Die
neue Stadt
Die Wartezeit war zu
Ende. Am 5. Januar 1951 durfte Lisa mit ihren drei kleinen Töchterchen
im Alter von eineinhalb bis fünf Jahren das Einwanderungslager Cunderdin
verlassen. Ein Auto der Lagerverwaltung brachte sie auf den Flugplatz von
Perth, der Hauptstadt des Staates Westaustralien.
Kurz vor Weihnachten
war von Stephan aus Wittenoom Bericht gekommen, die Wohnungen für die
Familien der Bergarbeiter seien anfangs Januar bereit, die Kisten aus Europa
angekommen, sie könne ihm nachfolgen. Das Nötigste sei vorhanden,
er habe schon Matratzen und einen Petroleumkocher gekauft.
Die Frauen im Lager hatten
Lisa davon abgeraten, in den heissen, menschenleeren Nordwesten zu reisen.
Sie behaupteten, das Klima dort sei ungesund, und alles sei primitiv. Aber
Lisa freute sich auf das Wiedersehen mit Stephan und schlug alle Bedenken
in den Wind. Er hatte sich ja nur für zwei Jahre verpflichten müssen,
im Asbestbergwerk zu arbeiten. So lange würde man es aushalten.
Sie wussten beide nicht
genau, was für ein Stoff Asbest eigentlich war. Lisa glaubte sich zu
erinnern, dass die kleine, keramikähnliche Platte auf dem Eisenständer,
auf dem ihre Mutter das heisse Bügeleisen abzustellen pflegte, aus Asbest
war. Der kleine Ständer wurde nicht warm, obschon das Bügeleisen
mit der heissen Gleitfläche auf die Platte gestellt wurde. Ihr neues
Eisen war anders konstruiert, man konnte es nach hinten gekippt mit der Spitze
nach oben aufstellen und brauchte dazu keine hitzebeständige Unterlage
mehr. Das war alles, was sie über Asbest wusste, kannte damit aber schon
eine wichtige Eigenschaft dieses Materials: Es erhitzte sich nicht und war
auch nicht brennbar. Stephan, dem Elektromonteur, war bekannt, dass Isolationsmaterial
in der Elektrobranche Asbest enthielt. Der Stellenvermittler konnte ihm nicht
viel mehr erklären. Es sei der Rohstoff der Zukunft, die neue Stadt werde
für den Bergbau aufgebaut, mit allem was zu einer Stadt gehört:
Schulen für die Kinder der Bergarbeiter, Kaufläden, ärztliche
Versorgung, alles Notwendige sei vorhanden.
Eine Stadt mit Zukunft!
Das bedeutete sichere Arbeit und guten Verdienst.
Auf dem Weg zum Flugplatz
zählte sie mit der fünfjährigen Rosa auf, welche Verkehrsmittel
sie seit ihrer Abreise aus dem heimatlichen Vorarlberg im vergangenen Mai
schon benutzt hatten: Zuerst Großvaters Pferdefuhrwerk bis nach Bregenz in
das Sammellager für Flüchtlinge, dann die Eisenbahn durch ganz Deutschland
hindurch bis ins Flüchtlingslager bei Bremen, von dort den Bus bis zum
Schiff, und schliesslich waren sie auf der Skaugum III über das weite,
weite Meer bis nach Fremantle, dem Hafen von Perth, gefahren. Als Krönung
der langen Reise durften sie jetzt die letzten 1600 km von Perth in das tropische
Wittenoom mit dem Flugzeug zurücklegen. Die dreieinhalbjährige Marianne
wollte noch das Dreirad, das sie in einem Lager hatte fahren dürfen,
als Verkehrsmittel mitgezählt wissen.
Am Flugplatz wurden sie
zu einem winzigen Flugzeug gewiesen, das am Rande der Flugpiste stand. Lisa
erschrak: Mein Gott, kann so etwas überhaupt so weit fliegen? Sie hob
ihre jüngste Tochter, die kleine Gretele, die noch nicht so sicher auf
den Beinen stand, auf den Arm. Eine weitere Frau mit einem grösseren
Jungen gesellte sich zu ihnen, und zusammen gingen sie auf das Flugzeug zu.
Der Pilot hiess sie fröhlich
willkommen und half ihnen beim Einsteigen. Vorne, neben dem Pilotensitz sassen
bereits eine Frau in Lisas Alter und ein etwas jüngerer Mann. Lisa verlor
allen Mut. War das überhaupt sicher, mit so vielen Passagieren in der
kleinen Kiste? Aber ein so fröhlicher Pilot wollte selber ja auch nicht
abstürzen, beruhigte sie sich. Sie war grimmig entschlossen, dass nichts
ihr die Freude darüber verderben sollte, zum ersten Mal im Leben fliegen
zu dürfen.
Der Pilot erläuterte
ihnen nun, das hier sei ein Postflug, und sie würden zweimal landen,
um Postsachen abzugeben und mitzunehmen, und natürlich um zu tanken.
Trotz mangelhafter Englischkenntnisse verstand Lisa das einigermassen. Da
verflogen die letzten Bedenken und sie freute sich jetzt wirklich. Sie würde
bei gleich zwei Landungen viel mehr vom Land zu sehen bekommen als Stephan,
der seinerzeit zusammen mit 35 Arbeitern nonstop nach Wittenoom geflogen worden
war.
Es gab dann aber gar
nicht viel zu sehen. Da unten war alles braun, flache Steppe bis zum Horizont,
magere Büsche, und sonst gar nichts. Bei der ersten Landung schien ihr,
sie befänden sich auf dem Mond, eine trostlosere Gegend hätte sie
sich nie vorstellen können. Im ersten Augenblick sah sie nichts als tiefe
Löcher oder Gruben wie Krater und herumliegende Steinbrocken. Erst nach
dem Aussteigen bemerkte sie eine spärliche Vegetation, verdorrtes, braunes
Gras, weit voneinander entfernt wachsende Büsche, vereinzelt stehende,
niedrige Bäume mit schütteren Kronen. Die Kinder mussten nach dem
langen Flug natürlich auf die Toilette, die in einem windschiefen Blechschuppen
am Rande der Piste untergebracht war. Das Toilettenhäuschen war das einzige
Gebäude. Niemand schien auf das Postflugzeug zu warten. Während
Lisa sich um das Geschäftchen ihrer drei kleinen Mädchen
kümmerte, brauste ein kleiner Lieferwagen vom Ende der Piste bis zum
Flugzeug heran, eine braune Staubfahne nach sich ziehend. Der Fahrer begrüsste
die herum stehenden Flugpassagiere, die alle ausgestiegen waren, um sich etwas
die Beine zu vertreten, wechselte ein paar Worte mit dem Piloten und tauschte
ein Bündel Briefe gegen einen Postsack aus, den ihm der Pilot auf die
Ladefläche des Autos legte. Obschon er langsam wieder wegfuhr, wirbelte
der Staub hoch auf, und von seinem Auto sah man bald nichts mehr. Einzig eine
Staubwolke verriet, dass sich irgend ein Fahrzeug in der Ebene entfernte.
Lisa machte sich die
grössten Sorgen, was sie bei der nächsten Landung und überhaupt
in diesem Land noch vorfinden würden, und wie befürchtet, war es
noch schlimmer, noch trostloser, denn nun blies zu allem Ungemach auch noch
ein Wind wie aus einem Backofen. Die Kinder weinten, und sie brauchte ihre
ganze Kraft, um sie zu trösten und ihnen zu erklären, sie hätten
ja schon mehr als die Hälfte der Reise hinter sich. Zudem wäre es
in Wittenoom viel schöner, und dort würde ja auch Papa auf sie warten.
Sie selber konnte nur noch auf ein Wunder hoffen.
Der Weiterflug war holprig.
Das sei normal in der flimmernden Hitze eines Sommertages, man solle sich
deshalb nicht beunruhigen. Gerade trostreich war diese Aussage des Piloten
nicht, denn bei dem Rütteln und Schütteln sass man wie im Innern
eines Schmetterlings, der Magen rebellierte , die Kinder und Lisa waren sterbenskrank.
Sie glaubte fest, sie hätte diesen Flug nicht überlebt, wenn ihnen
nicht die Frau, die neben dem Piloten sass, zu Hilfe gekommen wäre. Sie
stand den Kindern bei, wenn sie sich übergaben, tröstete und putzte
und erschien Lisa heiter wie ein Engel.
Als Lisa nach langer
Zeit doch einmal dazu kam, hinunter zu schauen, glaubte sie, eine Fata Morgana
zu sehen. Da gab es Hügel, tiefe Täler und Schluchten, glitzernde
Wasserläufe, kleine Seen und Tümpel, und in der Ebene, die sie nach
dem Ueberfliegen eines Gebirges erreichten, war etwas wie Getreide oder Gras.
Schon sagte der Pilot: Here we are, folks und setzte zur Landung an.
Das Wunder, auf das Lisa gehofft hatte, geschah: Nach einer unendlich langen
Reise durch die Einöde erreichten sie ihr Shangri La, ihr
Paradies auf Erden. Alles sah grün und frisch und lieblich aus.
Der junge Mitreisende
war so begeistert, dass er sich jauchzend in das frische, grüne Gras
warf und sich wie ein Fohlen darin wälzen wollte. Mit einem entsetzlichen
Schmerzensschrei war er augenblicklich wieder auf den Beinen. Was er als frisches
Gras betrachtet hatte, war spinifex, jeder Grashalm ein harter, spitzer
Stachel.
Ein stachliges Paradies!
Würde sich hier ein Zuhause erschaffen lassen? Lisa blieb keine Zeit,
sich darüber Gedanken zu machen, denn vom Rande der Flugpiste her kam
Stephan mit lachendem Gesicht auf sie zugelaufen.
*
Während der letzten
Monate in verschiedenen Flüchtlingslagern in Deutschland und dann auf
der beschwerlichen Reise nach Australien hatte sich Lisa oft gefragt, ob das
Auswandern wirklich der einzige Ausweg aus ihren Schwierigkeiten gewesen war.
Sie hätte sich nie träumen lassen, dass sie ihre Familie und das
Dorf, in dem sie aufgewachsen war, einst als Flüchtling würde verlassen
müssen. Sie war dort fest verwurzelt.
Mit Stephan stand es
anders. Er hatte als Ungare seine Heimat verloren. 1940, im Alter von neunzehn
Jahren vor die Wahl gestellt, entweder Kriegsdienst in der deutschen Wehrmacht
zu leisten oder als Elektriker in der deutschen Flugzeugindustrie zu arbeiten,
wählte er die Arbeit. Im Laufe des Krieges wurde die Flugzeugproduktion
in Deutschland immer weiter nach Süden verschoben, anfangs 1945 sogar
bis ins Vorarlberg. Da lernte Stephan Tarnai Lisa kennen, und als der Krieg
zu Ende war, blieb er dort, und die beiden konnten heiraten. Nordsiebenbürgen,
Stephans engere Heimat, musste nach dem Krieg von Ungarn an Rumänien
abgetreten werden. Wäre er dorthin zurückgekehrt, hätte er
die rumänische Staatsbürgerschaft erhalten. Da er das nicht tat,
blieb er ohne gültige Papiere und wurde staatenlos.
Die überstürzte
Heirat mit einem heimatlosen Ausländer ohne Prestige und Familie war
für Lisas Eltern eine arge Enttäuschung. Sie zählten zu den
alteingesessenen Familien, deren Stammbäume sich bis ins 16. Jahrhundert
zurückverfolgen liessen. Im Dorf wurde getuschelt, eine solche Heirat
in einer derart traditionsbewussten Familie sei eigentlich eine Schande, besonders
auch, da die Braut ja bereits hochschwanger sei. Aber Vater und Mutter sahen
bald, dass sie in Stephan einen geschickten und arbeitsamen Schwiegersohn
bekommen hatten, und sie fanden sich mit der Heirat nicht nur nicht resigniert
ab, sondern gewannen Stephan lieb und stellten sich vorbehaltlos hinter ihn.
Vor allem das Enkelkind versöhnte sie gänzlich mit der unbotmässigen
Tochter. Es wurde Rosa getauft, nach der Großmutter. Bald schon traf das
zweite Kind ein, wieder ein Mädchen, das den Namen Marianne erhielt.
Stephan fand Arbeit in seinem Beruf als Elektriker am Bau des Silvretta Staudamms.
Junge Berufsleute waren gesucht, er würde immer Arbeit finden. Das Glück
des jungen Paares und seiner zwei Kinder schien gesichert. Sie hatten zwar
noch keine eigene Wohnung und lebten bei Lisas Eltern, aber das würde
sich später sicher ändern.
Nun aber begann Stephan
sich nach seinen eigenen Angehörigen zu sehnen, die er jahrelang nicht
mehr gesehen hatte. Wie schön wäre es doch, wenn er ihnen seine
junge Familie vorstellen könnte. Er wollte selbstverständlich in
Oesterreich bleiben und keinesfalls in eine rumänisch gewordene Heimat
übersiedeln, die ihm fremd war. Falls er nach Rumänien fuhr, dann
höchstens besuchsweise, um seinen Eltern und den Bruder, den er nur als
kleinen Jungen gekannt hatte, wiederzusehen. Nach langem Ueberlegen fuhr er
vorerst allein. Lisa war schwanger mit dem dritten Kind, eine anstrengende
Reise bei ungewissen Zugverbindungen wollte er ihr nicht zumuten. Wenn alles
gut ging, konnte er sie nachkommen lassen, damit sie seine Familie kennen
lernte.
Die Einreise in Rumänien
war kein Problem, aber dann erhielt er keine Ausreiseerlaubnis, um nach Oesterreich
zurückzukehren. Illegal, dank Fluchthelfern, verliess er Rumänien,
ein Land, das er nicht als seine Heimat empfinden konnte. Damit hatte er sich
straffällig gemacht, und nun war an weitere Besuche bei seinen Eltern
nicht mehr zu denken.
Bei seiner Rückkehr
nahm er sofort die Arbeit am Silvretta Staudamm wieder auf. Er könne
von Glück reden, dass er überhaupt noch arbeiten dürfe, gab
man ihm zu verstehen, die Lage auf dem Arbeitsmarkt habe sich geändert,
Ausländer würden nicht mehr so ohne weiteres angestellt. Immer noch
kehrten Oesterreicher aus Kriegsgefangenschaft zurück und suchten Arbeit.
Die Industrie lag darnieder, es herrschte Arbeitslosigkeit. Da wurden Ausländer
abgeschoben, in ihre Heimatländer oder ehemaligen Heimatländer zurückgeschickt.
Lisa wurde schief angesehen
von einigen Dorfleuten. Unverblümt fielen Fragen: Was machst du,
wenn Stephan seine Arbeit verliert? Das hast du jetzt davon, mit deinem Ausländer....
Man hatte schon vorher, in den vielen Monaten da sie ohne jeden Bericht von
Stephan geblieben war, hämische Bemerkungen fallen lassen. So ein Ausländer
sei eben unzuverlässig, ihr drittes Kind werde wohl seinen Vater nie
sehen. Sie liess sich nicht beeinflussen und hatte festes Vertrauen, dass
Stephan aus Rumänien zurückkehren würde. Glücklicherweise
hatten ihre eigenen Eltern den ausländischen Schwiegersohn immer verteidigt
und Lisa in ihrem Vertrauen bestärkt, so dass ihr die Sticheleien nichts
hatten anhaben können. Gegen die neuerlichen Bemerkungen, dass sie mit
ihrem Ausländer in Schwierigkeiten kommen könnte, war sie
machtlos. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als sich von der Dorfgemeinschaft
mehr oder weniger auszuschliessen und damit zu rechnen, dass mit der Zeit
das Gerede der Leute von selber aufhöre.
Eines Abends Gretele,
ihr drittes Kind, war gerade fünf Monate alt kam Stephan besonders
bedrückt nach Hause. Ganz gegen seine Gewohnheit gab er sich kaum mit
den Kindern ab, während Lisa nach dem Essen noch in der Küche aufräumte.
Er hatte offensichtlich schlechte Nachrichten und wartete nur darauf, dass
die Kinder im Bett waren, um damit herauszurücken:
Also. Ich fürchte,
man wird mich ausweisen aus Oesterreich, wenn ich meine Stelle verliere. Man
hat uns heute gesagt, man könne keinen von uns weiter beschäftigen,
auch die Elektriker nicht, wenn das Kraftwerk fertiggestellt sei. Das dauert
zwar noch einige Zeit, aber so lange können wir hier nicht warten und
es darauf ankommen lassen. Wir müssen vorher abhauen.
Abhauen? Wie meinst
du das? Da kann ich mir nichts darunter vorstellen.
Ich habe daran gedacht,
ausserhalb von Europa etwas zu suchen. Wir könnten auswandern.
Auswandern? Wohin
denn? Es stürmten so viele einander widerstrebende Gefühle
auf sie ein, dass sie nicht weiter reden konnte. In die weite Welt hinaus,
über das Meer, in andere Länder, zu anderen Menschen! Wie kann man
mit drei kleinen Kindern auf Abenteuerfahrt gehen? Die Eltern verlassen, die
noch schulpflichtigen drei kleinen Schwestern und Mutters Nachzügler,
den erst dreijährigen kleinen Bruder, deren Betreuung ihr immer noch
am Herzen lag? Sollte sie weinen oder lachen? Beides ging nicht. Jetzt galt
es, ernsthaft zu bleiben und Stephan die Flausen aus dem Kopf zu vertreiben,
bevor sie sich gänzlich festgesetzt hatten. Aber war sein Gefühl,
bedroht zu sein, wirklich nur ein Hirngespinst? Sie hörte plötzlich
wieder das spöttische Du, mit deinem Ausländer!
Auswandern! Wie
stellst du dir das vor? Wer soll das bezahlen? fragte sie schliesslich. Hast du irgend einen Plan, eine Ahnung?
Ich habe herumgefragt.
Man könnte Flüchtlingshilfe bekommen, da wir staatenlos sind.
Flüchtlingshilfe!
Wir sind doch nicht Flüchtlinge! Wir sind ja nie im Leben geflohen
ich sicher nicht.
Ich schon aus
Rumänien, mit Fluchthelfern und Bestechungen.
Nun war das Wort gefallen.
AUSWANDERN. Sie begannen zu träumen und zu planen. Die USA? Kanada? oder
Südamerika? Träumen war die eine Sache, aber man brauchte konkrete
Angaben, und so fuhren Lisa und Stephan zusammen nach Innsbruck, um sich bei
der Auswandererberatungsstelle genauer zu erkundigen.
Im Erdgeschoss des Gebäudes
herrschte Geschrei und Lärm, Menschen eilten mit Papieren in den Händen
hin und her, wühlten in weiteren Papieren auf Tischen und Pulten, es
herrschte ein beängstigendes Chaos; die Vertreter südamerikanischer
Staaten bemühten sich hier um Auswanderungswillige. Stephan war befremdet,
Lisa total verschüchtert. Weiter oben im Haus sei es ruhiger, sagte ihnen
jemand, im 2. Stock befänden sich die Australier.
Bei den australischen
Beratern ging es tatsächlich gesittet zu. Da war Ordnung, eine klare,
leistungsfähige Organisation, das sah man auf den ersten Blick. Die zwei
jungen Leute fühlten sich hier nicht als lästige Gesuchsteller,
sondern als willkommene, zukünftige Bürger eines Landes, das seine
Grenzen weit geöffnet hatte für Einwanderer ausschliesslich
für europäische Einwanderer, vorzugsweise mit einer Berufsausbildung.
Man erklärte ihnen, das Rote Kreuz übernähme Organisation und
Kosten bis zum Zeitpunkt der Einschiffung in Bremen, die australische Regierung
würde die Reise für Stephan und seine Familie bezahlen. Dafür
musste er sich verpflichten, während zwei Jahren an einer Arbeitsstelle
zu arbeiten, die ihm die Regierung zuwies, wobei es gewisse Wahlmöglichkeiten
gebe. Die Anstellungsbedingungen würden dieselben sein wie für australische
Arbeiter in derselben Position. Das konnte für einen Arbeitnehmer vielleicht
eine schwer zu erfüllende Verpflichtung werden, wenn ihm die angenommene
Stelle nicht zusagte. Aber es war gleichzeitig eine Garantie der Regierung
dafür, dass man Arbeit fände und eine sichere Bleibe für die
Familie, dass man zwei Jahre Zeit hätte, die Sprache zu erlernen und
sich mit den fremden Verhältnissen vertraut zu machen, ohne Furcht, weggewiesen,
ausgeschafft zu werden.
Und jetzt? Wie weiter?
Zwischen den Erkundigungen und dem Entschluss, tatsächlich zu reisen,
liegt ein tiefer Graben, den man vielleicht doch nicht überspringt aus
Furcht, hinein zu fallen. Stephan war fest entschlossen, Europa zu verlassen,
denn man hörte immer wieder davon, dass Ausländer aus Oesterreich
ausgewiesen wurden. Lisa sah, dass kein Argument ihn davon abbrächte,
nicht die Aussicht, vielleicht später doch wieder Arbeit zu finden und
dem Ausgeschafftwerden zu entgehen, nicht Lisas Bedenken, mit kleinen Kindern
eine solche Reise zu unternehmen, nicht die Liebe zu ihrer Mutter, der sie
immer noch unentbehrlich war. In die weite Welt reisen, hinaus aus
den schützenden Bergen ins Ungewisse! Hatte sie sich nicht schon als
kleines Mädchen und seither immer wieder danach gesehnt, die Länder
und Menschen zu sehen, von denen sie im Geographiunterricht in der Schule
gehört hatte? Sie war hin- und hergerissen von Abenteuerlust einerseits
und Liebe zur Heimat andererseits. Zuletzt siegte die Neugierde, die Unternehmungslust
über alle Aengste, und sie gab ihre Zustimmung.
Auch wenn sie sich nicht
auf ein neues Leben in einem fremden Kontinent gefreut hätte, wenn sie
ihr Einverständnis nur widerstrebend gegeben hätte, Stephan umzustimmen
wäre nicht möglich gewesen. Da war es gescheiter, ihn zu unterstützen
und sich auf das Abenteuer mit offenem Herzen einzulassen.
Ende Mai 1950 war es
so weit, sie konnten abreisen. Lisa war 22, Stephan 29, die jüngste ihrer
Töchter ein Jahr alt.
Zufall hatte sie nach
Australien geführt, weiterer Zufall verschlug sie nach Wittenoom.
*
Lisas Begeisterung bei
der Ankunft erhielt einen Dämpfer, als ihr Stephan beim Verlassen des
Flugplatzes eröffnete, es seien nicht genug Wohnungen bezugsbereit, sie
müssten ein Haus mit einer Familie teilen, die wie sie drei kleine Kinder
hatte.
Die verheissene, neue
Stadt glich eher einem ausgedehnten Bauplatz, und es waren tatsächlich
erst acht Arbeiterhäuschen fertig gestellt. Sie sahen hübsch aus,
mit breiten Veranden vorne und hinten über die ganze Länge.
Stephan trat auf eines
der Häuser zu, öffnete weit die Türe: So, da wären wir.
Das Innere des Hauses
war weiss gestrichen und dadurch hell und wohnlich. Er hatte vorsorglich für
seine Familie eines der Schlafzimmer und das sleep-out belegt. Letzteres war
ein Aussenzimmer auf einem verbreiterten Teil der vorderen Veranda, dessen
Aussenwände lediglich aus Fliegengittern bestanden. Im zweiten Schlafzimmer
und im Wohnzimmer wohnte die andere Familie, Küche Badezimmer und WC
benutzten sie gemeinsam.
Bei der Sommerhitze im
Januar fand es Lisa angenehmer, im Aussenzimmer zu leben. Sie betrat das Haus
nur, wenn sie aus ihren Transportkisten im Schlafzimmer etwas brauchte. Badezimmer
und WC waren von der hinteren Veranda aus zugänglich, dorthin gingen
sie aussen herum. Die Küche benutzte sie nicht, sie kochte mit dem von
Stephan gekauften Petroleumkocher auf der Veranda. Dort hatten sie zwei Säcke
aus speziell eng gewobenem Leinenstoff aufgehängt. Der eine enthielt
Trinkwasser, der andere die Butter. Dank der Verdunstungskälte, die an
der stets feuchten Sackoberfläche entstand, blieb der Inhalt relativ
kühl. Kühl waren auch die Beziehungen zu den Andern.
Die Frauen gingen sich aus dem Weg so gut das auf engem Raum möglich
war. Lisa und die Andere hatten keine gemeinsame Sprache ausser
englisch, das sie mangelhaft beherrschten. Lisa war zu schüchtern, um
von sich aus Kontakt zu suchen, und die Andere war dazu zu stolz
oder vielleicht auch zu schüchtern. Die Männer verständigten
sich auf ungarisch. Ihnen fiel das Zusammenleben leichter, sie waren ja auch
nur abends zu Hause. Am wenigsten Schwierigkeiten hatten die Kinder. Dass
sie sich sprachlich nicht verstanden, hinderte sie nicht am Spielen und gelegentlichen
Streiten. Da sollten dann am Abend die Väter schlichten, wenn ihnen die
Frauen die Ohren voll klagten über die Andern.
Asbest
und KÄngurus | 1 | 2 | 3 | 4 | 5 | 6 | 7 | 8 | 9 | 10 | 11 | 12 | 13 | 14 | 15 | 16 | 17 | 18 | 19