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Niemand macht sich Sorgen

Mit dem wachsenden Bankkonto schien es Lisa, die Sehnsucht, ihre Lieben zu Hause wieder zu sehen, sei leichter zu ertragen. Sie wusste, es war jetzt so viel Geld da, dass man jederzeit hätte heimkehren können. Das gab ihr eine gewisse Gelassenheit den Härten des Klimas und anderen Unzulänglichkeiten gegenüber. Aber wenn sie sich einen Besuch zu Hause „im Ländle“ ausmalte, dann wurde ihr schmerzlich bewusst, dass sie von ihrem Dorf abgeschnitten war, und sie fragte in einem Brief verzweifelt nach den Vorgängen:

„....Was gibt es daheim? Was machen die Nachbarn noch alle? Der Einhändler mit dem Gretele? Der Giglmair und die Gänse? Und was macht der Koch und das Senzele, und die Bauers, und Balbina, und Schneiders?....“

Sie hatte den Faden der Geschehnisse verloren, und sie sah alles so, wie es vor Jahren gewesen war. Auf einer neuen Foto ihrer Eltern vor dem Haus entdeckte sie im Hintergrund, dass die während vielen Jahren von ihr gepflegten Blumenkisten fehlten.

„...Was ist los? Habt Ihr keine Blumen mehr vor der Türe? Sind die Kistchen verfault? Fritz soll doch neue Kisten zimmern, das ist doch kein Kunststück, und dann sieht das Haus auch nach etwas aus...“

Sie dachte kaum daran, dass der um vier Jahre jüngere Bruder Fritz nicht mehr ein Jüngling war, den sie herumkommandieren konnte. Die Welt, nach der sie sich sehnte, die sie zu kennen glaubte, existierte nicht mehr. Das war zwar keine sehr gute Welt gewesen: Arbeitslosigkeit, Angst vor einem neuerlichen Krieg, Rationierung, Mangelwirtschaft, Korruption, hatten geherrscht. In ihren Erinnerungen jedoch war ihr Dorf und die Menschen dort – auch die, von denen sie ausgelacht worden war wegen „ihrem Ausländer“ – von einer Heiterkeit umgeben, wie sie nur in Träumen vorkam. Sie wusste darum, theoretisch, und verscheuchte die Träume. Aber manchmal trug sie Scheuklappen und wollte oder konnte nichts von der sie jetzt umgebenden Schönheit wahrnehmen, war in Gedanken abwesend, in ihrer alten Heimat, bis ein alltägliches Vorkommnis sie aufschreckte.

Sie machte sich, ohne links oder rechts zu schauen, im Garten zu schaffen. Da stürzte Nachbar Jim mit einem Spaten in den Fäusten an ihr vorbei auf ihre Veranda und hieb schnell und mit Macht auf etwas ein. Lisa erschrak. Eine Schlange zuckte am Boden!

„Brrr!“ Lisa war nicht zimperlich, aber da kreischte sie doch. Es war eine king brown, eine der giftigsten Schlangen überhaupt, wie Jim fest stellte. Er war etwas atemlos:

„Was ist los mit dir? Schaust nicht, was um dich herum vorgeht! Hätte ich nicht zufälligerweise heute einen freien Tag, und wäre ich nicht gerade mit dem Spaten im Garten gewesen, es wäre um dich geschehen, sie hätte dich gebissen.“

Lisa war kleinlaut: „Im Spital haben sie doch Gegengift...“

„Jaja, schon recht, ich war ja da. Brauchst dich nicht zu bedanken, ich hab's gern gemacht – sie hätte zu uns kommen und mich beissen können, sie sind hinterlistig.“

„Es sind Geschöpfe Gottes, sie sind giftig, nicht hinterlistig.“

„Also, von wegen Geschöpfe Gottes – bei solch gefährlichen Schlagen weiss ich nicht recht...“

Obschon Lisa über jede Kleinigkeit nach Hause schrieb, die Schlangen erwähnte sie nicht, die Eltern würden sich unnötig ängstigen. Da schilderte sie lieber die Schwärme der grünen Wellensittiche, die im April im bush herum flatterten, wenn der spinifex blühte, dass es aussah wie wogende Getreidefelder.

Giftschlangen wurden ab und zu gesehen und vernichtet, und da war Lisa ganz damit einverstanden, sie waren gefährlich, obschon man nie von einem Unglücksfall mit Schlangen hörte. Harmlose Pythons verjagte sie höchstens, wenn sie ihr in die Quere kamen, freute sich sogar an ihnen, so wie sie auch die verschiedenen Echsen bewunderte. Manche trugen einen Kragen, den sie mächtig aufblähten, wenn sie sich in Gefahr wähnten, andere flüchteten aufrecht auf zwei Beinen, wenn sie sich bedroht fühlten. Sie schätzte die Geckos, die zeitweise im Haus an Wänden und der Decke träge herum spazierten, um plötzlich mit ihrer langen Zunge blitzschnell ein Insekt zu fangen, das trotz Fliegengitter den Weg ins Haus gefunden hatte.

Nein, es gab keine gefährlichen Tiere, vor denen man sich fürchten musste. Die bekannten giftigen Spinnen waren noch nie jemandem begegnet, und in sittlicher Hinsicht lauerten in Wittenoom und im umgebenden bush auch keine Gefahren für ihre Töchter. Unbedenklich konnte man Kinder allein auf den Schulweg schicken und im bush oder im Tal spielen lassen. Sicher gab es besonders unter den alleinstehenden Männern in den Häusern for single men rauhe Gesellen, vollkommene Wesen waren die Wittenoomer nicht. Am Freitag war Zahltag, da wurde gespielt und gewürfelt, und es gab Schlägereien.

Die wirklichen Gefahren im bush – sich verirren und verdursten – wurden auf die leichte Schulter genommen. Während der Osterferien beschlossen die Freundinnen Nancy und Lisa mit ihren je drei Kindern zum Millstream zu fahren. Der Fortescue River, der tief unter seinem sandigen, trockenen Flussbett den bush durchquerte, kam dort für viele Kilometer weit an die Oberfläche. In seiner Umgebung entstand ein schattiger, tropischer Regenwald, den die zwei Frauen besuchen wollten.

Sie fuhren in Nancy und Patricks Fahrzeug, denn Nancy war eine routiniertere Fahrerin und lenkte ihre ute sicher durch die holprige Naturstrasse 180 Kilometer weit. Verstaubt und erschöpft erreichten sie nach über drei Stunden ihr Ziel, und augenblicklich waren die Strapazen vergessen und die Müdigkeit verflogen. Palmen und tropische Bäume mit dichtem Blätterdach spendeten dunklen, kühlen Schatten, in Wassertümpeln wucherten rosa und weisse Seerosen, andere Wasserflächen waren frei und bildeten herrliche Badeweiher. Da hatte sich die mühsame Fahrt gelohnt und alle, die sechs Kinder und die beiden Frauen, spielten übermütig im angenehmen Wasser, kühl genug, um erfrischend zu sein, warm genug, dass man es lange darin aushielt. Dann machten sie Feuer und kochten zum mitgebrachten Imbiss den obligaten Tee, den billy tea. Der in einem grossen Blechkessel gekochte Tee – meist war es ein alter Konfitürenkessel – gehöre unbedingt zu einem Picknick, erklärte Nancy. Sobald das Wasser kochte, warf sie Schwarzteeblätter hinein und wartete dann geduldig, bis er stark genug war und die Teeblätter auf den Grund gesunken waren, bevor sie ihn in Emailtassen einschenkte. Zucker und Pulvermilch konnte man dann nach Belieben beifügen.

Während die Kinder weiter herum tollten, dösten die Frauen vor sich hin, schöpften Kraft für die Rückfahrt mit müden und erfahrungsgemäss aufsässigen Kindern.

Sie hatten auf der Heimreise den schattigen Wald schon eine Weile verlassen, waren mitten im trockenen, heissen bush, als Nancy abrupt bremste und anhielt. Lisa sah mit Schrecken einen Autoreifen davon rollen.

„Das ist doch unser Rad!“ schrie sie. Die Kinder liefen voraus, um gemeinsam das verlorene Rad zurück zu rollen. Lisa wäre ratlos gewesen, aber Nancy hatte schon öfters Rad gewechselt und kannte sich aus. Doch es gelang den Frauen nicht, das Rad wieder einzusetzen. Alles war irgendwie verklemmt, sie probierten alle Tricks von denen Nancy wusste, aber es half nichts. Verschwitzt und entmutigt gaben die Frauen alle Versuche auf.

Es war glühend heiss, die Sonne brannte, der einzige Schatten war der schmale Schatten des Autos, in dem sie sich zusammen drängten. Alle waren durstig, und von dem vielen Wasser, das sie von zu Hause mitgenommen hatten, war nur eine halbe Flasche übrig. Sie hatten nicht daran gedacht, die Wasserflaschen im Millstream wieder aufzufüllen. Jedes bekam einen Schluck, der dreijährige jüngste Knabe Joe zwei, weil Durst für kleine Kinder gefährlicher ist als für die etwas grösseren. Sie hatten die wichtigste Regel missachtet, nämlich immer viel Wasser bei sich zu haben. Die zweite Regel, im Falle einer Panne beim Wagen zu bleiben, befolgten sie natürlich. Was sonst hätten sie mit sechs Kindern im Alter von drei bis zwölf Jahren anfangen sollen? Zudem waren sie nicht in wirklicher Gefahr, auch ohne Wasser konnten sie es ein paar Stunden aushalten. Dann würden ihre Ehemänner sie suchen kommen, denn diese wussten ja, dass sie an den Millstream gefahren waren. Man musste die Kinder so ruhig wie möglich halten, damit sie nicht noch durstiger wurden. Das hiess stundenlang abwechslungsweise Geschichten erzählen und Spiele machen mit Steinen, Fingern, Ratespiele erfinden, Lieder singen.

„Was glaubst du, werden sich die Männer bald auf den Weg machen, um uns zu suchen?“ fragte Lisa nach einer Weile.

„So bald kommen die nicht. Die Sonne geht etwa um sieben Uhr unter, vor acht Uhr werden sie kaum beschliessen, uns zu suchen, und dann wird es erst noch lange dauern, bis sie wirklich aufbrechen. Vor Mitternacht können wir sie kaum erwarten.“

Lisa seufzte, denn sie wusste, dass Stephan es gar nicht schätzte, wenn sie nachts unterwegs war auf unsicheren Nebenstrassen. Nancy konnte sie nicht beruhigen:

„Sie werden sicher nicht nur mit eurer ute kommen. Patrick wird darauf bestehen, dass noch ein weiterer Freund mit seinem Wagen mitkommt, und das vernimmt noch einer, der unbedingt auch kommen und erste Hilfe leisten will. Sie können ja nicht wissen, was passiert ist und stellen sich ein schlimmes Unglück vor, so wie ich Patrick kenne.“

„Du meine Güte! Das gibt ein Theater! Womöglich nehmen sie noch eine Krankenschwester oder gar einen Arzt mit.“

Nun meldeten sich die Kinder:

„Wann kommt Papa?“

„Ich bin immer noch durstig!“

„Au, mich hat eine Ameise gebissen!“

„Erzähl doch noch eine Geschichte!“

„Mir ist zu heiss, ich habe gar nicht mehr Platz im Schatten, lass mich doch heran.“

„Hör' doch auf, mich zu stossen...“

„Nein, du hast mich gestossen, du machst dich zu breit...“

In diesem Augenblick entdeckte Rosa in der Ferne eine Staubwolke. Ein Wagen näherte sich! Gottseidank! Wenn nicht Pannenhilfe, so doch sicher Wasser!

Es war Pater Fred, der auf dieser Nebenstrasse nach einem Besuch auf einer cattle station nach Hause fuhr. Ob ein Geistlicher die benötigte praktische Hilfe brachte?

Ein Pfarrer mit einer über die ganze Pilbara verstreuten Gemeinde hatte nicht nur einen grossen Trinkwasserkanister in seiner ute, sondern er war auch sonst mit allen Wassern gewaschen. Er setzte das Rad ein und machte ihren Wagen wieder flott. Nun kamen die Frauen mit ihren Kindern nach Hause, bevor ihre Männer eine Rettungskolonne mobilisiert hatten.

*

Lisas Freude, über genug Geld zu verfügen, um notfalls wegzureisen, dauerte nicht lange. In seiner Jagd nach Geld kaufte Stephan zu günstigem Preis von seinem ungarischen Freund, der das Geschäft aufgab, eine ganze Schusterwerkstatt mit modernen Maschinen, allem Werkzeug und einem Vorrat an Leder. Er wollte in seiner Freizeit Schuhe flicken, um zusätzlich etwas zu verdienen. Natürlich verwunderten sich die Leute:

„Kann er denn Schuhe flicken, er ist doch Elektriker?“ Er konnte es tatsächlich! Sein Vater war Schuhmachermeister, als Junge hatte ihm Stephan in der Werkstatt helfen müssen, er erinnerte sich an alle einschlägigen Arbeiten auch ohne eigentliche Lehrzeit in diesem Beruf. Konkurrenz brauchte er nicht zu fürchten, er war der einzige Flickschuster. In vier Monaten hatte er das ausgegebene Kapital wieder verdient, und das Bankkonto begann wieder anzuwachsen.

Es war eine ständige Jagd nach Geld, für viele bedeutete die Arbeit im heissen Norden nichts anderes als die Gelegenheit, etwas mehr zu verdienen als das im Süden, etwa in Perth, möglich gewesen wäre. Später wollte man dann anderswo etwas Eigenes anfangen. Stephan hatte keine Lust, wegzuziehen. Man könne sich hier im Norden ebenso gut eine befriedigende Existenz aufbauen. Hauptsache sei ein glückliches Familienleben. Man könne hier die Lebensbedingungen und die ganze Entwicklung der Stadt mitgestalten wie sonst nirgends. Das sei der besondere Anreiz, hier zu bleiben.