Der
Holzweg
Nach fünf Jahren
Arbeit in der Asbestmine begann Stephan sich nach einer neuen Beschäftigung
umzusehen. Er wollte nicht noch länger dem sicher ungesunden Staub im
Bergwerk ausgesetzt sein. Die ABA zögerte Staub reduzierende Massnahmen,
wie sie in andern Bergwerken bestanden, immer wieder hinaus, hatte tausend
Ausreden, warum sie vorläufig nichts tun könne, vertröstete
auf später und missachtete dadurch die Gesetze. Mit Wasser und mit leistungsfähigen
Ventilatoren wäre eine Reduktion des Staubes auf ein erträgliches
Mass durchaus möglich gewesen. Die Direktoren der ABA verwiesen auf die
oberste Leitung der CSR in Sydney, die ihnen nicht die Kompetenz zu einer
Modernisierung des Betriebes erteilte.
Es sah so aus, als ob
die zuständigen Gremien der CSR die ABA nur als kurzlebiges Unternehmen
betrachteten, für das sich grössere Investitionen zur Verbesserung
des Arbeitsumfeldes für die Arbeiter kaum lohnten. Die Westaustralische
Regierung ihrerseits förderte Wittenoom, den neuen Hauptort der Pilbara,
und trieb die von Aerzten und Inspektoren verlangten Massnahmen nicht voran,
wollte die Entwicklung der neuen Stadt nicht mit Vorschriften behindern oder
gar gefährden.
Schon in den vierziger
Jahren waren Krankheitsfälle bekannt, die Menschen betrafen, welche Jahre
zuvor Asbeststaub ausgesetzt gewesen waren. Aber die Gefahren wurden als Hirngespinste
weltfremder Wissenschaftler ignoriert. Die Asbest verarbeitende Industrie
liess sich nicht dreinreden und versorgte das Baugewerbe und viele andere
Betriebe mit dem unverwüstlichen Stoff. Zementmischungen enthielten je
nach Verwendungszweck 5% bis über 40% Asbest. Asbestverputze, Spritzasbeste
wurden in Bauten wie Turnhallen und Hallenbädern, Bahnhöfen, Restaurants,
in Ladengeschäften, Fabrikhallen, Büros, erfolgreich als Brandschutz
angebracht. Ueberall, wo man besonders wertbeständig bauen wollte, griff
man zu Asbest, aber auch für weniger Anspruchsvolles war es ein leicht
zu beschaffendes und leicht zu bearbeitendes Material. Eternit war ein beliebtes
Asbestprodukt. Mit Welleternit deckte man Gartenhäuschen und Schuppen,
mit Eternitplatten belegte man selbst gebaute Garagenwände, es gab Eternitschindeln
für Hausfassaden, Eternitziegel, sogar Eternit Blumenkisten. Der Designerstuhl
von Willy Guhl war ein Eternitstuhl. Als Asbest nicht mehr verwendet werden
durfte, musste Guhl das Design abändern, denn mit dem asbestfreien Eternit,
das heute verwendet wird, wäre das ursprüngliche Modell nicht mehr
stabil gewesen. Die Eternit AG in Niederurnen verarbeitete den auf der ganzen
Welt häufig vorkommenden, weissen Asbest (Chrysotil), aber sie war auch
ein Kunde der ABA, denn ein Zusatz von blauem Asbest (Krokydolit) verstärkte
ihr Endprodukt markant. Asbest wurde auch versponnen, es entstanden Schutzanzüge
für Giessereiarbeiter und Feuerwehrmänner, Vorhänge in Theater
und Restaurant. Die Asbestgewebe waren unbrennbar und hitzebeständig.
Die Linoleumfabrik in Giubiasco war ein Kunde für den blauen Asbest aus
Wittenoom. Linoleum und linoleumähnliche Bodenbeläge wurden immer
beliebter, nicht nur in Läden und Werkstätten, auch im Einfamilienhäuschen.
*
Stephan schwebte irgend
ein eigenes Geschäft vor, in das er seine Ersparnisse stecken könnte.
Am liebsten wollte er das in Wittenoom versuchen, wo er sich heimisch fühlte.
Doch die Möglichkeiten zu einem eigenen Unternehmen waren beschränkt,
denn alles, die Häuser, die Läden, das Bauland, gehörte entweder
der Bergbaugesellschaft oder der westaustralischen Regierung. Die Firma hatte
die Macht, alles zu unterbinden, was ihr nicht in den Kram passte. Trotzdem
zeigte sich unerwartet eine Gelegenheit, die Stephan sofort ergriff. Der Holzlieferant,
der bis jetzt das Brennholz und das Bauholz für die Stadt und die Mine
geschlagen und geliefert hatte, wollte sich zurückziehen und schrieb
seinen Fünftonnenkipplastwagen, die Motorsäge und alles dazu gehörige
Werkzeug zum Verkauf aus.
Es war ein lukratives
Geschäft gewesen, der Mann war reich geworden, und Stephan war davon
überzeugt, dass das auch ihm gelingen werde. Er setzte seine ganze Ueberredungskunst
ein, auch Lisa zu überzeugen. Er hatte erwartet, dass sie enttäuscht
sein würde, denn sie hatte fest damit gerechnet, dass sie noch vor der
grossen Hitze in den Süden zögen. Ständig redete sie ihm die
Ohren voll, dass seine Aussichten gut seien, in der Umgebung von Perth eine
Stelle in seinem Beruf als Elektriker zu finden. Er aber wusste ihr jetzt
die Vorteile eines eigenen Unternehmens zu schildern, und schliesslich gab
sie ihre Zustimmung. Ohne ihr Einverständnis hätte er den Handel
nicht abgeschlossen.
Gegen geringen Pachtzins
erwarb er die Lizenz, überall im bush Holz zu schlagen. In der
näheren Umgebung war der bush zwar so karg, dass es sich kaum
lohnte, doch im Umkreis von 100 Kilometer standen viele schlagreife Baumgruppen.
Mit der ABA schloss er einen Vertrag ab für die Lieferung von Bauholz,
und damit war das Geschäft perfekt. Unabhängig von der Firma gab
es in Wittenoom keine Beschäftigung.
Lisa wusste seit langem,
dass sich Stephan nicht von einmal gemachten Plänen abbringen liess.
Deshalb hatte sie ihre Zustimmung schliesslich wenn auch widerstrebend
gegeben. Damit zerschlugen sich alle ihre eigenen Pläne und Hoffnungen.
Sie hatte nicht nur mit einem Umzug in den kühleren, milderen Süden
gerechnet, sondern auch gehofft, bald nach Europa reisen zu können, um
Eltern, Geschwister und alte Freunde zu besuchen. Das war nicht mehr möglich,
eine teure Reise konnten sie sich nicht leisten. Sämtliche Ersparnisse
wurden in das neue Geschäft gesteckt, die Schuhmacherwerkstatt wurde
verkauft, sogar die ute, der einstige Stolz, damit Stephan keine Schulden
machen musste.
Trotz der Enttäuschung
vertraute Lisa völlig darauf, dass Stephan nichts unternähme, was
die Sicherheit und das Wohlergehen der Familie gefährden könnte.
Ihr Vertrauen war bisher immer gerechtfertigt gewesen. Sie betrachtete es
als die Pflicht der Ehefrau, den Mann stets bedingungslos zu unterstützen.
Kaum war das Holzgeschäft
zustande gekommen, wurde Lisa schwanger. Da sagte sie sich, es sei letzten
Endes doch besser, in der vertrauten Umgebung zu bleiben. Einzig ein Umzug
in ein grösseres Haus mit Garage und Schuppen wurde notwendig.
Eigentlich konnten die
Kinder in Wittenoom in einer gut behüteten Gemeinschaft aufwachsen, besonders
da nun Pater Fred eine katholische Schule gründete neben der im Bau befindlichen
katholischen Kirche. Die Bevölkerung half mit Begeisterung am Bau von
Schule und Kirche. Letztere war aus Wellblech, einem Material, das dem stärksten
Zyklon standhielt. Mit ihrem gebogenen Dach glich sie einem altmodischen Flugzeughangar
trotz dem turmähnlichen Aufbau in der Mitte des Gebäudes. Die Schwestern,
die in der Schule unterrichteten, standen in hohem Ansehen, denn die katholischen
Schulen genossen einen guten Ruf. Die Regierung subventionierte sie, weshalb
das Schulgeld so niedrig war, dass es sich alle leisten konnten, die ihre
Kinder in eine solche Privatschule schicken wollten. Der Unterrichtsplan war
derselbe wie in der öffentlichen Schule, aber Lisa schätzte es,
dass mehr Disziplin herrschte, von den Nonnen mit Liebe und Geduld durchgesetzt.
Zu Hause in Europa waren
Alltag und Kirche eins gewesen, nichts durfte geschehen ohne Wissen der Kirche.
Lisa hatte in ihrer Jugend ihre Allmacht als Bedrückung empfunden, wenn
sie Fragen stellte, die zu stellen man ihr verwies, weil sie sündhaft
seien. Man hatte gar keine Wahl: Nicht am Kirchenleben teilnehmen bedeutete
gesellschaftliche Aechtung. Eigenes Denken musste heimlich geschehen, durfte
sich nicht öffentlich äussern, Zweifel war Sünde. Hier in der
Pilbara herrschte kein gesellschaftlicher Zwang, an kirchlichen Anlässen
teil zu nehmen. Man atmete freier hier, und wer teil nahm, tat es freiwillig
und mit Freude, seien das nun Katholiken auf der einen Seite oder Reformierte
auf der andern. Einige der besten Freunde waren nicht katholisch, Nancy und
Patrick, oder die Nachbarn Jim und Margaret. Beide Paare Mitglieder
der anglikanischen Kirche führten mit ihren Kindern ein harmonisches
Familienleben, ohne ein einziges Kruzifix oder Heiligenbild in ihrem Haus
hängen zu haben. Es kam nicht auf die Konfession an, da hatte der Katechismus
unrecht, den Lisa als kleines Mädchen kennen gelernt hatte.
Ja, das abgelegene Wittenoom
bot unbestreitbare Vorteile, Lisas Kinder lernten viele Lebensweisen kennen,
vernahmen durch die Menschen aus aller Herren Länder mehr von der Welt
draussen auf der andern Seite der Berge, am andern Ende des bushes,
als das im Vorarlberg in Lisas Jugendzeit möglich gewesen war. Man konnte
ihnen gefahrlos viel Freiheit gestatten, und es war kein Problem, sie dennoch
von unerwünschten Einflüssen fernzuhalten. Wer wusste schon, wie
es im Süden, wo alle hinwollten, damit bestellt wäre!
In einem Brief nach Hause
beschrieb Lisa das neue Unternehmen. Das Holzfällen sei in dem flachen
Land viel einfacher als im steilen Gelände im Ländle. Obschon
das Eukalyptusholz viel härter und schwerer ist als die Holzarten in
Europa, sei die Arbeit nicht so mühsam, denn sie hätten moderne
Maschinen und ein starkes Lastauto. Kein Wort über ihre Schwangerschaft,
sie wollte die Eltern nicht beunruhigen. Wenige Wochen vor dem Geburtstermin
erst schrieb Lisa, dass sie dann nicht erschrecken sollten, wenn ein Telegramm
käme. Dagegen erwähnte sie, dass sie nun die Buchhaltung besorge
und nach all den Jahren ihre Kenntnisse in Büroarbeit wieder anwenden
könne.
Der Holzhandel liess
sich gut an. Wochentags arbeitete Stephan allein, über die Wochenenden
stellte er manchmal zusätzliche Hilfskräfte ein. Es fanden sich
immer Grubenarbeiter, die in ihrer Freizeit etwas dazu verdienen wollten.
Natürlich waren
die Kinder enttäuscht, dass nun kein Auto mehr da war und dass sie die
meisten Sonntage ohne Vater verbringen mussten. Eines Sonntags früh aber
beschloss Stephan, die ganze Familie mit dem Lastauto zu einem Picknick in
den bush mitzunehmen, denn er habe einen romantischen kleinen Wald
entdeckt, wo sie sich im Schatten tummeln und spielen könnten, während
er arbeite. Die holprige Fahrt dauerte etwa zwei Stunden, und dann erwies
sich der malerische Ort als nicht viel mehr als ein Stück nicht ganz
so magerer bush wie anderswo. Die Eukalypten richten ihre langen, schmalen
Blätter mit der Kante gegen die Sonne aus, wodurch die Blattfläche
kaum von den heissen Sonnenstrahlen getroffen wird. Das vermindert die Verdunstung,
aber das einzelne Blatt wirft nur einen fadendünnen Schatten. Nur mächtige
Bäume mit grossen Kronen liefern etwas tieferen Schatten, doch nach solchen
Bäumen hielt Stephan nicht Ausschau, ihm gefiel ein Wald mit Stämmen
von unter 30 cm Durchmesser. Er erklärte, sie könnten auch in einem
mageren Schatten den mitgebrachten Imbiss verzehren und billy tea kochen,
aber seine Töchter und Lisa zeigten keine Begeisterung für dieses
Holzerpicknick. Er arbeitete verbissen drauflos, und sie konnten ihm nichts
helfen, er wünschte das auch gar nicht. Sie taten ihm nicht einmal den
Gefallen, ihn für seine Geschicklichkeit gebührend zu bewundern.
Da wurde er ärgerlich darüber, dass seine Familie seine Bemühungen,
trotz harter Arbeit einen Sonntag gemeinsam zu verbringen, so wenig schätzte,
und in gereizter Stimmung, verstaubt und müde, kehrten sie gegen Abend
zurück. Er zog es künftig vor, wieder ohne Familie am Sonntag auf
die Arbeit zu fahren. Hinterher lachten sie, und noch Jahre später, wenn
Stephan irgend einen Ausflug vorschlug, fragten sie ihn mit unschuldiger Miene,
ob er wieder einmal ein spannendes Holzerpicknick organisiere.
Nach anfänglichen
Pannen mit dem Laster und der Säge ging alles wie am Schnürchen,
Lisa sah eine heitere, sorglose Zukunft vor sich. Natürlich setzte der
Schwangeren die Sommerhitze zu, aber nicht mehr als in den vergangenen Jahren.
Nach Ostern wurde es wieder kühler, und sie freute sich vorbehaltlos
auf das Kind.
*
Sogar im abgelegenen
Wittenoom, dessen Bewohner sich kaum um Weltpolitik kümmerten, konnte
es vorkommen, dass sie Augenzeugen eines unfassbaren Geschehens wurden, das
mit der Weltpolitik verknüpft war, wie es am 19. Juni 1956 geschah. Die
Engländer führten im indischen Ozean geheime Atombombenversuche
durch, und zwar direkt vor der westaustralischen Küste zwischen Dampier
und Onslow, auf den Montebello Inseln. Schon vor Jahren hatten die ersten
Versuche dort stattgefunden, dann wurden sie in die südaustralische Wüste
verlegt, nahe der Grenze zu Westaustralien, und im vergangenen Mai wurde wieder
auf den Montebellos eine Bombe gezündet. Der Wind habe in einer nicht
erwarteten Richtung gegen das Festland geblasen und im ganzen Norden von Australien
sei vermehrte Radioaktivität festgestellt worden. Die Zeitungen waren
jetzt voll von dem zweiten, dem Vernehmen nach geheim gehaltenen Test, der
heute um zehn Uhr stattfinden werde.
Lisa war zu einer ärztlichen
Kontrolle im Spital und stand zusammen mit den Krankenschwestern und dem Arzt
auf der Terrasse. Sie wollten sich das geheime Schauspiel nicht entgehen lassen,
obschon alle daran zweifelten, dass man aus einer Entfernung von über
400 Kilometer etwas sehen könne. Um zehn Uhr entstand eine riesenhafte,
dunkle Wolke im klaren blauen Himmel im Nordwesten, stieg höher und bildete
den von vielen Bildern her bekannten Atompilz, der sich mit rasender Geschwindigkeit
ausbreitete.
Die Reaktion der Zuschauer
war weder Schrecken noch Zorn, sondern Bewunderung und Genugtuung! Das war
nun das Ding, das den Vormarsch des Kommunismus ein für alle Mal aufhalten
würde. Es war die Zeit der Suezkanalkrise und des Ungarnaufstandes, man
lebte in Angst vor einem neuerlichen Weltkrieg. Eine gute Sache, diese
Bombe, war die Meinung der Zuschauer auf der Spitalterrasse. Dass die
Sowjetunion eine Atombombe entwickeln könnte, hielt man 1956 für
unwahrscheinlich. Die Montebello Inseln würden wohl für längere
Zeit verseucht sein von der Radioaktivität, aber wer wollte schon dorthin
gehen! Hier in Wittenoom war man ausser jeglicher Gefahr, und die erhöhte
radioaktive Belastung im Norden des Kontinentes würde sich wieder verflüchtigen,
wie es bei den Versuchen im Mai geschehen war. An irgend eine Gefahr aus andern
Quellen in der unmittelbaren Umwelt dachte niemand.
Eine Woche später
brachte Lisa ihr Kind im Spital von Wittenoom zur Welt. Wieder ein Mädchen,
wie erwartet, sagte Stephan. Er wolle gar keine Söhne, Töchter
seien lustiger. Später würden sie schon für Schwiegersöhne
sorgen für das Geschäft. Er träumte davon, einst mit eigener
Familie ein Gewerbe zu betreiben, statt immer wieder fremdes Hilfspersonal
einstellen zu müssen. Das Mädchen tauften sie Nancy, nach seiner
Taufpatin. Pater Fred focht es bei der Taufe der Nancy Tarnai nicht an, dass
die Patin nicht katholisch war.
*
Der Erfolg des Holzunternehmens
bewog Stephan und Lisa, die australische Staatsbürgerschaft anzunehmen.
Sie waren jetzt sicher, dass sie nicht mehr nach Europa heimkehren würden,
um sich dort niederzulassen. Stephan nannte sich von da ab Steve, wie ihn
seine meisten Freunde ohnehin nannten, und Lisa kürzte ihren Namen ab
auf Liz, das ihr englischer erschien als das umständliche Lisa. Sie begannen
sich vermehrt um Politik zu kümmern. Steve wurde Mitglied der Labor Party.
Auch als selbständiger Unternehmer wollte er sich für die Besserstellung
der kleinen Leute einsetzen. Die Labor Party und die Gewerkschaften hatten
bereits viele Verbesserungen in der Arbeitswelt erstritten, aber vieles lag
seiner Meinung nach noch im Argen, es gab z.B. keinen öffentlichen Gesundheitsdienst.
Für Fortschritte in sozialer Hinsicht konnte sich ein Kleinunternehmer
mit ebenso viel Berechtigung einsetzen wie ein Angestellter.
Im achten Jahr ihres
Aufenthaltes in Australien gönnte sich Steve einen längeren Arbeitsunterbruch,
die ersten Ferien für die ganze Familie!
Sie leisteten sich ein
bequemes und starkes Auto, einen Ford Mercury, nicht eine bescheidene ute,
und los ging's. Ferien konnte man sich nur im Süden vorstellen. Die Reise
dorthin war schon beinahe eine Expedition, 1600 Kilometer auf unasphaltierter
Naturstrasse, teils holprig steinig, teils sandig-staubig unsicher durch vorerst
eintönige Landschaft. Gegen Süden zu wurde die Gegend freundlicher,
der bush war weniger karg, und die Kinder sahen zum ersten Mal im Leben
ausgedehnte Getreidefelder. Plötzlich schrien sie: Wasser, Wasser!
Man fuhr über eine Brücke statt durch eine Furt in einem trockenen
Flussbett, und da unten floss tatsächlich Wasser, obschon es nicht geregnet
hatte.
Nun dauerte es nicht
mehr lange bis Perth. Vor acht Jahren waren sie als Flüchtlinge daran
vorbei gefahren, ohne etwas von der Hauptstadt des Staates Westaustralien
kennen zu lernen. Das wollten sie jetzt nachholen. Es gab aber nicht allzu
viel zu sehen, Perth war keine Grossstadt, und von den wenigen grössern
Warenhäusern war Liz enttäuscht. In den Schaufenstern waren die
Waren in langweiligen Reihen fantasielos aufgereiht, das Warenangebot schien
ihr bescheiden, und die Fussböden bestanden teilweise aus knarrendem
Holz. Da kaufte sie lieber in kleinen Eckläden ein, wo die Bedienung
zuvorkommender war. Sie blieben nicht lange in der Stadt, sondern fuhren weiter
nach Mandurah an die Küste südlich von Perth.
Im Meer zu schwimmen,
am weiten Strand im Sand zu spielen, das war nun doch etwas anderes als der
Badebetrieb in den kleinen Tümpeln zu Hause. Liz konnte nicht genug davon
bekommen, Ebbe und Flut, die heran rollenden Wellen zu beobachten, und nachts
dem unablässigen Rauschen des Meeres zu lauschen.
Wie schön wäre
es, in der Umgebung von Perth zu wohnen und zu arbeiten. Da könnten wir
uns dieses Vergnügen öfters leisten, bemerkte sie einmal. Aber
Steve hatte für diese Melodie kein Musikgehör.
Während einer Woche
weilten auch alte Freunde, die von Wittenoom weggezogen waren, in Mandurah
in den Ferien. Die Kinder beider Familie verstanden sich gut und spielten
zusammen, während die Erwachsenen über gemeinsame Bekannte und über
alte Zeiten plauderten.
Wollt ihr nicht auch
zu uns in den Süden kommen? wurden Steve und Liz gefragt. Man könne
Steve sofort eine Stelle als Elektriker verschaffen, Berufsleute seien hier
gesucht. In Wittenoom sei doch irgend etwas faul, wenn in der Mine fast nur
Ausländer angestellt würden und nur die Vorgesetzten und das Personal
in den Dienstleistungsbetrieben Australier seien. Steve wollte nichts davon
wissen, denn sein Holzgeschäft ging nun so gut, dass er es nicht aufgeben
wollte.
Wir sind der Kinder
wegen in den Süden gekommen, denn in Wittenoom gibt es ja nach der Grundschule
keine weiterführenden Schulen oder Lehrstellen, wurde ihnen zu Bedenken
gegeben.
Später...vielleicht,
meinte Liz vage, und dann wurde nicht mehr darüber gesprochen. Die Hoffnung
blieb Liz, dass sich Steve vielleicht der Kinder wegen einmal umstimmen liesse.
Aber noch waren sie in Wittenoom zu Hause, hatten dort ihre besten Freunde
und als Lebensgrundlage ein gut gehendes Geschäft. Nach vier Wochen Ferien
hatten sie genug vom Strandleben und kehrten frohgemut nach Hause zurück.
Es war nicht notwendig,
der Ausbildung der Töchter wegen Wittenoom zu verlassen. Die meisten
Kinder besuchten nach der Grundschule ein college mit Internat, die
Mädchen vorwiegend das katholische college in Geraldton an der
Küste nördlich von Perth. Das Schulgeld war wie in katholischen
Schulen üblich niedrig, aber dazu kamen die Kosten für das
Internat, das natürlich nicht von der Regierung subventioniert war. Geraldton
war weit weg, die Reise teuer, nur für die Schulferien konnten die Internatsschülerinnen
heimkehren.
Nach den Ferien herrschte
bei der Abreise der Mädchen stets eine tränenselige Stimmung. Die
Mütter standen mit nassen Augen beim Bus, und drinnen im Bus weinten
die Mädchen. Nicht ganz alle Mädchen weinten, einzelne waren zuversichtlich,
und nicht alle Mütter hatten nasse Augen. Liz freute sich darüber,
dass ihren Töchtern die Gelegenheit geboten wurde, Neues zu sehen und
zu lernen. Die allgemeine Heulerei, wenn man gesunde und wissbegierige Mädchen
in die Welt hinaus schicken durfte und sie dort in sicherer Obhut wusste,
war ihr unverständlich. Aber es machte sich besser, sich die Augen zu
wischen, auch wenn sie trocken geblieben waren. Man wollte nicht auffallen.
Das Leben im abgelegenen
Wittenoom zeigte sich von seiner sorglosen und heiteren Seite. An sich unbedeutende
Ereignisse wurden wichtig und gaben tagelang zu lachen, zu reden und wurden
immer wieder erzählt und kommentiert.
Ein ruhig begonnener
Abend konnte unversehens in Tumult enden. Die kleine Nancy war bereits im
Bett, Steve hörte im Schlafzimmer Radio, und Liz beschäftigte sich
am Tisch in der Wohnstube mit Briefe schreiben. Da sah sie aus dem Augenwinkel
neben ihrem Ellenbogen etwas züngeln. Nur keine Panik, die meisten Schlangen
waren ja harmlos. Sie erhob sich ganz langsam, schob sich seitwärts am
Tische vorbei und schaute vorsichtig zurück. Das war nun wirklich keine
harmlose Python, sondern ohne jeden Zweifel eine king brown. Sie lag
an der Rücklehne des Stuhles zusammengerollt. Welch ein Glück, dass
Liz sich beim Schreiben nicht zurückgelehnt hatte. Jetzt fuhr die Schlage
rasch auf den Boden bis in die Zimmerecke vor die Türe des Schlafzimmers,
rollte sich wieder zusammen, hob den Kopf und züngelte nach allen Richtungen.
Steve war gefangen, Liz
wagte sich nicht in die Nähe seiner Türe. Aber das Telefon konnte
sie erreichen. Wen sollte sie um Hilfe bitten? Ob die Polizei oder das Spital
die richtigen Instanzen waren? Nein, sie läutete dorthin an, wo sich
am Abend tapfere Männer von des Tages Mühen erholten. Nach kaum
fünf Minuten kam die Hilfe schon angebraust, bewaffnet mit Gartenwerkzeug
aller Art. Jeder hatte schon einmal bei der Gartenarbeit mit dem nächstbesten
Werkzeug eine Schlange verjagt oder vernichtet und schwor seither auf diesen
seinen Spaten oder seine Schaufel oder was immer es sein mochte. Steve, der
eingeschlafen war, erwachte von dem Heidenlärm und wollte heraus kommen,
aber alle schrien nein-um-Gotteswillen-komm-nicht-heraus-du-wirst-sonst-gebissen,
es war ein Spektakel ohnegleichen. Das Feierabendbier machte sich bemerkbar
und verlieh den Helden Mut, während die Schlange immer noch in ihrer
Ecke züngelte.
Wie sollte man vorgehen?
Liz sah schwarz für das schöne Mobiliar und fragte sich bereits,
wie man den zu erwartenden Schaden beheben werde. Aber es gab keinen Schaden,
einer der Männer schlug beherzt und präzise zu, und das Tier wand
sich in Todeszuckungen.
Es war tatsächlich
eine king brown. Sie wäre nicht gefährlich gewesen. Ihre
Mitte war dick aufgebläht, sie hatte soeben eine reichliche Mahlzeit
genossen und sich im Haus lediglich einen passenden Ruheplatz zum Verdauen
und Schlafen gesucht. Das mochte wohl harmlos sein, aber einmal wäre
sie wieder aufgewacht, hungrig und angriffslustig.
Die Hilfeleistung und
Heldentat begoss man natürlich mit weiterem Bier, man muss die Feste
feiern wie sie fallen, und man hatte wieder Gesprächsstoff für
ein paar Tage.
*
Eines Tages stellte Liz
fest, dass ihre Buchhaltung keinen Gewinn mehr auswies. Sie führte das
anfänglich auf die vermehrten Ausgaben für ihre Töchter zurück.
Gerade drei zusammen in college und Studium, das belastete das Familienbudget;
die private Krankenversicherung für die Familie war teuer; Reparaturen
und neue Bestandteile an Lastauto und Motorsäge, jede Ausgabe fiel plötzlich
unverhältnismässig ins Gewicht. Liz drehte jeden penny zweimal um,
bevor sie ihn ausgab. Die Einnahmen gingen zurück, das war das Problem.
Die Bautätigkeit in der Stadt war fast eingestellt, und die Firma benötigte
immer weniger Holz für die Mine. Liz sah deutlich, wie unsicher ihr bis
vor kurzem lukratives Holzgeschäft eigentlich war. Man war, obschon eigener
Unternehmer, gänzlich von der Bergbaugesellschaft abhängig. Da bereute
sie es, nicht vor Jahren versucht zu haben, Steve von seinen Holzerplänen
abzubringen. Ach, hätte sie damals doch darauf bestanden, in den Süden
zu ziehen, wo er eine Stelle in seinem Beruf hätte annehmen können.
Steve sah sich sofort
nach zusätzlichen Verdienstmöglichkeiten um. Der Koch im Hotel und
Pub brauchte über die Wochenenden eine Hilfskraft. Wittenoom war für
die Arbeiter in den neu entstehenden Eisenbaustädten der Pilbara ein
beliebtes Ausflugsziel. Sie kamen aus dem nur 110 km entfernten Tom Price,
oder von einem der sich stark entwickelnden Küstenorte und verbrachten
ein Wochenende in der als Hauptstadt der Pilbara berühmten Asbeststadt.
Trotz des zusätzlichen
Verdienstes war der Zusammenbruch nicht aufzuhalten. Steve musste seinen Holzbetrieb
aufgeben, Laster und Säge mit Verlust verkaufen, konnte froh sein, die
Sachen überhaupt losschlagen zu können. Es blieb ihm nichts anderes
übrig, als wieder im Bergbau zu arbeiten. Es war der Ruin, sie hatten
nicht mehr die Mittel, um wegzuziehen, mit Ach und Krach brachte er das Geld
auf, um die Ausbildung der Mädchen weiter zu bezahlen. Er arbeitete in
der Freizeit an jedem Wochenende im Fortescue Hotel, um sich und seine Familie
über Wasser zu halten.
Die neuerliche Arbeit
im Staub bekam Steve schlecht. Nach zwei Jahren fühlte er sich immer
öfters todmüde, manchmal wurde ihm leicht schwindlig und sogar schwarz
vor den Augen. Bald einmal sah er sich ausser Stande, an jedem Wochenende
im Fortescue zu arbeiten und zu Hause fiel ihm die sonst gewohnte gelegentliche
Mithilfe im Garten immer schwerer. Als er im Herbst wie jedes Jahr für
Lisa die Gartenbeete umgraben wollte, war er zu schwach, diese ihm sonst leicht
fallende Arbeit zu beendigen. Er musste mit ansehen, wie Lisa allein damit
zurecht kam.
Der Arzt wusste nicht,
was ihm fehlte. Die Lunge sei angegriffen vom Staub in der Mine, aber das
allein könne nicht der Grund sein für die übermässige
Müdigkeit und den fast unstillbaren Durst, unter dem Steve litt. Da könne
nur ein Spezialist im Universitätsspital in Perth helfen, und Dr. Oxer
wollte ihn gleich dort anmelden. Steve wollte nichts davon wissen. Er sagte
sich, Müdigkeit sei schliesslich keine Krankheit, die man im Spital behandeln
könne. Er würde sich selber kurieren und sich in Zukunft mehr Ruhe
gönnen, wie Liz ihm das seit Jahren immer wieder angeraten hatte. Da
erlitt er einen totalen körperlichen Zusammenbruch und wurde bewusstlos
von der Arbeit weg ins Spital zu Dr. Oxer gebracht. Zwar erholte er sich schnell
von seiner Ohnmacht, aber ein Besuch im Spital in Perth liess sich nicht länger
aufschieben.
Ohne öffentlichen
Gesundheitsdienst bezahlte niemand einen Transport 1600 km weit. Wer einen
Spezialisten benötigte, musste selber die Reise zu einem solchen bezahlen,
auch die private Versicherung kam nicht dafür auf. Ein Flugbillet nach
Perth konnte sich Steve nicht leisten, selber fahren in seinem Zustand kam
nicht in Frage, und Liz traute er eine so weite Fahrt auf schlechter Strasse
gar nicht zu. Doch er hatte Freunde, die er sich durch seine Hilfsbereitschaft
und gute Kameradschaft erworben hatte. Einer von ihnen fuhr ihn nach Perth.
Es war eine arge Strapaze auf der nicht asphaltierten, holprigen Strasse.
Die Aerzte in Perth fanden
sehr schnell, dass Steve zuckerkrank war. Mit den richtigen Medikamenten und
der entsprechenden Diät war er in drei Wochen wieder hergestellt.
Durch die Krankheit und
den Verdienstausfall waren die wenigen Ersparnisse praktisch aufgebraucht.
Die Familie konnte dennoch etwas aufatmen, denn die drei Töchter waren
in der Zwischenzeit selbständig geworden. Rosa hatte an der Universität
in Perth ihr degree erworben und unterrichtete an einer Schule deutsch
und englisch. Ihren Namen kürzte sie ab auf Ros. Grety und Mary
so nannten sich Gretele und Marianne jetzt beendigten ihre Handels-
und Verwaltungsausbildung, und beide kehrten nach Wittenoom zurück. Die
eine arbeitete in der Gemeindeverwaltung, die andere auf der Regionalbank.
Steve nahm vorläufig
die Arbeit in der Mine wieder auf, er fühlte sich stark und unternehmungslustig
wie früher. Er hatte nicht im Sinn, für immer im Asbestbergwerk
zu bleiben. Er musste nur Zeit gewinnen, sich etwas Neues auszudenken, etwas
Neues zu suchen. Mit erwachsenen Töchtern würde sich sicher etwas
finden, das sie wie er es erträumte gemeinsam betreiben
könnten.
Asbest
und KÄngurus | 1 | 2 | 3 | 4 | 5 | 6 | 7 | 8 | 9 | 10 | 11 | 12 | 13 | 14 | 15 | 16 | 17 | 18 | 19