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Staub und Sturm und neue Traditionen

Weihnachten in Staub und Hitze zu feiern, daran musste man sich im Norden gewöhnen. Lisa dachte nicht mehr daran, das Fest unbemerkt vorbeigehen zu lassen, wie sie das vor einem Jahr im Lager zuerst beabsichtigt hatte. Sie verdrängte die Heimwehgedanken und freute sich auf ihr erstes, eigenes Weihnachtsfest. Das Klima war eben so wie es war, daran gab es nichts zu ändern, weshalb also darüber jammern und Eis und Schnee nachtrauern? Der Duft eines Festessens würde nicht das Haus durchziehen, man würde draussen, unter dem Sternenhimmel feiern, Leckerbissen am offenen Feuer braten, und der Weihnachtsbaum würde elektrische Kerzen tragen, denn Wachskerzen bogen sich bei der Hitze, man hätte keine abbrennen können. Der Weihnachtsbaum gab bei der Vorbereitung viel zu lachen, denn er bestand aus einem Besenstiel, in den Stephan Löcher gebohrt und casuarina Zweige gesteckt hatte. Die casuarina waren schüttere Bäume, als ganzes ergaben sie keinen netten Christbaum. Die einzelnen Aeste aber sahen fast aus wie Tannenäste, wenn sie dicht genug standen. Da musste man halt der Natur ein bisschen nachhelfen. Auch die Nachbarn feierten draussen, hatten irgend ein einheimisches Gewächs geschmückt.

So ein wenig Sehnsucht nach der Familie zu Hause, das gehörte zu der Feststimmung, doch Lisa gab sich fröhlich, erzählte den Kindern von Schnee und Eis und von Weihnachtsfesten in der Heimat, als sie mit ihnen zusammen am 24. Dezember am Nachmittag die letzten Vorbereitungen traf. Plötzlich wurde es dunkel. Sie schaute erschrocken auf, da stürzte auch schon Stephan zur Türe herein:

„Schnell, schnell, alles abschliessen!“ Eine braun-rote Wand näherte sich von der Ebene her mit rasender Geschwindigkeit! Mit knapper Not gelang es, Türen und Fenster zu verriegeln, ehe ein Sturmwind das Haus rüttelte. Es wurde stockdunkel, und ein feiner Staub durchdrang alles. Da brach plötzlich alle zurück gedrängte und aufgestaute Sehnsucht nach der Geborgenheit in den vorarlbergischen Bergen hervor, als ob ein Staudamm breche. Lisa zog sich ins Schlafzimmer zurück und weinte sich aus, während der Sturm tobte und die Kinder vergnügt das nie gesehene Schauspiel eines Staubsturmes bewunderten.

Irgendwie wurde dann doch noch Weihnachten gefeiert, als der Sturm vorüber war. Wie Nebel schwebte der Staub stundenlang in der Luft, drang ins Haus hinein und in alle Ritzen. Lisa war wieder heiter, wollte weder den Kindern noch dem Mann, noch sich selber mit Selbstmitleid das Restchen Festfreude vergällen.

Der Enttäuschung Luft machen konnte sie sich, indem sie mit Freundinnen über den Staub schimpfte. Sie ärgerten sich täglich über den rötlichen Pilbara Staub, die zusätzliche Staubmasse vom Sturm hatte ihnen gerade noch gefehlt. Bei jedem Auto, das vorbeifuhr, wirbelten rötliche Wolken auf, bei jedem Luftzug drang Staub zwischen und in die Häuser. Ständig musste man Staub wischen, mit einem einzigen Grossputz wie zu Hause im Frühling wäre die Wohnung längst in Staub und Dreck versunken. Was sollte sie sich grämen, es würde ohnehin das einzige Weihnachtsfest hier im heissen Norden sein. Im Oktober des nächsten Jahres wären Stephans zwei Pflichtjahre vorbei, sie würden noch vor der grossen Hitze fortziehen. Schon jetzt hatten sie etwas Erspartes, bis dann würde es für irgend einen Neuanfang reichen, wenn sie weiterhin sparsam lebten.

*

Preise stiegen, Löhne stiegen – was man sich jetzt ersparte, hatte vielleicht nächstes Jahr gar nicht mehr so viel wert. Lisa machte sich in einem Brief an die Eltern ihre Gedanken über die Auswirkungen einer solchen Entwicklung:

„....Viele sagen, dass hier eine Wirtschaftskrise entstehen könnte. Doch viel kann in diesem Land des Ueberflusses nicht passieren. Vorher kann man sich noch immer etwas Grosses kaufen, denn hier geht alles mit Abzahlung und auf diese Art würden die Raten dann auch leichter zu zahlen sein....“

Man müsste sich Gegenstände anschaffen, die ihren Wert behielten. Nicht gerade auf Abzahlung, das ging gegen ihr Prinzip. Stephan kaufte Lisa eine Nähmaschine, eine moderne Tretmaschine Marke Singer, die sich versenken liess in ein schönes, dunkelbraunes Holzmöbel. Das war nicht Luxus und Geldverschwendung, das war eine nützliche Anschaffung. Ein weiterer nützlicher Kauf war der Kerosinkühlschrank, der ein paar Wochen später folgte, und ganz sicher war auch die Waschmaschine nicht blosser Luxus für eine fünfköpfige Familie.

Gab es nicht zweierlei Leute, solche, die sparten, und solche, die das Geld für Luxusgegenstände ausgaben, um sich das Leben angenehmer zu machen? Man gab es natürlich mit Verstand aus und kaufte Wertgegenstände.

Uebertriebenes Sparen war doch wohl sinnlos, in ein paar Jahren würde eine Heimreise nicht mehr unerschwinglich teuer sein, wie Lisa ihrer Familie in der Heimat erklärte:

„....Wenn wir hier Staatsbürger sind, wird es leicht sein, nach Europa zu fahren. Als Staatsbürger des englischen Commonwealth können wir zum halben Preis nach England fahren und von dort ist es nach Oesterreich nicht mehr weit. Also wäre es für uns besser, wenn Australien kein selbständiger Staat wird und das englische Königreich noch nicht zerfällt....“

Und wieder ein Sommer ohne Regen. Einzelne Gewitter anfangs Januar, die eine angenehm kühle Nacht und einen staubfreien Tag bewirkten, so wie am Tage ihrer Ankunft, als alles frisch und paradiesisch erschienen war. Und sofort wieder Hitze, Trockenheit, Staub – den Wetterbericht mit seinem ewigen bright and mild mochte man gar nicht mehr anhören. Konnte man Temperaturen von über 40°C überhaupt als „mild“ bezeichnen? Aber auch der heisseste Sommer nimmt einmal ein Ende, und nach Ostern wurde das Leben wieder angenehm.

Im Laufe des Winters, als es Zeit wurde, den Wegzug im Oktober zu planen, kamen Stephan und Lisa überein, noch ein paar Jahre in Wittenoom auszuharren. Sie hatten nicht genug erspart, um nach Ablauf von Stephans Pflichtzeit im Süden etwas Neues zu beginnen.

„Etwas Neues im Süden“, ein vages Ziel, auf das viele Arbeiter hinarbeiteten. Worin das neue Eigene bestehen sollte, konnte sich Lisa nicht genau vorstellen. Vielleicht ein Elektrogeschäft, wo sie Laden und Buchhaltung besorgen würde, während Stephan auf Montage ging? ein Gemüseladen? eine Wäscherei? Dem Träumen war keine Grenze gesetzt. Sie war einerseits ein wenig enttäuscht, hatte damit gerechnet, Wittenoom zu verlassen. Andererseits war sie nicht darauf erpicht, ihr sicheres Haus und das regelmässige Einkommen aufzugeben und in die Ungewissheit zu ziehen. Wenn sie es sich genau überlegte, war sie sogar froh darüber, sich hier für ein paar Jahre ein wirkliches Zuhause zu schaffen, nicht mehr alles nur provisorisch einzurichten. Als eine ganze Schlafzimmerausstattung von Wegziehenden billig zu haben war, griff sie zu, nannte zum ersten Mal im Leben ein richtiges Schlafzimmer ihr eigen. Dann veranlasste sie Stephan, ihr ein Hühnerhaus zu zimmern. Sie war eine Bauerntochter, sie wusste Bescheid über Hühnerhaltung.

Jetzt endlich war alles bestens eingerichtet, das Haus, der Garten, der Hühnerhof. Nun konnte man ernsthaft mit Sparen beginnen, das Bankkonto wuchs zusehends, man kam vorwärts!

War man nicht auf ein etwas besseres Vehikel angewiesen als das kleine Motorrad? Natürlich, ohne Auto kann man nicht leben an einem Ort wie Wittenoom, gänzlich von der übrigen Welt abgeschnitten, ohne öffentlichen Verkehr ausser dem Flugzeug. Ein Auto musste her, schliesslich gehörte man zu den best verdienenden Einwanderern.

Lisa wusste sich vor Freude kaum zu fassen. Kleine Leute wie sie es waren, leisteten sich ein Auto! So etwas hätte sie sich nie träumen lassen. Es war keine Staatskarosse, sondern ein Gebrauchtwagen, eine ute, wie ihn die Leute aus den cattle stations, die in Wittenoom einkauften, besassen. Ein Nutzfahrzeug war das richtige für das australische outback.

Nun konnte man am Sonntag etwas tiefer in das Tal hinein fahren, als das in zwei Fahrten mit dem kleinen Moped möglich gewesen war. Vorerst aber wollten sie einen Ausflug in den unendlichen bush machen, als Abwechslung zum sonstigen sonntäglichen Badebetrieb im Tal. Die Möglichkeiten im bush waren allerdings beschränkt, es gab nur eine einzige Strasse, in der einen Richtung dem Gebirge entlang, durch die Rio Tinto Schlucht und nach Westen, in der andern Richtung ebenfalls dem Gebirge entlang und dann nach Norden. Abwechslungsreich war die Fahrt keineswegs. Die Strasse nicht asphaltiert und voller Schlaglöcher, staubig, das Land flach, monoton; braunes, verdorrtes Gras, struppiges Gebüsch, magere Gehölze mit niedrigen Bäumen und wieder weite Strecken gänzlich baumlos, die Berge hinter dem Horizont versunken. Es hatte keinen Sinn weiter zu fahren. Stephan machte Halt bei einer Baumgruppe. Lustlos assen sie die mitgebrachten Brote und tranken den lauwarmen Tee aus den Feldflaschen. Marianne und Rosa zankten sich um irgend etwas, einen Stein, den die eine fand und den die andere auch haben wollte, oder um ein Stück Baumrinde. Gretele weinte, weil ihr die gereizte Stimmung nicht behagte, und Lisa war so enttäuscht, dass sie es nicht fertig brachte, den Kindern eine Geschichte zu erzählen, um sie vom Streiten abzulenken. Schlecht gelaunt stiegen sie wieder ein, was wenigstens die quengelnden Kinder etwas beruhigte, die doch lieber im Auto fahren als im dünnen Schatten magerer Bäume trockene Brote mampfen wollten. Die erwartungsvolle Stimmung vom Morgen war verflogen, missmutig starrte Lisa geradeaus auf die staubige Strasse. Da sah sie unerwartet ein mausähnliches Wesen auf zwei Beinen wie ein Känguru vor dem Auto durch über die Strasse hüpfen. So ein winziges Ding konnte hier in der Trockenheit der Einöde leben, munter und behende vorwärts hüpfen. Es erschien Lisa wie ein Wunder, dass in der wüstenähnlichen Landschaft ein so zerbrechlich anmutendes Mäuschen existieren konnte. Das war sensationell! Der bush war nicht die Einöde ohne Leben. Es gab Ueberraschungen, man musste nur offen sein und sie wahrnehmen.

Trotz beschränkter Ausflugsmöglichkeiten brachte die unverwüstliche ute viel Erleichterung. Sie stand Lisa, die schnell Auto fahren lernte, die ganze Woche über zur Verfügung, da die Arbeiter mit dem Bus an ihre Arbeitsplätze gefahren wurden. Am Sonntag aber sass Stephan am Steuer. Sie erforschten die Yampire Gorge, das Paralleltal, und sie fuhren mit ihrem geländegängigen Fahrzeug auf halsbrecherischem Weg auf das Hochplateau hinauf in die Berge. Vor allem aber durchstöberten sie die Seitentäler des Wittenoomtales, in welche schlechte, holprige Wege führten. Besonders das erste Seitental westlich, das Lisa mit den Kindern auch werktags an schulfreien Tagen aufsuchte, wurde zu ihrem Lieblingsort. Uralte river red gums standen hinten im Tal an einer Quelle, die nie versiegte; in den Baumkronen tummelten sich während der Blüte des Eukalyptus Schwärme von vielfarbig bunten, kleinen Papageien, den lorikeets.

Lisa bedauerte es, als sie vernahm, dass die Bergbaufirma gerade zu oberst in diesem lieblichen Tal eine zweite Mine eröffnen wollte, die Colonial Mine. Bis jetzt war Asbest nur im hintersten Teil des Haupttales, hinter der Siedlung der Kaderleute, abgebaut worden. Dort stand auch die Asbestmühle, wo das Erz gemahlen und der daraus gewonnene reine Asbest in Säcke abgefüllt wurde. Bereits begann die Firma mit dem Bau einer neuen Strasse, Verkehrs- und Baulärm erfüllten das Tal. Den Werkverkehr hätte man noch hingenommen: aber was Lisa in den folgenden Jahren mit ansehen musste, überstieg ihre Vorstellungskraft. In kürzester Zeit war das ganze Tal zerstört. Die beim Abbau anfallende lose Gesteinsmasse wurde die Hänge hinunter in die Talsohle gekippt, zusammen mit Eisenabfall, Oel, Dreck. Später wurde bei der Mine oben eine Asbestmühle gebaut, und da wurden die Erzabfälle, die tailings, ebenfalls einfach die Hänge hinuntergeleert. Die river red gums standen tief im Unrat und starben, die Quelle war verschüttet, die Tümpel von Oel verschmutzt. Aber in der Stadt Wittenoom ging es vorwärts, ständig wurden zusätzliche Arbeiter angestellt, wurden reihenweise Häuser gebaut für ihre Familien.

Anfangs Sommer zweifelte Lisa daran, ob der Entschluss, vorläufig in Wittenoom zu bleiben, wirklich vernünftig war. Sie sorgte sich um die Gesundheit ihrer Töchter, ihre Sorge betraf einzig das ungesunde Klima. Gegenwärtig waren alle drei Kinder gesund und wohlauf, aber vielleicht könnten doch die grosse Hitze und der Staub in späteren Jahren ihre Entwicklung beeinträchtigen. Zudem war sie von Heimweh geplagt, sehnte sich nach der klaren sauberen Luft bei Schnee und Kälte in der Heimat, und noch vielmehr nach Vater und Mutter und Geschwistern. Wenn sie vom Flugplatz her den Lärm eines abfliegenden Flugzeugs hörte, liess sie die Arbeit liegen, trat vors Haus hinaus, sah die Maschine nach Süden Richtung Perth abbiegen und wünschte sehnlichst, einmal mitzufliegen, Staub und Hitze hinter sich zu lassen. Es brachte ihr keinen Trost, dem Flugzeug nachzuschauen, und doch tat sie es immer wieder und malte sich aus, wie es wäre, wenn auch sie einmal abreisen könnte. Die Aussicht auf die kommenden Monate mit dem ewig gleichen Wetterbericht „schön und mild“ bedrückte sie. Nur selten würde ein leichtes Sommergewitter eine kurze Abkühlung bringen, eine einzelne etwas weniger heisse Nacht einen tiefen erholsamen Schlaf, aus dem man nicht schweissnass erwachte.

Der 1. Januar brachte gegen Abend einen derartigen Sommerregen. Man ging früh zu Bett, erschöpft von den vorhergehenden glühend heissen Tagen und schlaflosen Nächten. Um zwei Uhr wurden alle abrupt geweckt, ein fürchterlicher Sturm brüllte, die Kinder schrien vor Angst, alle waren auf den Beinen. Nun wollten sie auf die Toilette, die nur von der Veranda aus zugänglich war. Es war nicht möglich, die Verandatüre zu öffnen, sie wurde vom Sturmwind zugepresst, als wäre sie fest verrammelt. Das war nicht so schlimm, man konnte sich für seine Notdurft mit einem Eimer behelfen. Schlimm war das Aechzen und Zittern des Hauses, besonders auch des Daches. Würde der Sturm es wegtragen, würden herumfliegende Aeste es beschädigen? Vorläufig hielt es dem herabstürzenden Wasser stand. Das war kein prasselnder Regen, das war ein Wasserfall, der alles zermalmen konnte.

Im Morgengrauen legte sich der Sturm, die Menschen wagten sich aus ihren Häusern hinaus ins Freie. Es war erst unheimlich still. Dann betörte der Geruch von Wasser ihre Sinne, sie lachten und schrien, die Kinder planschten in tiefen Pfützen. Der Garten war verwüstet. Und das Hühnerhaus? Der Sturm hatte das Dach weggetragen, die Hennen kauerten eng aneinander gedrückt und tropfnass an der Wand, aber keine fehlte. Es sei ein Zyklon, wusste Nachbar Jim zu erklären, und Lisa und Stephan waren ganz stolz, bei einem Zyklon dabei zu sein. Sie hatten von katastrophalen Wirbelstürmen gelesen aber nie erwartet, so etwas selber zu erleben. Welch eine Sensation! Aber es war noch gar nicht zu Ende, der Wind erhob sich wieder, alle flüchteten sich in die Häuser, man verrammelte Fenster und Türen, und noch einmal brach der Sturm los, noch lauter brüllend als zuvor.

Die von der Regierung gebauten Häuser waren zyklonsicher. In der Stadt gab es wenig Schäden ausser verwüsteten Gärten. Menschen waren keine verletzt. Ein Zyklon war also gar keine Katastrophe. Im Gegenteil, man sah ihm mit Spannung und Freude entgegen, denn er brachte Regen. Seltsamerweise war es nun für Jahre vorbei mit der eintönigen Wetterprognose, der Wetterablauf hatte sich überraschenderweise verändert. Jeder Sommer brachte Wirbelstürme und Regen, die Menschen in der Stadt wurden lebhafter und fröhlicher. Jetzt verstanden sie auch, warum die heisse Jahreszeit im Norden the wet genannt wird.

Nach jenem ersten Sturm war es für die Arbeiter Zeit, mit dem Bus an die Arbeit zu fahren. Stephan kam sofort zurück. Keine Arbeit heute, die Strasse sei überschwemmt, der Bus komme nicht durch die Furt im Fluss, es sei Hochwasser. Ein reissender Fluss, braunes, gurgelndes Wasser! Das war eine zweite Sensation! Am Talausgang war der Joffre Creek 100 m breit, man traute seinen Augen kaum. In späteren Jahren sollte das ein trauriger Anblick werden, denn da war alles abgelagert, was der Bach aus dem Tal der Colonial Mine mitgerissen hatte: Erzabfälle, Eisenteile, der ganze Unrat, der nachlässig in das Tal hinunter gekippt worden war, blieb hier liegen. Später wurden sogar die mächtigen river red gums, die seit Jahrhunderten den Talausgang beherrscht hatten, Opfer der Umweltzerstörung. Ihre Stämme und Wurzeln wurden von Eisenteilen gerammt und verletzt, die Bäume standen nicht mehr sicher, wurden bei weiteren Hochwassern gänzlich entwurzelt und blieben tot liegen.

Im Flussbett sank das Wasser schon am folgenden Tag, man konnte den Fluss überqueren und ins Tal fahren. Alle Tümpel und Seelein hatten sich aufgefüllt. Man sass an ihren Ufern und liess die Füsse im braunen Wasser baumeln. Nach zwei Tagen war das Wasser kristallklar, und ein richtiger Badebetrieb begann. Jede Schulklasse erstritt und beanspruchte für sich einen Weiher, die jüngsten Kinder den nächst gelegenen, der nicht tief war, die grösseren die Seen weiter hinten im Tal. Nach der Schule radelten die Kinder zu ihrem See und kehrten erst zum Abendbrot nach Hause zurück, hungrig wie ein Schwarm Heuschrecken.

*

Die Regierung und die ABA erstellten nur die notwendigste Infrastruktur. Für zusätzliche Annehmlichkeiten hatte man selber zu sorgen. Wollte man sich amüsieren, musste man sich selber Unterhaltung verschaffen. War jemand in Not, konnte man keine Hilfe von auswärts erwarten, denn die nächsten grösseren Ortschaften waren hunderte von Kilometer entfernt. Es gab noch keinen nationalen Gesundheitsdienst, keine soziale Sicherheit ausser der Arbeitslosenversicherung. Wenn der Verdienst des Vaters wegen Krankheit ausfiel, stand die Familie vor dem Nichts. Da beschlossen die Einwohner, sich selber zu helfen und gründeten einen Hilfsfonds, wobei sie entdeckten, dass sich Hilfe und Unterhaltung sehr gut verbinden liessen: Verkaufsbazare, Tanzereien, Theater, lokale Lotterien ermöglichten mit ihren Gewinnen die Aeuffnung des Fonds. Verschiedenste Ideen aus vielen Ländern kamen zusammen, und was Geld für einen allgemeinen Zweck versprach, wurde unternommen. An einem Fest sass das Geld locker, obschon sonst jeder in erster Linie für sich selber schaute, möglichst viel verdienen und dann in den milderen Süden ziehen wollte. Auch Lisa war das eigene Vorwärtskommen das wichtigste. Trotzdem begann sie sich für die Belange der Stadt zu interessieren. Nicht dass sie von sich aus etwas auf die Beine zu stellen wagte, dazu war sie zu schüchtern, und ihr fiel das englisch Sprechen immer noch schwer. Sie las zwar englische Zeitungen, sie verstand die Sendungen im Radio, hatte jedoch Hemmungen, aus eigenem Antrieb zu sprechen. Sie half mit, wenn etwas zu helfen war, backte Kuchen für den Kirchenbazar, nähte Kinderkleider für einen Verkauf, betreute Verkaufsstände.

Nach und nach entstanden in der noch im Aufbau begriffenen Stadt eigene Traditionen. Lisa stammte aus einer traditionsbewussten Gemeinde, sie konnte sich ein Leben ohne alljährlich wiederkehrende Anlässe nicht denken. Gewiss wurden in Wittenoom die kirchlichen Feste gefeiert, die das Jahr, die Zeit und damit das Leben überhaupt in überblickbare Abschnitte gliederten. Die Kirche vermittelte auch in der Fremde ein Gefühl von Vertrautheit, das die Einwanderer nicht hätten missen mögen, waren sie nun regelmässige Kirchgänger oder nicht. Um sich heimisch zu fühlen brauchte es auch lokale, alljährlich wiederkehrende Veranstaltungen, auf die man sich vorbereitete, auf die man sich jedes Jahr wieder freute. Fühlte man sich nicht viel sicherer und einer Gemeinschaft zugehörig, wenn man Vorkommnisse in der Familie mit solchen im regelmässigen Jahresablauf verband? Es ist nicht dasselbe, wenn es heisst „er besuchte uns im August“ oder „er besuchte uns zwei Wochen vor dem grossen Pferderennen,“ oder wenn man sagt „sie verlobten sich drei Tage nach dem Kirchenbazar“. Diese Anlässe gibt es zwar anderswo auch, aber zu einem bestimmten Zeitpunkt sind sie an einen bestimmten Ort gebunden und finden nur gerade dort und sonst nirgends statt. Damit sind auch die daran teilnehmenden Menschen an einen Ort gebunden, sind dort zu Hause, fühlen sich der Gemeinschaft zugehörig.

Auf der neuen Pferderennbahn fanden die alljährlichen Rennen statt, ein berühmter Grossanlass, zu dem Leute aus der ganzen Pilbara und weit darüber hinaus herbei strömten. Ein Teil der Bewohner, die Geld gesammelt hatten, wünschten zwar einen Fussballplatz, aber die Pferdeliebhaber – oder eher die vielen, die wetten und spielen wollten – waren in dieser Sache in der Ueberzahl. Hunderte von Begeisterten fuhren hunderte von Kilometer nach Wittenoom an die Rennen. Autos waren der Strasse entlang bis weit in das Tal hinein parkiert, und wer in seinem Haus Platz schaffen konnte, vermietete ein Zimmer an Besucher. Lisa konnte dem Rennbetrieb nicht viel abgewinnen. Aber der ganze Anlass war nicht nur ein Pferderennen, sondern umfasste mit Festlichkeiten die ganze Stadt. Sie berichtete in einem Brief darüber nach Hause:

„....Morgen beginnen die Pferderennen! Das ist bei den Australiern das grösste Vergnügen des Jahres. Die Gäule werden morgen Samstag und am Montag noch einmal laufen. Es ist hier so etwas wie bei Euch die Kilbe. Die Kinder sind aus dem Häuschen, ich werde wohl mit ihnen ein bisschen hinuntergehen müssen zum Karussell. Das Rennen interessiert uns ja nicht....“

Mehr Interesse hatte die ganze Familie an dem alljährlichen Ausflug an das Intersport Meeting in Port Hedland. Die Bergbaugesellschaft stellte einen Bus für die Reise dorthin zur Verfügung, der für die 260 km auf der Naturstrasse fünf Stunden brauchte. Lisa fuhr gerne mit. Es ging ihr nicht nur um die Sportanlässe, an denen die Kinder teilnahmen, sondern vielmehr darum, ihren Töchtern eine anders gebaute Stadt zeigen zu können, mit alten Häusern und Strassen und mit einer gemischten Bevölkerung von Aborigines, Chinesen, Japanern und andern für sie aussergewöhnlichen Menschen. In Wittenoom lebte zwar auch eine gemischte Gesellschaft, alle europäischen Nationen waren vertreten, aber man sah keine Farbigen. Im Bergbau in Wittenoom, sowie in den Dienstleistungsbetrieben wurden nur Europäer oder weisse Australier beschäftigt. Es war wohl die einzige „rein weisse“ Stadt im ganzen Nordwesten des Kontinentes.

„Das sind die von Wittenoom“, sagten die Leute bewundernd, wenn die Wittenoomer vorbei stolzierten. Die bildeten sich nicht wenig ein auf den Ruhm ihrer Stadt, die die schönste und mit ihren bald zweitausend Einwohnern die grösste der ganzen Pilbara war. Port Hedland war dagegen ein heruntergekommener Hafenort mit kaum über 300 Einwohnern, doch das merkte man nicht im Trubel des Sportfestes.