Kein
Ort für Kinder
An einem Sonntag schlenderte
Nancy mit ihrer Tochter Cathy langsam den staubigen Wegen der einst stolzen
Kleinstadt entlang, erzählte unterwegs, wer wo gewohnt, wo die Häuser
einst gestanden.
Dort, auf diesem Platz
auf der andern Seite der Hauptstrasse, war der allererste Stadtteil. Da wohnten
die Grosseltern, als sie neu hier ankamen.
Da ist ja nichts als spinifex. Hast du auch dort gewohnt?
Nur als ich klein war,
dann wurden die Häuser abgerissen. Damals war überhaupt alles ganz
anders. An allen Strassen standen Häuser, es gab eine Bäckerei und
einen Metzger, und der Laden war viel grösser als unser Laden jetzt.
Da hast du aber viel
Arbeit gehabt.
Aber nein. Ich war noch
ein Kind und ging in die Schule wie du jetzt. Natürlich nicht am Rundfunk,
sondern mit vielen Kindern zusammen in ein Schulhaus.
Das möchte ich
nicht. Mir gefällt es besser in der School of the Air.
Die beiden schlenderten
weiter.
Hier stand unser Schulhaus.
Nancy deutete auf rötliche, halb zerbrochene Bodenfliesen, schritt dann
langsam mitten durch das grosse Geviert. Ungefähr hier, etwas neben
der Mitte, bin ich gesessen, und die Lehrerin stand ganz vorne.
Cathy war nicht mehr
interessiert. Sie hatte genug davon, leere Plätze anzuschauen und erzählt
zu bekommen, was dort einmal war. Sie kehrten nach Hause zurück.
Der Spaziergang mit den
Erinnerungen an alte Zeiten war keine gute Idee gewesen. Es war fast unheimlich
still, eine Stille, die Nancy nicht mehr paradiesisch erschien. Seit noch
mehr Leute Wittenoom verlassen hatten, gingen Laden und Tankstelle schlecht
und warfen kaum genug ab, um die Rechnungen zu bezahlen. Sie hatte sich hier
zum Bleiben einrichten wollen, aber das wurde immer schwieriger. Würde
sie den defizitären Laden noch so lange über Wasser halten können,
bis es allgemein wieder bergauf ging?
Auf dem Spaziergang beim
Plaudern mit der kleinen Cathy war sich Nancy bewusst geworden, dass sie den
Glauben an einen Aufschwung verloren hatte. Sie fühlte sich verraten
von ihrem Heimatort, auf dessen Sicherheit sie gebaut hatte. Nicht einmal
Ruinen blieben übrig. Halme stachen zwischen den Fliesen des Schulhausbodens
empor, in wenigen Jahren würde man die Standorte der Häuser nicht
mehr finden. Nur die Ruine des Spitals stand noch. Dort spukte es. Es sei
der Geist des verstorbenen Arztes, sagten die Leute. Zu seinen Lebzeiten hatte
er mit ganzer Kraft die Entwicklung der Stadt vorangetrieben, die Hamersley
Berge erforscht und sich für deren Erschliessung eingesetzt. Weil sein
Lebenswerk zerstört wurde, finde er keine Ruhe.
Dan, der Vater ihres
Kindes, konnte sich knapp über Wasser halten mit seinen Fahrten für
Touristen und mit dem Wohnwagen- und Campingplatz. Für Frau und Tochter
reichte es nicht, er zog sich immer mehr von ihnen zurück. Wittenoom
bot keine Lebensgrundlage für eine Familie. Konnte sie an einem solchen
Ort ihre Tochter aufwachsen lassen? Sicher war es für Cathy besser, in
eine Stadt zu ziehen, wo sie lernte, sich in der Schule mit andern Kindern
auseinanderzusetzen.
Sie musste mit den Eltern
reden, ihnen erklären, dass sie wegziehen wollte mit Cathy. Sie würde
behutsam vorgehen, um Mutter nicht zu erschrecken. Diese hatte sich in letzter
Zeit resigniert nur noch von Vaters Optimismus treiben lassen, schien ihre
frühere Energie und Lebensfreude verloren zu haben. Nancy fürchtete,
dass eine Trennung vom Grosskind ein schwerer Schlag sein könnte.
Als sie vorsichtig von
ihren Plänen Andeutungen machte, merkte sie, dass Mutter längst
wusste, wie es um den Laden stand. Nun waren es die Eltern, die ihr zuredeten,
nicht mehr länger zu warten. Vater half ihr, von der Regierung eine annehmbare
Entschädigung für Laden und Haus einzuhandeln, und Mutter half mit
neu erwachter Energie bei der Liquidation und beim Suchen, Kaufen und Einziehen
in ein Haus in einem Ferienort an der Westküste.
Die Mutter sagte, sie
würden nie und nimmer ihr Häusle verlassen, ein Umzug sei schrecklich.
Nancy schien das wie ein Rückzugsgefecht zu sein. Vaters Kampf um eine
Stadt, die seit langem dem Untergang geweiht war, grenzte an Sturheit. Bis
jetzt war es ihm zwar immer wieder gelungen, der Regierung ein kleines Entgegenkommen
abzutrotzen, und Nancy selber hatte ihn mit vielen andern Wittenoomern jahrelang
unterstützt. Jetzt war es offensichtlich, dass sein zur Schau gestellter
Optimismus nicht mehr lange vorhielte.
Die Eltern Liz und Steve
waren müde.
*
Wenn sie Wittenoom zusperren,
dann können sie gleich die ganze Pilbara zusperren. Steve versprach
sich zu viel von dem neuen Bericht und seinen Schlussfolgerungen. Er vermochte
die wahren Beweggründe der Regierung nicht zu durchschauen.
Die Menge von Asbestfasern
in der Luft in Wittenoom war äusserst gering, die Luft allgemein überhaupt
gesund und arm an Schadstoffen. In den Eisenbaustädten und in der Umgebung
der Eisenerzminen war die Konzentration unsichtbarer Asbestfasern in der Atemluft
weit höher. Das war Anlass zu grosser Beunruhigung. Die Bergarbeiter
waren einem versteckten Risiko ausgesetzt, obschon sie in modernen Bergwerken
nicht mehr unter sichtbarer Staubentwicklung litten.
Es ging nicht um Asbest
in Wittenoom, und es ging nicht um die Gesundheit der heutigen Wittenoomer.
Es ging ums Geschäft, war schon immer ums Geschäft gegangen. Die
Sorge um die Gesundheit war immer nur der Vorwand gewesen, um die Wittenoomer
zur Aufgabe ihrer Stadt zu bewegen. Der Eisenerzabbau und damit die Entwicklung
der Pilbara durften nicht gefährdet werden wegen dem in dieser Gegend
vielerorts neben dem Eisen in kaum wahrnehmbaren Mengen vorkommenden Asbest.
Der Aufbau war in vollem Gang, Eisenbahnlinien zu neu errichteten Hafenanlagen
waren gelegt, und Städte waren wegen des Eisenerzes erbaut, die bereits
viel mehr Einwohner zählten als Wittenoom in der besten Zeit. Wenn in
zwanzig oder dreissig Jahren ein paar ehemalige Eisenbergarbeiter an Mesotheliom
erkranken sollten, würde sich niemand mehr an Asbest erinnern, wenn die
Asbeststadt verschwunden war.
Wittenoom musste man
vergessen.
Der Flugplatz wurde geschlossen
nicht nur geschlossen, sondern verboten. Er war ein Meter tief mit tailings aus der Asbestmühle unterbaut. Deshalb war es der beste
Flugplatz der Pilbara gewesen, auch bei Regenwetter benutzbar, wenn die Flugpisten
der cattle stations im Morast versanken. Die fliegenden Aerzte durften
nicht mehr landen. Die Lebensader war abgeschnitten.
*
Im Oktober zogen sie
ein in ihr neues Haus im Süden. Es ist kleiner als das Häusle
in Wittenoom, aber dennoch gross genug, um Familie und Freunde zu empfangen.
Das Ortszentrum ist nur drei Kilometer entfernt, mit mehreren Läden,
Post, Bank, Aerzten, einer Apotheke für Leute aus dem outback
himmlisch.
Auspacken, Einräumen,
schnell einen kurzen Brief ins Ländle:
Jetzt sind wir hier,
gottseidank. Die Reise dauerte fünf Tage mit dem Lastwagen mit Anhänger.
Wir blieben zwei Tage in Meekatharrah stecken, weil der Anhänger zusammenbrach
unter der schweren Last und geflickt werden musste.
Wir werden uns mit der
Zeit schon eingewöhnen, es ist fast so schön wie im Tal von Wittenoom.
Man hört nachts, wenn alles ruhig ist, das Meer rauschen. Im bush blühen Blumen in allen Farben, Blumenteppiche rings ums Haus herum. Ein
Märchenland.
Asbest
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