21.
März 1993
Ich sitze mit Fritz bei
Liz und Steve, und wir haben ihnen mit wachsender Verwirrung zugehört.
Mir liegen tausend Fragen
auf der Zunge, und ich weiss nicht, wie ich sie formulieren soll. Warum hat
man sich dermassen stur gewehrt, Wittenoom zu verlassen? Warum will man an
einem Ort, von dem so viel Leid in die Welt hinaus ging, überhaupt noch
bleiben? Ich sehe zwar die Schönheit des Gebirges, das so überraschend
aus der flachen Einöde auftaucht, ganz ähnlich wie der berühmte
Ayers Rock im Zentrum von Australien. Die verborgenen Schluchten, die windzerzausten
Höhen, die lieblichen Täler hier, bergen viel mehr touristische
Attraktionen als jener berühmte Monolith. Ich kann meinem Zweifel an
der Vernunft ihres Kampfes um die Stadt einerseits, und meinem Verständnis
und meiner Anteilnahme am Schicksal der betroffenen Menschen andererseits
nicht Ausdruck geben und frage verlegen:
Und, wie geht es jetzt
weiter?
Oh, es ist keineswegs
hoffnungslos, sagt Steve. 1989 wurde von der Regierung eine unabhängige
Kommission ernannt, um alles noch einmal genau zu prüfen und Empfehlungen
für das weitere Vorgehen auszuarbeiten. Der Bericht der Kommission ist
soeben heraus gekommen.
Steve gibt uns die Schlussfolgerungen
des Verfassers zu lesen. Sie scheinen tatsächlich hoffnungsvoll. Es wird
eine letzte Anstrengung zur Beseitigung der wenigen, noch vorhandenen tailings empfohlen, um ein unter Umständen doch noch bestehendes Risiko ganz auszuschliessen.
Dann aber müssten die Zugänge zu den ehemaligen Minen, hinten in
der Wittenoom Gorge und bei der Colonial Mine im Seitental, streng abgeriegelt
werden. Die Kosten und die technischen Probleme würden es verunmöglichen,
den Zustand wie vor dem Bergbau wieder herzustellen, weshalb das ganze Gebiet
unzugänglich gemacht werden müsse. Ein hoher Zaun wäre die
einfachste Methode. Es wäre wünschenswert, ein Museum über
die Entwicklung des ganzen Ortes und über Asbest im Allgemeinen einzurichten.
Was immer in Wittenoom geschehe, die Touristen würden sich nie davon
abhalten lassen, diesen Teil der Hamersley Ranges zu besuchen. Ein lebendiges,
gut aufgebautes Museum, das auch die Tier- und Pflanzenwelt und die Ausflugsmöglichkeiten
in die Berge zeige, wäre ein Anziehungspunkt, wie man das andernorts
gesehen habe, wo Museen in Nationalparks eifrig besucht würden.
Und die Asbestfasern
in der Luft, davon steht gar nichts, frage ich.
Natürlich wurde
die Luft auch untersucht, mit verschiedenen Methoden und mehrmals im Laufe
der vergangenen Jahre. Die Resultate waren immer dieselben: Die Konzentration
von frei schwebenden Fasern ist tief unter dem in vielen Ländern geltenden
Grenzwert. Im Zentrum von Perth ist sie höher.
Liz glaubt nur halb daran,
dass der neue Bericht die Regierung zum Einlenken bringen werde. Es müssten
wohl eher politische Gründe sein, dass man die Menschen vertreiben und
die Stadt verschwinden lassen wolle, denn gesundheitliche Gründe gebe
es keine mehr. Nancy und Dan seien natürlich überzeugt davon, dass
sie hier eine gute Zukunft hätten.
Aber ich weiss nicht
recht. Man hat uns so oft glauben machen, es sei alles in Ordnung, und dann,
nach einer gewissen Zeit erfindet eine andere Regierungsabteilung etwas Neues,
um uns das Leben schwer zu machen.
Von privatem Grund und
Boden könne man niemanden vertreiben, dagegen gebe es Gesetze, es könne
ihnen eigentlich gar nichts passieren, erklärt Steve und fährt gleich
weiter:
Es ist schlimm, wurde
so viel Geld ausgegeben, um zu zerstören. Hätte man das Geld eingesetzt,
um systematisch den Ort sicher zu machen und zu verschönern, es wäre
heute ein blühender Ferienort. Kaufen, um sofort abzureissen, was sie
einst gefördert oder selber erbaut hat, tiefer kann eine Regierung nicht
sinken.
Unüberhörbar
ist die Bitterkeit in den Bemerkungen von Liz:
Als unsere Männer
hart arbeiteten, als junge Leute krank wurden, starben, als unsere Kinder
in den tailings spielten, da hat kein Hahn danach gekräht, ob
das gesund sei oder nicht. Heute ist die Gefahr vorbei, und plötzlich
sorgen sich die Behörden um die Gesundheit der Wittenoomer! Was sollen
wir davon halten?
Dann bringt sie Tee und
Kuchen und die Stimmung schlägt um:
Ich denke, es gibt keinen
hundertprozentig sicheren Ort. Aber hier ist es sicherer als an vielen andern
Orten und viel schöner, das sowieso.
Nun kommt auch Nancy
mit ihrer Tochter Cathy, ist fröhlich, spricht davon, dass sie und Dan
ihr Haus vergrössern wollen, Dan habe bereits Blech für das Dach
aufgetrieben.
Ist das nicht riskant,
solche Investitionen, wenn hier alles noch in der Schwebe ist? fragt Fritz. Ich meine, die Empfehlungen des jüngsten Berichtes sind ja noch gar
nicht angenommen durch die Regierung.
Da machen wir uns keine
Sorgen. Schon bald sind in Westaustralien die Parlamentswahlen, es steht ein
Regierungswechsel bevor. Unser Kandidat war bei uns. Seine Partei will unsere
Sache fördern und die Empfehlungen durchsetzen, sobald sie gewählt
ist.
Als wir uns am folgenden
Tag von Doreen, der Besitzerin der Ferienhäuser, verabschieden, gibt
sie ebenfalls ihrem Optimismus Ausdruck, wenn auch mit einschläfernd
monotoner Stimme:
Dieser Bericht mit seinen
Empfehlungen darauf kann man nicht bauen , aber wir werden hier
bleiben.
Wir fahren langsam durch
den Ort. Liz bedient die Tankstelle. Das gehört zu den Großmutterpflichten,
denn Nancy sitzt mit ihrer Tochter vor dem Radio, es ist die Schulstunde der School of the Air.
Dürfen wir zuschauen,
oder stört es Cathy? frage ich neugierig.
Es schauen öfters
Fremde zu, sie ist es gewohnt.
Die kleine Schülerin
sitzt vor dem Radio, konzentriert sich auf ihr Buch und die Stimme des Lehrers.
Er ruft Namen auf, Kinderstimmen antworten, auch Cathy wird aufgerufen, gibt
eine Antwort ins Mikrofon, sagt zuletzt gewandt over, folgt mit dem
Finger einer Textzeile in ihrem Buch. Mutter Nancy sitzt daneben, überwacht
und macht Notizen. Sie wird später das Gehörte mit dem Kind wiederholen.
Cathy ist das einzige
Kind in Wittenoom. Ihre Schulkamerädlein kennt sie nicht, sie sind bis
1000 km entfernt, Kinder in abgelegenen cattle stations. Die School
of the Air vermittelt ihnen per Rundfunk eine solide Schulbildung.
Abschied nehmen, winken,
das Versprechen, irgend einmal wieder nach Wittenoom zu kommen. Wir fahren
Richtung Auski Roadhouse, dem Gebirge entlang. Bei dem Roadhouse stehen etwa
zehn winzige Kabinen mit je einem Kajütenbett.
Da wohnten wir in Doreens
Ferienhaus bequemer, trotz Frosch in der Toilette, Kakerlaken und quietschenden
Betten.
Wir biegen in den Great
Northern Highway ein, fahren Richtung Norden an die Küste und stossen
dort wieder auf die Strasse No.1.
Asbest
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