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Lethargie – und ein plötzliches Erwachen

Der Optimismus, die Freude an dem eigenen Haus und Fortkommen, die zuversichtlichen Briefe, die Liz immer noch nach Hause schickte, deckten sich kaum mehr mit der Wirklichkeit. Aus aller Welt kamen immer mehr Meldungen über die Gefahren von Asbest. In den USA und Kanada, in England und im übrigen Europa erkrankten Menschen an Mesotheliom, dem Krebs des Brustfells, und zwar nicht nur ehemalige Grubenarbeiter, sondern auch Angestellte, die zu irgend einer Zeit Jahrzehnte vorher in einer Asbest verarbeitenden Industrie beschäftigt gewesen waren. Bis weit in die 70er Jahre wurde Asbest ohne die geringsten Schutzmassnahmen verarbeitet. Gewerkschaften und politische Parteien schalteten sich ein, redeten von einer Asbestumweltkatastrophe. Firmen wurden haftbar gemacht, Prozesse geführt, auch die CSR kam nicht mehr ungeschoren davon. Es dauerte noch einmal ein Jahrzehnt, bis die Versicherungen – in der Schweiz z.B. die SUVA – die auf Asbest zurückgeführte Krankheit Mesotheliom als Berufskrankheit anerkannten und Krankheitskosten ehemaliger Asbestarbeiter übernahmen.

Diese Entwicklung ging das heutige Wittenoom nach Ansicht der Bevölkerung gar nichts an. In ihren Augen war das blosse Hysterie. Aber vielleicht waren die Gründe, dass die Hauptstadt der Pilbara plötzlich nach Onslow an die Küste verlegt und die Regionalgrenzen anders gezogen wurden, doch in der „Asbesthysterie“ im Ausland zu suchen.

Nicht mehr Regionalhauptstadt zu sein war für die Wittenoomer ein empörender Prestigeverlust. Sie ärgerten sich auch, wenn man ihnen erzählte, wie die Arbeiter in den neuen Städten verhätschelt wurden, wieviel Geld die Regierung und die Bergbaufirmen für Luxus dort ausgaben. Die Häuser der Bergarbeiter der Eisenerzminen hatten von allem Anfang an Klimaanlagen und Kühlschränke. Sport- und Fussballplätze, Schwimmbäder und Parkanlagen wurden erbaut, ohne dass die Bewohner selber für solche Einrichtungen etwas beitragen mussten. Für Dienstleistungen in der Stadt Wittenoom und für deren touristische Weiterentwicklung wurde kein cent locker gemacht. Da war doch etwas faul, so wie von allem Anfang an etwas nicht in Ordnung gewesen war, als die ABA im Bergwerk praktisch nur Ausländer angestellt hatte.

Wenn jetzt Liz mit Charles an das Intersport meeting fuhr, dann geschah es nicht, um dem Knaben eine Stadt mit alten Häusern zu zeigen, wie es bei ihren Töchtern der Fall gewesen war, sondern eine intakte Stadt, wo es neue Stadtteile ohne Strassenzüge mit leer stehenden, baufälligen Häusern und verdorrten Gärten gab. Wenn die Gruppe aus Wittenoom bescheiden vorbeikam, hiess es herablassend: „Ach, das sind die armen Tröpfe von Wittenoom!“ So weit war es mit den stolzen Bewohnern aus der einst schönsten Stadt der Pilbara gekommen!

In der „Wasserfabrik“ traten mit der Zeit Schwierigkeiten auf. Die alten Maschinen bekamen Mucken, mit denen einzig Steve umzugehen wusste, der alte Laster war pannenanfällig und die Konkurrenz auswärtiger Wässer wurde aufdringlich. Mit Steves Gesundheit haperte es, seine Hüftgelenke schmerzten beim Tragen der schweren Holzharassen, und er wagte es nicht mehr, wie früher schwungvoll von der Ladefläche des Lasters oder von Laderampen herunter zu springen. Dennoch wurstelten Liz und Steve mit halber Kraft weiter, redeten davon, das Geschäft aufzugeben und konnten sich doch zu nichts entschliessen. Es war eine Misere, die der Trübsal in Wittenoom entsprach.

Eine allgemeine Lethargie hatte sich der Menschen bemächtigt. Niemand war bedrückt oder traurig, aber auch niemand aufmüpfig genug, um etwas Neues zu wagen, um die Leute aus dem Schlaf zu wecken. Aufbruchstimmung und Tatendurst waren verflogen. Man hoffte vage auf irgend eine Verbesserung. Hatte nicht der grosse Sohn der Pilbara, Lang Hancock von der Mulga Downs Station versprochen, er werde mit dem Abbau von Eisenerz beginnen? Er war es gewesen, der seinerzeit den Asbestabbau ins Rollen gebracht hatte. Durch irgend ein Wunder würde er seiner Stadt wieder auf die Beine helfen.

Eines Tages lud Lang Hancock tatsächlich die Bevölkerung in den Kinogarten ein. Er wolle ihnen seine Pläne eröffnen. Traf jetzt das lang ersehnte Wunder ein? Würde die Stadt schon bald zu neuem Leben erwachen?

Alles was Hancock sagte, bestätigte pessimistische Gerüchte. Die Regierung erteilte ihm die Konzession nicht, um im Wittenoomtal Eisenerz zu schürfen. Das Erz wäre von hochwertiger Qualität, lag aber unter der Asbestschicht. Deshalb könne die Regierung keinerlei Bergbau dort zulassen.

Niemand wollte einsehen, dass ein Abbau des Eisens alle Gefahren von in der Luft schwebenden Asbestfasern herauf beschworen hätte. Zwar wusste man mittlerweile nicht nur vom Lungenkrebs, der Grubenarbeiter befallen hatte, sondern auch von den Langzeitfolgen von asbestverseuchter Atemluft. Aber man glaubte trotzdem eher, es handle sich bei der Verweigerung einer Konzession um eine persönliche Auseinandersetzung zwischen Herrn Hancock und dem Entwicklungsminister der westaustralischen Regierung.

Auf Hancock konnte man sich also nicht stützen. Man musste sich selber helfen und in erster Linie vermehrt den Tourismus weiter entwickeln. Da sollte sich die Stadt in gutem Zustand präsentieren. Sie war aber völlig vernachlässigt, hatte keine Parkanlagen, keine Sporteinrichtungen ausser der Pferderennbahn, die Strassen hatten Schlaglöcher, der Kehricht war ungenügend entsorgt. Man musste die Regierung dazu bringen, neben den neuen Orten auch Wittenoom, die einstige Hauptstadt der Pilbara, zu unterstützen. Ein paar Leute bildeten eine Aktionsgruppe – Steve war mit von der Partie – und sandten ihre Vorschläge an die Regionalbehörden in Onslow. Deren Reaktion war drastisch: Die Gemeindeverwaltung wurde in Wittenoom kurzerhand geschlossen und nach Onslow verlegt. Mit einer solchen Reaktion hatte man nicht gerechnet, und die Aktionsgruppe forderte in einer Petition an die westaustralische Regierung in Perth eine Verbesserung der Lage.

Eine Antwort aus Perth liess lange auf sich warten.

*

Ein weiteres Treffen fand statt: Diesmal war es der Gesundheitsminister der westaustralischen Regierung, der am 24. November 1978 zu der Bevölkerung sprechen wollte. Er war extra aus der Hauptstadt Perth nach Wittenoom gekommen, um die Beschlüsse der Regierung zu überbringen.

Das Versammlungslokal war zum Bersten voll, die Spannung fühlbar. Aufgeregt schwatzten die Leute:

„Endlich erhalten wir Antwort auf unsere Petition, endlich wird sich die westaustralische Regierung mit unsern Bedürfnissen befassen! Wenn schon der Minister persönlich kommt, kann es nur eine gute Botschaft sein. Mit schlechten Nachrichten würde er es nicht wagen, vor uns zu treten!“

Der Minister redete nicht lange um den heissen Brei herum. Nach kurzer Begrüssung wies er darauf hin, dass die tailings – obschon Erzabfall – immer noch Spuren von Asbest enthalten könnten, und sie alle hätten ja von den Gefahren der Asbestfasern Kenntnis.

„Die tailings auf den Strassen und Plätzen,“ führte er weiter aus, „sind ein so grosses Gesundheitsrisiko, dass der Regierung keine andere Wahl bleibt, als die Stadt zu schliessen. Ende des Jahres werden die Strom- und die Trinkwasserversorgung abgestellt, bis dann muss die gesamte Bevölkerung ausgezogen sein. Drei Regierungsvertreter stehen im Verwaltungsbüro in Onslow zur Verfügung, um den Leuten, die Probleme haben, beizustehen.“

Die Zuhörer waren fassungslos und entsetzt. Es war totenstill im Saal, sie waren wie betäubt und keiner Reaktion fähig, und es dauerte eine Weile, bis sie aus ihrer Betäubung erwachten. Aber dann waren die ganze Schläfrigkeit und Lethargie auf einen Schlag und für immer verschwunden.

„Nein, so lassen wir uns nicht einfach vertreiben! So kann man nicht mit uns umgehen!“

Der Minister gab zu bedenken, dass seinerzeit bei Schliessung des Werkes die Asbestarbeiter innert der gesetzten Frist weggezogen seien, und dass sie alle in kurzer Zeit Arbeit gefunden hätten. Für die heutigen Bewohner sei das nicht anders. In Onslow würde man sie beraten. Auf weitere Diskussionen liess er sich nicht ein und erklärte die Versammlung für beendet.

Wie sollte man jetzt vorgehen? Auf diese Art liess man sich nicht abspeisen, das war allen klar. Als erstes musste ein Aufschub erwirkt werden. Die bereits bestehende Aktionsgruppe gelangte erneut an die Regierung, die einlenkte und den Leuten mehr Zeit einräumte. Wasser und elektrische Energie wurden nicht abgeschaltet.

Steve stellte die Fabrikation von Wittspark sofort ein. Kein Mensch würde mehr davon trinken wollen. Man hätte ihm vorgeworfen, er bringe die Asbestverseuchung mit, denn natürlich hatte sich die Botschaft des Ministers mit Windeseile verbreitet. Steves Hüftgelenke machten ihm zudem so zu schaffen, dass er die Arbeit ohnehin nicht mehr lange bewältigt hätte. Blieb da etwas anderes übrig, als in den Süden zu ziehen?

Während Jahren hatte Liz auf einen Neuanfang im gemässigten Klima des Südens gehofft, und immer wieder hatte sie ihre Hoffnungen begraben müssen. Doch heute gezwungenermassen auf Befehl der Regierung wegzugehen, wäre ihr wie eine Vertreibung aus dem Paradies erschienen. Der Traum vom verheissungsvollen Süden war verblasst. Sie wollte im heissen Norden bleiben. Das Hamersley Gebirge war ihr Paradies.

Es war gar nicht möglich, dass die jetzigen, gegen 500 Bewohner von Wittenoom innert fünf Wochen hätten wegziehen können. Die Bergbaufirmen brauchten mehr Zeit, um ihre Forschungszentren in eine andere Stadt zu verlegen, und ihr Einfluss auf die Regierung hatte einiges Gewicht. Die übrige Bevölkerung hatte zum grossen Teil ihre Ersparnisse hier angelegt. Der Regierung selber hatte sie ermuntert, sich hier niederzulassen, hatte ihnen die Häuser verkauft, hatte von einem Touristenzentrum gesprochen und Investitionen gebilligt. Ohne angemessene Entschädigung konnte niemand anderswo etwas Neues anfangen. Die Behörden signalisierten Verständnis für die finanziellen Probleme und machten Angebote für die Immobilien. Sie waren lächerlich niedrig und wurden nur von einzelnen Bewohnern angenommen.

Bis ein befriedigendes Angebot vorläge, wollte Steve nicht mit sich reden lassen. Aber er brauchte sofortigen Verdienst. In Tom Price, der nur 110 km entfernten Nachbarstadt, nahmen Liz und Steve vorläuifig eine Stelle als Verwalterehepaar des Wohnwagen- und Campingplatzes an. Ihr liebgewordenes Haus in Wittenoom behielten sie und fuhren häufig von Tom Price hinüber, um zum Rechten zu sehen, und um das weitere Vorgehen mit der Aktionsgruppe zu diskutieren und zu organisieren. Vom Kampf um Aufschub eines Auszugtermins war die Bevölkerung zu einer ganz andern Strategie übergegangen: Sie kämpfte um die Erhaltung der Stadt! Sie sah keinen Grund, Wittenoom zu verlassen, weil irgendwo auf der Welt Menschen erkrankten. Hier bestand keine Gefahr mehr für die Gesundheit, seit der Schliessung der Mine war hier niemand an einer Asbestkrankheit erkrankt oder gar gestorben.

Es wurde bekannt, dass noch 1973, sieben Jahre nach Schliessung der Mine, tailings für die Zementherstellung zu fünfzehn dollar pro Tonne verkauft worden waren. Kein Mensch von Seiten der Regierung hatte davon gesprochen, dass der teuer verkaufte Abfall gesundheitsschädigend sei. Die Mine und die Asbestmühle waren seinerzeit auch nicht wegen der Gesundheitsrisiken geschlossen worden, sondern lediglich wegen mangelnder Rendite und wegen drohender Absatzschwierigkeiten. Oder waren es am Ende die Gesundheitsprobleme gewesen, die ihnen jener Direktor der CSR aus Sydney verschwiegen hatte? Sie hatten doch immer das Gefühl gehabt, er sage ihnen nicht die ganze Wahrheit.

Der Aktionsgruppe gelang es, Messungen der Luft in und um Wittenoom durchzusetzen. Die Resultate auf dem Schulhausplatz und an andern Orten der Stadt ergaben, dass die z.B. in England üblichen Schwellenwerte für frei schwebende Asbestfasern nicht überschritten waren. Die Regierung vertrat trotzdem die Meinung, die Stadt müsse nach und nach verschwinden, ordnete aber gleichzeitig gewisse Verbesserungen an. Leer stehende, baufällige Gebäude wurden abgerissen, aus tailings bestehender Belag auf Strassen und Plätzen wurde entfernt, die eventuell vorhandene Gefahr auf diese Art beseitigt.

*

Australia Post suchte einen Posthalter und eine Telefonistin, wenn möglich ein Ehepaar, für die Telefonzentrale und das Postamt in Wittenoom. Diese Tatsache bedeutete doch sicher, dass die Regierung die Post dort beibehalten wollte und dass das Leben dort weiter ginge. Sofort meldete sich Steve, und sie bekamen zusammen diese Doppelstelle. Nach einem kurzen Einführungskurs sass Liz am Stöpselkasten der Telefonzentrale und Steve war „Postmeister“. Zu seinen Pflichten gehörte auch die Ueberwachung der Wetterstation.

Im Haus war es sehr still und einsam, denn der Sohn Charles war im Internat. Liz hatte nicht Zeit, sich über die grosse Stille zu beklagen. Die neue Arbeit erforderte ihre ganze Konzentration, der Arbeitstag dauerte lange. Um sechs Uhr früh gab Steve die ersten Ablesungen seiner Wetterstation telefonisch nach Melbourne durch, für den allgemeinen Telefonverkehr war die Zentrale von morgens 8 Uhr bis nachts 10 Uhr geöffnet, am Samstag während fünf Stunden, am Sonntag drei Stunden.

Liz machte die neue Arbeit Spass, denn sie sah sich plötzlich mitten drin in allem Geschehen in der Stadt, wenn sie mit den Stöpseln am Kasten die verlangten telefonischen Verbindungen herstellte. Sie bekam viele Anrufe von Leuten, die einfach ein wenig plaudern wollten, oder die fragten, ob sie wisse wo sich Herr X befinde und ob man ihn dort anrufen könne. Sie merkte sehr bald, dass solche Anfragen eher dazu dienten, herauszufinden, wo sich eine bestimmte Person wohl herum trieb, und gar nicht dem Wunsch galten, derselben etwas mitzuteilen.

Ihre eigene fremde Betonung des Englischen bereitete ihr anfänglich ein gewisses Kopfzerbrechen, wenn sie nicht verstanden oder missverstanden wurde. Von ihren Kindern war sie jahrelang gehänselt und korrigiert worden, wenn sie einzelne Worte allzu exzentrisch aussprach. Mit der Zeit verstanden die Leute auf Anhieb, was sie meinte, so dass sie sich sagte, sie habe ihren fremdländischen Akzent jetzt verloren. Als sie einmal einen derartigen Gedanken äusserte, brach die Zuhörerrunde in Lachen aus, und es dauerte eine geraume Weile, bis sie ihre Unbefangenheit wieder erlangte.

Ueber die Arbeit auf der Post schrieb sie an ihre Schwester folgendes:

„Gestern habe ich geholfen, die Post zu stempeln und da waren Ansichtskarten dabei, alle nach der Schweiz und Deutschland und Holland adressiert. Sie waren von Touristen aufgegeben worden, und da konnte ich meine Neugierde nicht ganz in Schach halten und habe so während dem Stempeln ein wenig gelesen. Sie schrieben alle voll Begeisterung. Na also! Es hat ihnen nicht leid getan, dass sie so weit herkamen, um diese Gegend zu sehen....“

Messungen der Luft nach neuen Methoden ergaben von Jahr zu Jahr bessere Resultate: Die Atemluft in Wittenoom enthielt weniger Asbestfasern als zum Beispiel in Perth. Dort verursachte der Grossstadtverkehr eine Zunahme von Asbestfasern, denn Brems- und Kupplungsbeläge zahlreicher Automarken waren immer noch aus Asbest. Die Regierung drohte nicht mehr mit der Schliessung des Elektrizitätswerks und der Wasserversorgung. Im Gegenteil, man sprach wieder von Aufschwung, vom „Ruhrgebiet Pilbara“. Die Western Mining arbeitete an einem Tiefbohrprojekt, es gab Nachrichten von einem Kohlefeld von 160 km Länge, das ausgebeutet werden sollte. Goldsucher fanden nuggets. Die Zeitungen waren voll davon, dass ein Glückspilz auf einen Schlag Gold im Wert von 90'000 dollar „gefunden“ habe.

Die Anstellung bei der Post schien Liz wie ein Geschenk des Himmels. Keine Abenteuer mehr in eigene Unternehmungen. Sicherheit beim Staat. Der Verdienst verminderte sich zwar, als 1984 die Telefonzentrale aufgehoben und Direktanschluss eingeführt wurde. Der Stöpselkasten wurde zur Antiquität. Für die Wittenoomer war es natürlich ein Fortschritt, dass man jetzt zum Telefonieren nicht mehr auf die Oeffnungszeiten der Zentrale angewiesen war.

Steve blieb nun wochenlang daheim und machte sich energisch an einen neuerlichen Umbau ihres Hauses, denn Liz war mittlerweile mit allen Arbeiten im Postamt vertraut. Um das Haus, seinen Familiensitz zu vergrössern, kaufte er von der Regierung das Nachbarhaus hinzu und verband die zwei Gebäude mit einem schattigen Laubengang. Es musste solide gebaut werden, zyklonsicher.

Gastfreundschaft war jetzt mit weniger Umständen verbunden als bisher, das sprach sich schnell herum. Bekannte von Bekannten aus Europa tauchten auf, brachten Nachrichten vom Vorarlberg, und vor allem kamen immer wieder ehemalige Bergarbeiter Kollegen mit ihren Familien zu einem Besuch. Trotz guter Lebensbedingungen im Süden konnten sie das schöne Wittenoom nicht vergessen, redeten von alten Zeiten und beneideten Liz und Steve um den behaglichen Alterssitz. Endlich wagten sich auch die zwei jüngeren Schwestern von Liz aus dem Vorarlberg heraus und kamen nach Wittenoom. Sie waren begeistert und berichteten später zu Hause nicht nur von Liz's Familie, sondern beschrieben auch das Gebirge, das beim Herannahen so unerwartet aus der Ebene aufsteigt, die Täler und Schluchten mit den wenn nicht imposant rauschenden, so doch lieblich plätschernden Wasserfällen und einladenden Badeweihern, die von Wind zerzauste, von Gräben durchfurchte Hochebene mit überraschenden Ausblicken hinaus und hinunter in den unendlichen bush in flimmernder Hitze. Ihre Schilderungen verlockten später ihre Kinder dazu, Tante Liz und Onkel Steve zu besuchen.

Der Ausbau des Hauses machte sich bezahlt – nicht in Geld, aber in Freude und Zuversicht.

Es geschah aber auch, dass ein Besuch Kummer brachte. Patin Nancy und ihr Mann Patrick kamen im Frühling. Liz erschrak, denn Patrick sah krank aus, hustete und keuchte. Er wisse nicht, ob es ein harmloser Husten sei oder nicht.

„Staublunge, wie sie alle haben, die in der Asbestmühle arbeiteten.“

Steve habe auch Asbestose, gab Liz zu verstehen. „Er sagt, damit könne man leben. Manchmal macht es mir schon Angst, wenn er keucht und hustet. Man weiss nie, was noch werden könnte.“

„Das ist es ja eben. Man möchte wissen, woran man ist.“

Der Arzt habe nun eine Biopsie vorgesehen. Da denke man natürlich daran, wieviele ehemalige Asbestarbeiter an Mesotheliom erkrankt und gestorben seien. Er keuchte, dass es Liz kaum ertragen konnte, und sie wusste nicht, was sie ihm hätte sagen können. Sie dachte, bei einer Biopsie würden Brustfell und Lunge verletzt, ganz geringfügig zwar, und die Aerzte behaupteten, das schade nicht. Aber wäre es nicht doch möglich, dass ein solcher Eingriff ein Mesotheliom geradezu auslösen könnte, das sonst gar nie ausgebrochen wäre?

„Was versprichst du dir von einer Biopsie?“ fragte sie schliesslich. „Ich würde mich dagegen wehren.“

Das Schicksal war nicht aufzuhalten, ein Jahr später war Patrick tot. Wie kam es, dass in manchen Familien mehrere Angehörige entweder in jungen Jahren dem Lungenkrebs erlagen, oder dann später dem Mesotheliom, und dass andere Familien davon verschont blieben? Schwebte über ihnen allen, die einst in Wittenoom gelebt und gearbeitet hatten, die sich über den Aufbau einer blühenden Stadt gefreut hatten, ein Damoklesschwert? Deshalb Wittenoom jetzt zu verlassen war nutzlos, hier war die Gefahr einer Vergiftung durch Asbestfasern gebannt. Die Krankheit würde sie überall heimsuchen, denn sie trugen ihren Keim aus früherer Zeit in sich.

Die nach der Schliessung der Mine neu zugezogenen Personen waren von Asbestfasern nicht gefährdet, die Stadt zu schliessen, die Menschen darin zu vertreiben war sinnlos, denn sie hatten hier eine Zukunft, das schien auch die Regierung zu erkennen, denn der oberste Postchef kam in Wittenoom vorbei und riet Steve, das Haus, in welchem das Postamt untergebracht war, der Regierung abzukaufen, statt es wie bisher zu mieten. Es sei in gutem Zustand, da könnte es geschehen, dass ihnen plötzlich ein anderer Interessent zuvorkomme, so dass er dann als Posthalter eine neue, passende Liegenschaft für die Post suchen müsste. Das wurde als ein Zeichen dafür gewertet, dass das Leben in Wittenoom weiter gehen werde, dass die Regierung ihre Pläne, „Wittenoom der Natur zurück zu geben“ aufgegeben hatte.

Bei so guten Aussichten wagte es Liz, ihre zweite Europareise zu planen, und zwar wollte sie wiederum Charles mitnehmen. Es war ihr wichtig, dem einzigen Sohn zu zeigen, woher seine Familie eigentlich stammte, bevor er seine eigenen Wege ginge. Bei der ersten Reise war er zwei Jahre alt gewesen, da vermochte er sich nicht zu erinnern. Die Planung der Reise zog sich über Monate hin, und wenn nicht der Schwiegersohn Bill eingegriffen hätte, wäre es kaum dazu gekommen, dass sie eine Fahrkarte kaufte und tatsächlich abreiste.

Charles war ein richtiger Aussie, in Europa war er ein Tourist, schien offensichtlich kein heimatliches Gefühl zu empfinden. Weihnachten im Schnee, „richtige“ Weihnachten – aber es war so schrecklich kalt. Liz war stolz auf ihren charmanten Sohn, der seine Tanten um den Finger wickelte und mit Cousins und Cousinen Freundschaft schloss und sich im Skifahren von ihnen unterrichten liess. Was sie fast erwarteten, dass er den Wunsch äussere, länger zu bleiben, traf nicht ein, er deutete es nicht einmal an.

*

Sie kehrten zufrieden heim, Charles hatte Oesterreich abgehakt, seine Heimat war die Pilbara, und Liz war glücklich zurück in ihrem „Häusle“, wischte Staub, immer wieder Staub, denn die einst beliebten tailings, die den roten Pilbarastaub zugedeckt hatten, waren von Strassen und Plätzen entfernt.

Das neue Haus der Tarnai war das Zentrum der Familie, wie es sich Liz und Steve stets erträumt hatten. Zwar zog Ros, die älteste, mit ihrem Mann in die Vereinigten Staaten, doch das Paar kam einmal im Jahr heim. Mary war nach Westaustralien zurück gekehrt mit Peter, „ihrem Engländer“. Sie wohnten in Perth und kamen öfters zu den Eltern oder schickten ihre Kinder zu ihnen in die Ferien. Bill und Grety mussten Wittenoom verlassen, Bill wurde von seiner Firma versetzt, bald nach Kalgoorlie, bald nach Newman, vom Süden in den Norden und wieder zurück. Alle verbrachten Ferientage im Elternhaus, da war Platz für alle, für Kind und Kindeskinder. Einzig Nancy liess sich selten blicken. Sie arbeitete in Sydney und schickte ihrem Mann so viel von ihrem Lohn wie möglich, damit er die Raten für einen neuen Traktor bezahlen konnte. Die Wollpreise waren gesunken und zwei Missernten nacheinander hatten ihn an den Rand des Ruins gebracht. Der Traktor wurde gerettet – aber nicht die Ehe. Als Nancy nach Wittenoom zurückkam, war es eine endgültige Rückkehr – mit einem neuen Partner. Dan war Automechaniker, übernahm Autowerkstatt und Campingplatz in Wittenoom, die beiden wollten endgültig hier bleiben.

Die Kinder auf guten Wegen, der Wunsch aller Eltern war erfüllt, und der als Heimat auserwählte Ort in Westaustralien schien trotz dem Vorgehen der Regierung ein gesicherter Ort zu sein. Von Zeit zu Zeit wurde wieder von einem Termin, die Stadt zu räumen geredet, es gab Aufregung bei Besuchen von verständnislosen Regierungsbeamten, die Aktionsgruppe musste wieder vorstellig werden und verhandeln, und dann kehrte wieder Ruhe ein. Man würde sich noch ein paar Jahre herum streiten, aber irgend einmal würde es den Behörden wohl doch verleiden und sie würden die Stadt und ihre friedlichen Bewohner in Ruhe lassen.