1. Januar
Es war ein rauschendes Silvester. Wir sind müde von der
langen Nacht – die Hoffnung hört nie auf, in mir zu
sein.
Vor meiner Rückreise werde ich mit Ostias Vater sprechen. Sie
wird für einige Wochen bei ihm bleiben. Wenn ich an ihn
denke, liegt mir das wie ein Kloß im Bauch. Wir prallen
aneinander, entfernen uns einer vom anderen immer mehr. Er
ohrfeigt mich mit seiner Kritik, seiner Manier, die Tatsachen in
schwarzen Metaphern auszudrücken. Etwas schlägt sich im
Kopf nieder und macht mich müde, wenn wir sprechen. Jedes
Mal, wenn wir uns treffen, entsteht aus einer entspannten
Atmosphäre ein fast feindschaftliches Klima. Dabei mögen
wir uns gut leiden und im Grunde wissen wir einander zu
schätzen.
2. Januar
Ich bin gerade dabei, mich von meinen alten Gewohnheiten aufs
Neue absorbieren zu lassen. Zugegeben, es macht mir Freude, es
geschehen zu lassen.
Mit der Ankunft in Wien bin ich unmittelbar mit meinen
Lebensbedingungen hier konfrontiert. Ungeachtet der bunten
Fülle von Eindrücken, die ich von der Reise mitbringe,
die auf mich weiterhin einwirken, werde ich von dem Wunsch zu
tanzen befallen.
Mit diesem Leben bin ich vermählt.
Das heißt, durch diesen ganzen Dreck auch durchzugehen.
Ich muß an meinen Beginn denken, an die ersten Jahre, nach
denen ich das elterliche Heim verlassen hatte.
Damals sagte ich: Freiheit ist das Lebenskonzept überhaupt,
und am Morgen ging ich zu den Tanzstunden mit einem Stück
Brot in der Tasche. Selbst der Weg in die Tanzschule hatte etwas
Verklärtes an sich. Zuerst überquerte ich die dicht
befahrene Hauptstraße, an der ich dann entlang bis zur
ersten Ampel lief, dann machte die Straße noch eine
weitschwingende Kurve, nach der ich dann durch die Vorstadtfelder
zu marschieren begann. Nach über einer Stunde zu Fuß
kam ich, vorgewärmt für das Tanztraining, in der Schule
an. Sehr selten habe ich das Geld für einen Fahrschein
besessen.
Bevor ich endgültig in die Wohnung zurückkehre, kaufe
ich in dem winzigen Tabakladen, der bei mir ums Eck liegt, schnell
noch eine Schachtel Zigaretten. Dort ergattere ich freundliche
Worte, auch für mich hat man noch ein Lächeln
übrig, sodaß ich redselig werde. Über die
Winterkrankheiten und wie es so geht. Zu mehr reicht die Zeit
nicht aus, aber es ist auch kein anderer Gesprächsstoff
vorhanden. Die sehr alte Verkäuferin klagt über
Rückenschmerzen. Es ist wie die Offenbarung eines
persönlichsten, privaten Geheimnisses, wodurch ich Eintritt
in ihr Leben erhalte. Es ist, als würde sie sagen: "Die
Krankheit, das bin ich, das ist meine Seele,
schauen sie nur, schauen sie, wer ich bin."
An meiner Wohnungstüre klebt ein Zettel, es ist eine
Nachricht von Pablo. Ich falte das Papier auseinander. Die
sorgfältig mit Bleistift gezeichnete Figur ist ein barocker
Engel, der sein Flügelpaar in einer Ecke abgestellt hat.
Zu lesen ist, nimm bitte deine Flügel und flieg zu mir! In
Liebe, dein Pablo.
Ich habe mich derart gewehrt dagegen, es war ein einziges Ringen
mit Empfindungen, zuletzt hat der Schmerz gesiegt. Ich habe mich
zur Wehr gesetzt – aber nur um besiegt und überzeugt zu
werden, daß es keinen anderen Weg für mich gibt, selbst
wenn ich es wollte.
Einen Moment lang halte ich den Atem an.
Ich muß mich über meine Zerrissenheit erheben. Ich
muß es bei dem belassen, was ist und dabei auf mich
achtgeben, daß ich nicht daran zerbreche.
Du machst mir etwas vor!
Ein verwunderter Schmerz bricht sich Bahn. Stille auf einen Punkt
gebracht, wie es mich aufgerissen durchbohrt hat. Manchmal sind
die nächtlichen Träume Hellsicht. Das Leben in
verschiedenen Zuständen. Ist der Traum die Vorstufe des
Wachbewußtseins? Ich bin bereit, jedes Opfer zu bringen
für eine Idee, die sich der Welt und dem Leben zuwendet.
Liegt im Tanz wirklich etwas Gewaltiges, ist das Geöffnet
werden durch die Bewegung die Wiederauferstehung? Ist der
Schlüssel zur Wahrheit der Traum? Ist die Wahrheit die
Tatsache der Realität?
Gerade noch rechtzeitig bemerke ich, daß in der Wohnung
Feuer ausgebrochen ist. Eine Kerze, die zu nahe am Fenster stand,
sodaß der Vorhang Feuer gefangen hat. Ich zögere , ehe
ich nach dem brennenden Stoff greife, um ihn samt der Schiene, an
der er mit kleinen rollenden Häkchen befestigt ist, aus
seiner Verankerung zu reißen. Mit meinen Füßen
stampfe ich das Feuer aus. Es ist weiter nichts passiert, nur zu
gerne hätte ich diese Szene von der Straße aus
betrachtet, gesehen wie das Feuer an der Fensterschiebe leckt und
es hell erleuchtet.
Das neue Jahr ist gekommen (ich sehe nichts in düsterem
Licht).
Ich bestehe eine Mutprobe – wie sich die Gefühle
plötzlich gegen mich selbst richten. ... weil die
Enttäuschung so groß war, so grundlegend ... und die
Befreiung so hemmungslos war. Die große Liebe befindet sich
im Entkommen.
Der Traum ist ein konkreter Zustand des Bildersehens und
–fühlens.
3. Januar
Im Kino schaue ich einen Film an. Die einzige berauschende
Stelle, wie der Held durch den Regen läuft.
Zwangsläufig realisiere ich, daß ich kein Recht mehr
darauf habe zu verweigern, was ich verweigern wollte. Ich ahne,
mit welch noch größerer Kraft sich das Verlangen nach
Hingabe in mir ausbreiten wird. Mit welcher Eigensinnigkeit sich
diese Empfindung aus Liebe und Sehnen zerschlug.
Verlorensein in der Verschmelzung mit einem anderen Menschen.
Ich habe noch immer nicht begriffen, was das ist, Liebe.
Bin ich dabei, das Drama meiner Mutter zu meinem Drama zu machen?
Aus Angst, alleine zu sein, aus Angst vor der Isolation, aus Angst
vor der Nacht, aus Angst vor dem Wahnsinn – ... die ohnehin
angeknackste Beziehung splittert ab. Einsehen, wie einfach
wäre ... wenn ...
In der Zeit in der die Zeit tot ist vor Langeweile.
Aufsehenerregendes Abenteuer; eine Geduld ist das, wozu geduldig
sein?
Die Aussage nach dem "aber" verliert an Wert, weil das "aber" die
Aussage irgendwie zwiespältig und unglaubwürdig
macht.
Die einzige Kompensation, die es uns erlaubt, die Zeit, in der die
Zeit tot ist, zu ertragen, ist das Denken, und selbst das hat
Grenzen.
Unsere Grenzen sind also zu eng gesteckt?
Ein Geist, der Flügel bekommt aus Langeweile.
Freiräume.
Dort drüben wird ein Windrad getrieben von dem starken Pusten
eines keuchenden Ostwindes.
ÄSTHESIA
Der Traum geht weit –
– in die schwarze Bauchhöhle – es weht ein Blatt Papier vor
meine Füße. Eine entsetzliche Nacht, ich werde wach,
ich muß mich krümmen, die Tränen ballen sich zu
Fäusten im Magen, ich stoße Bitternis auf, ein
gärender Atem füllt meine Brust.
DER RAUM, DER FREI IST!
LEERE IM ALL ...
aalt sich wahlloses Gestirn.
Zauderhaft –
zaghaft.
Wälzen – heranwälzen – umwälzen
Denken macht die Sinne frei.
Denken erlöst die Sinne.
Versöhnung
Spottlied aus dem Mund einer preisgekrönten
Schönheit.
Sektiererei.
Demie pliée des Intellekts.
4. Januar
Ich muß etwas tun. Die Unlust setzt ein wegen der
kleinen Streitereien. Es ist kalt in der Wohnung. Pablo ist zu
Besuch und wir schlürfen heißen Kaffee. Wir starren uns
mißtrauisch an. Er ist aufgebracht und laut. Wir sind
unzufrieden mit dem, wie es ist. Was will er eigentlich? Sich
durchsetzen durch sich Distanzieren? Schwindsüchtiges Corpus
delicti, wollen wir gegen uns ins Gericht ziehen? Oft frage ich
mich, ob wir unsere Lügen kennen. Die Dinge nehmen ihren
Lauf.Das Glück läßt sich nicht festhalten.
Draußen ist tiefer Winter. Eine Sekunde lang die Sehnsucht
nach offenen Armen, die mich sorgsam umhüllen, die begreifen,
wie leicht ein Körper entgleitet.
Das sich Abfinden, das sich Aufgeben, das sich Sinken lassen, das
Böse Werden auf die Umstände. Es ist die Flucht vor der
Resignation. Das Unteilbare in der Liebe. Fassungsloses sich
Aufbäumen gegen die Ohnmacht – niedergepreßt – das
Leben verstümmeln durch das Unvermögen Augenblicke
festhalten.
Das Gefühl, etwas zu wichtig zu nehmen.
Der Alltag hat uns zerfressen. Es ist eine Lüge. Der Bumerang
kommt zurück, auf jeden Fall machen wir uns etwas vor.
Sonderbar, wie sehr sich alles verändert hat.
Ich habe mir eine Schürze gekauft.
Ich binde die Schürze um.
Pablo wäscht das Geschirr ab, während ich mit dem Kochen
beginne.
Es wird alles gut.
Die Tage werden wieder länger.
Schnee fällt vom Himmel herab.
Mir ist mein Kopf leer geworden. Das Gesprochene tönt in mir
nach. Es hallt wieder. Meine Brust fühlt sich
durchgesägt an. In meine Kehle tröpfeln süße
Tränen, die ich hinunterschlucke. Ich bin
tränennaß.
Pablo entdeckt ein Gedicht, an dem ich gerade schreibe und
trägt es mit pathetischem Gehabe vor:
Gähnend strecke ich mich,
wälze mich,
blinzle vorsichtig dem Licht zu,
erschrick nicht
wenn es da ist,
wenn es für immer da ist.
es ist grell
es singt
weil es tanzt ...
Wir müssen darüber lachen. Wir decken den Tisch und ich
sage: "Ich tanze und falle dabei vom Baum." Pablo meint: "Tanze
dich in den heiteren Himmel."
(Ich bin noch immer beseelt vom Wünschen und Hoffen.)
Die menschliche Eigenart, in Gutes und Böses zu
unterteilen.
Wir nehmen das Mahl zu uns.
Nachdem Pablo gegangen ist, nehme ich ein Buch zur Hand. Doris
Lessings afrikanische Erzählungen. Der Zauber ist nicht
verkäuflich, liegt knallrot auf dem Tisch. Ich überlege,
wie es hierhingekommen ist. Auf der ersten Seite finde ich einen
lieben Gruß von Pablo.
Jetzt am Abend bin ich auf der Suche nach der inneren Musik – es
klingt alles hohl. Ich vervollständige die Liste meiner
Ängste, damit ich sie vor Augen habe, wenn ich sie einmal
verliere.
Die Träume erblinden.
Ein Bandwurm, der sich durch meine Bauchdecke bohrt. Ich taste mit
meinen Händen danach, fasse einen kleinen, glitschigen Kopf,
an dem ich ziehe, ein roter, langer Wurm kommt zum Vorschein, den
ich in einer grünen Plastikfolie einsammle. Der Wurm hat kein
Ende, das Band wird immer länger und ähnelt immer mehr
einem überdimensionalen Regenwurm. In meinem Unterleib
breitet sich Schmerz aus, je mehr ich den Wurm aus mir ziehe.
Neben mir steht einen große Waage, worauf ich den in
Plastikfolie gewickelten Teil des Regenwurm lege. Da tritt eine
Frau in das Traumbild, schielt neugierig auf mich, schlägt
die Hände ineinander und ruft: "Über ein Kilo wiegt
er."
Das Traurige an den Zusammenbrüchen, die Verstümmelung,
das Zerbrechen von dem, was man glaubt zu lieben.
Im Traum stelle ich mich mit dem Gesicht an eine weiße Wand,
breite meine Arme aus und schluchze um Erlösung. Ist der Wurm
im Kopf oder im Bauch? Die Last des Kopfes wiegt schwer.
5. Januar
Lächeln als Überlebensstrategie.
Die Wohnung ist verstaubt. Ich wische Staub, bleibe vor dem
Spiegel stehen und übe Grimassen, ein glotzendes
Freundlichkeitsungetüm blickt mich an. Ich ordne die
Bettdecke und streiche mit meinen Händen darüber. Ich
frage mich nach einer erträglichen Zukunft. Die Sehensucht
bleibt immer dieselbe, die Träume sind so wahr, die
Zaubereien sind so real.
Das Zimmer ist hoch. Die Wände sind weiß. Die
Türen von angekratzter Vornehmheit in schmuddeligem
Weiß. Die Badewanne ist trostlos tief, der Küchenboden
zerfurcht – wenig fruchtbarer Boden. Die Vorraumlampe wirft
Schatten an die Decke. Vor dem Spiegel stehend stelle ich mir vor,
wie absurd dieses Bild ist: – würde mein Herz verbrennen,
verglühen, es würde einen lauten, dumpfen Knall geben
und ich würde wissen, daß mein Herz, wie ein
Streichholz nach dem Entfachen sich entzündet, verlöscht
und verkohlt – und ich stelle mir mein Gesicht mit weit
geöffneten Augen vor, so bliebe ich zurück! – Da bin ich
plötzlich froh, alleine zu sein. –
Wände, die aus Stein gebaut sind, rund um mich gelegt, im
Halbkreis ... weil nichts über die Hoffnungslosigkeit siegen
kann.
Das Leben ist aus Stein gebaut.
Meine persönliche Geschichte zu Ende bringen. Ich darf mich
nicht verlieren, nicht meine Ruhe den falschen Umständen
opfern. Und zugleich stehe ich, mit meinen Händen, wo kann
sie hinrinnen so verronnen, die Sehnsucht nach der
alleserfüllenden Liebe? Irgendwer hat vergessen, ein rotes
Kreuz auf unser Panzerkleid zu sticken. Die Unnahbarkeit ist die
einzige Waffe, die wir haben – aber ich liebe meine Freiheit so
sehr.
Männer tragen Kinder nicht in ihren Bäuchen und
gebären Kinder auch nicht, Männer können sich
lossagen von ihren Kindern, ihre Nabelschnur wird schon im Moment
der Zeugung durchtrennt. Das, was der Körper spricht. Eine
Liebe, die tiefer dringt als bis zum Koitus, die Fleisch
überwächst, Liebe, die expandiert.
Es ist Sonntag. Alles, was ich zustande bringe, ist Schweigen, ist
unendlich tiefes in mich Hineinschweigen und Warten.
Horchen auf den Widerhall. Es resoniert nicht die schwere Leere in
mir, die ich aus anderen Tagen kenne, es ist etwas Mechanisches,
etwas fast erschreckend Abgekühltes, Vernünftiges, in
dem, was ich tue. Einen aggressiven Monolog führen. Wer
fängt die Schnecke? Vergangenes, Ostia purzelt in der Wohnung
herum. Erkennen wir uns wieder? Ich bin ihre Mutter, sie ist mein
Kind. Gibt es andere Leben, aus denen wir uns wiederbegegnen? Ich
schrumpfe in meinem Unwillen, konstruktiv zu sein. Ich setze das
Glas an um Wein zu trinken. Der Wein schmeckt bitter und sauer.
Ich liebe das Meer, weil es sich bewegt. Ostia ist um mich, aber
ich bin ohnmächtig, weil ich mir denke, daß ich sie
für die Projektionen meiner Sentimentalitäten benutze.
Vanillepudding mit Ananasscheiben. Bin ich eine Rabenmutter –
Zucker ist für die Zähne schlecht. Einmal waren wir in
Sizilien. Palermo ist laut und schmutzig, oh, schönes
Sizilien, die Sizilianer stehen auf blondes Frauenhaar, deswegen
binde ich ein Tuch um meinen Kopf und trage nur noch
knöchellange Röcke. Vino so gut, so gut, singt und
kreischt die ganze Runde um Mitternacht herum. Jetzt ist
Schluß, wer singt das letzte Lied von der Sonne und Micheles
Melonen? Die Lieder sind so verschieden.
Alles schreit nach diesen "sweet honey and moon life". Ich
muß abschalten und umschalten. Mein gestammeltes Gezapple,
das an der Oberfläche kratzt.
Streicheleinheiten, die uns die Nacht ermöglicht, wie wird
der Geist wachgeküßt?
Wir sind uns fremd, aber nicht in jedem Moment. Es sind vielmehr
die Stunden, die dazwischen liegen, zwischen Annäherung und
Entfremdung. Denn es ist nicht ein willkürlich
ausgesprochenes Wort, das uns voneinander wegführt, sondern
es sind Stunden, in denen die Fremdheit wächst, sich aufbaut
und in einer Explosion oder in einer Ignoranz erstarrt. Dort
findet eine Umkehr statt und es sind genausoviele Stunden, in
denen sich die Nähe aufbaut wie Stunden zur Entfremdung
dauern. Unfaßbar/Herumschweifen/Ablenken.
Orgasmus ist Gnade.
Ich möchte vorwegschicken, daß ich noch immer nicht
weiß, was Liebe ist, das Schöne und das
Häßliche, sich in die Augen schauen. In meinem
Brustkorb, das Zwerchfell dehnt sich durch den Atem, der weiter
spannt. Ich muß lernen, über das Überleben
hinauszuwachsen. Es ist eine traurige Sache. – Schmerz über
die Unzulänglichkeit.
Das Gefängnis einer Zweierbeziehung, auch meine fiktive Liebe
liegt im Sterben. Ein Abschied, bei dem keiner weiß, was er
noch spürt, weil man in solchen Augenblicken nichts
spüren darf, weil man sonst verloren ist. Das Herz trägt
alles mit Geduld. Direkt über meinem Herzen befindet sich ein
Muttermal. Zeichen setzen/es ist eine Nacht/der Wind rauscht/.
Im Moment des Weinens zerspringen, in einem Glas gefriert Wasser
zu Eis. Ein Puzzle, das sich nicht zusammenfügen will.
Auf dem Tisch steht eine bauchige Vase – in ihrem langen Hals
steckt getrocknete Schafgarbe. Das Brot ernährt nicht nur den
Körper, sondern auch den Geist. In einem Lokal hat ein
Mädchen Probleme mit ihrer Figur und lehnt mit geschlossenem
Mund den ihr hingehaltenen Bissen ab. Sie schüttelt vehement
ihren Kopf, die Gabel samt Kostprobe weicht zurück. Caritas
bittet um Spenden für hungernde Kinder. Eines hat mit dem
anderen nichts zu tun. Ich stöhne.
Im Halbdunkel am Stadtrand stehen gutbürgerliche Häuser
mit gepflegten Rasenflächen davor. Eine dickliche Frau hockt
vor den Ziersträuchern und müht sich, mit einer Schere
die wuchernden Ausläufer wegzuschnipseln. Im Wald fahren wir
mit einem alten LKW einen schmalen Weg entlang. Dann versuche ich,
Autos zu stoppen. Auf einem Plan rase ich mit gespreizten Fingern
– dabei erwache ich.
7. Januar
Den gestrigen Abend verbrachten wir mit hysterischen
Lachanfällen und Pablo meinte, wir benehmen uns wie
Mäuse, kurz bevor sie von der Katze aufgefressen werden.
Vergebens die Sterne vom Himmel holen.
Ein gefundener Gedanke, der wie ein gefundenes Fressen ist ...
–
zerborsten,
gesprengt,
zerklirrt,
die vom Himmel geholten Sterne.
Ich trinke kalte weiße Milch.
Soll ich vom Fliegen berichten?
Ein kribbeliges Gefühl steigt in mir hoch, ich schwindle mich
durchs Leben. Es ist der Tanz auf dem Seil, der rote Faden, auf
dem ich in schwindliger Höhe tanze.
Ich muß ordentlich ausschreiten, um das Ziel zu erreichen,
in diesem schwebenden Zustand zu verharren. Wehmut kriecht mir den
Rücken empor. Kannst du dich zurückversetzen in die
Zeit, wir hatten so eine liebe Freundin, jedesmal, wenn wir zu
Besuch bei ihr waren, tranken wir Pfefferminztee und hörten
Minimal-Musik, Siri,ihre schwarze Katze, lag zusammengerollt auf
einer roten Wolldecke. Eine Begierde, die sich als Phantasie
äußert in einer kindlichen Dimension. Es ist gut,
daß ich viele Dinge nicht weiß, irgendwie fühle
ich mich falsch programmiert.
Geifernd spreche ich in den Spiegel hinein: Eingesperrt in diese
staubigen, muffigen Altbaumietwohnungen, die in kleine Zellen
aufgeteilt sind. So als wäre Wohnen eine Notdurft, die
verrichtet werden muß. Kein Wunder, daß das schwarze
Kleid das Kleid der Armut ist, das Kleid der Trauer, das Kleid der
Reichen und das Kleid der Feier. Käfig für
Mäuse.
Um halb sieben am Morgen, in den Wohnungen und am Gang ist es
dämmrig, kauft der junge Arbeiter seine Jause. Er wählt
zwei Knacker, zwei Semmeln und ein Bier. Der junge Arbeiter
verläßt das Haus kurz vor mir.
Ich schäme mich für das Privileg, meine Arbeit zu
lieben, während er stumpf seiner Arbeit nachgeht. Jetzt sitze
ich in dieser Mäusekäfigküche und esse Kantwurst.
Ich bilde mir ein, die Wurst riecht nach Verwesung, mich ekelt,
ich bin es nicht gewöhnt, Wurst zu essen. Ein langes
Leben.
Ein anderes Mal besuche ich die Freundin alleine. Sie kippt in
meine Arme, betrunken von einer Flasche Weinbrand, der ihre Sinne
einlullt. Im Zimmer stinkt es, die Fenster sind seit Tagen
verschlossen geblieben. Es stinkt vom vielen Schlaf, vom
ständig unruhig hin- und herwälzen – von der Einsamkeit
... von der Sehnsucht nach Körper, nach liebe mich, mehr
noch, mehr noch ... versteh mich/versteh mich ganz/ nimm mich,
führe mich/besitze mich ... decke das Kind in mir zu ... sei
endlich Mutter, Gott, Vater, sei die ganze Welt für mich.
Mein Prinz, mein unwidersprüchlicher Prinz, ich will nichts
für dich, außer dasein, dulde mich auch in meinem
Schmerz, in meinem unerträglichen Schmutz, versinke in mir,
wir erstehen neu in diesem Schmutz. Lüge, hat ihr schon
einmal jemand gesagt, daß es Lüge ist. Daß alles
nichts hilft, daß sie nichts davor rettet, der Wahrheit, der
herben, schlauen Wahrheit ins Gesicht zu schauen und zu
rekapitulieren, um von vorne zu beginnen ... um noch einmal, um
immer wieder von vorne zu beginnen. Der Fuchs hat sich
davongeschlichen, schimpft sie jetzt. Ruhig, ruhig, ich nehme dich
in meine Arme und werde versuchen, dich zu trösten. Ein
Bildnis Baghwans hängt in ihrem Zimmer.
Dann in meinen Armen, wenn ihr Weinen verebbt, ein verhaltenes
Schluchzen, ihr Atem strömt so heiß an meine Wangen,
jetzt durchdringt mich alles noch einmal, sie blickt mich an: der
ganze WEg war so hart. Trotzig: "Ich hasse Selbstmitleid. Ich
sollte mehr Gleichgültigkeit entwickeln, Angst vorm Versagen,
vorm mich lächerlich Machen, vor dem, daß der Wille und
der Wunsch größer als die Begabung und die Berufung
ist." Ich nicke, ich kann dich verstehen. "Daraus sollte sich doch
endlich ein eigner Maßstab entwickeln." Vielleicht habe ich
mich zu früh all den Erziehungsmustern entzogen, ohne zu
begreifen, worum es geht. Aber der Schrei, die Stimme war immer so
laut und stark, meinem eigenen Weg zu folgen. Alle Belastung, die
ich jetzt spüre, ist die Summe der Kämpfe und
Mißerfolge. Ich weiß, daß sich etwas vorbereitet
in mir und daß nach dieser Phase etwas ganz neu sein wird.
Aber, ich werde alleine sein." "Wozu der Haß und die
Verzweiflung – es ist schön, daß du hier bist,"
kuschelt sie sich enger an mich. "Du solltest dich hinlegen, ich
werde dich in den Schlaf singen, das Fenster öffnen und es
später wieder schließen." "Ja", sagt sie, "und ich
werde mich totstellen."
Niemanden sich selbst entfremden.
Durch ein Loch schlüpfen.
Es kommt mir vor, als ist das Leben die Verlängerung des
Lebens selbst.
Zwanghaft beharrlich bleiben.
Nach meiner ersten Tanzvorführung kam meine Tanzmeisterin auf
mich zu, deutete eine leichte Verbeugung an und sagte: "Ich komme
zu meiner Schülerin und verbeuge mich vor ihr." Ich war vor
Freude und Ehrfurcht außer mir.
9. Januar
Ich frage mich, woher die Bestürzung kommt, die ich
empfinde.
Manchmal betrachte ich Pablo, er trägt das Gesicht meines
Vaters.
Sie sind Träumer und Unfähige. Abhängige und
Aggressive. Ich konnte mich mit ihm identifizieren, er war genauso
verrückt und verträumt wie ich. Das Ansehen der Familie,
die sich langsam von hinten anschleichende Redegewalt – wie es
einen gerade überkommt in dem selbstinszenierten Stück.
Die Bedrückung abstreifen wie ein Kleid, das man viel zu
lange getragen hat. Intuition und Selbstzweck gepaart ist gleich
mit Ironie auf die Hoffnung.
Splitternackte Splitter ... Zerfall eines Tages.
Gewichtsverlagerung.
Ostias Fieber versuche ich mit Essigwickel um die zarten
Füßchen zu kurieren.
Schmetterlingspuppen, Kinder, die geboren werden.
ein assoziatives Gedicht:
Blumen scharenweise zu Haufen verfallen/
grollt die Liebe – Sehnsucht schmelzend/
allein die Ganzheit rettet/über Stunden/wo die Einsamkeit
ringt.
Blumen zupfend sitzt das Mädchen – zählt
Lebenswege.
Fragen in die Leere
Widerhall der Dämonen
Götter trumpfen am Berg
glühende Droge/Sinnensrausch
Begeisterung ihresgleichen im Feuer verhallt.
ein anderes Gedicht:
Schwere Steine rollen
finstergleich/dunkle Nacht
im Traum vertieft
ruhe, ruhe die Nächte.
Es preschen die Sonnen hervor/ein Licht wird nicht mehr
hell
und heller als alle Welt
funkelt die Stirn.
Traumfragment
Ich töte einen berühmten Tänzer, es ist ein Befehl.
Als Beweis seines Todes muß ich ein Stück Fleisch von
seinem Oberschenkel herauslösen und meinen Befehlshabern
mitbringen. In der Straßenbahn wittern Hunde den Geruch des
Fleisches, der mich fast verrät.
Das Sinnbild im Traum. Seinen Körper zu töten
heißt, seine Fähigkeiten zu töten. Auch ich sollte
meine Fähigkeiten verleugnen und töten.
Es gibt Naturvölker, bei denen in religiösen Zeremonien
ein ausgewähltes, geheiligtes Tier getötet wird. Das
anschließende Einverleiben des Fleisches soll die
Eigenschaften des heiligen Tieres auf den Menschen
übertragen.
10. Januar
Alles kann sich sofort verändern. Unser Lachen ist wie
Weinen. Heimlich frage ich mich, ob mich der Wahnsinn, die
Verwirrung auffressen wird.
Wahnsinn als Provokation.
Frau Balack ist eine Nachbarin, sie bewohnt den kleinen
Käfig, der sich aus 2m2 Vorraum und 5m2 Küche, weiters aus 13 m2 Wohnschlafraum und
weiteren 5m2 Kabinett, das Frau Balack zum Abstellraum
umfunktioniert hat, dem Bad mit luxuriösen 8m2 und
der Toilette mit ca. 2m2 zusammensetzt. Frau Balack ist
eine alte Frau mit grauen Haaren und vielen kleinen Falten in
ihrem freundlichen Gesicht.
Ostia sagt zu Frau Balack: "Ich mag dich so gerne wegen deinen
lieben Falten." Dann nimmt Frau Balack eine kleine Tafel
Schokolade aus ihrem Schürzensack und reicht sie Ostia, die
verschämt tut und sich ziert, sodaß Frau Balack Ostia
drängt, die Schokolade anzunehmen. Von Zeit zu Zeit lade ich
Frau Balack zu mir in die Wohnung ein, dann erzählt sie mir
von ihrem Leben. Vom Krieg und von ihrem Mann, der schwerverletzt
aus dem Krieg zurückkehrte. Jetzt lebt sie alleine, der
einzige Sohn lebt als Geschäftsmann in den Vereinigten
Staaten und schreibt zweimal im Jahr einen Brief an sie.
Frau Balack ist fünfundsechzig Jahre alt und spricht oft vom
Sterben. Sie erzählt mir von einem besonders kalten Winter im
Jahre 1947, in dem sie sich die Füße erfroren hat. (Das
Leben hat ihnen arg zugesetzt, hat Frostbeulen am ganzen
Körper hinterlassen!)
Frau Balack ist glücklich über die neue Heizdecke, die
sie sich in diesem Winter leisten konnte. Ich muß das
flauschige Material loben, während ich die Heizdecke
begutachte.
Frau Balack vertraut mir an, daß sie viele Jahre jeden Tag
in die Kirche ging, jetzt aber nichts mehr davon halte, ihre
Stimme senkt sich ehrfurchtsvoll, wie sie murmelt: "Der
große Segen kommt von oben, nur daß kein Segen
für mich kam, das erbitterte mich."
"Unter uns gesagt", fährt sie fort, "ich glaube an keinen
Gott mehr, alles, was es gibt, ist das Göttliche und das auch
nur, wenn man es entdeckt."
Gott und Teufel
Dualität
Geradlinigkeit ist der Starrsinn eines langgezogenen Moments.
Mit Vorsicht die Reste der Verkrustung abschaben. Einsamkeit
existiert in Wahrheit gar nicht.
Alles wird sprießen, zu seiner Zeit am richtigen Ort.
Der Raum ist ein Rahmen der Zeit.
Warum kreischen Blinde nicht?
Frage mich nicht!
Gundula fliegt nach Ostasien, dort hofft sie das zu finden, was
ihr schon längst verlorengegangen ist.
11. Januar
Ich dekoriere den Raum für den morgigen Tanzabend.
Der Raum ist in der Mitte mit einer Plastikfolie, die sich von der
Decke bis zum Fußboden spannt, geteilt. Die eine Hälfte
wird für die Zuschauer sein, die andere Hälfte wird das
Bühnenfeld sein. Es entsteht der Eindruck von einer
trennenden Glaswand. Wenn sich die Folie bewegt, verzerrt sich der
Blick für den Zuschauer, wie für mich.
In den Ecken stehen kleine Schüsseln mit entzündetem
Weihrauch, an die Wände hefte ich Zitate von Oscar Wilde. Der
Boden ist überfüllt mit Steinen, getrockentetn Blumen
und Knochen, die weißpoliert sind, von der Decke laufen
Fäden, die in Wollknäuel münden.
Den Bühnenraum statte ich mit einem Stuhl, einem Teller, auf
dem sich Erde befindet, in der ein Löffel steckt, einer
großen Glasschüssel mit Orangen und einem Messer
aus.
Als Barockdame betrete ich den Raum, deute Knickse an, setze mich,
spiele mich mit den Begrüßungsritualen, setze mich,
erhebe mich, schreite, lege meine Hände an die Folie,
schneide Gesichter, wieder am Stuhl klage ich über die Enge
meines Korsetts, zeichne kleine Gesten mit den Händen, werfe
meinen Oberkörper immer wieder nach vor, bis der Stuhl ins
Wanken gerät.
Ich stürze samt Stuhl hart zu Boden, winde mich, beginne,
mich zu entkleiden. Ich erscheine in einem erdfarbenen Trikot, die
Farben lösen sich im Schweißbad auf und rinnen
über die Arme und Beine, verschmieren sich im Gesicht. Ich
schneide die Früchte auf und verstreue die ERde wie Samen auf
den Boden. Ich schüttle den Körper wild und bewege mich
dabei immer schneller im Kreis, bis ein einziges Drehen
überbleibt.
Ich keuche, das Gesicht an die Folie haltend, der Kopf baumelt,
danach spanne ich meine Finger um den Griff des Messers und
stoße es in die durchsichtige Wand. In die Öffnung, die
entstanden ist, zwänge ich meine Hände und reiße
mit verhaltener Kraft in Zeitlupe die Folie auf. Ich hocke mich
vor die Zuschauer, schlage und klopfe Steine aufeinander, zuerst
wahllos, bis sich ein Rhythmus findet, den ich beibehalte.
Für das letzte Bild verhülle ich mich mit einem Tuch,
nehme die Gesten der Barockdame auf, schleppe den Stuhl auf die
andere Seite, setze mich während fünf Minuten ab.
Das Spiel ist zu Ende.
14. Januar
Ich reise nach Linz, nur um bei Nacht über die
Donaubrücke zu spazieren und die Schwäne zu belauschen,
die im Wasser ruhig treiben.
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