19. Dezember
Es stürmt, ein Toben zischt über den Himmel, der
Wind fährt mit einer Kraft durch die Stadt, daß ich
befürchte, er wird alles mit sich reißen.
Am Nachmittag mache ich einen kurzen Spaziergang durch die Gassen
der Schrebergärten, immer den Himmel im Blick behaltend, die
vielen Schatten – durch die Düsternis des späten
Nachmittags – die Vielfalt an Licht – wie ein zerfetzter Raum –
so als würden riesige Glühbirnen hinter den Wolken
angebracht sein. Der Himmel wird zur Kulisse – zum
Bühnenbild der Welt. Die kahlen Bäume, entkleidet,
vorbereitet für den Schnee. Zwei schwarze Wände, die
Rückseiten zweier Holzhütten aus Rechteck und Dreieck,
ich wandle in einem surrealen Bild.
Ewigkeitsdenken, festhalten wollen von diesen elementaren
Eindrücken ... die Bäume greifen aus, bekommen
Vogelarme.
Bilder wahrnehmen. Stimmungen unterschiedlicher Art in einem
Gewebe nebeneinander.
– heller, blauer, leuchtender Streifen
– orange, ein leichtes Glühen hinter den Wolken, wie
Verstrahlen von Energie – oder wenn eine kleine Sonne
untergeht.
– graue, jagende Streifen darüber – darunter. Der Wind heult
jetzt ganz dicht an mir vorbei, saust in meine Ohren hinein, die
Nasenöffnung hinauf, die Lunge hinunter, flitzt durch die
Kleider, sticht in jede einzelne Pore ... erweckt jede Zelle, sich
zu wehren gegen diesen kalten Ansturm.
Wasserpfützen am Boden in den löchrigen
Straßen.
Es ist die wilde Jagd.
Ich gehe durch diese Welt – ein Stein liegt auf meinem Weg – ich
glaube, es ist ein Holperstein.
Die Arbeit geht weiter bis spät in die Nacht hinein, Proben
und Durchläufe, übermorgen ist ein großer Tag, es
ist immer ein bedeutsamer Tag, wenn ein Stück Tanz vor
Publikum gezeigt wird.
Die ganz persönliche Frage an mich, bin ich aufrichtig genug
in dem, was ich tue, um es einem öffentlichen Kreis von
Menschen anzuvertrauen?
Alles ist rund!
Das Spiel wird zu einer Realität, die bestehen muß!
Meine Angst vor dem Applaus des Publikums, weil es vielleicht das
Gegenteil tun wird und sich vom Inhalt des Stücks abwendet,
das gezeigt wird.
Ich sehne mich zurück nach dem Kind Sein, nach den
Träumen von einer großen Welt, in der es keine Enge
gibt. Wenn ich abends, obwohl es verboten war, meine Puppen aufs
Bett räumte, sie ordentlich in eine Reihe setzte, um ihnen
vorzutanzen. Sie waren entzückt von meiner Kunst, denn sie
lächelten alle immer so hübsch, wenn ich mit meinen
einleitenden Worten erklärte, welches Thema ich heute
vortragen würde.
Ich bin skeptisch geworden den Augenblicken gegenüber.
22. Dezember
Das Entleertsein nach dem Tanzen, die Kraft sickert von dem
Punkt der Körpermitte in die Körpermuskulatur ... ein
Rhythmus faucht durch den Raum ... die Vielzahl der Idee tritt an
die Rampe, dort vorne, wo sie jeder nur noch im Licht wahrnehmen
kann, und dort bleibt sie ungesehen. Schatten wirft Licht ...
Licht wirft Schatten. Ich gehe im Schatten der Zeit.
Was habe ich für eine Geschichte erzählt, während
ich tanzte?
Ich sehne mich danach, diesen Schatten, der mein eigener ist, zu
überspringen. Spring über deinen Schatten.
Tanzen kann seelische Schwerarbeit sein.
Das Sprungbrett unter mir ist die Erde, die mich anzieht, die mich
hält, die mich wieder auffängt nach einem Sprung, die
mich niemals durchgleiten läßt, die niemals ihren
Schlund öffnet, um mich zu verschlingen.
Der Aufwand an Erregung ist zu groß, als daß er die
Isolation des Schöpfungsprozesses durchbrechen
könnte.
Gänge durch die Gedanken.
Ich denke in Nuancen von Farben. Das Gefühl des
Farbenrausches, Farbenglück in diesen Tönen und
Klängen, die Farben verströmen, vibrieren –
Stimulation.
23. Dezember
Es schneit endlich, Schnee, Schnee, die heilige Freude kleidet
alles in ein Unschuldsgewand. Am Nachmittag, wenn es draußen
ruhig wird, wenn keine Autos mehr fahren, werde ich diese
friedliche Stimmung genießen. Der Blick aus dem Fenster zu
den heißgeliebten Schrebergärten, hinter den
Holzhütten könnte das Meer liegen, ein kaltes glattes
ruhiges Meer mit treibenden Eisschollen. –Der Himmel graut – es
ist hell.-
Die Bäume sind nackt, ich erinnere mich an den blühenden
Zaun, an den lauen Sommerwind, die Rosenhecken sind jetzt
dürres Gestrüpp – tot – der Saft verkrochen in die
letzten Wurzelspitzen unter der Erde.
Die weiche, weiße Schneemasse fällt schräg vom
Himmel herab. Schwarze Krähen mit großen, gelben
Schnäbeln sitzen in den Baumkronen und auf den
Stromleitungen.
EIN TROPFEN ROTEN BLUTS FÄLLT IN DEN SCHNEE.
Die Menschen stapfen vorbei, in dicken Mänteln mit
verdrossenen Gesichtern hinter dicken Schals – die Mützen
weit in die Stirn gezogen.
Es weihnachtet sehr.
Ein bitterer Geschmack auf den Lippen und am nächsten Abend
berauscht man sich am Wein, und ein paar Tage später wird das
neue Jahr kommen.
Am späten Nachmittag mache ich mich dann auf, um Tannenzweige
und Fichtenäste zu besorgen und damit in unsere dürftige
Wohnung ein wenig von diesem Wald-Weihnachtsflair zu zaubern. So
schleppe ich Gezweig und Geäst durch die Stadt, um es nach
Hause zu bringen, und deswegen zittern meine Arme – während
ich an den jungen Verkäufer denke, ein schmächtiger
Bursche mit Schnauzbärtchen, treibt es mir Tränen in die
Augen. Vielleicht, denke ich bei mir, ist es meine
überkindliche Naivität und ich erwarte, was mich mein
Aufwachsen mit ländlicher Sitte lehrte und was mir auch Jahr
für Jahr eine kleine Weihnachtsfreude geworden ist. Die Sache
ist nämlich die, daß sogenannter Zweigabfall von den
Weihnachtsbäumen immer ein kleines Geschenk für die
Menschen war, die eben gerne davon mitnahmen.
Der junge Verkäufer:
"Was glauben Sie denn, am letzten Tag verschenken wir alles?"
"Nein, des hau ma liba in Ofn eini, do hauma wenigst'ns wos
davo!"
"So a Zweig kost normalaweis S 20,-, do kuman's eh no guat
drauß!"
Wenn es um die Wärme ginge, es wäre nichts einzuwenden
dagegen, nur die Worte, wie sie gesagt wurden, wie dieser junge
Mensch seine Sätze zelebriert hat, es sprach ein derart
tiefer Glaube aus ihm, in dem Geld allen Reichtum eines
Menschenlebens ausmacht.
Das nach Harz duftende Geäst trage ich nun in meinen Armen
und kann mich gar wenig daran erfreuen, denn in mir ist eine
Trauer und zugleich ein Ekel vor solcher Wahrheit aufgestiegen,
denn ich verstehe es nicht, daß in diesem geschäftigen
Vorweihnachtstreiben wieder das Macht- und Geldstreben einen
Siegeszug anführt.
Resümee für mich: Ich werde nie daran glauben: – Alles
kostet Geld! –
Trotzdem, für uns wird es ein schönes, ruhiges
Weihnachten werden.
24. Dezember
Die Wohnung ist ausgeschmückt, die Tannenzweige an den
Wänden befestigt, kleine Süßigkeiten, eingepackt
in Goldpapier, baumeln glitzernd von den Ästen.
Nachdem es später Abend geworden ist und Pablo noch immer
nicht zurück ist, setze ich mich hin und nasche Kekse, dabei
ist es, als schaute mir ständig jemand über die
Schulter, es ist jemand, vor dem ich meine Intimitäten zu
schützen versuche ... eben, daß ich jetzt allein bin.
Die letzte Begegnung mit Pablo auf einem Fest, das ich als eine
bizarre Anhäufung von grob-empfindsamen Menschen erlebte, wo
wir uns einig waren, Weihnachten gemeinsam zu verbringen.
Wir sind verletzt an den wundesten Stellen ... die Ignoranz von
grundlegenden Bedürfnissen. Vorher, in der Zeit unseres
Zusammenlebens, reagierte ich gereizt und zornig auf das
ständige Herumrücken von Gegenständen in der
Wohnung, Agressionen, die zwischen Pablo und mir hin und her
flossen. Bedingt durch die Enge unseres Gemüts und die
beengenden Wohnverhältnisse. Einen Bogen spannen zwischen
einer unendlich tiefen Verunsicherung und einer
Objektivierbarkeit, die ein besseres Lebensverständnis
zuläßt.
Die Wichtigkeit jedes einzelnen Wortes wird mir bewußt, in
einen Bereich zu gelangen, der eine sich ständig bewegende
Kreativität ermöglicht. Im Kreieren das Neuland des
Experimentes entdecken. Die Erkenntnis, daß Verständnis
Mut erfordert. In einem Atemzug stellt sich mir die Frage, ob ich
fähig bin, mit dem umzugehen, was ich entfessle, sei es an
anderen oder an mir.
Die Geschichten verlieren sich, wie eine Spule, die abgerollt ist,
wenn sich das Ende des Fadens löst.
Wird Pablo kommen?
Nur seine Bilder hängen noch an den Wänden, sind Zeugnis
von einem Sommer, von einem darauffolgenden Herbst ... es ist
Winter, weil er gegangen ist und nicht nur deswegen. Ich
fühle mich frei gefangen / ein Abschied des Bedauerns / weil
sich das Band zu lösen beginnt.
Obwohl ich mir immer ein Stück voraus bin, hinke ich mir
immer hinten nach.
ich warte ihn zu sehen
ich fürchte ich habe Angst davor
ich fürchte er könnte nicht kommen
ich fürchte er könnte kommen und ich müßte
mich dann entscheiden
wenn sich zwei Menschen begegnen bringt das Entscheidungen mit
sich
Ich vertraue auf die Volksweisheit, die besagt: "Zeit heilt
Wunden."
Der einzige Weg, frei zu werden, geht eben direkt über die
eigene Bereitschaft, aufzuarbeiten, Einsicht zu bekommen. Bin ich
noch immer das Wesen, das ich schon damals war? – ich denke nach,
schon immer, aus Prinzip. Nur, hin und wieder will ich auch ein
dummer, egoistischer, anlehnungsbedürftiger Mensch sein, der
noch dazu geliebt wird.
Manchmal die Angst vor der Entblößung ... es setzt uns
gewaltig zu, wenn es um das nackte Überleben geht.
Oft bin ich meiner Verantwortung nicht gewachsen, da ich ihr nicht
bewußt bin. Ich tue etwas auf, aber die Öffnungen sind
Angstquellen ... nachdem die Konfrontation stattgefunden hat,
finden wir uns alleine wieder ... das Gegenüber, der Freund,
die Freundin, der Lehrer, die Mutter ist abgesprungen – geht
schon weiter, bevor ich sie am Rockzipfel festhalten konnte. Aus
Zorn, weil ich das nicht bin, was ich sein soll, gehe ich weiter,
bevor ich das bin, was ich bin.
"Fühlst du dich wohl?"
"Zumindest habe ich meine Krankheit besiegt." –
Dadurch habe ich diesem sinnlosen Agieren mit meinen destruktiven
Kräften ein Ende gesetzt, da ich dieser Aufregung sowieso
hilflos gegenüberstehe. Ich will in meiner
Eigenständigkeit antastbar bleiben, auch wenn ich die
Menschen scheue und ihnen gleichzeitig nahe sein will.
Das Fieber ist also ausgeklungen.
Die kurze Pause der Besinnung, in der sich Seele und Körper
reinigten, jetzt bin ich froh, wiedergeboren zu sein.
Das Lernen ist das Schönste, es ist heiter, es ist Begreifen
und Befreien – dazwischen ist alles gut.
Diese Krise ist durchgestanden und doch weiß ich, daß
der allernächste Schritt bereits in die Krise
zurückführen kann, die hinter mir liegt.
Das Mühevolle ist "Alles in Allem" zu sehen, nichts zu
übersehen ... immer wieder sich Klarheit zu verschaffen, wenn
die Leere und Abgespanntheit wie vorher ist, wenn nur Schmerz, nur
Wut über Blindheit – über Angst ... das Resignieren
bestimmt, wenn die brutale lähmende Einsamkeit das Herz
zuschnürt.
27. Dezember
Mir wird übel bei dem Gedanken an eine Zukunft, die ich
planen soll, wo mich die Gegenwart in sich eingeschlossen hat.
Bald ist es soweit und ich werde Bilanz ziehen, das Jahr wird
vergangen sein. Ob die Hoffnung immer wieder aufersteht?
Gleichzeitig spüre ich den weiten Weg, der noch vor mir liegt
– aber die Freude/und durch die Freude Kraft/auch wenn sie
versickert ... hin und wieder ... die Suche nach dem Zuhause, wenn
ich mich heimatlos fühle und mir eingestehe, daß ich
bis auf die Knochen müde bin, ein wenig melancholisch und
sentimental dazu.
Im Tanzen werde ich mich weitertragen, vielleicht weiß ich,
wie sehr es mich aufsaugen wird, wie sehr ich bereit bin, mich
darin hinzugeben. Ist das der Wunsch, der an mir nagt?
28. Dezember
In der Gegenwart. Ich sitze in der Schnellbahn, aus dem Rollen
der Räder wird Strawinsky's Sacre du Printemps hörbar,
die ersten Auftakte kurz vor dem Opfertanz. Ich lasse mich
abtreiben in diese andere Welt.
Poesie entsteht aus Träumen.
Das Flair einer Musik. Die Priorität – die Wichtigkeit –
ich nehme im Moment nichts von alledem wahr. Die Fähigkeit
begeistert zu sein. In der Stadt wimmelt es, die Straßen
sind voll – Menschen, die es eilig haben.
In mir Staunen über diese unheimliche Unruhe. Die Sicht aufs
Weite, weitläufig, doch es ist unmöglich, an einen Punkt
zu gelangen. Die Erwartungshaltung, mit der ich an den mir
wildfremden Menschen – den Passanten auf der Straße –
vorbeigehe – alles entsteht aus dem unendlichen Bedürfnis,
geliebt zu sein. Sogar von ihnen erwarte ich eine gewisse Reife
oder zumindest Ehrlichkeit – die Wahrheit, die tödlich sein
kann. Begegnungen und wie wir uns verhalten, bestimmen unser
Zueinander. Mir ist nach Verkriechen zumute.
Ich sehe den Apfel in einer Schüssel – er hat seinen Sinn,
eine natürliche Berechtigung seiner Existenz.
Ich will die Kraft meiner Sinne erleben.
Die Ruhe, die ich immer wieder brauche, zwingt mich zu dem
Alleinsein, das mir guttut, obwohl es mich auch quält. Ich
bin verärgert über jedes überflüssige
Pla-Pla.
Ein Treffen mit den Menschen, mit denen ich arbeite, ist geplant.
Wir übersiedeln in das Café vis-à-vis, da es
uns in dem kleinen Atelier im Winter zu kalt wird, wenn wir nicht
in Bewegung bleiben. Das Gespräch verselbstständigt
sich, wird zu einem gruppendynamischen Prozess mit Ereignissen –
Dominique wirft mit verdrossenem Gesicht böse Worte in unsere
Runde – wir spielen ein Tischtennismatch.
Dann wird es still, weil uns Christa vom plötzlichen Tod
ihrer Freundin erzählt, die an Krebs gestorben ist.
Grün-graue Schatten im Raum des Lebens. In mein Tagebuch
werde ich heute notieren: Tod von Angelika – obwohl ich sie nicht
kannte, berührt mich ihr Tod und ich bin aus
unerklärlichen Gründen tieftraurig darüber.
Zum Abschied küssen wir einander in der Gewißheit,
daß wir eine Gruppe von Menschen sind, die gerne bereit ist,
ein gemeinsames Projekt zu realisieren. Auf dem Weg nach Hause
kommt mir der Gedanke, daß wir schönvergeistigte Reden
führen, während die Nelken inder Vase dahinwelken. Das
Farn kringelt sich, da es langsam vertrockent.
Zwiespältigkeit im Sinnieren.
Die Zeit, in der wir leben, ist für mich manchmal wie ein
epileptischer Anfall. Das Chinarot des Bildes leuchtet im
Zimmer.
Ich versuche, an einem Artikel für eine unbedeutende
Zeitschrift zu schreiben, aber ich bin zu müde dazu.
Pepis Selbstmord ...
die Mafia in meinem Träumen ...
mein Kind wird entführt ... alles schön farbig
geträumt – sinnvoll geordnet ... ein Film, in dem wir die
Hauptrolle spielen ... ein Traum. Nur ein Traum.
Wie wird das mit Steffen enden? Ich mache mir Sorgen um ihn. Ich
bin mir zu wenig klar um seine innere Konstitution. Ich muß
an ihn denken, vielleicht hält es ihn. Es ist unsichtbare
Arbeit durch Denken. Eine Stimme wird wach in mir, frägt nach
der Hilfe, die ich bereit bin, zu geben. Visionäres Schauen
– der Raum vor mir weitet sich ... eine Nebelschicht – oder eine
Membran schiebt sich dazwischen – zürnt mir.
Die Arbeit am Probieren, am sich fortdauernd neu Entdecken,
muß weitergehen.
Die Entäußerung geht über die Verinnerlichung,
nach unten, in einem Kreis, in einem Kreislauf.
Im Schreiben findet intimste Auseinandersetzung statt – daß
das Schreiben meine einzige Freiheit ist, über die ich
absolut selbst bestimme. Ich unterscheide zwischen "Denkechtheit"
und "Empfindungsechtheit", daß ich ständig bemüht
bin, mich im Schreiben zu öffnen, aber niemanden anderen,
nicht der Welt, nicht einem Gegenüber – außer mir.
In diesen Berührungen mit dem Wortbild, das der Spiegel
meines
Wesens ist, liegen meine Gehversuche, die Welt zu erfassen,
über die Ehrlichkeit, mit der ich mir begegnen muß, um
Klarheit in diesem ganzen zwischenmenschlichen und geistigen
WIRRWARR zu finden.
Das sich ewig Verwandelnde.
Assimilationsprozesse.
Zauberin müsste man sein!
29. Dezember
An diesem Tag telefoniere ich mit Monika, um ihr von dem
Gespräch mit der Tanzgruppe zu berichten. Den Hörer am
Ohr lehne ich an der Küchentüre und stelle verwundert
fest, daß da jemand ist, der sich mit mir als "uns"
bezeichnet. Erstaunen bei mir, aber keine Ablehnung
demgegenüber, daß es so ist. Ich werde mich neu
orientieren. Wir alle berühren uns an Grenzen.
Ich empfinde tiefen Dank darüber, daß es so ist.
"Hast du vergessen, daß ich über Neujahr verreisen
werde?"
"Oh je, ja, ich habe es komplett vergessen!"
"Ich bin am Fünften wieder zurück."
"Gut, dann können wir uns ja gleich sehen."
30. Dezember
Der kostbare Schnee ist zerronnen zu schmutzigbraunem Wasser.
Der Wind wettert. Der Föhn macht die Glieder schwer und das
Gemüt launig.
Wir besichtigen ein Atelier – Vortasten in einen neuen Raum, in
einen neuen Zeitabschnitt.
Der Keller erdrückt, obschon er in seiner Grottenhaftigkeit
etwas sehr Feierliches vermittelt. Aber das Rheuma, das uns
jedesmal im Winter durch die Feuchtigkeit der unter der Erde
liegenden Wände befällt, ist durch nichts zu
beschönigen. Immerhin arbeiten wir bis zu sieben Stunden pro
Tag dort.
Morgen werden auch wir verreisen, meine kleine Tochter Ostia und
ich. Eventuell mit Freunden, die nachkommen wollen.
Ängstliches Freuen auf Linz, auf alte Bekannte – Zaudern ...
was erwartet uns. Angst vor der Gehässigkeit des Linzer
Nebels und seiner Bewohner entlang der Donau.
Die Träume, die doch hoffnungslos sind. Aufwachen jeden
Morgen, irgendwie bin ich in der Erinnerung an die Nacht dann doch
immer wieder froh.
31. Dezember
Im Zug, auf der Reise nach Linz, reguläre Übelkeit.
Ostia und ich sind angekabelt, durch die moderne Technik eines
Walkman an die Musik von Erik Satie. Wir plaudern in kindlicher
Sprache miteinander und ich muß viele Fragen beantworten,
wir freuen uns über die gemeinsame Reise und sind aufgeregt.
Ostia ist kaum zu bändigen, sie entledigt sich der Musik und
läuft in den Abteilen neugierig auf und ab.
Melodisch erwecken die Klavierstücke Melancholie in mir.
Melancholie = krankhafte Wehmut. Schnell sind ein paar Tränen
hinuntergewürgt.
Jetzt drückt sich Ostia an mich und ich nehme sie auf meinen
Schoß. Gemeinsam betrachten wir die Landschaft, die
entblößt vom Schnee in zart erdigen Farben in einer
tosenden Fahrt vorbeizieht.
Baumgruppen, zu denen verschlungene Wege führen. Waldstreifen
am Horizont – dunkelblau ... aufgerissene Erde – sich
irgendwohin träumen. Vielleicht nach Spanien, Andalusien oder
in die Pyrenäen.
Ostia besteht darauf, daß ich einen weiteren Teil der
Regenwurmgeschichte erzähle. Diese Geschichte liebt sie sehr.
Ich habe sie mir für sie einmal ausgedacht auf dem Weg zum
Kindergarten, daraus ist ein Fortsetzungsmärchen
geworden.
Der zug rollt ein und bleibt mit einem Ruck, der begleitet wird
von dem Quietschen der Räder, am Linzer Hauptbahnhof stehen.
Jetzt sind wir da!
Mit den öffentlichen Verkehrsmitteln gelangen wir zu der
Wohnung von Ostias Vater, der hier mit seiner Freundin lebt. Es
ist eine kleine Dachwohnung, von wo aus man die Spitze des Linzer
Doms sehen kann.
Auf jeden Fall mache ich wieder die Erfahrung, daß Nähe
nur beschränkt möglich ist.
Vielleicht will ich in eine Tiefe dringen, die zu nahe an die
Grenzen der Intimität stößt. Ich könnte
Freunde küssen und umarmen. Ich möchte die Menschen
berühren.
... dabei liegt so vieles vor mir, das ich erst begreifen kann,
wenn ich es erfahren habe ...
Grundstrukturen menschlichen Zusammenseins ...
Gedanken über Macht.
Macht als etwas Positives.
Das Böse regt sich in mir. Ich will herrschen – oder ist es
mein Übermut, der mich vieles falsch verstehen
läßt?
Ostias Vater meint: "Du könntest den Nachmittag dazu
benützen, Freunde aufzusuchen."
Ich bin erfüllt von einer freudigen Erregung. Vor sovielen
persönlichen Kontakten rettet mich nur die Gewißheit,
daß sich Menschen als Menschen gleichgesinnt sind ... und
ich spüre, wie ich klein werde.
Also mache ich mich auf, um Freunde zu besuchen, die ich dann am
Abend sowieso wiedersehen werde, da Silvester in der kleinen
Dachwohnung gefeiert werden wird, und sie alle dorthin eingeladen
sind.
Ich lebe von Eindrücken.
Ich muß einen klaren Kopf behalten.
Es ist einundzwanzig Uhr, Ostia tummelt sich zwischen den
Gästen hin und her und hat sich bald mit jedem angefreundet.
Mit Sebastian verdrückt sie sich in einen unbelebt
gebliebenen Winkel in der kleinen Wohnung. Ich sehe, wie sie ihm
ein Buch unter die Nase hält, das er bereitwillig
entgegennimmt, nichtsahnend, daß er damit sein
Eingeständnis gibt, für die folgenden Stunden Ostias
Spielgefährte zu sein. Ich frage mich, woher Ostia diese
Hartnäckigkeit hat? Gerhard kommentiert: Kunst kann nur aus
Kunst kommen.
"Nein, mein Glaube ist ein anderer, Kunst kann nur aus sich selbst
kommen." Aber vielleicht sind es auch nur die Wörter, die
Sprache, an der wir uns mißverstehen.
Ostia ist vergnügt. Es gibt Palatschinken mit gezuckertem
Topfen.
Mit zunehmender Zeit werde auch ich heiter – es hält sich
die Waage – ich balanciere zwischen Aufbruchsstimmung und
völliger Apathie – laß es kommen, wie es kommt. Nichts
ist mir so heilig wie das Heilige!
Ostia flüstert mir ins Ohr: "Darf ich die ganze Nacht wach
sein ?"
Dreiundzwanzig Uhr fünfundfünfzig Minuten: Ich halte ein
Glas Sekt in der Hand, dabei stelle ich mir vor, wie in riesiger
Leuchtschrift im Zimmer Buchstaben an der Wand befestigt sind.
ADIEU 31. DEZEMBER!
GRÜSS DICH LIEBES NEUES JAHR!
Ja, sicherlich alles sind Schritte, die einen weitergehen lassen.
Manchmal ein bißchen den Horizont durchbrechen!
Wieder ein neues Jahr, das vor mir liegt. Immer, wenn ein Jahr
vorüber ist, habe ich das Gefühl, eine Prüfung
bestanden zu haben.
Aber jetzt stelle ich mit Erstaunen fest, daß es weitergeht,
immer weiter. Nur für diesen kurzen Augenblick scheint alles
still zu stehen, während ein Feuerwerkskörper am Himmel
explodiert.
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