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Der Holzweg

Nach fünf Jahren Arbeit in der Asbestmine begann Stephan sich nach einer neuen Beschäftigung umzusehen. Er wollte nicht noch länger dem sicher ungesunden Staub im Bergwerk ausgesetzt sein. Die ABA zögerte Staub reduzierende Massnahmen, wie sie in andern Bergwerken bestanden, immer wieder hinaus, hatte tausend Ausreden, warum sie vorläufig nichts tun könne, vertröstete auf später und missachtete dadurch die Gesetze. Mit Wasser und mit leistungsfähigen Ventilatoren wäre eine Reduktion des Staubes auf ein erträgliches Mass durchaus möglich gewesen. Die Direktoren der ABA verwiesen auf die oberste Leitung der CSR in Sydney, die ihnen nicht die Kompetenz zu einer Modernisierung des Betriebes erteilte.

Es sah so aus, als ob die zuständigen Gremien der CSR die ABA nur als kurzlebiges Unternehmen betrachteten, für das sich grössere Investitionen zur Verbesserung des Arbeitsumfeldes für die Arbeiter kaum lohnten. Die Westaustralische Regierung ihrerseits förderte Wittenoom, den neuen Hauptort der Pilbara, und trieb die von Aerzten und Inspektoren verlangten Massnahmen nicht voran, wollte die Entwicklung der neuen Stadt nicht mit Vorschriften behindern oder gar gefährden.

Schon in den vierziger Jahren waren Krankheitsfälle bekannt, die Menschen betrafen, welche Jahre zuvor Asbeststaub ausgesetzt gewesen waren. Aber die Gefahren wurden als Hirngespinste weltfremder Wissenschaftler ignoriert. Die Asbest verarbeitende Industrie liess sich nicht dreinreden und versorgte das Baugewerbe und viele andere Betriebe mit dem unverwüstlichen Stoff. Zementmischungen enthielten je nach Verwendungszweck 5% bis über 40% Asbest. Asbestverputze, Spritzasbeste wurden in Bauten wie Turnhallen und Hallenbädern, Bahnhöfen, Restaurants, in Ladengeschäften, Fabrikhallen, Büros, erfolgreich als Brandschutz angebracht. Ueberall, wo man besonders wertbeständig bauen wollte, griff man zu Asbest, aber auch für weniger Anspruchsvolles war es ein leicht zu beschaffendes und leicht zu bearbeitendes Material. Eternit war ein beliebtes Asbestprodukt. Mit Welleternit deckte man Gartenhäuschen und Schuppen, mit Eternitplatten belegte man selbst gebaute Garagenwände, es gab Eternitschindeln für Hausfassaden, Eternitziegel, sogar Eternit Blumenkisten. Der Designerstuhl von Willy Guhl war ein Eternitstuhl. Als Asbest nicht mehr verwendet werden durfte, musste Guhl das Design abändern, denn mit dem asbestfreien Eternit, das heute verwendet wird, wäre das ursprüngliche Modell nicht mehr stabil gewesen. Die Eternit AG in Niederurnen verarbeitete den auf der ganzen Welt häufig vorkommenden, weissen Asbest (Chrysotil), aber sie war auch ein Kunde der ABA, denn ein Zusatz von blauem Asbest (Krokydolit) verstärkte ihr Endprodukt markant. Asbest wurde auch versponnen, es entstanden Schutzanzüge für Giessereiarbeiter und Feuerwehrmänner, Vorhänge in Theater und Restaurant. Die Asbestgewebe waren unbrennbar und hitzebeständig. Die Linoleumfabrik in Giubiasco war ein Kunde für den blauen Asbest aus Wittenoom. Linoleum und linoleumähnliche Bodenbeläge wurden immer beliebter, nicht nur in Läden und Werkstätten, auch im Einfamilienhäuschen.

*

Stephan schwebte irgend ein eigenes Geschäft vor, in das er seine Ersparnisse stecken könnte. Am liebsten wollte er das in Wittenoom versuchen, wo er sich heimisch fühlte. Doch die Möglichkeiten zu einem eigenen Unternehmen waren beschränkt, denn alles, die Häuser, die Läden, das Bauland, gehörte entweder der Bergbaugesellschaft oder der westaustralischen Regierung. Die Firma hatte die Macht, alles zu unterbinden, was ihr nicht in den Kram passte. Trotzdem zeigte sich unerwartet eine Gelegenheit, die Stephan sofort ergriff. Der Holzlieferant, der bis jetzt das Brennholz und das Bauholz für die Stadt und die Mine geschlagen und geliefert hatte, wollte sich zurückziehen und schrieb seinen Fünftonnenkipplastwagen, die Motorsäge und alles dazu gehörige Werkzeug zum Verkauf aus.

Es war ein lukratives Geschäft gewesen, der Mann war reich geworden, und Stephan war davon überzeugt, dass das auch ihm gelingen werde. Er setzte seine ganze Ueberredungskunst ein, auch Lisa zu überzeugen. Er hatte erwartet, dass sie enttäuscht sein würde, denn sie hatte fest damit gerechnet, dass sie noch vor der grossen Hitze in den Süden zögen. Ständig redete sie ihm die Ohren voll, dass seine Aussichten gut seien, in der Umgebung von Perth eine Stelle in seinem Beruf als Elektriker zu finden. Er aber wusste ihr jetzt die Vorteile eines eigenen Unternehmens zu schildern, und schliesslich gab sie ihre Zustimmung. Ohne ihr Einverständnis hätte er den Handel nicht abgeschlossen.

Gegen geringen Pachtzins erwarb er die Lizenz, überall im bush Holz zu schlagen. In der näheren Umgebung war der bush zwar so karg, dass es sich kaum lohnte, doch im Umkreis von 100 Kilometer standen viele schlagreife Baumgruppen. Mit der ABA schloss er einen Vertrag ab für die Lieferung von Bauholz, und damit war das Geschäft perfekt. Unabhängig von der Firma gab es in Wittenoom keine Beschäftigung.

Lisa wusste seit langem, dass sich Stephan nicht von einmal gemachten Plänen abbringen liess. Deshalb hatte sie ihre Zustimmung schliesslich – wenn auch widerstrebend – gegeben. Damit zerschlugen sich alle ihre eigenen Pläne und Hoffnungen. Sie hatte nicht nur mit einem Umzug in den kühleren, milderen Süden gerechnet, sondern auch gehofft, bald nach Europa reisen zu können, um Eltern, Geschwister und alte Freunde zu besuchen. Das war nicht mehr möglich, eine teure Reise konnten sie sich nicht leisten. Sämtliche Ersparnisse wurden in das neue Geschäft gesteckt, die Schuhmacherwerkstatt wurde verkauft, sogar die ute, der einstige Stolz, damit Stephan keine Schulden machen musste.

Trotz der Enttäuschung vertraute Lisa völlig darauf, dass Stephan nichts unternähme, was die Sicherheit und das Wohlergehen der Familie gefährden könnte. Ihr Vertrauen war bisher immer gerechtfertigt gewesen. Sie betrachtete es als die Pflicht der Ehefrau, den Mann stets bedingungslos zu unterstützen.

Kaum war das Holzgeschäft zustande gekommen, wurde Lisa schwanger. Da sagte sie sich, es sei letzten Endes doch besser, in der vertrauten Umgebung zu bleiben. Einzig ein Umzug in ein grösseres Haus mit Garage und Schuppen wurde notwendig.

Eigentlich konnten die Kinder in Wittenoom in einer gut behüteten Gemeinschaft aufwachsen, besonders da nun Pater Fred eine katholische Schule gründete neben der im Bau befindlichen katholischen Kirche. Die Bevölkerung half mit Begeisterung am Bau von Schule und Kirche. Letztere war aus Wellblech, einem Material, das dem stärksten Zyklon standhielt. Mit ihrem gebogenen Dach glich sie einem altmodischen Flugzeughangar trotz dem turmähnlichen Aufbau in der Mitte des Gebäudes. Die Schwestern, die in der Schule unterrichteten, standen in hohem Ansehen, denn die katholischen Schulen genossen einen guten Ruf. Die Regierung subventionierte sie, weshalb das Schulgeld so niedrig war, dass es sich alle leisten konnten, die ihre Kinder in eine solche Privatschule schicken wollten. Der Unterrichtsplan war derselbe wie in der öffentlichen Schule, aber Lisa schätzte es, dass mehr Disziplin herrschte, von den Nonnen mit Liebe und Geduld durchgesetzt.

Zu Hause in Europa waren Alltag und Kirche eins gewesen, nichts durfte geschehen ohne Wissen der Kirche. Lisa hatte in ihrer Jugend ihre Allmacht als Bedrückung empfunden, wenn sie Fragen stellte, die zu stellen man ihr verwies, weil sie sündhaft seien. Man hatte gar keine Wahl: Nicht am Kirchenleben teilnehmen bedeutete gesellschaftliche Aechtung. Eigenes Denken musste heimlich geschehen, durfte sich nicht öffentlich äussern, Zweifel war Sünde. Hier in der Pilbara herrschte kein gesellschaftlicher Zwang, an kirchlichen Anlässen teil zu nehmen. Man atmete freier hier, und wer teil nahm, tat es freiwillig und mit Freude, seien das nun Katholiken auf der einen Seite oder Reformierte auf der andern. Einige der besten Freunde waren nicht katholisch, Nancy und Patrick, oder die Nachbarn Jim und Margaret. Beide Paare – Mitglieder der anglikanischen Kirche – führten mit ihren Kindern ein harmonisches Familienleben, ohne ein einziges Kruzifix oder Heiligenbild in ihrem Haus hängen zu haben. Es kam nicht auf die Konfession an, da hatte der Katechismus unrecht, den Lisa als kleines Mädchen kennen gelernt hatte.

Ja, das abgelegene Wittenoom bot unbestreitbare Vorteile, Lisas Kinder lernten viele Lebensweisen kennen, vernahmen durch die Menschen aus aller Herren Länder mehr von der Welt draussen auf der andern Seite der Berge, am andern Ende des bushes, als das im Vorarlberg in Lisas Jugendzeit möglich gewesen war. Man konnte ihnen gefahrlos viel Freiheit gestatten, und es war kein Problem, sie dennoch von unerwünschten Einflüssen fernzuhalten. Wer wusste schon, wie es im Süden, wo alle hinwollten, damit bestellt wäre!

In einem Brief nach Hause beschrieb Lisa das neue Unternehmen. Das Holzfällen sei in dem flachen Land viel einfacher als im steilen Gelände im „Ländle“. Obschon das Eukalyptusholz viel härter und schwerer ist als die Holzarten in Europa, sei die Arbeit nicht so mühsam, denn sie hätten moderne Maschinen und ein starkes Lastauto. Kein Wort über ihre Schwangerschaft, sie wollte die Eltern nicht beunruhigen. Wenige Wochen vor dem Geburtstermin erst schrieb Lisa, dass sie dann nicht erschrecken sollten, wenn ein Telegramm käme. Dagegen erwähnte sie, dass sie nun die Buchhaltung besorge und nach all den Jahren ihre Kenntnisse in Büroarbeit wieder anwenden könne.

Der Holzhandel liess sich gut an. Wochentags arbeitete Stephan allein, über die Wochenenden stellte er manchmal zusätzliche Hilfskräfte ein. Es fanden sich immer Grubenarbeiter, die in ihrer Freizeit etwas dazu verdienen wollten.

Natürlich waren die Kinder enttäuscht, dass nun kein Auto mehr da war und dass sie die meisten Sonntage ohne Vater verbringen mussten. Eines Sonntags früh aber beschloss Stephan, die ganze Familie mit dem Lastauto zu einem Picknick in den bush mitzunehmen, denn er habe einen romantischen kleinen Wald entdeckt, wo sie sich im Schatten tummeln und spielen könnten, während er arbeite. Die holprige Fahrt dauerte etwa zwei Stunden, und dann erwies sich der malerische Ort als nicht viel mehr als ein Stück nicht ganz so magerer bush wie anderswo. Die Eukalypten richten ihre langen, schmalen Blätter mit der Kante gegen die Sonne aus, wodurch die Blattfläche kaum von den heissen Sonnenstrahlen getroffen wird. Das vermindert die Verdunstung, aber das einzelne Blatt wirft nur einen fadendünnen Schatten. Nur mächtige Bäume mit grossen Kronen liefern etwas tieferen Schatten, doch nach solchen Bäumen hielt Stephan nicht Ausschau, ihm gefiel ein Wald mit Stämmen von unter 30 cm Durchmesser. Er erklärte, sie könnten auch in einem mageren Schatten den mitgebrachten Imbiss verzehren und billy tea kochen, aber seine Töchter und Lisa zeigten keine Begeisterung für dieses Holzerpicknick. Er arbeitete verbissen drauflos, und sie konnten ihm nichts helfen, er wünschte das auch gar nicht. Sie taten ihm nicht einmal den Gefallen, ihn für seine Geschicklichkeit gebührend zu bewundern. Da wurde er ärgerlich darüber, dass seine Familie seine Bemühungen, trotz harter Arbeit einen Sonntag gemeinsam zu verbringen, so wenig schätzte, und in gereizter Stimmung, verstaubt und müde, kehrten sie gegen Abend zurück. Er zog es künftig vor, wieder ohne Familie am Sonntag auf die Arbeit zu fahren. Hinterher lachten sie, und noch Jahre später, wenn Stephan irgend einen Ausflug vorschlug, fragten sie ihn mit unschuldiger Miene, ob er wieder einmal ein spannendes Holzerpicknick organisiere.

Nach anfänglichen Pannen mit dem Laster und der Säge ging alles wie am Schnürchen, Lisa sah eine heitere, sorglose Zukunft vor sich. Natürlich setzte der Schwangeren die Sommerhitze zu, aber nicht mehr als in den vergangenen Jahren. Nach Ostern wurde es wieder kühler, und sie freute sich vorbehaltlos auf das Kind.

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Sogar im abgelegenen Wittenoom, dessen Bewohner sich kaum um Weltpolitik kümmerten, konnte es vorkommen, dass sie Augenzeugen eines unfassbaren Geschehens wurden, das mit der Weltpolitik verknüpft war, wie es am 19. Juni 1956 geschah. Die Engländer führten im indischen Ozean geheime Atombombenversuche durch, und zwar direkt vor der westaustralischen Küste zwischen Dampier und Onslow, auf den Montebello Inseln. Schon vor Jahren hatten die ersten Versuche dort stattgefunden, dann wurden sie in die südaustralische Wüste verlegt, nahe der Grenze zu Westaustralien, und im vergangenen Mai wurde wieder auf den Montebellos eine Bombe gezündet. Der Wind habe in einer nicht erwarteten Richtung gegen das Festland geblasen und im ganzen Norden von Australien sei vermehrte Radioaktivität festgestellt worden. Die Zeitungen waren jetzt voll von dem zweiten, dem Vernehmen nach geheim gehaltenen Test, der heute um zehn Uhr stattfinden werde.

Lisa war zu einer ärztlichen Kontrolle im Spital und stand zusammen mit den Krankenschwestern und dem Arzt auf der Terrasse. Sie wollten sich das geheime Schauspiel nicht entgehen lassen, obschon alle daran zweifelten, dass man aus einer Entfernung von über 400 Kilometer etwas sehen könne. Um zehn Uhr entstand eine riesenhafte, dunkle Wolke im klaren blauen Himmel im Nordwesten, stieg höher und bildete den von vielen Bildern her bekannten Atompilz, der sich mit rasender Geschwindigkeit ausbreitete.

Die Reaktion der Zuschauer war weder Schrecken noch Zorn, sondern Bewunderung und Genugtuung! Das war nun das Ding, das den Vormarsch des Kommunismus ein für alle Mal aufhalten würde. Es war die Zeit der Suezkanalkrise und des Ungarnaufstandes, man lebte in Angst vor einem neuerlichen Weltkrieg. „Eine gute Sache, diese Bombe,“ war die Meinung der Zuschauer auf der Spitalterrasse. Dass die Sowjetunion eine Atombombe entwickeln könnte, hielt man 1956 für unwahrscheinlich. Die Montebello Inseln würden wohl für längere Zeit verseucht sein von der Radioaktivität, aber wer wollte schon dorthin gehen! Hier in Wittenoom war man ausser jeglicher Gefahr, und die erhöhte radioaktive Belastung im Norden des Kontinentes würde sich wieder verflüchtigen, wie es bei den Versuchen im Mai geschehen war. An irgend eine Gefahr aus andern Quellen in der unmittelbaren Umwelt dachte niemand.

Eine Woche später brachte Lisa ihr Kind im Spital von Wittenoom zur Welt. Wieder ein Mädchen, „wie erwartet“, sagte Stephan. Er wolle gar keine Söhne, Töchter seien lustiger. Später würden sie schon für Schwiegersöhne sorgen für das Geschäft. Er träumte davon, einst mit eigener Familie ein Gewerbe zu betreiben, statt immer wieder fremdes Hilfspersonal einstellen zu müssen. Das Mädchen tauften sie Nancy, nach seiner Taufpatin. Pater Fred focht es bei der Taufe der Nancy Tarnai nicht an, dass die Patin nicht katholisch war.

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Der Erfolg des Holzunternehmens bewog Stephan und Lisa, die australische Staatsbürgerschaft anzunehmen. Sie waren jetzt sicher, dass sie nicht mehr nach Europa heimkehren würden, um sich dort niederzulassen. Stephan nannte sich von da ab Steve, wie ihn seine meisten Freunde ohnehin nannten, und Lisa kürzte ihren Namen ab auf Liz, das ihr englischer erschien als das umständliche Lisa. Sie begannen sich vermehrt um Politik zu kümmern. Steve wurde Mitglied der Labor Party. Auch als selbständiger Unternehmer wollte er sich für die Besserstellung der kleinen Leute einsetzen. Die Labor Party und die Gewerkschaften hatten bereits viele Verbesserungen in der Arbeitswelt erstritten, aber vieles lag seiner Meinung nach noch im Argen, es gab z.B. keinen öffentlichen Gesundheitsdienst. Für Fortschritte in sozialer Hinsicht konnte sich ein Kleinunternehmer mit ebenso viel Berechtigung einsetzen wie ein Angestellter.

Im achten Jahr ihres Aufenthaltes in Australien gönnte sich Steve einen längeren Arbeitsunterbruch, die ersten Ferien für die ganze Familie!

Sie leisteten sich ein bequemes und starkes Auto, einen Ford Mercury, nicht eine bescheidene ute, und los ging's. Ferien konnte man sich nur im Süden vorstellen. Die Reise dorthin war schon beinahe eine Expedition, 1600 Kilometer auf unasphaltierter Naturstrasse, teils holprig steinig, teils sandig-staubig unsicher durch vorerst eintönige Landschaft. Gegen Süden zu wurde die Gegend freundlicher, der bush war weniger karg, und die Kinder sahen zum ersten Mal im Leben ausgedehnte Getreidefelder. Plötzlich schrien sie: „Wasser, Wasser!“ Man fuhr über eine Brücke statt durch eine Furt in einem trockenen Flussbett, und da unten floss tatsächlich Wasser, obschon es nicht geregnet hatte.

Nun dauerte es nicht mehr lange bis Perth. Vor acht Jahren waren sie als Flüchtlinge daran vorbei gefahren, ohne etwas von der Hauptstadt des Staates Westaustralien kennen zu lernen. Das wollten sie jetzt nachholen. Es gab aber nicht allzu viel zu sehen, Perth war keine Grossstadt, und von den wenigen grössern Warenhäusern war Liz enttäuscht. In den Schaufenstern waren die Waren in langweiligen Reihen fantasielos aufgereiht, das Warenangebot schien ihr bescheiden, und die Fussböden bestanden teilweise aus knarrendem Holz. Da kaufte sie lieber in kleinen Eckläden ein, wo die Bedienung zuvorkommender war. Sie blieben nicht lange in der Stadt, sondern fuhren weiter nach Mandurah an die Küste südlich von Perth.

Im Meer zu schwimmen, am weiten Strand im Sand zu spielen, das war nun doch etwas anderes als der Badebetrieb in den kleinen Tümpeln zu Hause. Liz konnte nicht genug davon bekommen, Ebbe und Flut, die heran rollenden Wellen zu beobachten, und nachts dem unablässigen Rauschen des Meeres zu lauschen.

„Wie schön wäre es, in der Umgebung von Perth zu wohnen und zu arbeiten. Da könnten wir uns dieses Vergnügen öfters leisten,“ bemerkte sie einmal. Aber Steve hatte für diese Melodie kein Musikgehör.

Während einer Woche weilten auch alte Freunde, die von Wittenoom weggezogen waren, in Mandurah in den Ferien. Die Kinder beider Familie verstanden sich gut und spielten zusammen, während die Erwachsenen über gemeinsame Bekannte und über alte Zeiten plauderten.

„Wollt ihr nicht auch zu uns in den Süden kommen?“ wurden Steve und Liz gefragt. Man könne Steve sofort eine Stelle als Elektriker verschaffen, Berufsleute seien hier gesucht. In Wittenoom sei doch irgend etwas faul, wenn in der Mine fast nur Ausländer angestellt würden und nur die Vorgesetzten und das Personal in den Dienstleistungsbetrieben Australier seien. Steve wollte nichts davon wissen, denn sein Holzgeschäft ging nun so gut, dass er es nicht aufgeben wollte.

„Wir sind der Kinder wegen in den Süden gekommen, denn in Wittenoom gibt es ja nach der Grundschule keine weiterführenden Schulen oder Lehrstellen,“ wurde ihnen zu Bedenken gegeben.

„Später...vielleicht,“ meinte Liz vage, und dann wurde nicht mehr darüber gesprochen. Die Hoffnung blieb Liz, dass sich Steve vielleicht der Kinder wegen einmal umstimmen liesse. Aber noch waren sie in Wittenoom zu Hause, hatten dort ihre besten Freunde und als Lebensgrundlage ein gut gehendes Geschäft. Nach vier Wochen Ferien hatten sie genug vom Strandleben und kehrten frohgemut nach Hause zurück.

Es war nicht notwendig, der Ausbildung der Töchter wegen Wittenoom zu verlassen. Die meisten Kinder besuchten nach der Grundschule ein college mit Internat, die Mädchen vorwiegend das katholische college in Geraldton an der Küste nördlich von Perth. Das Schulgeld war – wie in katholischen Schulen üblich – niedrig, aber dazu kamen die Kosten für das Internat, das natürlich nicht von der Regierung subventioniert war. Geraldton war weit weg, die Reise teuer, nur für die Schulferien konnten die Internatsschülerinnen heimkehren.

Nach den Ferien herrschte bei der Abreise der Mädchen stets eine tränenselige Stimmung. Die Mütter standen mit nassen Augen beim Bus, und drinnen im Bus weinten die Mädchen. Nicht ganz alle Mädchen weinten, einzelne waren zuversichtlich, und nicht alle Mütter hatten nasse Augen. Liz freute sich darüber, dass ihren Töchtern die Gelegenheit geboten wurde, Neues zu sehen und zu lernen. Die allgemeine Heulerei, wenn man gesunde und wissbegierige Mädchen in die Welt hinaus schicken durfte und sie dort in sicherer Obhut wusste, war ihr unverständlich. Aber es machte sich besser, sich die Augen zu wischen, auch wenn sie trocken geblieben waren. Man wollte nicht auffallen.

Das Leben im abgelegenen Wittenoom zeigte sich von seiner sorglosen und heiteren Seite. An sich unbedeutende Ereignisse wurden wichtig und gaben tagelang zu lachen, zu reden und wurden immer wieder erzählt und kommentiert.

Ein ruhig begonnener Abend konnte unversehens in Tumult enden. Die kleine Nancy war bereits im Bett, Steve hörte im Schlafzimmer Radio, und Liz beschäftigte sich am Tisch in der Wohnstube mit Briefe schreiben. Da sah sie aus dem Augenwinkel neben ihrem Ellenbogen etwas züngeln. Nur keine Panik, die meisten Schlangen waren ja harmlos. Sie erhob sich ganz langsam, schob sich seitwärts am Tische vorbei und schaute vorsichtig zurück. Das war nun wirklich keine harmlose Python, sondern ohne jeden Zweifel eine king brown. Sie lag an der Rücklehne des Stuhles zusammengerollt. Welch ein Glück, dass Liz sich beim Schreiben nicht zurückgelehnt hatte. Jetzt fuhr die Schlage rasch auf den Boden bis in die Zimmerecke vor die Türe des Schlafzimmers, rollte sich wieder zusammen, hob den Kopf und züngelte nach allen Richtungen.

Steve war gefangen, Liz wagte sich nicht in die Nähe seiner Türe. Aber das Telefon konnte sie erreichen. Wen sollte sie um Hilfe bitten? Ob die Polizei oder das Spital die richtigen Instanzen waren? Nein, sie läutete dorthin an, wo sich am Abend tapfere Männer von des Tages Mühen erholten. Nach kaum fünf Minuten kam die Hilfe schon angebraust, bewaffnet mit Gartenwerkzeug aller Art. Jeder hatte schon einmal bei der Gartenarbeit mit dem nächstbesten Werkzeug eine Schlange verjagt oder vernichtet und schwor seither auf diesen seinen Spaten oder seine Schaufel oder was immer es sein mochte. Steve, der eingeschlafen war, erwachte von dem Heidenlärm und wollte heraus kommen, aber alle schrien „nein-um-Gotteswillen-komm-nicht-heraus-du-wirst-sonst-gebissen–“, es war ein Spektakel ohnegleichen. Das Feierabendbier machte sich bemerkbar und verlieh den Helden Mut, während die Schlange immer noch in ihrer Ecke züngelte.

Wie sollte man vorgehen? Liz sah schwarz für das schöne Mobiliar und fragte sich bereits, wie man den zu erwartenden Schaden beheben werde. Aber es gab keinen Schaden, einer der Männer schlug beherzt und präzise zu, und das Tier wand sich in Todeszuckungen.

Es war tatsächlich eine king brown. Sie wäre nicht gefährlich gewesen. Ihre Mitte war dick aufgebläht, sie hatte soeben eine reichliche Mahlzeit genossen und sich im Haus lediglich einen passenden Ruheplatz zum Verdauen und Schlafen gesucht. Das mochte wohl harmlos sein, aber einmal wäre sie wieder aufgewacht, hungrig und angriffslustig.

Die Hilfeleistung und Heldentat begoss man natürlich mit weiterem Bier, „man muss die Feste feiern wie sie fallen,“ und man hatte wieder Gesprächsstoff für ein paar Tage.

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Eines Tages stellte Liz fest, dass ihre Buchhaltung keinen Gewinn mehr auswies. Sie führte das anfänglich auf die vermehrten Ausgaben für ihre Töchter zurück. Gerade drei zusammen in college und Studium, das belastete das Familienbudget; die private Krankenversicherung für die Familie war teuer; Reparaturen und neue Bestandteile an Lastauto und Motorsäge, jede Ausgabe fiel plötzlich unverhältnismässig ins Gewicht. Liz drehte jeden penny zweimal um, bevor sie ihn ausgab. Die Einnahmen gingen zurück, das war das Problem. Die Bautätigkeit in der Stadt war fast eingestellt, und die Firma benötigte immer weniger Holz für die Mine. Liz sah deutlich, wie unsicher ihr bis vor kurzem lukratives Holzgeschäft eigentlich war. Man war, obschon eigener Unternehmer, gänzlich von der Bergbaugesellschaft abhängig. Da bereute sie es, nicht vor Jahren versucht zu haben, Steve von seinen Holzerplänen abzubringen. Ach, hätte sie damals doch darauf bestanden, in den Süden zu ziehen, wo er eine Stelle in seinem Beruf hätte annehmen können.

Steve sah sich sofort nach zusätzlichen Verdienstmöglichkeiten um. Der Koch im Hotel und Pub brauchte über die Wochenenden eine Hilfskraft. Wittenoom war für die Arbeiter in den neu entstehenden Eisenbaustädten der Pilbara ein beliebtes Ausflugsziel. Sie kamen aus dem nur 110 km entfernten Tom Price, oder von einem der sich stark entwickelnden Küstenorte und verbrachten ein Wochenende in der als Hauptstadt der Pilbara berühmten Asbeststadt.

Trotz des zusätzlichen Verdienstes war der Zusammenbruch nicht aufzuhalten. Steve musste seinen Holzbetrieb aufgeben, Laster und Säge mit Verlust verkaufen, konnte froh sein, die Sachen überhaupt losschlagen zu können. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als wieder im Bergbau zu arbeiten. Es war der Ruin, sie hatten nicht mehr die Mittel, um wegzuziehen, mit Ach und Krach brachte er das Geld auf, um die Ausbildung der Mädchen weiter zu bezahlen. Er arbeitete in der Freizeit an jedem Wochenende im Fortescue Hotel, um sich und seine Familie über Wasser zu halten.

Die neuerliche Arbeit im Staub bekam Steve schlecht. Nach zwei Jahren fühlte er sich immer öfters todmüde, manchmal wurde ihm leicht schwindlig und sogar schwarz vor den Augen. Bald einmal sah er sich ausser Stande, an jedem Wochenende im Fortescue zu arbeiten und zu Hause fiel ihm die sonst gewohnte gelegentliche Mithilfe im Garten immer schwerer. Als er im Herbst wie jedes Jahr für Lisa die Gartenbeete umgraben wollte, war er zu schwach, diese ihm sonst leicht fallende Arbeit zu beendigen. Er musste mit ansehen, wie Lisa allein damit zurecht kam.

Der Arzt wusste nicht, was ihm fehlte. Die Lunge sei angegriffen vom Staub in der Mine, aber das allein könne nicht der Grund sein für die übermässige Müdigkeit und den fast unstillbaren Durst, unter dem Steve litt. Da könne nur ein Spezialist im Universitätsspital in Perth helfen, und Dr. Oxer wollte ihn gleich dort anmelden. Steve wollte nichts davon wissen. Er sagte sich, Müdigkeit sei schliesslich keine Krankheit, die man im Spital behandeln könne. Er würde sich selber kurieren und sich in Zukunft mehr Ruhe gönnen, wie Liz ihm das seit Jahren immer wieder angeraten hatte. Da erlitt er einen totalen körperlichen Zusammenbruch und wurde bewusstlos von der Arbeit weg ins Spital zu Dr. Oxer gebracht. Zwar erholte er sich schnell von seiner Ohnmacht, aber ein Besuch im Spital in Perth liess sich nicht länger aufschieben.

Ohne öffentlichen Gesundheitsdienst bezahlte niemand einen Transport 1600 km weit. Wer einen Spezialisten benötigte, musste selber die Reise zu einem solchen bezahlen, auch die private Versicherung kam nicht dafür auf. Ein Flugbillet nach Perth konnte sich Steve nicht leisten, selber fahren in seinem Zustand kam nicht in Frage, und Liz traute er eine so weite Fahrt auf schlechter Strasse gar nicht zu. Doch er hatte Freunde, die er sich durch seine Hilfsbereitschaft und gute Kameradschaft erworben hatte. Einer von ihnen fuhr ihn nach Perth. Es war eine arge Strapaze auf der nicht asphaltierten, holprigen Strasse.

Die Aerzte in Perth fanden sehr schnell, dass Steve zuckerkrank war. Mit den richtigen Medikamenten und der entsprechenden Diät war er in drei Wochen wieder hergestellt.

Durch die Krankheit und den Verdienstausfall waren die wenigen Ersparnisse praktisch aufgebraucht. Die Familie konnte dennoch etwas aufatmen, denn die drei Töchter waren in der Zwischenzeit selbständig geworden. Rosa hatte an der Universität in Perth ihr degree erworben und unterrichtete an einer Schule deutsch und englisch. Ihren Namen kürzte sie ab auf Ros. Grety und Mary – so nannten sich Gretele und Marianne jetzt – beendigten ihre Handels- und Verwaltungsausbildung, und beide kehrten nach Wittenoom zurück. Die eine arbeitete in der Gemeindeverwaltung, die andere auf der Regionalbank.

Steve nahm vorläufig die Arbeit in der Mine wieder auf, er fühlte sich stark und unternehmungslustig wie früher. Er hatte nicht im Sinn, für immer im Asbestbergwerk zu bleiben. Er musste nur Zeit gewinnen, sich etwas Neues auszudenken, etwas Neues zu suchen. Mit erwachsenen Töchtern würde sich sicher etwas finden, das sie – wie er es erträumte – gemeinsam betreiben könnten.