wiesen und wälder auflas, nach ihm. verdammtes mistvieh, ging ihm durch den kopf, wenn ich dich kriege, dann wirst du etwas erleben, ich mache dich fertig, töte dich, martere dich, vernichte dich, du wirst mich anflehen mit deinen blöden schafsaugen, du wirst darum betteln, endlich sterben zu dürfen, von meiner hand endlich die gnade des todes zu erhalten. doch werde ich unerbittlich bleiben, werde dir deine haare einzeln und mit größter hingabe herausreißen und mir damit von meiner magd einen pullover stricken lassen, der an jedem festtag als kostbarstes stück an meinem körper mich an den tag erinnern wird, an dem ich solche lust genossen habe, wie niemals zuvor in meinem leben. den tag deiner auslöschung von dieser erde.
das schwarze schaf sah ihn kommen, den wütenden wüstling, verschiedene dinge warf er ihm entgegen, doch er traf es nie und das war gut so. jetzt müßte es eigentlich gleich mit dem totstellen anfangen, das vieh, denn jetzt näherte sich der mörder in spe schon auf drei fuß entfernung. sodann kippte das schaf zur seite, plopp, und verharrte in absoluter bewegungslosigkeit, denn wenn das ganze nicht echt aussah, dann war alles verdorben und sterben wollte es nun wirklich noch nicht, dazu gab es einfach noch zu viel zu erleben.
hab ich dich, jetzt sitzt du in der falle, du angeschwärzter bastard, freute sich der verwirrte hirte, doch plötzlich kippte das vieh einfach zur seite und blieb regungslos liegen. was war passiert. so geht das nicht, so hatte er sich das wirklich nicht vorgestellt. wieso krepiert dieses vieh von allein, das ist einfach nicht fair, das lasse ich mir nicht gefallen, das zahle ich ihm heim, so wahr mir gott und all die anderen hurensöhne helfen, schoß es ihm kreuzweise durch den sturen schädel. das verdammte miststück will sich meiner gerechten strafe entziehen – glaubt es wohl – aber nicht mit mir, nicht mit faustus eremitus. dann nahm er einen gewaltigen stein und schlug ihn sich auf die birne, damit er tot war, um es weiterzujagen. sein waren die ewigen jagdgründe, sein war die herrschaft über leben und tod, sein war das universum und das erschaffen seiner gesetzmäßigkeiten. alles gehörte ihm und so stieg er einfach ein, in den u-bahnwaggon des todes und setzte seine jagd fort, stieg bei der haltestelle schafsplatz wieder aus und rannte mit der erhobenen lanze in der hand durch die innenstadt der todesstadt, um ein schaf zu jagen, das gar nicht hier war, weil es sich immer noch in wald und wiese und somit am leben befand. ganz, wie es sich das ganze vorgestellt hatte.
es richtete sich wieder auf und hoppelte zu seiner herde zurück, wo die ganzen weißen tiere vor allem damit beschäftigt waren, sich gegenseitig auszubooten und zu denunzieren und um die gunst des hirten zu buhlen, der zur zeit jedoch abwesend war (und nur wir wissen, wo er sich befand, werden es ihnen aber nicht auf die scnauze binden, o.k.?).
in der zwischenzeit kämpfte sich der tapfere hirte mit seiner lanze durch die leergesichtigen massen toter menschen, die auf der fußgeherzone herumtorkelten und auf ihr ende warteten. alles war so tot hier, im reich der toten, das war ja wirklich ungewöhnlich. damit hatte er natürlich nicht gerechnet, der brave hirte, herrscher über sechzehn sternenreiche, und es dauerte keinen tag, da kam ihm die idee, daß das schaf womöglich gar nicht hier sei, und überhaupt ging ihm die stimmung auf die nerven, alle starrten sie durch ihn hindurch und niemand wollte etwas von ihm, mit ausnahme von ein paar bettlern, die ihn um ein stück brot baten, weil sie so etwas wie hunger hatten und so aussahen, als wären sie nicht von hier. somit faßte er nach reiflicher überlegung den entschluß, wieder in das reich der lebenden überzuwechseln, nicht zuletzt deshalb, weil ihm das schaf einfach nicht aus dem kopf ging und er immer stärker den verdacht hegte, erneut von ihm aufs kreuz gelegt worden zu sein. er stach sich die lanze ins herz und schwupp, wachte im wald vor dem gatter liegend wieder auf, als wäre er nur kurz eingedöst. er schwang sich auf die beine und ging schnurstracks zu seiner herde zurück, wo das böse schaf, das er ob seiner klugheit wieder zu schätzen gelernt hatte, mit ziemlicher sicherheit untergetaucht war.
bäääh, bäääh, begrüßten ihn die treuen tiere, ihr intellektueller zugang zu den weisheiten des lebens war so begrenzt, daß sie dachten, er wäre nur kurz zum pinkeln gegangen und hätte dort unter anderem mit dem schwarzen schaf ein geschäft abgeschlossen, das ihnen angst machte, weil es die absolute kontrolle über ihr verhalten bedeutet hätte. sie verhielten sich also zurückhaltend, legten einen ungewöhnlich harmlosen gesichtsausdruck an den sonnigen tag und zogen ihre alte wir-wissen-von-nichts-show ab. natürlich machte ihn das wieder wütend, ließ es sich aber mit keiner wimper anmerken. das schwarze schaf trat aus dem geschlossenen kreis heraus und wies auf die übeltäter, die während seiner abwesenheit üble taten vollbracht hatten. da endlich platzte die sicherung bei dem alten hirten und er schiß sich in die hose.
die guten und die schlechten schafe stoben aufgeregt auseinander und hielten den sicherheitsabstand zu ihrem herrn und gebieter auf das exakteste ein. er verströmte jetzt wieder diesen geruch, den sie beim besten willen nicht ertrugen. er wußte das und sie wußten das auch und somit waren sie alle zufrieden und konnten wieder eine woche länger in der furchtbaren einsamkeit der wildnis zusammenleben.


14. kerker


der ausbruch war bis in das winzigste detail geplant, die zeit war gekommen, heute mußte er es tun, oder er würde es niemals mehr versuchen. alles verhielt sich still im kerker, die insassen schliefen oder meditierten oder dachten an die fetten brüste ihrer frauen, von denen sie hofften, daß sie da draußen irgendwo auf sie warteten. ferdinand werosek überkam das bedürfnis, sich noch einmal in der zelle umzusehen, in der er sechsundzwanzig seiner wertvollsten jahre verbracht hatte, unannehmlichkeiten in kauf nahm, die andere schon nach fünf jahren wie welke blumen eingehen ließen, ungerechtigkeiten und brutalitäten ertrug, die vielen seiner artgenossen aus der spezies der häfenbrüder den geist des lebens bis in alle ewigkeit zerstört hatten.
eine verschissene toilette im zimmer, ein waschbecken, ein kleiderkasten, angefüllt mit schmucklosen fetzen und das harte metallbett, auf dem er ungestillte sehnsüchte ertragen mußte, durch einsamkeit angeheizte fantasien, abgestumpfte, abgelutschte ausweglosigkeit, verschweißte bettlaken, zwischen denen eruptive soloentladungen stattfanden, weißlich-dickflüssige tränen, mit den berühmt-berüchtigten schmerzstillenden morphinen darin, die zudeckten, was aufzudecken den verstand geraubt hätte.
also dann, dachte sich ferdinand werosek mit blickrichtung auf seine hinter sich lassende zelle, schob den in jahrelanger feinstarbeit konstruierten nachschlüssel in das schloß und sperrte seine zelle auf, regulär, unspektakulär, ohne jeden pathos. die schwere türe öffnete sich, entließ ihn nach sechsunzwanzigjährigem strafvollzug in einen ungewissen fluchtverlauf hinaus, der auf dem dunklen, langen korridor seinen anfang nahm. er kannte jeden schritt, den er auf dem stockfinsteren flur tat mit jeder zelle seines körpers, unwiderlöschlich, einzig den zweck erfüllend, hier und heute seine flucht möglich zu machen.
die wächter, die ihre regelmäßigen rundgänge machten, stellten die größte hürde dar, sie waren die einzigen, die ihm seine unmittelbar bevorstehende freiheit vereiteln konnten, durch anerzogene untoleranz, sadomasochistischem gehorsamkeitswahn und mit druckmitteln, die ihnen von einem system in die willenlosen hirne eingebrandt worden waren, das es sich zur aufgabe gemacht hatte, von der gesellschaft zerstörte figuren, die die gesellschaft zerstörten, durch abtrennen von ihr noch weiter zu zerstören. einfache arithmetik für diese art von behinderten menschen, denen alles zuviel und trotzdem nichts zu blöd ist.
jetzt, wo er sich nur noch vierzehn minuten vom hauptportal entfernt wußte und er bereits zwei der acht wächter erfolgreich an der nase herumgeführt hatte, war ihm das alles einerlei, vorbei waren die zeiten, in denen er an der absurdität der künstlich geschaffenen wirklichkeit verzweifelte. bis jetzt war ja die flucht nicht besonders schwer gewesen – das indenarschgeficktwerden durch im großen und ganze nette und freundliche mitinsassen und leidensgenossen war ihm etwas schwerer gefallen, vor allem, weil die hierarchische demütigung die schmerzen der zerreissenden intimöffnung bei weitem überschattete und es ihm schwer bis unmöglich machte, die zerbrochene seele, die seitdem aus seinen stahlblauen augen guckte, jemals wieder im spiegel zu betrachten.
zumindest bis heute, war er doch gerade dabei, seine zerschundene seele wieder zusammenzukitten, die polyphrenen teile seiner häfenpersönlichkeit mit dem klebstoff der selbstbestimmung zu bestreichen und die hoffnung auf ein geheiltwerden wieder aufzunehmen. es war sein gang nach lourdes, jungfrau maria trat auf die bühne, nahm ihren ferdinand werosek an ihre butterweiche sensitivitätshand und führte ihn an sechs weiteren wachorganen vorbei, deren taschenlampenkegel wie in einer discothek im raum umhertanzten, nervöse zyklopenaugen, ungeheuer auf der suche nach etwas freßbarem, um den magen ihres verkümmerten, magersüchtigen egos zu stärken.
beim siebenten verließ sie ihn wieder, hier hatte er so etwas wie schwierigkeiten, denn das leuchtende zyklopenauge erblickte futter in form von häftling nummer siebendreizehnachtundzwanzig und wollte es verspeisen. ferdinand griff in seine manteltasche und holte den sand heraus, den er dem bösen tier in die beiden anderen augen schleuderte oder streute oder träufelte, damit die scharfe, objektive introjektsichtweise seiner vorgesetzten getrübt und er es so mit dessen fehlender persönlichkeit schmerzhaft konfrontierte. die abgerichtete bestie brach wie vom schlag getroffen zusammen, das leuchtende kunstauge rollte fröhlich über den kalten steinboden und schien über die lage seines benützers nicht im geringsten unglücklich zu sein.
der immer noch gefangene, weil nicht freie ferdinand ließ den nunmehr sich ebenfalls seines gefangenseins bewußt gewordenen wächter mit seinem traurigen schicksal alleine und arbeitete an der verbesserung seines eigenen weiter. das hauptportal war bis auf wenige meter nähergerückt, er zückte den dazupassenden ersatzschlüssel und hielt ihn mit festem griff in seiner hand. erste anzeichen einer aufsteigenden nervosität machten sich bemerkbar, leben strömte in ihn zurück, nach sechsundzwanzig jahren zitterten seine hände wieder, gefühle wärmten seinen stumpfen, ausgelaugten körper, machten ihn empfindlich für verschiedenste außenreize, erschufen einen menschen, der wieder an die liebe glauben konnte, die da draußen auf ihn wartete, die seine hingabe und unterwerfung forderte und das himmlische imperium dafür in aussicht stellte.
es waren zwei, die sich in der portiershütte neben dem ein- und auslaßtor befanden. aufpasser, beschützer der intimsphäre des gebäudekomplexes vor den bösen eindringlingen von außen oder vor unabsichtlich entkoteten insaßen dieses verdauungsapparats. analparasiten des darmschlosses unserer gesellschaft. hämmorhoiden eines spastischen, verrosteten bürokratenarsches.
sie galt es zu überwinden. den verkrampften ringmuskel von der freigabe des kotproduktes nummer siebendreizehnachtundzwanzig zu überzeugen. was machte er also, er trat vor sie, hielt sich den finger vor den mund und sprach, psssst, ihr armen kreaturen, lasset uns beten. für unser vaterland und unseren präsidenten, abkömmling der siebenten fäkaldynastie. und sie standen andächtig, in ruhestellung, mit stolz erhobenem kopf, leuchtenden augen und stumm sich bewegenden lippen, während sie das vaterunser irgendeines verschissenen gottes herunterbrabbelten, in der hoffnung, daß man sie aus ihrem zustand befreite, daß ihnen erlösung aus dem rettungslosen eingekerkertsein widerführe.
während die beiden schach- und schießbudenfiguren ihre pflicht ausübten, öffnete ferdinand natürlich die pforte, es war nun nicht mehr schwer, der schlüssel drehte sich klickend im zehnfach sicheren sicherheitsschloß und hinaus trat er, in eine mondbeschienene nacht der freiheit. sorgsam verschloß er die schwere türe hinter sich, bevor er die richtung einschlug, die seinen weg fürderhin bestimmten sollte. es war die richtung, die viele schon gingen und viele noch gehen würden, die richtung nach irgendwohin und nach nirgendwohin, der liebe entgegen, der verachtung entgegen, dem tod und dem leben. der verzweiflung und des glücks. der freiheit und den gefängnissen. den menschen und den unmenschen. sich selbst und den anderen. schnurstracks und ohne sich ein weiteres mal nach seinem sechsundzwanzig jahre dauernden gefängnis umzudrehen.


15. kongress


heute geht aber auch gar nichts weiter, resignierte haribald und stützte seine rechte hand auf die weiche sofalehne, nahm aber auch weiterhin bezug zu dem eben angeschnittenen thema, indem er nachsetzte, seit fünf stunden sitzen wir jetzt hier und was hat sich währenddessen verändert – richtig, gar nichts. die von ihm angesprochenen gesprächspartner nickten kurz, im großen und ganzen stimmten sie ihm zu, mußten es auch tun, das sagte ihnen ihr gespür für schwierige situationen, doch darüberhinaus gab es doch den einen oder anderen, der leichte zweifel an der soeben von haribald aufgestellten these hegte und pflegte. wieso, fragte sich beispielweise gary plotter, wenn schon alles so schleppend vonstatten ging, hatte dann die territorialrotation der solarekliptischen fugativimpetanz solche abweichungen vom integralen subdeterminantenparameter und stellte sich im endeffekt nur als differentialpogrom zur hemisphärenkorrelation der hyperplanetaren interferenzformel dar.
das war natürlich eine sache, die haribald nicht würde beantworten können, auch nicht durfte, weil seine these dann gleich einem kartenhaus zusammenstürzen würde und das wollte er nun ganz und gar nicht. vielmehr interessierte ihn die globalachsenverschiebung einer metalunaren divisionskonstanten, die sich durch einfache differentialableitungen als das berühmte komponententheorem von anthony goffrey herausstellte. das wollte er seinen werten kollegen jetzt auf die nase binden, hatte nur seine rechnung nicht ohne den wirt gemacht, denn der trippelte jetzt herein, in das abgetrennte hinterzimmer des almgasthofs und brachte die bestellten spanferkel nebst dem dazupassenden weißbier, das frisch mit der heutigen lieferung aus bayern eingeflogen wurde, weil man im rustikalen gasthof sehr genau wußte, was man einem kongreß mit solch hochgebildeten teilnehmern alles schuldig war.
aaah, ein raunen ging durch die runde, als sie die delikaten schweine, die sich auf den enormen tabletts auszuruhen schienen, serviert bekam. natürlich waren haribalds ausführungen jetzt fehl am platz, denn nun hieß es, essen, bevor alles kalt wird und schon stürzten sich die hungrigen wissenschaftler auf die säue und fraßen sie, ja, sie bekamen appetit, wenn sie einmal auf so einer berghütte waren und viel schiliefen.
gary plotter war einer von den wackeren mannen, die auch während sie fleischbrocken und bier plus speichel und semmelknödel im mund hatten, einige kommentare zur gegenwärtigen lage abgaben. also, kollegen, die nasalresonanz meiner identitätsklaustrophobie erzeugte im betrachter meiner basiselementarqualifikation ungemeine fertilitätsschranken, die in ihrer demarkationssubversivität wirklich von erstaunlicher inkompetenzzertifikationssublimierung waren, womit die erstaunliche kontraproduktivitätsstimulation eintrat, mit der schon hans-hans nansen seine infantilitätsimaginationsstragegie gegen ein doch wirkungsvolleres finanzsonderabkommen zur intensivmassage der sekundärfibrillen eintauschte.
ja, das war es, was wir uns auch gedacht haben, meinte gabriel dutschheim, er meinte mit uns natürlich seine arbeitsgemeinschaft, die in den trauten gefilden der heimat unermüdlich nach ergebnissen forschte, mit denen nicht nur sie, sondern auch die ganze welt und noch mehr zufrieden waren. materiell gesehen hatten sie natürlich bei diesen argumenten alle trümpfe in der hand, wie die fleischkeule, mit der gabriel gerade heftig gestikulierte, doch bei näherer betrachtung, vor allem im feinstoflichen metabereich der trillionenphotonisierungen mußten sie abstriche von ihrer these vornehmen, sodaß sie eigentlich immer schon so weit wie am anfang waren und auch keine konstruktivdialektische integrallösung in aussicht stand. jedenfalls war er mit gary plotters ansichten und vorgehensweisen voll einverstanden, der kongreß hatte sich somit wirklich gelohnt und sie hätten wieder schifahren gehen können, hätte nicht haribald erneut den ball aufgegriffen, indem er plötzlich von einer botanischholotrophen divergenzsynthese sprach, mit der er auf einen schlag alle aufgestellten argumente null und nichtig machte.
das schockierte die anwesenden schaftler sehr und vielen blieben die schweinshaxn oder ähnliche fleisch-sehnen-knochenderivate im halse stecken. es glich einem echten wunder, daß niemand der verehrten anwesenden koriphäen zu schaden, weil zu tode kam. alle waren sie fähig, die brocken im letzten moment auszustoßen, bevor die unterbrechung der sauerstoffzufuhr zum gehirn, das nicht nur bei ihnen das wichtigste organ des menschlichen körpers darstellte, den gefährlichen pegel zum irreparablen schaden erreichte. dies wunder mußte jetzt auf wissenschaftlicher basis gedreht und gewendet werden, viele von ihnen, wie haribald oder dutschheim standen vor einem echten rätsel, andere, wie gary plotter, einer der kreativsten geister in der ehrenwerten runde, hatten schon erste erklärungsmodelle parat und gingen jetzt in die verifikations- und falsifikationsphase über. alles in allem war jedoch ein neuer gesprächsstoff entzündet, niemand dachte mehr an schweinsverzehr und biertrunk, ein murmelgeräuschpegel entstand im hölzern-gemütlichen kämmerchen des almgasthofs, der freundlich-einfach-stolze wirt lugte herein, um nach seinen gästen zu sehen und sah sie in aufgeregter, gestikulierender unterhaltung miteinander, gegeneinander und untereinander vertieft, wodurch er sich so rasch als möglich wieder aus dem staub machte und sie bei ihrer wichtigen sitzung kein weiteres mal mehr unterbrach. er schloß die fichtenholztür zu dem abgelegenen zimmer und ging durch seine gaststube, wo ein paar schigäste bei ihrem grog saßen und angeregt plauderten. dann trat er ins freie, in die kalte, scharfriechende frischluft und blickte auf den schnee hinaus, auf die weißen bergkuppen, die nebelfäden, die blendende bläue des himmels, er entließ seinen atem, der sofort in form einer weißlichen wolke in diese welt hinein verdampfte. lange zeit blieb er einfach so stehen, und sah seinen atemwölkchen zu.


16. mitchell


mitchell rief sich in erinnerung, daß er den sack, in den sein freund, der hasenfuß, die disteln eingefüllt hatte, nicht vergessen durfte. beim tod seiner großmutter mußte er ihm das schwören und das wollte einiges heißen, war es doch sie gewesen, die ihm seinerzeit die angekackten windeln wechselte, während seine streßgeplagte mutter, selbständig wie sie war, ihrer karriere hinterherjagte und auf dem acker schuftete. siebenundzwanzig gehminuten vom waldstück entfernt, in dem der hardy wohnte, dem er seinen netten besuch abstatten wollte, geschah jedoch etwas äußerst mysteriöses und sogar in seinem bewegten leben ungewöhnliches.
etwas schlangenähnliches kroch im herabgefallenen laub auf ihn zu, raschelte ungeniert in die waldidyllenstimmung hinein und ließ ihn fasziniert darauf blicken. was es wirklich war, verbargen die gelben und braunen blätter sorgsam, mitchell begann gerade, sich darüber sorgen zu machen und sein anfängliches interessiertsein schwappte in furcht über, als es ihn erreichte und ihm ins locker-leger herabbaumelnde hosenbein schlüpfte. kacke, das ding war ja heiß, und glitschig war es und es kroch an seinem jungenbein hoch, umschlang es, erreichte seine unterhose, durchquerte sie, kitzelte ihn am bauch und machte erst halt, als es seine brust erreicht hatte. still stand er da, den sack mit den disteln auf seine rechte schulter gepackt, und gänsehaut rieselte ihm über den rücken.
schier unglaublich war das, was es nun mit ihm anstellte, es klammerte sich an seinem körper fest, fuhr dünne tentakel aus, die sich durch seine haut bohrten und begann, etwas aus seinem körper herauszusaugen und etwas in ihn hineinzupumpen. mitchell konnte das alles nicht begreifen. er hatte doch immer brav sein butterbrot gefressen und war auch nie gehässig erwachsenen gegenüber, denen er zutiefst respekt zollte, weil sie überall so gut bescheid wußten und alles erklären konnten, was ihm selbst ein rätsel war. mit sicherheit hätten sie auch hier, bei dem ding, das sich gerade daranmachte, seine saugnäpfe in den tatenlosen jungen zu bohren  tausende, millionen davon – ihre diagnose sofort parat gehabt, paranoide schizophrenie mit sekundärnarzißtischer konversionssymptomatik, oder so, oder auch anders, wie sollte er das sagen können, er war ja noch ein kind, hatte keine vorstellungen von den gesetzmäßigkeiten und regeln der groß- und erwachsenenbürger. was er allein wußte, war, daß dieses ding an seinem körper dranhing, sehr heiß war, und in regelmäßig pulsierenden bewegungen etwas aus ihm herausnahm und etwas in ihn hineingab. den distelsack hatte er schon seit längerer zeit zu boden fallen lassen, was er nun tat, war denken. still dastehend, die arme etwas von sich gestreckt, um das ding bei seiner tätigkeit nicht zu behindern und damit zornig zu machen. welche chancen hatte er, was würde von ihm übrigbleiben, wenn es mit ihm fertig war, was war es, das es aus ihm heraussaugte, was mochte das sein, das es in ihn hineinpumpte, sehr viel ging ihm im kopf herum und er mußte ein lösung finden.
hardy tauchte auf, von weiter drinnen im wald kam er näher, stapfte durchs fahle herbstlaub und wollte nachsehen, wo sein freund mitchell denn so lange steckte, der ihm gestern am telefon prophezeit hatte, um sechszehn uhr mit einem sack disteln bei ihm zu sein. jetzt war es bereits sechzehn uhr vierunddreißig und irgendwas in seinem schmutziggelben gehirn sagte ihm, daß sein freund und distellieferant in schwierigkeiten steckte. er hatte natürlich recht, wir wissen das zwar schon, mitchell ahnte es irgendwie auch, aber für hardy war es seine große stunde, sein starauftritt und die selbstbestätigung, nach der er schon jahrzehntelang vergeblich auf der suche war, anhand des beispiels seines freundes zu erfahren, daß ihn seine vorahnung um keinen deut getrogen hatte, daß sie vielmehr exakt und zuverlässig eingetroffen war, wie er sich jetzt vor ort, lokalaugenscheinmäßig, mit seinen eigenen augen und ohren überzeugen konnte.
mitchell, was ist denn das, was da aus deinem hosenbein hängt, schleuderte er seinem alten kumpel seine besorgnis entgegen und starrte ihm entsetzt ins erstarrte gesicht. mitchell schien weggetreten, unter seinem sweatshirt und hinunter bis zum linken bein seiner luftigen sommerhose, die angesichts des herbstzeitalters ziemlich deplaziert schien, pulsierte etwas, ein ding, ein tier, irgendetwas, das mitchell versuchte, schwierigkeiten zu machen und es offensichtlich auch schaffte.
er nahm ihn bei den schultern und schüttelte ihn heftig, um ihn aus dem traumzustand herauszuholen, in die wirklichkeit zurück, wo er, sein freund hardy auf die distellieferung wartete und ihrer beider fingernägel wund vom ewigen zerbeißen waren. mitchell, was passiert mit dir, er sah ihm tief in die augen und fiel fast in sie hinein, in einen abgrund, dessen bloße vorstellung ihm eine unaussprechliche angst bescherte, das ding, dessen wärme er deutlich spürten konnte, pulste unbeeindruckt von seiner gegenwart weiter, er wagte sich nicht vorzustellen, was es wohl unter der kleidung seines freundes so alles machte und trieb. hardy ließ mitchells schultern los und trat zurück, einen schritt im raschelnden laub, ein plötzlicher verdacht schoß ihm wie ein projektil durch den vorahnungstalentierten kopf.
noch einmal berührte er sachte die schulter seines freundes und fand seinen verdacht zum zweitenmal an diesem so wichtigen tag in seinem leben, bestätigt. mitchell, mitchell wurde zu holz, das warme ding, das aus mitchells hosenbein ragte und irgendwie – für hardy undurchschaubar – an seinem körper festsaß, machte ihn zu einem baumstamm, das war leider die traurige wahrheit und unblutige, holzige realität. verdammt, wie kann ich ihm nur helfen, ein weiteres gedankenprojektil schoß hardy durch den schädel, verfehlte aber die zielscheibe um gut zwanzig meter.
derweil hatte auch mitchell in seinem holzkörper nachgedacht, ob vielleicht doch noch alles gut ausgehen könnte. zum beispiel, daß das ding seine haardünnen tentaktel aus seinem körper herauszog, sich selbst zurückzog und er dann wieder zum menschen auftaute wie ein eisblock zu wasser. oder die gute alte traumvariante, er erwachte zu hause in seinem jungenbettchen, schweißdurchnäßt und stierte an die mondbeleuchtete wand seines kinderzimmers, an der ein poster irgendeiner realitätsbezugspopgruppe hing und er sagte zu sich, mann, war das ein traum. oder hardy griff in den sack mit den zauberdisteln und piekste ihn damit in den baumstammholzhintern und er wurde wieder zum menschen auferweckt beziehungsweise zurückverzaubert. oder es kam ein schlankes, schönes reh vorbei, das sich an seiner rinde das juckende seidenfell rieb und siehe da, aus dem reh wurde eine wunderwunderschöne prinzessin und aus dem baumstamm wurde mitchell, der mädchenmärchenschwarmprinz und sie knutschten bis ans ende ihrer tage oder auch nur bis zu ihrer nächsten regelblutung, was solls, es wäre ja alles einerlei, nur nicht, daß es so bliebe, wie es jetzt im moment war. so wie jetzt sah es eher beschissen aus, irgendsoein dreckvieh, außerirdischer bewohner oder sonstirgendsoein beschissenes arschloch saugte ihm den knabensaft aus und pumpte ihn mit verholzungssubstanzen voll, was hatte es da noch für einen sinn, weiterzuleben, das frage ich euch wirklich, kameraden und feinde.
na, jedenfalls müssen die disteln entsorgt werden, fand hardy, nahm mitchells sack auf seine schulter und ging damit zu sich nach hause. mal sehen, wie es seinem freund morgen ginge. auch er wollte die hoffnung einfach nicht aufgeben.


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