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15. Januar
Geköpfte Seele ... wir sind Wölfe im Schafspelz. Die Zeit diktiert uns coolness. Die Funktion des menschlichen Gehirns – chemische Reaktion/Herzensbildung, Niveau des Herzens.
Die Wünsche sind die Vorboten der Fähigkeiten, die in uns liegen. Dieses Goethe-Zitat war ein Lieblingszitat meiner Tanzmeisterin, das sie uns bei jeder nur erdenklichen Gelegenheit angedeihen ließ.
Ich fühle heute eine bewegliche Freude in mir.
Meine Fingernägel sind schwarzrot lackiert, durch die helle Haut der Hand wirken die Fingerspitzen wie das Signal insektenvertilgender Tropenpflanzen. Meine Mutter behauptete immer, ich sei altklug. Für mich kann es keinen Tanz ohne Geist und Seele geben.
Der Urrhythmus im Vierundzwanzig-Stunden-Takt-Tagesablauf. Auch unausgesprochene Gedanken können aufdringlich sein. Ident sein mit dem Denken und Sprechen. Ich versuche zu schlafen, gedankenlos zu sein, mechanish schalten sich Gedanken ein. Ich gehe gern über Wiesen – die Schwingung, die durch das Aufsetzen meiner Füße entsteht, dringt bis in den Kern der Erde vor.
Den ganzen Nachmittag lief ich im Wald umher. Die Bäume sind umgesägt, das Holz teilweise aufgestapelt. Bei einem Bach mache ich Halt, um kurz bis zu den Waden ins eisige Wasser zu steigen. Die Männer, die sie umfällten, müssen brutale Kerle gewesen sein. Die Stümpfe sind zerfranst, so als hätte jemand seine Wut mit zornigen Axthieben an den Überresten der hohen, schmalen Bäume ausgelassen. Armer, geschundener Wald.
Heute nacht träume ich, wir, das sind Männer und ich, gehen nach Hause in eine kleine Wohnung, wo Ostia eingesperrt auf uns wartet. An der Tür hängt ein Paket – Post ist gekommen, auf der Schwelle liegen Rosen, die in Papier einer Illustrierten eingewickelt sind. Es handelt sich um eine Nachricht von meiner Mutter – Glückwünsche zum Geburtstag.
Das Paket enthält ausgetrockente, runzelige Kompottkirschen aufgeklebt auf Pappkarton, einen altbackenen, brösligen Brotwecken und verschiedenartige Speisereste und einen Brief, dessen Inhalt lautet: "Wir haben dich nicht vergessen – damit du nicht verhungern mußt, schicken wir dir dieses."
Nachdem ich mit Entsetzen festftelle, daß sich Ostia nicht mehr in der Wohnung aufhält, überrede ich die Männer, die inzwischen meine Schatten geworden sind, mir zu helfen, nach Ostia zu suchen. Nach einem langen, mühseligen Herumsuchen kommen wir auf eine Wiese, es ist, als wäre Krieg, ein japanischer Stabsoffizier gräbt nach Wasser im Sand, ich erkläre ihm, daß ich durch meinen sechsten Sinn Trinkwasser finden kann.
Mit meinen Händen fühle ich Wasseradern, ich grabe an einer Stelle und stoße auf etwas Hartes, ich grabe weiter und ertaste ein Kanalisationsrohr, das vom feindlichen Gebiet die Fäkalien in unseren Boden leitet und unser Wasser ungenießbar macht. Plötzlich wird mir klar, daß die Ursache für Ostias Verschwinden der Stabsoffizier ist. "Lieber Herr", frage ich und stemme meine Hände in die Hüften, "Wo ist sie?" Mit federnden Schritten geht er vor mir her und weist mit seinen Fingern auf ein in der Ferne liegendes Schloß.
Ich beginne, auf das Schloß zuzulaufen, doch das Traumphänomen des Laufens und sich dabei nicht vom Platz Bewegens setzt ein, dadurch wache ich auf.

16. Januar
Ich sage mir: "Es wäre an der Zeit, neue Kräfte zu sammeln, es wäre an der Zeit, wieder aktiv zu sein."
An diesen Tagen bin ich aufgelöst und in einer schaffenswütigen Stimmung ... aber was ich auch beginne, es ist zum Scheitern verurteilt, weil da meine Mutlosigkeit ist. Der verlorene Glaube, der sich nicht so ohne weiteres wiederfinden läßt. Zuerst muß ich durch das verhängnisvolle Loch der schwerelosen Stumpfheit, werde ich dort sein, wo die Hoffnung wiedergeboren wird?
Ist der Erfolg die Bestätigung unserer Begabung?
Berufung – dazwischen fällt mir ein, wenn wir alle reich wären, wären wir dann ohne Bindung an die Zeit?
Was gibt es Schöneres, als über die Erde zu schweben und den Boden mit den Füßen zu stampfen. Es ist der Lauf der Dinge!
Die Kreisel hören nie auf zu kreisen und ich denke mich ins Unendliche, solange bis ich fliege. Es ist mir gleichgültig, daß die Tatsachen beharrlich bleiben. Der Moment ist erhaben. Sich erheben ist ein Augenblick des sich Befreiens.
Wer begreift das schon?
Ich begreife nur das Eine, die Wahrheit ist ein Glaube oder ein Bekenntnis zum Leben. Es gibt nichts, das fehl am Platz ist und dabei ist nichts endgültig fixiert, nichts außer die Wahrheit des Lebens, und dieses Gesetz muß jeder begreifen.
Davor habe ich wirklich Respekt.

Die Tage sind sich so ähnlich, einer wie der andere.
Kalte Morgen, trockene Luft, am Frühstückstisch die Tasse Kaffee und die erste Zigarette. Ich huste, weil der Rauch in meiner Lunge kratzt.
An was darf ich glauben?
An die Ruhe, die sich in mir ausbreitet, wenn ich es schaffe, einmal mit mir zufrieden zu sein?
Eine Botschaft, die uns verinnert ist, die unsere Triebfeder ist und zugleich unser Brandzeichen – wir tragen das dritte Auge stolz vor uns her.
Die Luft ist kalt, Wien ist grau und ein eisiger Wind weht fast ständig, die Kälte zehrt an unseren Kräften. Zu den vielen Bedrückungen, die wir kulturell erfahren, nagt auch die andauernde Sorge um das Überleben an uns und der lange Winter drückt die Sinne.
Zur Zeit klebe ich Plakate an die Eingangswände der Wiener Beisel. Es ist ein Job, den ich ausführe und der immerhin das Geld für die Grundnahrungsmittel einbringt, also habe ich jeden Grund, mich zu freuen.
Der Aberglaube an eine subtile kindliche Macht im Erwachsenenleben.
Den Stab brechen, um vom Zauber erlöst zu sein.
Ich schneide eine Frucht in zwei Hälften, die sich verfärbenden Schnittflächen leuchten, ein lebendiger Organismus, der sich durch die Aufnahme in meinen Magen verwandeln wird. Wenn ich heute tanze, entströmt der Dunst der Frucht aus meinem Körper, umgibt mich.
Ich bin süchtig nach Leben.
Wie kostbar Dankbarkeit ist.
Ich will lernen, zu betrachten, zu horchen, zu schauen und vor allem zu staunen.
Zuflucht zu mir selbst finden.
Das Verborgene an die Oberfläche befördern, an die Oberfläche des Erkennens.

17. Januar
Ich ziehe mich in das kleine, hofseitig gelegene Kabinett zurück, öffne das Fenster, um einen freien Blick in den Himmel zu haben. Die Not des Künstlers, die zur klischeehaften Vorstellung avanciert, so als gehöre sie einfach dazu, so als wäre sie die natürlichste Sache, so als wäre sie ein Geburtsmerkmal, das unwiderruflich mitgegeben ist.
Dieser Zustand muß ein Ende finden, diese edle Armut, die eine Strategie der Verhinderung ist, im Großen wie im Kleinen, politisch wie privat.
Denn der Augenblick, in dem sich das Problem manifestiert, ist nur die Anhäufung, die Summe, die Wirkung der Ursache, des Vergessens einer möglichen Lebensintensität.
Ich will meine Visionen wieder!
Vom Höchsten zum Tiefsten, vom Lernen zum Vergessen.
Es ist unwesentlich, nach welchen äußeren Werten ich strebe, solange ich die inneren Werte nicht ordnen kann. Eine Synthese aus innerer Bereitschaft und schöpferischer Handlung finden.

Warum sitze ich hier und grüble?
Ich muß lernen ... und die seelische Struktur eines Menschen?
Bruchstückhaft schwirren Sätze aus hitzigen Diskussionen, die ich meistens mit Pablo führe, in meinem Gehirn umher: "Jeder formt sich sein Umfeld selbst. Es ist niemals nur das Umfeld, das Milieu, das den Menschen prägt und formt."
Pablo's Stimme klingt kraftvoll und ich habe es gerne, wenn er sich ereifert, also konzentriere ich mich auf das Äußerste, um ihn dadurch zum Weitersprechen zu motovieren.
"Jeder nicht entmündigte, nicht vermasste Mensch, wird soviel Substanz und Selbstständigkeit aufbringen, aktiv sein Umfeld zu gestalten."
"Die Verwirklichung einer Anlage, sei es im künstlerischen oder handwerklichen, sozialen oder wissenschaftlichen Bereich, ist lebensnotwendig für den Menschen, der diese Anlage in sich trägt."
"Hörst du noch zu?"
"Ja, ja natürlich."
"Welche Meinung hast du?"
"Wir sind Geknechtete unseres Selbst."
"Grundsätzlich bin ich aber auch der Meinung, daß, wenn sich die Anlage eines Menschen nicht entfalten kann, durch irgendwelche Umstände blockiert wird, sei es aus dem eigenen Unvermögen oder durch Hemmungen, die von der Außenwelt geschaffen sind, dieser Mensch in Depressionen flüchten wird und irgendwann endgültig resignieren wird."
Ab wann entwickelt ein Wesen die Sehnsucht nach seiner Menschwerdung?
Ab wann habe ich begonnen zu leben, ab wann beginnt ein Mensch überhaupt zu leben?
Ich meine nicht, ab welchem physischen Erschienungsbild, ab wann ist ein Mensch beseelt?
Hin und wieder hebe ich meine Lider, um meine Augen ganz zu öffnen, aber wie nach jahrelanger Blindheit bleibt ein Grauschleier auf meiner Netzhaut, sodaß ich meine Augen wieder schließe.
Zurück bleibt die Erinnerung, die Neugierde und Scheu und ein Antrieb, immer wieder von Neuem zu schauen, um zu erfahren, ob die Zeit gekommen ist, in der ich mit sehenden Augen durch das Leben gehen kann. Ich will eben alles, ich lasse es geschehen, auch wenn es unendlich viel Kraft kostet, mich im Gleichgewicht zu halten.
Ich will mich erinnern. Ich will frei sein von dem Zwang, etwas darstellen zu müssen.
Der Körper ist eine Ansammlung von Licht.
Manchmal bin ich orientierungslos, dann zapple ich und bin trotzig wie ein kleines Kind, das nicht bekommt, was es will. Kinder übersetzen ihre Wünsche in die Sprache des Körpers.
Manchmal aber wünsche ich mir, ein Vagabund zu sein.
Ein Clochard in Paris, obwohl ihre Geschichten so traurig sind.
Ich brauche die Bewegung, in ihr liegt so viel Hoffnung, auch wenn der Tanz ein waghalsiges Unternehmen ist.

(Traum)
Im Umkleideraum einer Ballettschule bitten mich Mädchen um Rat, wie sie ihre Tanzkostüme anziehen sollen. Mit Nadeln stecke ich die Kostüme ab und passe sie den Mädchenkörpern an. Ich helfe allen Mädchen beim Zurechtmachen für ihren Auftritt.
Scherzhaft lachend sage ich: "Wenn ich nichts anderes tue, werdet ihr alle fleißig üben und große Stars werden, ich werde Garderobiere bleiben." Die Mädchen finden das lustig und lachen und während sie weggehen tuscheln sie und schütteln ungläubig ihre Köpfe, als würden sie sagen, das wird nie so sein. Ich bleibe zurück, aus dem nebenanliegenden Übungsraum dringt Musik, die mich anzieht. Da ich aber weiß, daß Unterricht abgehalten wird, wage ich es nicht, meinem Gefühl nachzugeben, in den Raum zu treten, um die Musik ganz nahe zu hören. Die schrillen Stimmen alter Lehrkräfte instruieren die Schülerinnen und ich spüre förmlich, wie sie jede einzelne Geste ihrer Schülerinnen mit kontrollierenden, verfolgenden Blicken beobachten. Ich kann nicht hineingehen und muß warten. Dadurch belausche ich gezwungenermaßen ein Gespräch zwischen einer Frau, die sich Martha nennt, und einer biederen, älteren Frau, deren Name mir unbekannt bleibt. Verwundert stelle ich fest, daß die beiden Frauen über mich sprechen. Die Frau namens Martha erklärt der anderen, daß ich eine komische Art von Tanz lehre und daß das nicht so ernst zu nehmen sei. Im Umkleideraum ist es dunkel, ich halte meinen Atem an, damit ich mich nicht verrate. Erst, als sie immer wüster mit ihren Beschimpfungen werden, verlasse ich mein Versteck, um ihnen wutembrannt entgegenzutreten. Ich schreie die zwei Frauen an: "Schaut euch doch an, wie weit habt ihr es mit euren Ideen gebracht?" Sie stehen da, unscheinbare, sattgegessene Menschen, reagieren wie ertappte Diebe und bringen kein Wort mehr hervor. Ich bemerke, wie ihre Wangen rot anlaufen, dann immer blässer werden und beide Frauen langsam verblassen, so als wären sie nie da gewesen.
Ich finde diesen Traum absurd und witzig.
Die Träume führen uns durch unsere Neurosen.

18. Januar
Soeben habe ich mit meiner Mutter telefoniert. An der Stimmlage meiner Mutter erkenne ich sofort, wie es ihr geht. Heute ist sie in keiner guten Verfassung. Die Gepflogenheiten ... es sind alles nur Redewendungen. Meilenstiefel müßten wir besitzen, von Berg zu Berg, von Abguß zu Abguß – die Abwässer fließen davon. Mutter, warum bist du so traurig? Es gibt keine Antwort. Ihr Hoffen ist verkrümmt durch die andauernde Selbstvernunft. Sie gehört dieser Zwischengeneration an, den Kindern nach dem Krieg. Die Wehen, in denen ihre Mütter lagen, waren nicht die Wehen normaler Mütter, die fürsorglich betreut ihre Kinder zur Welt bringen. Sie haben die schrecklichen Erlebnisse ihrer Mütter mitgeboren. Sie alle mußten in den Wehen den Schmerz ihres Lebens wiederfinden und ihr Schmerz ist zu unseren Schmerzen geworden, während wir durch sie hindurch den Geburtskanal passierten.
Vögel fliegen weiter.
Meine Mutter hat vier Kinder geboren. Wir sprechen nie über Sexualität. Früher einmal wollte ich gerne mehr von ihr darüber erfahren. Es bleibt dabei, wir sprechen nicht darüber, ich will sie auch nicht in eine peinliche Situation bringen.
Sexuelle Intimität ist die Folge einer geistigen und seelischen Nähe. Sexualität ist die Transformation, die zwei liebende Menschen in die Extase erhebt.
Dilletanten der Liebe.
Das Schicksal eines Genies, das seinem Wahnsinn folgen muß. Was ist mit Vincent van Gogh geschehen? Die großen Wahnsinnigen, die immer sich selbst unterworfen blieben. Weil sie nicht anders konnten, als wie ihr Leben lang zu leben, was sie vielleicht gar nicht waren und gerade deswegen waren.
Was hat das mit meiner Mutter zu tun?
Vielleicht lebt meine Mutter auf ihre Art im Wahnsinn, wo liegt der Unterschied zwischen dem Wahn, dem Vincent van Gogh verfallen ist und dem Wahn, dem meine Mutter verfallen ist, oder dem wir alle verfallen sind?
Ich denke an Antonia, das Mädchen mit den großen braunen Augen, das mir auf dem Weg vom Klassenzimmer in den Turnsaal einen Brief zusteckte, in dem sie mir anbot, meine Freundin zu werden. Wir waren elf Jahre alt, wir wurden Freundinnen. Mit einem Mal war da jemand, dem ich mich mitteilen konnte, der meine Einsamkeit verstand.
Wir durchstreiften den Wald und bauten unzählige Mooshäuschen, solange bis wir eine richtige Stadt hatten, die nur uns gehörte. Diesen Platz suchten wir auf, wann immer es uns möglich war. Es entstand eine große Zuneigung füreinander. Antonia vertraute mir ihr Geheimnis an, sie wollte Schriftstellerin werden. Von da an trafen wir uns nur noch mit unseren Schreibheften und lasen uns gegenseitig vor. Wie poetisch sie schrieb und wie schön sie ihre Gedichte vortragen konnte. Mein Schreiben hingegen war schon damals analytisch, auf die Menschen und auf meine Umwelt bezogen. Ich wollte schließlich auch Tänzerin werden und keine Schriftstellerin.
Wir liebten uns auf eine kindliche Weise, wie sich Menschen lieben, die die Verwandtschaft des Geistes spüren.
Als ich das Elternhaus verlassen mußte, um meine Ausbildung zu beginnen, haben wir uns aus den Augen verloren. Vor kurzem erzählte mir meine Mutter, daß Antonia ihr zweites Kind erwarte und eine tüchtige junge Frau geworden ist, die mit ihrem Mann ein Haus baut und eine hervorragende Hausfrau ist. – Später habe ich sie nie mehr gefunden. Sie ist eine brave junge Frau geworden, ohne Träume, ohne Hoffnung auf ein eigenes Leben als Schriftstellerin. Ich würde sie gerne wiedersehen, gerne wissen, was aus ihrem feinen, wachen Wesen geworden ist. Ich würde sie retten wollen!
Warum tanze ich, warum tanze ich noch immer?
Es erscheint mir wie ein Verrat an unserer Freundschaft.
Beinahe bin ich wütend über die vielen Jahre, in denen ich mich nur vom Tanz treiben ließ. Ich war mir meiner Sache so sicher. Inhalte verschieben sich. Das Einfachste, die Bewegung, konnte mir niemand rauben, selbst der ständige Versuch meiner Familie, mich zurückzuhalten, blieb ohne Erfolg.
Antonia, du wirst vermißt.
Antonia, was hast du vor der Welt zu verbergen?Antonia, die anderen wollen nicht an deinem Leben teilhaben, sondern an deinen Illusionen.
Antonia, die Idee muß in dir sein, du selbst mußt die Idee sein, um sie leben und transportieren zu können.
Antonia, du mußt zur Illusion werden.

19. Januar
Die Angst vor Streit, wen ich meine Verachtung loskette, die Kontrolle über meine Empfindungen verliere – gegen die Windmühlen laufe –.
In einem Schreibwarengeschäft kaufe ich ein Notizbuch. Ich freue mich über die glatten, unberührten, weißen Seiten. Ich erinnere mich daran, wie ich als Schulkind Papier sammelte, alle nur möglichen Farben und Größen. Am schönsten waren die rosa und grünfarbenen Papierblätter. Fein säuberlich geordnet legte ich sie vor mich auf die Schulbank. Eines Tages, es war im Frühling, die Sonne schien warm durch die großen Glasfenster in das Klassenzimmer und unser Lehrer hieß uns die Fenster öffnen. Ein Windstoß kam, all mein schönes Papier flog zu Boden und wirbelte im Raum herum.
Ich sammelte alle Blätter, die großen, die kleinen und bunten erschrocken auf.
Der Lehrer schimpfte: "Bist du eine Lumpensammlerin?"
Ich war zutiefst verletzt durch diese Titulierung, denn ich war stolz auf das viele Papier, das mein Besitz war. Nie warf ich ein unbenütztes Stück Papier fort. Wenn das Schuljahr zu Ende war, trennte ich die unbeschriebenen Seiten aus den Schulheften und bewahrte sie in einem Kästchen auf.
Ungestört von den eigenen Wertvorstellungen das Leben anderer Menschen begreifen.
Die Krücken, die wir verwenden, sind die eigentlichen Hindernisse, nicht die Hindernisse sind das, was wir überwinden müssen, sondern das Verwenden von Krücken.
Die Weisheit begegnet einem nicht in Form einer verschleierten Medusa.

In einem Raum ein großes Bett, darauf liegt ein Kinderkörper, der sich anfühlt wie eine Puppe. Nicht kalt, aber glatt und plastisch. Dieses Kind ist nackt, es ist Ostia, obwohl sie es nicht ist. Dieses puppenartige kleine Kind ist schwanger und ich muß ihm bei der Geburt behilflich sein. Es ist aber so, als würde ich ein Kind gebären und ich bin sehr erstaunt, da ich eine Blutung habe. Ich sehe, wie ein kleiner Blutklumpen aus meinem Schoß, der nicht sichtbar ist, in die Toilette plumpst.
Das kleine Kind ist beunruhigt und ich halte seinen kleinen, nackten Körper, während es in den Wehen liegt. Ich sehe den schwangeren Bauch und Rundungen,die sich wie von einem kleinen Kopf durch die Bauchdecke wölben.
Ich lege das kleine nackte Kind wieder auf das Bett zurück und tröste es, indem ich sage: "Gleich ist alles vorüber." Dabei entferne ich mich vom Bett, bleibe aber im Zimmer anwesend. Das kleine nackte Kind schreit nach mir, es ist kein wirkliches Schreien, eher ein stilles nach mir Rufen. Das kleine nackte Kind liegt in den Preßwehen. Wieder nehme ich das kleine nackte Kind in meine Arme und sehe eine glatte Scheide und einen unbehaarten Venushügel und wie sich der ebenfalls glatte Kopf des Kindes, das geboren werden soll, durch die enge Scheide zwängt. Ich fordere das kleine nackte Kind in meinen Armen auf, kräftiger zu pressen.
Der Kopf des Kindes, das geboren wird, ist da, der Körper flutscht nach. Ich gerate in Panik, da mir plötzlich einfällt, daß ich die Nabelschnur durchtrennen muß, aber keine Klemmen bei mir habe, um die Nabelschnur abzubinden. Überhaupt fehlen alle medizinischen Instrumente, die ich brauchen würde, um das Neugeborene zu versorgen. Nicht einmal sterilisiertes Wasser ist vorhanden. Pablo ist im Nebenraum und malt, ich rufe voller Angst nach ihm, aber er reagiert nicht darauf. Ich kleide das Kind an, das kleine nackte Kind ist nicht mehr da und das Kind in meinen Armen ist das Kind, das geboren hat und geboren wurde.
Ich zeige Pablo das Kind und muß immer daran denken, daß ich die Nabelschnur noch durchtrennen muß. Das Kind will umgekleidet werden, da entdecke ich, daß die Nabelschnur verschwunden ist. Pablo hat sie abgeklemmt und durchtrennt, woraufhin ich ihn zur Rede stelle. Er antwortet: "Ich war im Glauben, es sei deine Nabelschnur, so habe ich sie weggeschnitten, das ist ja notwendig, außerdem war sie ausgetrocknet, wäre also sowieso bald abgefallen."
Mit Entsetzen stelle ich fest, daß das Kind mit Brustwarzen, die wie verkümmerte Augen wirken, und Nabeln übersät ist. Blitzartig wird mir klar, daß das nur die Folge der Nabelschnurentfernung sein kann.
Ich weise Pablo darauf hin, aber er reagiert in keinster Weise darauf.
TRAUMRÄTSEL
Die Lebensgesetze können nicht in einer mathematischen Kurzformel eingeengt werden.

20. Januar
Auch dieser Monat geht einmal zu Ende.
Nach getanem Tagwerk, nach dem Üben am Körper, das den Geist nicht befreien kann, schweres, unbefriedigtes Gemüt. Der Strom ist ausgefallen, die Wohnung liegt in Finsternis. Ich entzünde den Docht an einer Kerze, das kleine Licht flackert. Elektrizität – Nerven, die elektrische Energie im Organismus eines Menschen, und ausgerechnet heute muß der Strom ausfallen.
Ich komme mit meinem Denken nicht weiter. Das Sitzen und Warten bringt mich um nichts näher an mein Ziel heran, diese diffuse Vorstellung von einem Ziel, es ist kein Leistungssport, den ich mit dem Leben betreibe.
Das Blei in den Beinen, die Frustration dehnt sich aus. So lang war mir die Zeit schon lange nicht mehr, doch die Ewigkeit des Lebens nimmt kein Ende. Wie sehr wünsche ich mir Tränen, ich muß den Schmerz über mich ergehen lassen und im regelmäßigen Atmen die Entspannung erwarten.
Wie einsam wir Menschen doch sind, wenn wir alleine sind. Im Kerzenschein krame ich nach alten Fotografien. Ich, im Alter von sieben Jahren mit zahnlöchrigem Mund an der Hand meiner Mutter, meine Brüder, die sich scheu an sie lehnen. Ein Foto von meinem Vater, das ein Onkel geknipst hat, mein Vater schläft auf dem Küchensofa mit einer Zitronenscheibe im halbgeöffneten Mund. Ich kann mich erinnern, wie wir über diesen lustigen Gag gelacht haben und selbst mein Vater schmunzelte darüber. Fotos von Ostia auf einem Schaukelpferd, sie winkt und hat sichtlich große Freude bei ihrem Spiel. Ein Portraitfoto von Pablo. Etwas in mir fühlt sich angezogen von ihm, so als wäre es ein alter Wunsch, der urplötzlich aus den Tiefen meiner Seele aufsteigt, um lebendig zu werden.
Isoliert von meinen Gedanken ... werde ich Spuren hinterlassen?

25. Januar
Die Tazetta-Hybride, ein Narzissengewächs, treibt ihre ersten Blüten aus, ich bestaune das Entfalten, wie aus den zarten Knospen kräftiggelbe Blüten gedeihen. Die Gegenwart der Pflanze macht mich wieder froh – der Akt des Balancierens ist kompliziert.
Es erscheint mir absurd, Resignation auch nur aufkeimen zu lassen. Die Idee, das Konzept ist mir eingeprägt, liegt in der Seele. Zurück zu den Ausgangspunkten. Ich verliere mein Gedächtnis für die Träume der Nacht, am Morgen sind nur noch Bildfetzen davon übrig, die ich in mühevoller Kleinarbeit versuche, zusammenzufügen. Es gelingt mir nicht.
Die kleinen und die großen Freßorgien als Kompensation, zur Stillung der unerfüllten Wünsche. Auch das kann sich von heute auf morgen verändern. Oft ist mir mein Wünschen im Weg. Die Tage eilen mir voran, ohne daß ich "etwas" getan hätte, die Depression ist hinter mir her ... der unausweichliche Trott. Die Einsamkeit ist ein Schreckgespenst, vielleicht muß ich ein zärtliches Verhältnis zu diesem Gespenst entwickeln. Bodenständige Gelassenheit, das habe ich noch nie begriffen, was der Moment, die Gegenwart ist. Ich fühle mich so tot ohne Träume. Mit Skepsis verfolge ich meine Zerrissenheit. Mit welcher Ernsthaftigkeit ich lebe, belustigt mich. Dahindösen – die Prinzessin darf nicht wachgeküßt werden.
Der Körper nimmt die Gifte auf und leitet sie über die Haut wieder an die Außenwelt zurück.
Ich habe noch immer nichts vergessen, nichts von dem, was ich erlebte, ist verblaßt. Alles scheint so unwichtig, gemessen an der Zeit, die noch lange dauert, die Zeit, die ein ganzes Leben ausmacht.
Ostia ist gestürzt und weint, ich drücke sie an mich, blase die Schürfwunde. Auf ihren leidenschaftlichen Trotz reagiere ich mit Nachsicht. Verstehen wie stark die Persönlichkeit eines Kindes ist. Tränen, die über die Wangen rollen.
Wir gehen auf der Straße, wir blicken in den Himmel, Marschmusik auf der Straße ... Szenen aus einem Leben. Auch das Absurde kann man nicht festhalten ... weil eben ... alles geht, vorwärts geht – blicke nicht zurück, lasse hinter dir, was dich festhält. Autos fahren in einem rasanten Tempo an uns vorbei.
Der Zauberspruch, der das Tor des Berges öffnet ... "Sesam öffne dich". Alchimistische Prozesse, die Auflehnung wider die Gegebenheiten. Dolce far niente. (Süß ist es, nichts zu tun).

27. Januar
Die Seele liegt brach.
Wie oft scheue ich die Mühe, der Wahrheit ins Gesicht zu blicken?
Das Leben vergeuden, auf Dauer ist es unmöglich, das eigene "Ich" zu hintergehen.
Wenn ich vom Einkauf nach Hause spaziere, führt mich mein Weg durch die Schrebergärten – ich schließe die Augen, dann sehe ich keinen Drahtzaun, der die Gärten umgibt. Dann stelle ich mir vor, es ist Herbst und weites Land vor mir. Die Herbstsonne zaubert einen milden Schimmer über die goldroten Blätter der Sträucher, die Pflanzen atmen Farbe aus. Der Zaun tötet die Nerven und die Seele, vor allen Dingen die Seele ...gelb-braun-orange Töne, das letzte widerspenstige Grün weicht aus den Blättern der Bäume und Ziersträucher.
Ringelspiel der Blätter am Boden ... will hoch hinaus, über die Dächer, fliegen in einem Rausch – tanzen oder tanzen ... verzaubern ... Mensch von Angesicht zu Angesicht ... Träume wahr werden lassen. Spürbar verfällt wieder ein Tag. Die Zeit ist immer wach.
Ich liege auf der Couch und fühle mich wie ein Luftballon. Ostia hat auch eine Vorliebe für den Herbst, wir sind dann sehr lustig. Der Wind faucht uns an. Wir sind lustig. Papierfetzen fliegen durch die Luft. Wir lachen. Der Wind hebt unsere Röcke, wir halten uns an den Händen und lächeln über das stürmische Wetter ... wir schauen in das tiefe Himmelsblau – am Abend ist der Himmel düster und verwaschen. Auf der Couch liegend versuche ich mir den vergangenen Herbst ins Gedächtnis zurückzurufen.

Es liegt etwas in der Luft. Ein Verdichten von Spannungen, der Straßenverkehr ist chaotischer – Hupen, Bremsen, Geräusche, die mir ins Ohr dringen und mich erschrocken aufhorchen lassen. Signale von Rettungsautos, das Aufleuchten von Blaulicht, ein Polizeiauto verschwindet, das mit blinkendem Licht in die Kurve fährt.
Die Tage gehen weiter im Blau des Herbsthimmels. Fasziniert beobachte ich den Stimmungswechsel, den der erste Winterfrost mit sich bringt.
Die Schrebergärten vor meinem Fenster verwandeln sich in Aulandschaften. Die Farben ersterben. Die ersten unangenehm kalten Tage. Die Öfen werden beheizt. Die Menschen tragen plötzlich Pakete in den Händen. Ich lebe im Haus verkrochen und wehmütig.

30. Januar
Weil ich meiner Sehnsucht nicht Herr werde, lege ich Hand an mein Herz, würge meine Gefühle, bis sie leblos von mir gehen.
Ich hebe das Bein, es soll ein Tanzschritt sein, ich falle von einem Bein auf das andere. Ich freue mich nicht am stolzen Wiegen des Oberkörpers.
Das notdürftige Abdecken der sehr gewöhnlichen Bedürfnisse. Während ich mich wasche, versinkt mein Geist im flauschigen Denken meiner süffisanten Weltanschauung. Ein Hirngespinst – die Zeit hält die Hoffnung nicht auf. Mich fröstelt in dem ungeheizten Zimmer. Meine Schrebergärten sind schon wieder verwandelt. Impressionistische Gemälde vor dem Fenster. Ich werde erwachsen. Lernen, in jedem Moment zu lernen.