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Unerträglich ist die Hitze

Lisa kam mit den Kindern in der heissesten Jahreszeit in Wittenoom an. Im Laufe des Januar wurde die Hitze unerträglich, auf der schattigen Veranda zeigte das Thermometer 40°C. Da fiel Lisa in eine Art Lethargie, von der sie sich kaum befreien konnte. Nur mit äusserster Ueberwindung vermochte sie ihren Pflichten als Hausfrau und Mutter nachzukommen. Warum nur hatte sie die Warnungen der Frauen im Lager in den Wind geschlagen? Das beste wäre, gleich wieder zurückzureisen. Aber womit? Sie besass keinen penny. Da dachte sie daran, dass sie das Flugbillet von Perth hierher immer noch jede Woche abbezahlten. Dieser Betrag würde ihnen nach Stephans dreimonatiger Probezeit wieder zurück erstattet werden. Ende des Monats war es so weit, hatte er seine Stelle doch anfangs November angetreten. Sie wollte das Geld, sobald es ausbezahlt war, sofort für die Rückreise nach Perth einsetzen. Stephan würde sich fügen müssen. Niemals hielte sie es zwei Jahre hier aus. Aber wie sollte es dann weitergehen? War das Auswandern nicht doch ein Fehler gewesen? Hatte sich die lange Reise mit all den Unannehmlichkeiten überhaupt gelohnt, um schliesslich hier, in einer erst halb erbauten Stadt in der Einsamkeit und Gluthitze zu landen?

*

Im Mai 1950, am ersten Reisetag im Zug durch Deutschland von Bregenz nach Bremen schrieb Lisa den ersten Brief nach Hause. Sie schilderte die immer noch zahlreichen Ruinen aus der Kriegszeit und wie erstaunlich ordentlich aufgeräumt alles sei darum herum. Sie lobte auch die gute Organisation der Reise in dem Zug mit 650 Flüchtlingen. In Aurich bei Bremen wurden sie in eine ehemalige Militärkaserne, die in ein Flüchtlingslager umgewandelt worden war, aufgenommen. Stephan schrieb über das Lager:

„Unser Lager ist eine kleine Stadt für sich für 4000 Menschen. Acht zweistöckige Wohnblöcke mit ungefähr je hundertfünfzig Zimmern. Die Küche mit ihrem gewaltigen Speiseraum gleicht eher einer grossen Fabrik. In einem Schulhaus mit 52 Klassen müssen alle Lagerinsassen jeden Tag eine Stunde in den Sprachunterricht. Das Lager beschäftigt 600 bezahlte Arbeiter und Angestellte, hat 18 Lastautos, einen Fussballplatz mit Tribüne, ein Kino und gepflegte Parkanlagen. Die Strassen sind ausnahmslos mit Asphalt belegt. So viel Luxus für eine Kaserne konnten sich nur die Nazis leisten. Die ganze Herrlichkeit diente dazu, um die Söhne des Landes fürs Schlachtfeld zu erziehen.“

Ende Juni waren sie immer noch in Aurich. 500 neue Flüchtlinge kamen an, aber auch sie gewöhnten sich an das Lagerleben, als sollte es ewig dauern. Das vom Roten Kreuz geführte Lager bot ihnen alle Bequemlichkeit: Ein eigenes Zimmer für jede Familie, Zentralheizung – bei dem regnerischen und kalten Juniwetter in jenem Jahr waren alle froh darüber – Duschen, Wäscherei, ärztliche Betreuung, Schulen und Kindergärten, Sprachunterricht.

Pro Person gab es 70 Zigaretten pro Monat. Stephan verkaufte ihre zusammen 140 Stück sofort, obschon er ein starker Raucher war. Er brauchte Geld, um für Marianne, die mittlere der drei Töchter, Schuhe zu kaufen. In den grossen Kisten, die eingelagert waren und ihnen erst in Australien ausgehändigt würden, wären noch Schuhe gewesen, aber die waren jetzt unerreichbar. Im Lager lebte man aus dem Handgepäck. Auch die zweite Monatsration an Zigaretten verkaufte Stephan und kam so zu etwas Geld für eventuell Notwendigeres. Er gewöhnte sich das Rauchen ab, so einfach war das.

Die Flüchtlinge mussten wochenlang auf die Weiterreise warten. Die Koreakrise war ausgebrochen, das Internationale Rote Kreuz hatte eines der ihm zur Verfügung gestellten Schiffe wieder hergeben müssen für Truppentransporte. Die Stimmung im Lager sank auf den Nulllpunkt und bedrückt fragte man sich: „Gibt es wieder Krieg? Werden wir gar nicht ausreisen dürfen?“ Manche erwogen sogar, wieder zurückzufahren. Einzig die Ungewissheit und die Gefahren an ihrem Herkunftsort hielten sie davon ab.

Es wurde politisiert und diskutiert, Theorien wurden aufgestellt, wie die Welt zu verbessern sei. Aber es war der Alltag, es waren die Probleme des täglichen Lebens, die die Menschen im Lager ebenso sehr beschäftigten. Die Auswahl der Filme im Lagerkino gab zu reden, das Essen behagte nicht allen, die Sprachlektionen, die obligatorisch waren, machten vielen Mühe und sie fanden sie unnötig, die Reibereien in den Waschküchen, wenn zwei geplagte Mütter kleiner Kinder gleichzeitig waschen wollten, gaben zu Klatsch Anlass, und als Rosa eine kleine Haarspange aus Metall verschluckte, wurde dieses Missgeschick für kurze Zeit zum Tagesgespräch. Erst Abends um zehn Uhr konnte Stephan den Arzt erreichen. Der war ratlos, zog am nächsten Morgen die übrigen Lagerärzte bei. Sie durchleuchteten das Kind, wussten nicht, was man vorkehren sollte, eine Operation sei zu riskant. Alle möglichen Hausmittelchen wurden den Eltern von allen Seiten angeraten, von Sauerkraut – das zu dieser Jahreszeit nirgends aufzutreiben war – zu Kartoffelstock essen, viel Milch trinken, ja keine Milch trinken, sich viel bewegen, sich möglichst ruhig verhalten... Klein Rosa selber war völlig unbekümmert, weinte höchstens, wenn der Arzt sie wieder untersuchte, was sie als Belästigung empfand. Die Spange komme dann schon zum Vorschein, dort wo alles herauskomme, was man gegessen habe. Sie musste wie ein Kleinkind aufs Töpfchen, worüber sie beleidigt war, dem sei sie schliesslich längst entwachsen. Nach sechs langen Tagen steckte dann die Metallspange tatsächlich im Inhalt des Töpfchens, und die Episode verlor damit ihren Sensationswert.

Ein grosser Teil der Flüchtlinge wurde in das Einschiffungslager Delmenhorst verbracht. Noch immer sah man nichts vom Meer, und das Lagerleben ging weiter wie zuvor, bloss war es etwas weniger luxuriös. Nach drei Wochen, am 23. August, wurden Lisa und Stephan zur ärztlichen Untersuchung aufgeboten. Endlich war das Lagerleben zu Ende, sie konnten sich einschiffen auf der Skaugum III, einem Truppentransporter aus der Kriegszeit, der sich eignete, 2000 Flüchtlinge aufzunehmen.

Frauen und Männer wurden getrennt untergebracht in Kabinen mit 25 Kojen. Knaben bis zu sechs Jahren und alle Mädchen waren bei den Müttern, grössere Knaben bei den Vätern. Das Gedränge auf dem Schiff verunmöglichte es Ehepaaren, einander jeden Tag zu sehen. An keinem Hafen, an dem das Schiff anlegte, durften die Reisenden von Bord, nicht einmal in Gibraltar, wo der Aufenthalt fünf Tage dauerte, bis die Fahrt weiter ging durch das Mittelmeer und den Suezkanal auf der Route in den Fernen Osten. Die Reise dauerte fünf Wochen, eine furchtbar lange Zeit in einem überfüllten Schiff.

An Bord gab es Englischlektionen. Lisa gelang es kaum, etwas davon zu nutzen. Immer erheischte bald das eine, bald das andere der Kinder ihre Aufmerksamkeit, und mit Lernen war es in dem ständigen Lärm und Betrieb auch nicht weit her. Lisa war schüchtern, wagte es von sich aus nicht, fremde Leute anzureden, blieb in all dem Gedränge für sich allein mit ihren Kindern.

Offensichtlich nach dem Zufallsprinzip wurden die ersten Einwanderer, die an der Westküste von Australien an Land gehen durften, ausgewählt: hundertfünfzig Arbeiter und Arbeiterinnen, alleinstehende und solche mit Familie. Stephan war unter den hundertfünfzig, und so ging die Familie Tarnai in Fremantle von Bord, während das Schiff weiter fuhr, der Südküste entlang nach Adelaide, Melbourne und schliesslich nach Sydney. Es blieb den neugierigen Einwanderern keine Zeit, sich umzusehen, denn sie wurden sofort nach Northam in ein Lager transportiert, fuhren im Zug an Perth vorbei, ohne etwas von der Hauptstadt des Staates Westaustralien zu sehen. Die Familien waren wieder glücklich vereint, aber ein so grosses Glück war das auch wieder nicht. Mehrere Familien wohnten in demselben Raum, einer alten Armeebaracke, voneinander nur durch aufgehängte Wolldecken getrennt.

Trotz der Nähe so vieler Menschen blieb Lisa auch hier für sich. Die Gewandtheit und Sicherheit, mit der sich viele Flüchtlinge zurecht fanden und einrichteten, als ob das hier normaler Alltag wäre, befremdete sie, stiess sie sogar ab. Viele von ihnen hatten seit Jahren in Lagern gelebt, für sie war es tatsächlich die Normalität. Aber an etwas Neues mussten sie sich gewöhnen, und nicht alle waren davon erbaut: Sie erhielten Arbeitslosengeld und mussten von da an für ihren Unterhalt selber aufkommen. Bisher hatten sie alles umsonst vorgesetzt bekommen; für das tägliche Essen zu bezahlen, auch wenn es sehr billig war, erschien vielen als Zumutung. Sie hatten Mühe, ihr Geld einzuteilen und mussten sich zusätzliche Barschaft verschaffen, indem sie ihre verbliebenen Wertsachen verkauften. Es gab Lagerinsassen die keine Hemmungen hatten, andere übers Ohr zu hauen mit Kaufen und Verkaufen. Manche waren auch gar nicht darauf aus, ihrem bequemen Lagerleben eine Ende zu bereiten. An jeder Arbeitsstelle, die ihnen angeboten wurde, hatten sie etwas zu bemängeln und wollten lieber noch zuwarten, bis sich etwas Besseres zeige.

Stephan und Lisa gehörten zu der Gruppe, die sich darüber freute, dass das Lagerleben nicht mehr lange dauern würde. Nachdem sich Stephan etwas orientiert hatte, war er des Lobes voll über die Verhältnisse. Leute, die eine Stelle in Büro und Handel suchten, hatten Schwierigkeiten, er aber suchte manuelle Arbeit, und da fand er die Bedingungen fortschrittlich. Bei einer 40-Stundenwoche betrug der Wochenlohn für ungelernte Arbeiter 7 1/2 £, für Facharbeiter 9 1/2 £. Eine Familie konnte mit 4 – 5 Pfund leben, bei ehrlicher Arbeit brachte man es da zu einem bescheidenen Wohlstand. Obschon sie beide so schnell als möglich hier weg wollten, konnte Stephan nicht die erstbeste Stelle annehmen. Eine Beschäftigung als Landarbeiter auf einer cattle station in der Einsamkeit des outback kam nicht in Frage. Von Rinderzucht hatte er keine Ahnung, und wie hätte er von einem abgelegenen Ort aus seine Kinder in die Schule schicken sollen? Als nächstes wurde ihm eine Anstellung als Eisenbahnarbeiter an der Indian Pacific Line, der Bahnlinie, die von Perth quer durch den ganzen Kontinent nach Sydney führt, angeboten. Da wäre er wochenlang hunderte von Kilometern von seiner Familie entfernt gewesen, und das wollte er Lisa nicht zumuten. Sie wurden beide ungeduldig. Sollte er das dritte Angebot annehmen? Es war Arbeit in einer Asbestmine im Nordwesten von Westaustralien. Weder den Namen der Firma – ABA, Australian Blue Asbestos – noch den Namen der Stadt – Wittenoom – hatten sie vorher je gehört. Es sei eine im Aufbau begriffene, von der Regierung geförderte, neue Stadt, 1600 km von Perth entfernt, erreichbar durch eine unasphaltierte Naturstrasse oder per Flugzeug, erklärte der Stellenvermittler. Weltweit sei die Asbestindustrie im Aufbau begriffen, weil dieser Stoff leicht zu gewinnen und billig zu verarbeiten sei. Stephan nahm die Stelle an und flog Ende Oktober nach gründlicher, ärztlicher Untersuchung – denn die Firma stellte nur kerngesunde Arbeiter an – nach Wittenoom. Er ging vorerst allein und lebte mit andern alleinstehenden Männern in einem Gästehaus for single men. Frau und Kinder würde er nachkommen lassen, sobald eine Wohnung oder ein Haus für die Familie bereit stand.

Lisa freute sich darauf, beim Aufbau einer gänzlich neuen Stadt dabei zu sein. Es würde zwar noch Wochen dauern, denn die Häuser für die Familien der Asbestarbeiter waren erst im Bau. Sie musste mit ihren Kindern nach Cunderdin ziehen, in ein Lager für etwa 100 Frauen mit Kindern, die darauf warteten, den Familienvätern nachzureisen, sobald diese an ihrem Arbeitsort eine Wohnung gefunden hätten. Lisa kam hier leichter in Kontakt, es gab immer Gesprächsstoff für Mütter von kleinen Kindern, sei es auf dem Spielplatz oder in der Waschküche, wo sie Windeln und Kinderkleider wuschen. Sie traf deutsche Frauen, die wie Lisa Männer aus Osteuropa geheiratet hatten und deshalb ausgewandert waren. Endlich lernte sie auch eine Vorarlbergerin kennen, eine Bauerntochter wie sie. Beide freuten sich, wieder einmal den vertrauten, heimatlichen Dialekt zu hören. In der entspannten Atmosphäre des Frauenlagers verschaffte sich Lisa endlich den nötigen Freiraum, um die Englischlektionen zu besuchen und zu lernen. Voll Stolz schrieb sie nach Hause, dass sie sich bereits mit einer polnischen Familie auf englisch habe verständigen können.

Von ihrer Sehnsucht schrieb sie nicht, von der Sehnsucht nach Schnee und Weihnachtsstimmung. Wie sollte man bei den sommerlichen Temperaturen Weihnachten feiern. Sollte sie das Fest einfach unbemerkt vorbei gehen lassen? Das Geld, das Stephan ihr schickte reichte gerade für Unterkunft und Essen, für Geschenke blieb nichts übrig. Da erhielt sie die gesetzliche Kinderzulage direkt ausbezahlt. Zuerst mussten schon wieder neue Schuhe her für den Sommer. Sie hatte angenommen, man könne die Kinder im Sommer barfuss herumlaufen lassen wie zu Hause in Europa. Das war nicht möglich, die Sonne brannte, der Boden wurde viel zu heiss, sei es nun asphaltierte Strasse oder staubiger Naturweg. Leichte Turnschuhe waren billig, da reichte das Geld doch noch für Geschenke. Sie kaufte eine kleine Puppe mit schwarzem Haar für Rosa, ein Zusammensetzspiel aus Holzklötzchen für Marianne und ein kleines Wägelchen zum Nachziehen an einer langen Schnur für Gretele, das Nesthäkchen. Die Kinder sollten nicht darunter leiden, dass sie Weihnachten ohne ihren Vater in einer Menschenmenge statt im trauten Familienkreis feiern mussten. Stephan schrieb, er habe Geld zusammen gespart und Matratzen und einen Petroleumkocher gekauft. Das war jedenfalls wichtiger als ein Flugbillet, um über Weihnachten die Familie zu besuchen. Die Trennung sollte nicht mehr lange dauern, schrieb er weiter, denn am 5. Januar sei ihre Wohnung bereit.

Die guten Nachrichten versetzten Lisa doch ein wenig in Weihnachtsstimmung. Schnee und Lebkuchen waren wohl gar nicht so wichtig, es gab sicher verschiedene Arten, der Geburt Jesu zu gedenken.

Die Lagerweihnachten war für alle ein fröhliches Fest. Der Weihnachtsmann in rotem Mantel mit Kapuze und weissem Bart wie in Europa gab jedem Kind ein persönliches Geschenk. Gretele erhielt ein Stoffhäschen, Marianne eine weiche Puppe, die ein Dirndl ähnliches Röckchen trug, und Marianne konnte sich nicht satt sehen an dem zierlichen Puppengeschirr aus Blech. Grössere Kinder packten Fussbälle, Tischtennissets, Springseile, Familienspiele aus. Wer hatte sich auch alle diese passenden Geschenke ausgedacht? Da musste man ja an St.Nikolaus glauben! Der Aermste, in seinem dicken Mantel bei der sommerlichen Hitze war ihm sicher nicht behaglich. Knallbonbons zerbarsten, aus denen farbige Papierhüte zum Vorschein kamen, und in dem ausgelassenen Festtrubel fanden besinnliche Weihnachtsgedanken keinen Platz. Trotz einem ihr für eine Weihnachtsfeier ungewohnten Festlärm empfand Lisa eine grosse Dankbarkeit. War das nicht ein gutes Land, wo Regierung und Private den Fremdlingen solche Feste bereiteten?

Nun, da das Datum ihrer Abreise festgesetzt war, rieten ihr die neu gewonnene Freundin aus dem Vorarlberg und andere Frauen davon ab, ihrem Mann nachzufolgen. Man hatte irgendwie vernommen, im Norden sei es heiss und ungesund, und es sei alles primitiv und unzivilisiert. Das „ungesund“ bezog sich nicht auf Asbest, dessen Gesundheitsrisiken den Frauen überhaupt nicht bekannt waren. Ihre Töchter würden in dem tropischen Klima in kurzer Zeit erkranken, gab man Lisa zu verstehen; Stephan könne immer noch eine andere Stelle annehmen, er habe ja eine dreimonatige Probezeit. Lisa achtete nicht auf die Ratschläge. Stephan schrieb, die Häuser für die Familien würden geräumig und modern und hätten sogar ein richtiges Badezimmer. Seine Arbeit sei zwar staubig, aber nicht unerträglich, denn er müsse nicht pickeln und schaufeln, sondern könne die Grubenbahn fahren. Dagegen falle ihm das Leben in dem Haus für alleinstehende Männer schwer, er sehne sich nach seiner eigenen Familie. In ihrem Gästehaus wohnten kaum Australier, oder dann seien es sehr raue Gesellen. Fast alles seien Leute wie er, die direkt aus Europa kämen. Freiwillig gehe anscheinend kein Australier als Arbeiter in eine so abgelegene Gegend wie die Pilbara. Das sei ein Vorurteil, man könne sich hier ein gutes Leben aufbauen, so gut wie irgendwo sonst.

Da liess sich Lisa von den Warnungen der Frauen nicht beeinflussen und hatte volles Vertrauen in Stephan. Sie hatte sich schon einmal nicht beirren lassen, damals als er wochenlang, ohne von sich hören zu lassen, nicht aus Rumänien zurückgekehrt war. Hatte damals nicht auch die Umgebung – mit Ausnahme der eigenen Familie – ihr weis machen wollen, er verdiene ihr Vertrauen nicht? Man musste nicht auf die Leute hören. Stephan würde sie nicht nachkommen lassen, wenn die Verhältnisse für eine junge Familie derart katastrophal wären.

*

Ihr Vertrauen war gerechtfertigt, denn bei der Ankunft in Wittenoom fand sie den Ort paradiesisch. Im Grunde genommen änderte sie ihre Meinung darüber nicht. Es war nur die Hitze und die gegenwärtig unbefriedigende Wohnsituation, die ihr so zusetzten. Gewiss war die Stadt immer noch nicht viel mehr als ein Bauplatz, aber das würde sich bald ändern. Sicher würde es nie eine schmutzige, verrauchte und deshalb ungesunde Bergbaustadt werden, denn von der Asbestmine sah und hörte man nichts, sie lag 10 km entfernt hinten im Tal. Nur die Kaderleute wohnten in einer kleinen Siedlung in deren Nähe. In dem engen, gewundenen Tal war nicht Platz für eine grössere Stadt, weshalb man für die Arbeiter am Talausgang in der Ebene baute. Das war viel schöner als im engen Tal. Da hatte man beides: im Norden die Ebene, den unendlichen bush, im Süden die steil in den Himmel aufragenden Berge und am weiten Talausgang die prächtigen Baumriesen, die river red gums. Ein lieblicher Ort – wenn nur die lähmende Hitze nicht wäre, die Lisa nicht länger ertragen wollte.

Eines Tages kam Stephan mit der Nachricht nach Hause, er könnte in der Mine statt auf der Bahn zu fahren in seinem Beruf als Elektriker arbeiten. Aber das müsse er sich genauestens überlegen und ausrechnen. Bei wachsender Erfahrung auf der Grubenbahn käme er vielleicht sogar auf einen höheren Lohn als ein Facharbeiter. Da er im Akkord arbeite, steige sein Verdienst, während er als Elektriker immer auf derselben Stufe bliebe. So oder so, er sei auf jeden Fall bei der Grubenleitung gut angesehen, besonders auch, weil er die ganze Besprechung auf Englisch habe führen können. In Wittenoom wurden gegen dreissig verschiedene Sprachen gesprochen von den Einwanderern aus allen europäischen Ländern, und nicht immer war ein fähiger Uebersetzer vorhanden.

Lisa hatte doch abreisen wollen, und das so bald als möglich! Jetzt sagte sie nichts davon. Wenn sich Stephan hier beruflich verbessern konnte, wäre es unklug, diese Gelegenheit nicht zu ergreifen. Sie redete sich ein, sie würde sich mit der Zeit an die Hitze gewöhnen, und zwei Jahre wäre es wohl doch auszuhalten. Und wo auf der Welt konnte man ohne Angst vor wilden Tieren in einem Aussenzimmer nur durch ein dünnes Fliegengitter geschützt ruhig schlafen und den leuchtenden Sternenhimmel betrachten, wenn die Hitze einen nicht schlafen liess? Die roten Felsen speicherten die Hitze und strahlten sie noch Stunden nach Sonnenuntergang ab auf die Stadt. Aber wie schön leuchteten diese roten, von grünen Grasbändern durchbrochenen Felsen tagsüber unter dem klaren, blauen Himmel! Sie musste Vernunft annehmen und nicht ständig ans Abreisen denken. Ihre drei Töchter waren gesund, schienen nicht unter der Hitze zu leiden, das war die Hauptsache. Was sollte sie selber sich da grämen?

Den Anschluss zu Nachbarn suchen, Freundschaften schliessen, das lohnte sich kaum wegen zwei Jahren. Es fiel Lisa ohnehin schwer, den Kontakt zu fremden Menschen zu finden, obschon sie seit bald einem Jahr unter Fremden weilte.

*

Lisas Eltern war es stets wichtig gewesen, den zehn Kindern eine sichere, von unerwünschten Einflüssen abgeschirmte Kindheit in ihrem Dorf zu bieten. Lisa, die Aelteste, war ein lebhaftes, neugieriges Kind, doch ihrem Wissensdurst waren enge Grenzen gesetzt, ohne Radio und ohne Zugang zu Büchern ausser den Schulbüchern und dem katholischen Katechismus. Dieser lehrte, dass jeder Mensch, der nicht katholisch sei, nicht in den Himmel komme. Daraus hatte das kleine Mädchen geschlossen, dass es Menschen gab, die nicht katholisch waren, denn sonst hatte diese Lehre ja keinen Sinn. Gesprächen von Erwachsenen hattte sie entnommen, dass es noch etwas anderes geben musste als das kleine Dorf – auf der andern Seite der Berge, in der Welt draussen. Aber es war ihr nicht erlaubt gewesen, mit jemandem zu sprechen, der nicht verwandt oder sonst mit der Familie eng verbunden war, um Genaueres von dieser andern Welt zu vernehmen. Nicht einmal einem Wanderer, der arglos nach dem Weg fragte, hatte sie Auskunft geben dürfen. Die Geographiestunde in der Schule war die wichtigste Quelle ihres Wissens. „Anschluss“ Oesterreichs an Deutschland und der zweite Weltkrieg hatten nicht viel daran geändert. Arbeit, immer wieder Arbeit in der Landwirtschaft und in der Familie hatte sie daran gehindert, von der politischen Indoktrination aus Nazideutschland allzu viel mitzubekommen, und was sie davon vernahm, hatte ihren Wissensdurst nicht stillen können.

Am Ende der Schulzeit hatte Lisa eine Handelsschule besuchen dürfen und arbeitete dann im Büro einer Textilfabrik, was ihr immer noch Zeit liess, der stets überarbeiteten Mutter an die Hand zu gehen. Es war selbstverständlich, dass Bauernkinder im Betrieb der Eltern mitarbeiteten, darin hatte sich ihre Lage in nichts von der ihrer Schulkameradinnen unterschieden. Irgendwie konnten sich die jungen Mädchen trotz aller Einschränkungen freie Zeit und Gelegenheit verschaffen, der strengen Aufsicht von Eltern und Kirche zu entwischen. Bei einer solchen Gelegenheit lernte Lisa den Fremdarbeiter aus Ungarn, Stephan Tarnai, kennen. Es war in der Nazizeit arischen Mädchen zwar verboten, sich mit Angehörigen niederer Rassen einzulassen. Wenn sie sich mit einem Ausländer erwischen liessen, wurde ihnen das Haar kurz geschoren. Obschon Ungarn mit Deutschland verbündet war, betrachtete man auch die Ungarn als Menschen minderer Rasse. Was scherte das Lisa und Stephan, was scherte das tausende andere junge Frauen und Männer? Nur wenige waren erwischt worden.

*

Lisa blieb an ihrem neuen Wohnort für sich allein, sie vermochte ihre anerzogene Schüchternheit nicht zu überwinden. Wären nicht die Kinder gewesen, sie wäre nie ausgegangen. Aber Rosa ging in den Kindergarten, da gab es Anlässe, die man dem Kind zuliebe besuchte. Man musste einkaufen, auf die Post, auf die Bank gehen, und dazu war englisch unerlässlich. Sie sollte die Sprache besser erlernen, im Lehrbuch weiter arbeiten, das sie im Lager angefangen hatte; aber sie war so müde, sie konnte sich nicht dazu aufraffen. Rosa, so klein sie war, gelang es, ihr die für ein kleines Mädchen wichtigen Wörter und Redewendungen beizubringen.

Der heisse Januar ging endlich vorbei, und damit auch Stephans Probezeit. Mit einem Teil des Geldes, das er für den Flug nach Wittenoom zurück erstattet erhielt, kaufte er sich ein Kleinmotorrad, und mit dem Rest eröffnete er ein Bankkonto.

Nun gab es Abwechslung. Am Sonntag fuhr Stephan zuerst Lisa mit der kleinen Gretele in das Tal hinein zu einem Tümpel am Fusse einer Felswand, dann fuhr er zurück, um die zwei grösseren Mädchen Rosa und Marianne zu holen. Lisa sass währenddessen unter einem river red gum, liess Gretele mit Steinen und ihrem Eimerchen spielen und starrte teilnahmslos vor sich hin. Hätte sie nicht doch abreisen sollen? Immer wieder bereute sie es, Stephan nichts von ihrem Wunsch, sofort abzureisen, gesagt zu haben. Sicher hätte man im Süden etwas besseres gefunden in einem weniger heissen, milderen Klima. Am liebsten wäre sie überhaupt wieder zurück gekehrt in die Heimat. Sie sah im Geiste vor sich die Schneeglöckchen, die dort jetzt unter den Bäumen im Obstgarten blühten, und sie achtete nur mit halber Aufmerksamkeit auf das Spiel ihres Kindes, als plötzlich das wundersame Singen eines Vogels, wie sie es noch nie im Leben gehört hatte, an ihr Ohr drang. Es war ein kräftiger Gesang, melodiös, abwechslungsreich. Sie erwachte aus ihren Träumereien von kühlen Bergen, schaute sich um und entdeckte zwei grosse, schwarz-weisse Vögel auf dem Eukalyptus. Nun hörte das Singen auf, die Vögel turnten etwas weiter herunter in ihre Nähe – und sangen wieder. Lisa sah sie ganz genau, sie glichen Elstern. Welch ein Land, wo Krähenvögel so schön sangen! Im kleinen See spiegelten sich die roten Felsen, die Eukalypten und der strahlend blaue Himmel, und das Wasser war kristallklar. Obschon es nicht geregnet hatte, waren die Tümpel im Tal nicht ausgetrocknet, es herrschte kein Wassermangel. Die heisse Pilbara war vielleicht doch ein gutes Land voller Wunder.

Als Stephan mit Rosa und Marianne auf seinem Moped heranbrauste – so schnell das auf einem solchen Vehikel überhaupt möglich war – , war Lisa heiter, Müdigkeit und Trauer waren weggewischt. Sie tollte mit den Kindern im Wasser herum, kreischte und lachte mit ihnen und liess sich anspritzen – ohne dabei Gretele aus den Augen zu verlieren, die furchtlos vom flachen Ufer aus auf die andere Seite ins tiefe Wasser waten wollte. Dort kletterte nämlich Papa auf einen Felsbuckel und führte seinen Töchtern in einem eleganten Kopfsprung vor, dass man im tiefen Wasser noch ganz anderes tun konnte als bloss spritzen und schreien. Sie mussten unbedingt schwimmen lernen, sonst war das Baden in den Tümpeln zu gefährlich.

Die Woche über fiel Lisa wieder in lähmende Müdigkeit, wenn sie den Haushalt besorgt hatte. Einzig zum Briefeschreiben mochte sie sich aufraffen, und meist schrieb sie einen drei- oder vierseitigen Brief nach Hause in mehreren Etappen. Sie schrieb nichts von ihren Sorgen, wollte damit die Eltern und jüngeren Geschwister nicht belästigen, sondern gab einer grossen Zufriedenheit mit allen Lebensumständen Ausdruck. Die Hitze, die ihr so zu schaffen machte, wurde nur nebenbei erwähnt, im Zusammenhang mit Kinderkleidern und Wäsche. Sie bedauerte es, dass sie den Mädchen die hübschen Schürzen nicht anziehen könne, denn für eine Schürze über das leichte Röckchen sei es viel zu heiss. Als besonders erwähnenswert galt ihr auch die Tatsache, dass man die Bettwäsche mindestens alle zwei Wochen wechseln müsse, weil sie total verschwitzt sei, statt nur alle drei Monate wie zu Hause. Dass dadurch viel öfters grosser Waschtag war, verstand sich von selber, und dass man alles von Hand am grossen Waschofen draussen unter freiem Himmel wusch, war nichts Neues, so war es immer gewesen, auch im elterlichen Haus. Daneben beschrieb sie die unvergleichlich schöne Lage des Ortes, umgeben von bush und steilen Bergen – fast wie zu Hause. Die Tiere im bush seien ungefährlich, so dass man die Kinder ohne Sorgen draussen spielen lassen könne.

Stephan nahm sich ebenfalls Zeit zum Schreiben. Seine Briefe waren voller Optimismus über die Zukunftsaussichten. Von den Arbeitsbedingungen im Bergwerk schrieb er nichts. Er konnte sich glücklich schätzen, dass er die Bahn fahren durfte, denn die Arbeit der Mineure war mörderisch. Der Hauptstollen mit den Bahngeleisen führte ca. 1 km waagerecht der Asbestschicht entlang in den Berghang hinein. Von diesem Haupttunnel aus wurden knapp 1 Meter hohe Seitenstollen getrieben, in welche die Arbeiter hineinkrochen, um die Sprenglöcher zu bohren und nach der Sprengung das Felsmaterial herauszuschaufeln. Sie konnten stundenlang nicht aufrecht stehen. Der Staub nahm ihnen fast den Atem, aber daran müsse man sich halt gewöhnen.

Lisa nahm sich viel Zeit, ihren Kindern Geschichten zu erzählen, und wie alle Kinder wollten sie immer dasselbe hören, von den Grosseltern, von den Tieren und Blumen, von den Bergen und vom Leben auf der „Alpe“. Das schien ihr gut so, sie würden dadurch die Heimat nicht vergessen, und wenn sie einst zurückkehrten, würde ihnen noch alles vertraut sein, und sie würden auch die Sprache verstehen, den gemütlichen Dialekt im Vorarlberg, das sie „das Ländle“ nannte.

Schnee und Eis und Kälte schilderte Lisa, und da fiel ihr ein, was für unnütze Sachen in die Kisten verpackt nach Australien mitgekommen waren: Winterstiefel, Wintermäntel, warme Unterwäsche und wollene Pullover, lauter Dinge, die in Oesterreich schwer erhältlich und sehr teuer waren, für die sie mühsam das Geld zusammengerackert hatten, um gut ausgerüstet auszuwandern. Die im heissen Klima unnötigen Wintersachen brauchten hier nicht zu vermodern. Man konnte Fünfkilopakete ohne grosse Zollformalitäten nach Oesterreich schicken. In das erste Paket steckte sie die Winterstiefel, ein langes, warmes Nachthemd, Strümpfe, nebst Süssigkeiten und Tabak. In vielen weiteren Paketen wurden später die überflüssigen Winterkleider nach und nach heimgeschickt, und immer packte Lisa auch Bohnenkaffee, Tee, Toilettenseife, Tabak, Pfeffer und öfters auch Zucker ein. Alles das war in Oesterreich noch Mangelware. In das Weihnachtspaket kamen Würste und Schweinefleisch in Dosen. In einem Jahr würde der erste sofort lösliche Pulverkaffe, Nescafé, die grosse Neuheit sein, sowie ein Rezept für Tomatensalat, da ihre Eltern bisher Tomaten kaum gekannt hatten. Die australische Post war zuverlässig, da hatte Lisa volles Vertrauen, als sie einen Brief erhielt, vom Lager Northam über Cunderdin nachgeschickt – mit einer Verspätung von bloss einem halben Jahr. Nein, man zwar hunderte von Kilometer von der nächsten Ortschaft entfernt, aber man wohnte nicht hinter dem Mond.

Mond, Vollmond – wieder einmal liess die Hitze das Ehepaar Tarnai nicht schlafen, und dazu der Vollmond, der durch das Fliegengitter im Aussenzimmer blendete! Sie schauten schläfrig und doch schlaflos hinaus und waren plötzlich hellwach. Auf dem Mond oder hinter dem Mond, irgendwie mit dem Mond verbunden, es liess sich nicht genau ausmachen wie, sahen sie ein Kreuz. War das jetzt das berühmte Kreuz des Südens?

Hinaus aus dem Bett und ins Freie! Da schien ein ganz gewöhnlicher Vollmond am Himmel. Wo war jetzt das Kreuz hingekommen? Enttäuscht kehrten sie zurück ins Bett, und da war es wieder, vor oder hinter dem Mond, wie vorher. Das Fliegengitter hatte den seltsamen „Kreuzeffekt“ hervorgebracht.

Was hatte es wirklich auf sich, mit jenem Kreuz des Südens, von dem Lisa gehört hatte. Wer wusste darüber Bescheid, wen konnte sie fragen? Sie schämte sich ihrer Unwissenheit und kannte niemanden, dem sie sie hätte eingestehen und darüber lachen können. War es überhaupt möglich, zwei Jahre lang am selben Ort zu leben und sich auf die Weise, wie sie das seit zwei Monaten getan, von allen Menschen zurück zu ziehen? Man brauchte die Beziehung zu den Mitmenschen, allein war man verloren, das begann sie zu begreifen. Sie müsste es wagen, die Schüchternheit zu überwinden. Sie müsste die Augen offen halten, Freundschaften suchen, oder wenigstens gute Bekanntschaften, mit denen man plaudern, mit denen man lachen konnte – oder sich ärgern je nachdem. In die Politik würde sie sich nie einmischen, auch nicht in die Belange der Stadt, denn sie wollten ja nur die zwei Pflichtjahre hier bleiben. Sich ein wenig offener zeigen in der Nachbarschaft, das zu versuchen nahm sie sich fest vor. Vielleicht wusste ja jemand, was es auf sich hatte mit diesem Kreuz des Südens.

Ihre allernächsten Nachbarn, „die Andern“ mit denen sie unter demselben Dach hausten, zeigten sich unnahbar, es war unmöglich, mit der Frau irgendwie in Kontakt zu kommen. Lisa hätte einen handfesten Streit dem Stillstand vorgezogen, Gründe dafür hätten sich bestimmt finden lassen. Aber für einen Streit fehlte ihr trotz aller Vorsätze der Mut, und sie war müde, und es war zu heiss, sogar zum Streiten zu heiss. Regnete es eigentlich nie in diesem Land? Woher kam das Wasser in den kleinen Seen im Tal, und warum war das ausgetrocknete Flussbett am Talausgang so breit? Welcher Fluss hatte es gegraben, und was für ein Regen hatte einen solchen Fluss geschaffen? Man lebte in einer verkehrten Welt. Ausgetrocknete Flussbette und doch stets genügend Trinkwasser. War nicht sogar der gute, alte Mond verkehrt? Ein paar Tage nach dem Vollmond, da er ohne Zweifel am Abnehmen war, hatte er sich auf der falschen Seite abgeflacht, so als sei er am Zunehmen. Zudem war er hier eine Frau, und die Sonne war ein Mann, das erklärte ihr Rosa, die im Kindergarten ein Liedchen lernte von Mrs.Moon and Mr.Sun, Frau Mond und Herr Sonne.

Ostern, Frühling, das Erwachen der Natur in Europa. Hier sollte es Herbst sein. Es war immer noch heiss, und die Blätter fielen nicht von den Bäumen, denn die Eukalypten und viele andere australische Bäume sind das ganze Jahr über belaubt. Den Brauch des Eierfärbens wollte Lisa trotz aller Verkehrtheit nicht vergessen. Auch „die Andern“ in ihrem Haus kochten und färbten Eier, aber es kam nicht zu einer gemeinsamen Osterfeier. Das Zusammenleben – oder vielmehr das Nebeneinanderleben – ging zu Ende, als Ende April eine weitere Serie Arbeiterhäuschen bezugsbereit war. „Die Andern“ zogen aus.

Lisa konnte zum ersten Mal in ihrem Leben allein in einer eigenen Wohnung mit ihrer Familie haushalten. Das fiel ihr gar nicht so leicht., sie hatte sich daran gewöhnt, alles nur provisorisch einzurichten, aus Koffern und Kisten zu leben. Nun hatte sie Platz, ein paar haltbare Vorräte anzulegen und nicht bloss von einem Tag auf den andern einzukaufen. Viel konnte es nicht sein, denn sie besassen keinen Kühlschrank, und die Häuser hatten – wie in Australien üblich – keine Keller. Aber immerhin konnte man Gewürze und Konserven und mehr als nur eine einzige Dose Pulvermilch auf die Regale in der Küche stellen. Frische Milch gab es nicht, man trank Pulvermilch.

Sich neu einrichten, einen Garten anlegen, schnellwachsende, schattenspendende Büsche und an den Veranden Schlingplanzen setzen! Lisas früherer Arbeitseifer erwachte. Sie war eine Bauerntochter, und ihr Haus hatte Umschwung für einen Gemüsegarten. Das Umgraben der Erde war harte Arbeit, einer Erde, die zum allerersten Mal überhaupt bearbeitet wurde. Im Sommer war es zu heiss gewesen zum Anpflanzen, aber in den etwas milderen Temperaturen im Winter gedieh vielleicht das eine oder andere Gemüse, man musste es einfach versuchen. Milder hiess immer noch bei 25 bis 30°C, aber nachts wurde es angenehm frisch.

Stephan schrieb in einem Brief, es gebe hier zweierlei Leute, solche die sparsam lebten, um sich später in einem gemässigteren Klima im Süden eigenen Grund und Boden zu kaufen und vorwärts zu kommen, und solche, die ihr Geld für Luxusgüter wie Kühlschränke, Radios und dergleichen ausgaben. Dadurch würde zwar das Leben hier etwas bequemer, aber die kämen so nie auf einen grünen Zweig.

Es fehlte aber an gar vielem in dem Haus, mit Tisch und Stuhl und Matratze ohne irgend ein weiteres Möbelstück wird es einfach nicht wohnlich. Stephan kaufte Werkzeug und begann zu schreinern. Die leeren Sprengstoffkisten aus dem Bergwerk wurden den Arbeitern gratis abgegeben. Das war gutes Möbelholz. Die Männer halfen einander mit Rat und Tat, denn nicht jeder war ein perfekter Schreiner, und sie wetteiferten, wer das schönste Möbel herstelle. Bald stellte Stephan eine schöne Eckbank in die Wohnstube, dann folgten Pulte und weitere Bänke für die Kinder, Kommoden mit Schubladen, ein Vorratsschrank, Regale und Fussschemel, und sogar ein wahres Luxusmöbel, eine Frisierkommode für Lisa.

Stephans Kollegen und ihre Ehefrauen kamen her, um die schönen Möbelstücke zu bewundern, und sie beide besuchten deren Häuser zum selben Zweck. Lisa konnte auf diese Weise mit andern Einwandererfamilien Bekanntschaften schliessen, ohne den ersten Schritt tun zu müssen. Nun überwand sie ihre Schüchternheit und suchte den Kontakt mit ihren australischen Nachbarn Jim und Margaret. Deren zwei Söhne gingen mit Rosa in den Kindergarten, und Stephan traf Jim, der in der Asbestmine Mechaniker war, öfters während der Arbeit. Da hatten sie von Anfang an viele Gemeinsamkeiten, und es bahnte sich eine dauerhafte Freundschaft an. Ihnen konnte man Fragen stellen über das Leben in Australien. Jim war zwar nicht allwissend, aber das Geheimnis um das Kreuz des Südens wusste er zu lüften. Es war das Sternbild, mit dessen Hilfe man auf der südlichen Halbkugel die Himmelsrichtungen finden kann, so wie im Norden mit Hilfe des Grossen Wagens und des Polarsterns. Seit Lisa aus ihrem Schneckenhaus heraus gekrochen war, traf sie öfters auch Nancy, jene engelgleiche Frau, die ihr auf dem Flug von Perth beigestanden war. Die beiden Frauen wurden enge Freundinnen, hüteten einander die Kinder, wenn die eine oder andere zum Coiffeur oder Zahnarzt oder sonst irgendwohin ging. Lisa fühlte sich je länger je mehr aufgenommen in das gesellschaftliche Leben der Stadt.

Die neuen Freundschaften, die neuen Möbel, das wachsende Verstehen der englischen Sprache gaben den Einwanderern das Gefühl, man komme doch endlich vorwärts, und so wie es in den einzelnen Häusern zuging, so geschah es auch mit dem Bau der Stadt. Es war die Stimmung, auf die sich Lisa gefreut hatte: Dabei sein, wenn eine Stadt vollständig neu errichtet wird. Es gab zwar vorläufig noch nicht einmal 1000 Einwohner, zu Hause hätte man das als Dorf bezeichnet, doch war alles da, was eine Stadt ausmacht: Schule und Kindergarten, das grosse Fortescue Hotel mit Restaurant und einer hufeisenförmigen Bar, ein Versammlungslokal, Polizeiposten und Flugplatz, Kaufläden, Bank und Post. Spital und eine anglikanische Kirche waren im Bau, ein Freiluftkino mit Café war geplant, und weitere Strassenzüge waren vorbereitet für einen nächsten Stadtteil.

In den Zeitungen erschienen Reportagen über Wittenoom, der neuen Stadt in der Pilbara. Die Regierung des Staates Westaustralien förderte sie, denn sie war als Hauptstadt der Region vorgesehen. Es war mit ihrer ausgebauten Infrastruktur die mit Abstand grösste Ortschaft im Nordwesten, die einzige Stadt überhaupt, denn die Hafenorte Port Hedland oder Roebourne waren mit etwa 200 bis 300 Einwohnern unbedeutende Siedlungen mit veralteten Hafeneinrichtungen aus Zeiten des Goldfiebers.

Sparen, sparen, nichts als sparen, das ging nicht auf die Dauer. Aufbauen, sich entwickeln, ein Gefühl von Vorwärtskommen, das war alles schön und recht. Aber wie zeigte sich dieses Vorwärtskommen eigentlich? Bloss im wachsenden Bankkonto? Da sollte man sich doch auch hin und wieder etwas leisten können. Zum Beispiel war die Anschaffung eines Radios sicher nicht unnützer Luxus. Die Zeitungen brachten kaum Nachrichten von Europa, höchstens von England, das Lisa nicht interessierte. Die Nachrichten im Radio waren da aufschlussreicher, denn es war möglich, europäische Sender in deutscher Sprache zu empfangen. Der Schweizer Kurzwellensender Schwarzenburg brachte nicht nur Nachrichten, sondern auch volkstümliche Musik. Die Schweizer jodelten ähnlich wie die Vorarlberger, und die Nachrichten betrafen nicht nur die Schweiz, sondern ganz Europa.