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Die neue Stadt

Die Wartezeit war zu Ende. Am 5. Januar 1951 durfte Lisa mit ihren drei kleinen Töchterchen im Alter von eineinhalb bis fünf Jahren das Einwanderungslager Cunderdin verlassen. Ein Auto der Lagerverwaltung brachte sie auf den Flugplatz von Perth, der Hauptstadt des Staates Westaustralien.

Kurz vor Weihnachten war von Stephan aus Wittenoom Bericht gekommen, die Wohnungen für die Familien der Bergarbeiter seien anfangs Januar bereit, die Kisten aus Europa angekommen, sie könne ihm nachfolgen. Das Nötigste sei vorhanden, er habe schon Matratzen und einen Petroleumkocher gekauft.

Die Frauen im Lager hatten Lisa davon abgeraten, in den heissen, menschenleeren Nordwesten zu reisen. Sie behaupteten, das Klima dort sei ungesund, und alles sei primitiv. Aber Lisa freute sich auf das Wiedersehen mit Stephan und schlug alle Bedenken in den Wind. Er hatte sich ja nur für zwei Jahre verpflichten müssen, im Asbestbergwerk zu arbeiten. So lange würde man es aushalten.

Sie wussten beide nicht genau, was für ein Stoff Asbest eigentlich war. Lisa glaubte sich zu erinnern, dass die kleine, keramikähnliche Platte auf dem Eisenständer, auf dem ihre Mutter das heisse Bügeleisen abzustellen pflegte, aus Asbest war. Der kleine Ständer wurde nicht warm, obschon das Bügeleisen mit der heissen Gleitfläche auf die Platte gestellt wurde. Ihr neues Eisen war anders konstruiert, man konnte es nach hinten gekippt mit der Spitze nach oben aufstellen und brauchte dazu keine hitzebeständige Unterlage mehr. Das war alles, was sie über Asbest wusste, kannte damit aber schon eine wichtige Eigenschaft dieses Materials: Es erhitzte sich nicht und war auch nicht brennbar. Stephan, dem Elektromonteur, war bekannt, dass Isolationsmaterial in der Elektrobranche Asbest enthielt. Der Stellenvermittler konnte ihm nicht viel mehr erklären. Es sei der Rohstoff der Zukunft, die neue Stadt werde für den Bergbau aufgebaut, mit allem was zu einer Stadt gehört: Schulen für die Kinder der Bergarbeiter, Kaufläden, ärztliche Versorgung, alles Notwendige sei vorhanden.

Eine Stadt mit Zukunft! Das bedeutete sichere Arbeit und guten Verdienst.

Auf dem Weg zum Flugplatz zählte sie mit der fünfjährigen Rosa auf, welche Verkehrsmittel sie seit ihrer Abreise aus dem heimatlichen Vorarlberg im vergangenen Mai schon benutzt hatten: Zuerst Großvaters Pferdefuhrwerk bis nach Bregenz in das Sammellager für Flüchtlinge, dann die Eisenbahn durch ganz Deutschland hindurch bis ins Flüchtlingslager bei Bremen, von dort den Bus bis zum Schiff, und schliesslich waren sie auf der Skaugum III über das weite, weite Meer bis nach Fremantle, dem Hafen von Perth, gefahren. Als Krönung der langen Reise durften sie jetzt die letzten 1600 km von Perth in das tropische Wittenoom mit dem Flugzeug zurücklegen. Die dreieinhalbjährige Marianne wollte noch das Dreirad, das sie in einem Lager hatte fahren dürfen, als Verkehrsmittel mitgezählt wissen.

Am Flugplatz wurden sie zu einem winzigen Flugzeug gewiesen, das am Rande der Flugpiste stand. Lisa erschrak: „Mein Gott, kann so etwas überhaupt so weit fliegen?“ Sie hob ihre jüngste Tochter, die kleine Gretele, die noch nicht so sicher auf den Beinen stand, auf den Arm. Eine weitere Frau mit einem grösseren Jungen gesellte sich zu ihnen, und zusammen gingen sie auf das Flugzeug zu.

Der Pilot hiess sie fröhlich willkommen und half ihnen beim Einsteigen. Vorne, neben dem Pilotensitz sassen bereits eine Frau in Lisas Alter und ein etwas jüngerer Mann. Lisa verlor allen Mut. War das überhaupt sicher, mit so vielen Passagieren in der kleinen Kiste? Aber ein so fröhlicher Pilot wollte selber ja auch nicht abstürzen, beruhigte sie sich. Sie war grimmig entschlossen, dass nichts ihr die Freude darüber verderben sollte, zum ersten Mal im Leben fliegen zu dürfen.

Der Pilot erläuterte ihnen nun, das hier sei ein Postflug, und sie würden zweimal landen, um Postsachen abzugeben und mitzunehmen, und natürlich um zu tanken. Trotz mangelhafter Englischkenntnisse verstand Lisa das einigermassen. Da verflogen die letzten Bedenken und sie freute sich jetzt wirklich. Sie würde bei gleich zwei Landungen viel mehr vom Land zu sehen bekommen als Stephan, der seinerzeit zusammen mit 35 Arbeitern nonstop nach Wittenoom geflogen worden war.

Es gab dann aber gar nicht viel zu sehen. Da unten war alles braun, flache Steppe bis zum Horizont, magere Büsche, und sonst gar nichts. Bei der ersten Landung schien ihr, sie befänden sich auf dem Mond, eine trostlosere Gegend hätte sie sich nie vorstellen können. Im ersten Augenblick sah sie nichts als tiefe Löcher oder Gruben wie Krater und herumliegende Steinbrocken. Erst nach dem Aussteigen bemerkte sie eine spärliche Vegetation, verdorrtes, braunes Gras, weit voneinander entfernt wachsende Büsche, vereinzelt stehende, niedrige Bäume mit schütteren Kronen. Die Kinder mussten nach dem langen Flug natürlich auf die Toilette, die in einem windschiefen Blechschuppen am Rande der Piste untergebracht war. Das Toilettenhäuschen war das einzige Gebäude. Niemand schien auf das Postflugzeug zu warten. Während Lisa sich um das „Geschäftchen“ ihrer drei kleinen Mädchen kümmerte, brauste ein kleiner Lieferwagen vom Ende der Piste bis zum Flugzeug heran, eine braune Staubfahne nach sich ziehend. Der Fahrer begrüsste die herum stehenden Flugpassagiere, die alle ausgestiegen waren, um sich etwas die Beine zu vertreten, wechselte ein paar Worte mit dem Piloten und tauschte ein Bündel Briefe gegen einen Postsack aus, den ihm der Pilot auf die Ladefläche des Autos legte. Obschon er langsam wieder wegfuhr, wirbelte der Staub hoch auf, und von seinem Auto sah man bald nichts mehr. Einzig eine Staubwolke verriet, dass sich irgend ein Fahrzeug in der Ebene entfernte.

Lisa machte sich die grössten Sorgen, was sie bei der nächsten Landung und überhaupt in diesem Land noch vorfinden würden, und wie befürchtet, war es noch schlimmer, noch trostloser, denn nun blies zu allem Ungemach auch noch ein Wind wie aus einem Backofen. Die Kinder weinten, und sie brauchte ihre ganze Kraft, um sie zu trösten und ihnen zu erklären, sie hätten ja schon mehr als die Hälfte der Reise hinter sich. Zudem wäre es in Wittenoom viel schöner, und dort würde ja auch Papa auf sie warten. Sie selber konnte nur noch auf ein Wunder hoffen.

Der Weiterflug war holprig. Das sei normal in der flimmernden Hitze eines Sommertages, man solle sich deshalb nicht beunruhigen. Gerade trostreich war diese Aussage des Piloten nicht, denn bei dem Rütteln und Schütteln sass man wie im Innern eines Schmetterlings, der Magen rebellierte , die Kinder und Lisa waren sterbenskrank. Sie glaubte fest, sie hätte diesen Flug nicht überlebt, wenn ihnen nicht die Frau, die neben dem Piloten sass, zu Hilfe gekommen wäre. Sie stand den Kindern bei, wenn sie sich übergaben, tröstete und putzte und erschien Lisa heiter wie ein Engel.

Als Lisa nach langer Zeit doch einmal dazu kam, hinunter zu schauen, glaubte sie, eine Fata Morgana zu sehen. Da gab es Hügel, tiefe Täler und Schluchten, glitzernde Wasserläufe, kleine Seen und Tümpel, und in der Ebene, die sie nach dem Ueberfliegen eines Gebirges erreichten, war etwas wie Getreide oder Gras. Schon sagte der Pilot: Here we are, folks und setzte zur Landung an. Das Wunder, auf das Lisa gehofft hatte, geschah: Nach einer unendlich langen Reise durch die Einöde erreichten sie ihr „Shangri La“, ihr Paradies auf Erden. Alles sah grün und frisch und lieblich aus.

Der junge Mitreisende war so begeistert, dass er sich jauchzend in das frische, grüne Gras warf und sich wie ein Fohlen darin wälzen wollte. Mit einem entsetzlichen Schmerzensschrei war er augenblicklich wieder auf den Beinen. Was er als frisches Gras betrachtet hatte, war spinifex, jeder Grashalm ein harter, spitzer Stachel.

Ein stachliges Paradies! Würde sich hier ein Zuhause erschaffen lassen? Lisa blieb keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen, denn vom Rande der Flugpiste her kam Stephan mit lachendem Gesicht auf sie zugelaufen.

*

Während der letzten Monate in verschiedenen Flüchtlingslagern in Deutschland und dann auf der beschwerlichen Reise nach Australien hatte sich Lisa oft gefragt, ob das Auswandern wirklich der einzige Ausweg aus ihren Schwierigkeiten gewesen war. Sie hätte sich nie träumen lassen, dass sie ihre Familie und das Dorf, in dem sie aufgewachsen war, einst als Flüchtling würde verlassen müssen. Sie war dort fest verwurzelt.

Mit Stephan stand es anders. Er hatte als Ungare seine Heimat verloren. 1940, im Alter von neunzehn Jahren vor die Wahl gestellt, entweder Kriegsdienst in der deutschen Wehrmacht zu leisten oder als Elektriker in der deutschen Flugzeugindustrie zu arbeiten, wählte er die Arbeit. Im Laufe des Krieges wurde die Flugzeugproduktion in Deutschland immer weiter nach Süden verschoben, anfangs 1945 sogar bis ins Vorarlberg. Da lernte Stephan Tarnai Lisa kennen, und als der Krieg zu Ende war, blieb er dort, und die beiden konnten heiraten. Nordsiebenbürgen, Stephans engere Heimat, musste nach dem Krieg von Ungarn an Rumänien abgetreten werden. Wäre er dorthin zurückgekehrt, hätte er die rumänische Staatsbürgerschaft erhalten. Da er das nicht tat, blieb er ohne gültige Papiere und wurde staatenlos.

Die überstürzte Heirat mit einem heimatlosen Ausländer ohne Prestige und Familie war für Lisas Eltern eine arge Enttäuschung. Sie zählten zu den alteingesessenen Familien, deren Stammbäume sich bis ins 16. Jahrhundert zurückverfolgen liessen. Im Dorf wurde getuschelt, eine solche Heirat in einer derart traditionsbewussten Familie sei eigentlich eine Schande, besonders auch, da die Braut ja bereits hochschwanger sei. Aber Vater und Mutter sahen bald, dass sie in Stephan einen geschickten und arbeitsamen Schwiegersohn bekommen hatten, und sie fanden sich mit der Heirat nicht nur nicht resigniert ab, sondern gewannen Stephan lieb und stellten sich vorbehaltlos hinter ihn. Vor allem das Enkelkind versöhnte sie gänzlich mit der unbotmässigen Tochter. Es wurde Rosa getauft, nach der Großmutter. Bald schon traf das zweite Kind ein, wieder ein Mädchen, das den Namen Marianne erhielt. Stephan fand Arbeit in seinem Beruf als Elektriker am Bau des Silvretta Staudamms. Junge Berufsleute waren gesucht, er würde immer Arbeit finden. Das Glück des jungen Paares und seiner zwei Kinder schien gesichert. Sie hatten zwar noch keine eigene Wohnung und lebten bei Lisas Eltern, aber das würde sich später sicher ändern.

Nun aber begann Stephan sich nach seinen eigenen Angehörigen zu sehnen, die er jahrelang nicht mehr gesehen hatte. Wie schön wäre es doch, wenn er ihnen seine junge Familie vorstellen könnte. Er wollte selbstverständlich in Oesterreich bleiben und keinesfalls in eine rumänisch gewordene Heimat übersiedeln, die ihm fremd war. Falls er nach Rumänien fuhr, dann höchstens besuchsweise, um seinen Eltern und den Bruder, den er nur als kleinen Jungen gekannt hatte, wiederzusehen. Nach langem Ueberlegen fuhr er vorerst allein. Lisa war schwanger mit dem dritten Kind, eine anstrengende Reise bei ungewissen Zugverbindungen wollte er ihr nicht zumuten. Wenn alles gut ging, konnte er sie nachkommen lassen, damit sie seine Familie kennen lernte.

Die Einreise in Rumänien war kein Problem, aber dann erhielt er keine Ausreiseerlaubnis, um nach Oesterreich zurückzukehren. Illegal, dank Fluchthelfern, verliess er Rumänien, ein Land, das er nicht als seine Heimat empfinden konnte. Damit hatte er sich straffällig gemacht, und nun war an weitere Besuche bei seinen Eltern nicht mehr zu denken.

Bei seiner Rückkehr nahm er sofort die Arbeit am Silvretta Staudamm wieder auf. Er könne von Glück reden, dass er überhaupt noch arbeiten dürfe, gab man ihm zu verstehen, die Lage auf dem Arbeitsmarkt habe sich geändert, Ausländer würden nicht mehr so ohne weiteres angestellt. Immer noch kehrten Oesterreicher aus Kriegsgefangenschaft zurück und suchten Arbeit. Die Industrie lag darnieder, es herrschte Arbeitslosigkeit. Da wurden Ausländer abgeschoben, in ihre Heimatländer oder ehemaligen Heimatländer zurückgeschickt.

Lisa wurde schief angesehen von einigen Dorfleuten. Unverblümt fielen Fragen: „Was machst du, wenn Stephan seine Arbeit verliert? Das hast du jetzt davon, mit deinem Ausländer....“ Man hatte schon vorher, in den vielen Monaten da sie ohne jeden Bericht von Stephan geblieben war, hämische Bemerkungen fallen lassen. So ein Ausländer sei eben unzuverlässig, ihr drittes Kind werde wohl seinen Vater nie sehen. Sie liess sich nicht beeinflussen und hatte festes Vertrauen, dass Stephan aus Rumänien zurückkehren würde. Glücklicherweise hatten ihre eigenen Eltern den ausländischen Schwiegersohn immer verteidigt und Lisa in ihrem Vertrauen bestärkt, so dass ihr die Sticheleien nichts hatten anhaben können. Gegen die neuerlichen Bemerkungen, dass sie „mit ihrem Ausländer“ in Schwierigkeiten kommen könnte, war sie machtlos. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als sich von der Dorfgemeinschaft mehr oder weniger auszuschliessen und damit zu rechnen, dass mit der Zeit das Gerede der Leute von selber aufhöre.

Eines Abends – Gretele, ihr drittes Kind, war gerade fünf Monate alt – kam Stephan besonders bedrückt nach Hause. Ganz gegen seine Gewohnheit gab er sich kaum mit den Kindern ab, während Lisa nach dem Essen noch in der Küche aufräumte. Er hatte offensichtlich schlechte Nachrichten und wartete nur darauf, dass die Kinder im Bett waren, um damit herauszurücken:

„Also. Ich fürchte, man wird mich ausweisen aus Oesterreich, wenn ich meine Stelle verliere. Man hat uns heute gesagt, man könne keinen von uns weiter beschäftigen, auch die Elektriker nicht, wenn das Kraftwerk fertiggestellt sei. Das dauert zwar noch einige Zeit, aber so lange können wir hier nicht warten und es darauf ankommen lassen. Wir müssen vorher abhauen.“

„Abhauen? Wie meinst du das? Da kann ich mir nichts darunter vorstellen.“

„Ich habe daran gedacht, ausserhalb von Europa etwas zu suchen. Wir könnten auswandern.“

„Auswandern? Wohin denn?“ Es stürmten so viele einander widerstrebende Gefühle auf sie ein, dass sie nicht weiter reden konnte. In die weite Welt hinaus, über das Meer, in andere Länder, zu anderen Menschen! Wie kann man mit drei kleinen Kindern auf Abenteuerfahrt gehen? Die Eltern verlassen, die noch schulpflichtigen drei kleinen Schwestern und Mutters Nachzügler, den erst dreijährigen kleinen Bruder, deren Betreuung ihr immer noch am Herzen lag? Sollte sie weinen oder lachen? Beides ging nicht. Jetzt galt es, ernsthaft zu bleiben und Stephan die Flausen aus dem Kopf zu vertreiben, bevor sie sich gänzlich festgesetzt hatten. Aber war sein Gefühl, bedroht zu sein, wirklich nur ein Hirngespinst? Sie hörte plötzlich wieder das spöttische „Du, mit deinem Ausländer!“

„Auswandern! Wie stellst du dir das vor? Wer soll das bezahlen?“ fragte sie schliesslich. „Hast du irgend einen Plan, eine Ahnung?“

„Ich habe herumgefragt. Man könnte Flüchtlingshilfe bekommen, da wir staatenlos sind.“

„Flüchtlingshilfe! Wir sind doch nicht Flüchtlinge! Wir sind ja nie im Leben geflohen – ich sicher nicht.“

„Ich schon – aus Rumänien, mit Fluchthelfern und Bestechungen.“

Nun war das Wort gefallen. AUSWANDERN. Sie begannen zu träumen und zu planen. Die USA? Kanada? oder Südamerika? Träumen war die eine Sache, aber man brauchte konkrete Angaben, und so fuhren Lisa und Stephan zusammen nach Innsbruck, um sich bei der Auswandererberatungsstelle genauer zu erkundigen.

Im Erdgeschoss des Gebäudes herrschte Geschrei und Lärm, Menschen eilten mit Papieren in den Händen hin und her, wühlten in weiteren Papieren auf Tischen und Pulten, es herrschte ein beängstigendes Chaos; die Vertreter südamerikanischer Staaten bemühten sich hier um Auswanderungswillige. Stephan war befremdet, Lisa total verschüchtert. Weiter oben im Haus sei es ruhiger, sagte ihnen jemand, im 2. Stock befänden sich die Australier.

Bei den australischen Beratern ging es tatsächlich gesittet zu. Da war Ordnung, eine klare, leistungsfähige Organisation, das sah man auf den ersten Blick. Die zwei jungen Leute fühlten sich hier nicht als lästige Gesuchsteller, sondern als willkommene, zukünftige Bürger eines Landes, das seine Grenzen weit geöffnet hatte für Einwanderer – ausschliesslich für europäische Einwanderer, vorzugsweise mit einer Berufsausbildung. Man erklärte ihnen, das Rote Kreuz übernähme Organisation und Kosten bis zum Zeitpunkt der Einschiffung in Bremen, die australische Regierung würde die Reise für Stephan und seine Familie bezahlen. Dafür musste er sich verpflichten, während zwei Jahren an einer Arbeitsstelle zu arbeiten, die ihm die Regierung zuwies, wobei es gewisse Wahlmöglichkeiten gebe. Die Anstellungsbedingungen würden dieselben sein wie für australische Arbeiter in derselben Position. Das konnte für einen Arbeitnehmer vielleicht eine schwer zu erfüllende Verpflichtung werden, wenn ihm die angenommene Stelle nicht zusagte. Aber es war gleichzeitig eine Garantie der Regierung dafür, dass man Arbeit fände und eine sichere Bleibe für die Familie, dass man zwei Jahre Zeit hätte, die Sprache zu erlernen und sich mit den fremden Verhältnissen vertraut zu machen, ohne Furcht, weggewiesen, ausgeschafft zu werden.

Und jetzt? Wie weiter? Zwischen den Erkundigungen und dem Entschluss, tatsächlich zu reisen, liegt ein tiefer Graben, den man vielleicht doch nicht überspringt aus Furcht, hinein zu fallen. Stephan war fest entschlossen, Europa zu verlassen, denn man hörte immer wieder davon, dass Ausländer aus Oesterreich ausgewiesen wurden. Lisa sah, dass kein Argument ihn davon abbrächte, nicht die Aussicht, vielleicht später doch wieder Arbeit zu finden und dem Ausgeschafftwerden zu entgehen, nicht Lisas Bedenken, mit kleinen Kindern eine solche Reise zu unternehmen, nicht die Liebe zu ihrer Mutter, der sie immer noch unentbehrlich war. – In die weite Welt reisen, hinaus aus den schützenden Bergen ins Ungewisse! Hatte sie sich nicht schon als kleines Mädchen und seither immer wieder danach gesehnt, die Länder und Menschen zu sehen, von denen sie im Geographiunterricht in der Schule gehört hatte? Sie war hin- und hergerissen von Abenteuerlust einerseits und Liebe zur Heimat andererseits. Zuletzt siegte die Neugierde, die Unternehmungslust über alle Aengste, und sie gab ihre Zustimmung.

Auch wenn sie sich nicht auf ein neues Leben in einem fremden Kontinent gefreut hätte, wenn sie ihr Einverständnis nur widerstrebend gegeben hätte, Stephan umzustimmen wäre nicht möglich gewesen. Da war es gescheiter, ihn zu unterstützen und sich auf das Abenteuer mit offenem Herzen einzulassen.

Ende Mai 1950 war es so weit, sie konnten abreisen. Lisa war 22, Stephan 29, die jüngste ihrer Töchter ein Jahr alt.

Zufall hatte sie nach Australien geführt, weiterer Zufall verschlug sie nach Wittenoom.

*

Lisas Begeisterung bei der Ankunft erhielt einen Dämpfer, als ihr Stephan beim Verlassen des Flugplatzes eröffnete, es seien nicht genug Wohnungen bezugsbereit, sie müssten ein Haus mit einer Familie teilen, die wie sie drei kleine Kinder hatte.

Die verheissene, neue Stadt glich eher einem ausgedehnten Bauplatz, und es waren tatsächlich erst acht Arbeiterhäuschen fertig gestellt. Sie sahen hübsch aus, mit breiten Veranden vorne und hinten über die ganze Länge.

Stephan trat auf eines der Häuser zu, öffnete weit die Türe: „So, da wären wir.“

Das Innere des Hauses war weiss gestrichen und dadurch hell und wohnlich. Er hatte vorsorglich für seine Familie eines der Schlafzimmer und das sleep-out belegt. Letzteres war ein Aussenzimmer auf einem verbreiterten Teil der vorderen Veranda, dessen Aussenwände lediglich aus Fliegengittern bestanden. Im zweiten Schlafzimmer und im Wohnzimmer wohnte die andere Familie, Küche Badezimmer und WC benutzten sie gemeinsam.

Bei der Sommerhitze im Januar fand es Lisa angenehmer, im Aussenzimmer zu leben. Sie betrat das Haus nur, wenn sie aus ihren Transportkisten im Schlafzimmer etwas brauchte. Badezimmer und WC waren von der hinteren Veranda aus zugänglich, dorthin gingen sie aussen herum. Die Küche benutzte sie nicht, sie kochte mit dem von Stephan gekauften Petroleumkocher auf der Veranda. Dort hatten sie zwei Säcke aus speziell eng gewobenem Leinenstoff aufgehängt. Der eine enthielt Trinkwasser, der andere die Butter. Dank der Verdunstungskälte, die an der stets feuchten Sackoberfläche entstand, blieb der Inhalt relativ kühl. Kühl waren auch die Beziehungen zu „den Andern“. Die Frauen gingen sich aus dem Weg so gut das auf engem Raum möglich war. Lisa und „die Andere“ hatten keine gemeinsame Sprache ausser englisch, das sie mangelhaft beherrschten. Lisa war zu schüchtern, um von sich aus Kontakt zu suchen, und „die Andere“ war dazu zu stolz – oder vielleicht auch zu schüchtern. Die Männer verständigten sich auf ungarisch. Ihnen fiel das Zusammenleben leichter, sie waren ja auch nur abends zu Hause. Am wenigsten Schwierigkeiten hatten die Kinder. Dass sie sich sprachlich nicht verstanden, hinderte sie nicht am Spielen und gelegentlichen Streiten. Da sollten dann am Abend die Väter schlichten, wenn ihnen die Frauen die Ohren voll klagten über „die Andern“.