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Die neue Entwicklung der Stadt

Liz und Steve sahen sich am selben Punkt wie vor 16 Jahren bei ihrer Ankunft in Australien: Kein Geld und keine Arbeit. Aber damals hatte ihnen die Regierung für zwei Jahre ein Auskommen zugesichert, heute waren sie auf sich allein gestellt. Aber nein, fand Liz, so schlimm sei es doch auch wieder nicht. Sie besassen ja eine Menge Wertgegenstände: Eine Nähmaschine und ein Radio; Schreibmaschine, Kühlschrank, Waschmaschine; einen Fotoapparat und Schweizer Armbanduhren. Sie waren reich, auch ohne Geld.

Ausgerechnet jetzt, zu einem Zeitpunkt, da die Zukunft so ungewiss war, wurde Liz wieder schwanger. Ihre Freude darüber hielt sich in Grenzen. Einzig die Hoffnung, ihrem Mann doch noch einen Stammhalter zu schenken, gab ihr etwas Mut für die kommenden Monate. Steve allerdings beharrte darauf, dass sie keine Knaben bekämen, seine Familie sei ein Mädchenheim, und er finde das viel lustiger, wie er schon bei Nancys Geburt gesagt habe. Von dem scherzhaften Geplänkel zwischen Vater und Mutter bekam natürlich auch Nancy etwas zu hören, und man musste ihr erklären, dass im nächsten Winter ein Baby ankommen werde. Das war für das kleine Mädchen eine Sensation, die es sofort allen Nachbarn ausplauderte. Die reagierten eher gleichgültig und gar nicht so erfreut, wie Nancy erwartet hatte. Liz gegenüber äusserten sie später ihr Mitleid darüber, dass sie ausgerechnet in dieser schwierigen Zeit noch einen Nachzügler erwarte.

Jeden Tag verliessen Familien die Stadt, zu deren Entwicklung sie noch vor kurzem mit Eifer beigetragen hatten. Die besten Freunde reisten ab, Patrick und Nancy, die Patin von klein Nancy, und Jim und Margret, die lieb gewordenen Nachbarn. Liz war untröstlich, als sie Abschied nahmen. Aber sie sagte sich, auch für sie komme bald die Zeit, Wittenoom zu verlassen, endlich in den Süden zu ziehen. Da würden sie einander ja wieder sehen, damit versuchte sie sich zu trösten. Vorläufig arbeitete Steve als „Mann für alles“ im Fortescue Hotel, aber mit dem geringen Lohn konnte er keine Familie durchbringen. Er würde eine Anstellung im Süden suchen müssen, sie würde ihr Kind dort zur Welt bringen. Es wäre schöner gewesen, aus eigenem, freiem Entschluss und mit einem gewissen finanziellen Polster Wittenoom zu verlassen, statt gezwungenermassen und knapp bei Kasse. Sie wartete jetzt nur auf eine günstige Gelegenheit, mit Steve über den bevorstehenden Umzug zu sprechen, und wie man ihn finanzieren wolle. Aber dieser wollte von Arbeitsuche im Süden nichts wissen, schien ganz andere Pläne zu haben.

Dr. Oxer sass in letzter Zeit häufig mit Steve zusammen und steckte ihn mit seinem Optimismus über die künftige Entwicklung der Stadt an. Er hatte schon lange die touristischen Möglichkeiten der Region erkannt und in seiner Freizeit begonnen, Täler und Höhenzüge zu erforschen, die zum Teil noch gar nicht benannt waren. Er wollte die Mittel finden, Schluchten und Aussichtspunkte für Touristen zugänglich zu machen. Als erstes aber schien ihm ein weiteres Restaurant wünschenswert. Viele Besucher würden ein Café mit einfachen Mahlzeiten dem Betrieb im Fortescue Pub vorziehen. Er fragte Steve, ob er nicht mit ihm zusammen eine solche Gaststätte eröffnen wolle. Steve würde etwas Erfahrung im Gastgewerbe einbringen, er selber wollte das notwendige Betriebskapital beitragen.

Steve und Liz überlegten nicht lange. Wenn sie das Risiko nicht allein tragen mussten, war es für sie kein Problem, einen solchen Betrieb zu führen. Liz blieb kaum etwas anderes übrig, als dem Plan zuzustimmen. Vielleicht war das der Ungewissheit im Süden vorzuziehen, besonders jetzt, da sie schwanger war. Wieder einmal redete sie sich ein, dass es vernünftiger war, hier in Wittenoom zu bleiben.

Sie mieteten das Versammlungslokal der Bergleute, das nicht mehr gebraucht wurde, und richteten Küche und Gaststube ein. Das bescheidene Café war von Anfang an ein Erfolg. Liz führte die Buchhaltung, besorgte den Einkauf und überwachte die Vorräte; mehr war ihr vorläufig wegen der Schwangerschaft nicht möglich. Aber sie fasste Mut und sah die Zukunft wieder in helleren Farben.

Einzig die kleine Nancy war unglücklich, alle ihre besten Spielkameraden waren verschwunden.

„Wo sind die O'Neills, wo sind die Campbells? Was ist los mit den Guthries?“ jammerte sie. Man tröstete sie irgendwie und kümmerte sich dann weiter um das neue Restaurant. Niemand hatte Zeit, Vergangenem nachzutrauern. Nach den langen Sommerferien wohnten im Februar nur noch sechs katholische, schulpflichtige Kinder hier. Da wollte die katholische Kirche die Schule nicht weiter führen, die von allen geliebten und geachteten Schwestern zogen weg, und Nancy besuchte von da an die öffentliche Schule und gewann neue Freunde.

Von den weit über 1000 Einwohnern blieben 140 zurück. Die Stille war unheimlich, und sie war besonders schwer zu ertragen, weil es nach vielen regenreichen Sommern wieder einmal vollkommen trocken blieb. Tag für Tag brannte die Sonne unbarmherzig von einem wolkenlosen Himmel, es war wie in den ersten Jahren ihres Aufenthaltes, da man von Woche zu Woche, von Monat zu Monat vergeblich auf Regen gehofft hatte.

Im Herbst und Winter, als die Temperaturen wieder angenehm waren, kamen immer mehr Besucher nach Wittenoom, und die wenigen Zimmer im Fortescue Hotel genügten der Nachfrage nicht. Da sorgte Dr. Oxer für preiswerte Fremdenzimmer in leer stehenden Häusern, was dem Café zusätzlichen Aufschwung brachte.

Im August kam, wie Liz gehofft hatte, ein Sohn zur Welt. Charles Paul Steve wurde er getauft, und Vater Steve schnappte fast über vor Freude. Es sei doch gut, in seinem Mädchenheim einen Knaben zu wissen. An der Geburt eines Kindes in der verwaisten Stadt nahmen alle Bewohner Anteil. Man betrachtete es als ein gutes Omen, dass am Anfang einer neuen Entwicklung ein gesundes Knäblein geboren wurde.

Als sich Liz von der Geburt erholt hatte, zog sie die Küchenschürze über und stand von früh bis spät in der Küche des immer besser gehenden Restaurants. Es ging tatsächlich so gut, dass die beiden Töchter Mary und Grety ihre Stellen bei der Bank und der Gemeindeverwaltung aufgaben und im Café mitarbeiteten. Da verwirklichte sich Steves Traum, mit der eigenen Familie ein Gewerbe zu betreiben ohne auf fremde Angestellte angewiesen zu sein.

*

Die CSR verkaufte Lang Hancock die Schürfrechte, die sie seinerzeit von ihm gekauft hatte. Sie betrafen nicht nur Asbest, sondern auch Eisenerz, das unter der Asbestschicht in grosser Menge vorhanden war. Hancock besass andernorts noch viele Schürfrechte, erhielt von vielen Minen Zinsen für die Pacht dieser Rechte. Er war zudem der Erbe einer der grössten cattle stations, der Mulga Downs, er war der reichste Unternehmer weit und breit. Die verbliebenen Wittenoomer sahen bald, dass er vorläufig nicht am Eisenerzabbau im Wittenoomtal interessiert war. Er behielt immerhin sein Hauptquartier hier, die Firma Hancock und Wright. Die Western Mining Company und die Hamersley Exploration vergrösserten ihre Büros und Laboratorien. Zahlreiche selbständige Gold- und Mineralsucher kamen nun ebenfalls nach Wittenoom und betrieben gemeinsam ein Labor.

Die Regierung begann, leer stehende Häuser zu günstigem Preis zu verkaufen. Das zog nun ältere Rentner an, die sich hier niederliessen, weil ihnen die schöne Lage und das unbeschwerte Leben zusagten. Einige der Häuser waren zwar in traurigem Zustand. Den Goldsuchern war das gleichgültig, und die Rentner renovierten sie, pflegten die verwahrlosten Gärten und brachten sie wieder zum Blühen. Langsam stieg die Bevölkerungszahl wieder an bis gegen 450 Einwohner. Es herrschte eine Aufbruchstimmung, die Menschen wollten etwas Neues aufbauen. Keine allmächtige Firma hemmte und verhinderte ihren Tatendrang. An den kürzlich noch blühenden Asbestabbau dachte bald niemand mehr.

1969 erhielten die schwarzen Ureinwohner des Kontinentes, die Aborigines, das australische Bürgerrecht. Das gab ihnen eine gewisse Niederlassungsfreiheit und sie strömten in Scharen in die Städte. Manche fanden sich in den von Weissen geprägten Verhältnissen nicht zurecht und verwahrlosten. Der frei erhältliche Alkohol spielte eine verheerende Rolle. Eine Gruppe Aborigines kam nach Wittenoom, wo ihnen die Regierung Häuser billig vermietete. Diese Leute tranken nicht und waren willens, sich zu integrieren. Es war ihnen wichtig, ihre Kinder in die Schule zu schicken. Ihre Anwesenheit wurde von vielen Wittenoomern als Bereicherung empfunden. Es entstanden Freundschaften, besonders unter den Kindern in der von nun an gemischten Schule.

Um Ordnung im Durcheinander von bewohnten und von leer stehenden Häusern zu schaffen, riss die Regierung den ältesten Stadtteil ab. Die dort noch wohnenden Familien mussten ausziehen, darunter auch die Familie Tarnai. Pater Fred bat sie, im convent, der ehemaligen Schule, zu wohnen und es etwas instand zu halten. Sie waren froh, dort billig wohnen zu dürfen, denn sie hatten noch kein Kapital, um sich ein Haus zu kaufen.

Der Pater selber war jeweils etwa zehn Tage unterwegs in seiner weit verzweigten Pfarrgemeinde. In der Nachbarstadt, dem nur 110 km entfernten Tom Price, wurde eine Kirche gebaut und seine Anwesenheit dort war vonnöten. In Dampier und in Port Hedland, über 300 km entfernt an der Küste, herrschte rege Bautätigkeit, und unterwegs zu diesen neuen oder sich aus alten Orten neu entwickelnden Städten besuchte er die cattle stations, die Bauarbeitercamps, die camps der Eisenbahnarbeiter an der im Bau befindlichen Bahnlinie Dampier – Tom Price. Er befand sich hunderte von Kilometern weit auf schlechten und oft gefährlichen Strassen unterwegs. Ueberall wurde er sehnlichst erwartet – für Taufen, Trauungen, Trauerfeiern, und um die Messe zu lesen. Gänzlich erschöpft kam er jeweils nach seinen Reisen zurück in „sein“ convent, um sich etwas zu erholen, bevor ihn seine Pflichten wieder riefen.

*

Mit der Zeit wünschten „richtige“ Touristen die Hamersley Ranges zu besuchen, nicht nur die Bewohner der Pilbara, sondern vermehrt Leute von Perth und dem Süden und sogar aus dem fernen Europa. Dadurch verlängerte sich die Saison, denn die Australier kamen im Winter, d.h. vom Mai bis Oktober, die Europäer dagegen im Sommer, um dem eigenen Winter auszuweichen. Manchmal war ihnen die Hitze so unerträglich, dass sie ohne weitere Ausflüge in die Berge gleich weiter reisten. Aber wenn sie Glück hatten, erlebten sie eine Abkühlung durch einen Zyklon. Liz schrieb auf einer Postkarte nach Hause:

„Hurrah, wir haben einen Zyklon. Eine ganze Reisegesellschaft aus Deutschland ist hier gestrandet, weil die Strasse nicht passierbar ist für ihren Reisebus.“

Die Gesellschaft blieb mehrere Tage, denn auch der Flugverkehr war eingeschränkt und berücksichtigte in erster Linie die Post und Notfälle, zu denen die Touristen mit ihrem Bus nicht gehörten. Die Gäste, die nichts zu tun hatten und sich langweilten, da Ausflüge in die Berge auch nicht möglich waren, hielten sich oft in Liz's Küche auf. Dort quäkte das Radio den ganzen Tag über, manchmal erwischte man den Kurzwellensender Schwarzenburg, hörte Nachrichten aus Europa. Liz wusste kaum, wo ihr der Kopf stand, wem sie zuhören, wem Auskunft geben sollte. Ein junger Mann schaute ihr beim Spätzle machen zu und sagte plötzlich in gemütlichem Vorarlberger Dialekt:

„Ich weiss, wo du herkommst! Meine Mutter macht die Spätzle auch mit einem solchen Sieb.“

Ein waschechter Vorarlberger! Liz hatte hunderterlei zu fragen, um ihn zum Reden zu bringen, seine Sprache zu hören, und der junge Bregenzer erzählte vom Alltag zu Hause, vom allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwung, von der regen Bautätigkeit in den Dörfern, vom wachsenden Komfort in den Häusern, von der grosszügigen Förderung der Bauern durch die Regierung.

Als die Gesellschaft abgereist war, wuchs in Liz das Heimweh wie nie zuvor. Sie musste die Veränderungen in ihrer Heimat sehen, erleben. Plötzlich hatte sie von allem genug. Seit 18 Jahren lebten sie nun in Wittenoom, ein einziges Mal hatten sie sich Ferien gegönnt. Immer nur Arbeit und rechnen und warten, dass es besser würde. Jetzt ging es gut. Wenn sie jetzt nicht eine Reise nach Europa wagten, dann würde es gar nie, überhaupt nie, dazu kommen. Das Tal von Wittenoom war das schönste Tal auf der Welt, aber im Vorarlberg lebten die Menschen, die wiederzusehen sie sich seit 18 Jahren sehnte. Die Töchter kämen im Café mit Hilfskräften zurecht, es gab wirklich keinen Grund, warum sie und Steve nicht verreisen sollten. Sie würden den zweijährigen Charles mitnehmen, damit er nicht von seiner Mutter getrennt wäre. Nancy war ein selbständiges Schulkind, um sie würden sich Mary und Grety kümmern. Da erklärte Steve kategorisch, er komme nicht mit nach Europa, auch nicht besuchsweise. Die Verwandten in Oesterreich würde er gern wiedersehen, gewiss, aber Europa sei für ihn erledigt.

Sie sollte also allein mit dem kleinen Charles nach Hause reisen! Warum eigentlich nicht? Stets hatte sie ihren Mann unterstützt, immer wieder ihre eigenen Träume und Hoffnungen begraben, damit er seine Pläne verwirklichen konnte. Aber ihr schien, sie dürfe ihn doch nicht einfach für zwei Monate allein lassen, sogar seinen einzigen Sohn für so lange Zeit von ihm fernhalten. Würde sie es überhaupt so lange aushalten ohne ihren Ehemann? Sie konnte und konnte sich nicht entschliessen, und gleichzeitig hatte sie von allem übergenug und wünschte sich weit weg, wenn nicht bis ins Vorarlberg, so doch zum mindestens bis... bis... ja wohin denn sonst? Ach, die ganze Pilbara konnte ihr gestohlen werden!

In den Osterferien würde Ros aus Perth für ein paar Tage heim kommen. Mit ihrer ältesten Tochter wollte sie sich besprechen, um Klarheit zu gewinnen über ihre eigenen Wünsche und Möglichkeiten. Bei Ros freilich, der selbständigen Lehrerin fand sie kein Verständnis für ihre Unentschlossenheit. Was es denn noch zu zögern gebe, fragte ihre Tochter. Wenn der Vater nicht mitkommen wolle, sei das seine Sache, man solle ihn ruhig in seinem eigenen Saft schmoren lassen. Es sei Liz's gutes Recht, sich endlich einmal Ferien und ein Wiedersehen mit ihren Angehörigen zu gönnen. In diesem Sinne wurde sie von allen drei Töchtern ermutigt, und Steve wiederholte, was er schon früher gesagt zu haben vorgab, er habe nicht nur nichts dagegen, sondern wünsche es sogar ausdrücklich, dass sie sich ihren Wunsch, nach Europa zu reisen, erfülle. Da wurde Liz bewusst, dass ihr Zögern nicht äussern Umständen zuzuschreiben war, sondern ihrer eigenen, inneren Unsicherheit. Das war ja absurd! Das hiesse ja, dass sie alle Selbständigkeit verloren hatte! Jetzt ging es nicht mehr nur darum, ihre Lieben in Oesterreich wieder zu sehen, sondern auch darum, ihre Eigenständigkeit zu erlangen. Jetzt musste sie reisen, es gab keinen andern Ausweg aus dem Dilemma, wollte sie nicht alle Selbstachtung verlieren.

Die Reisevorbereitungen zogen sich noch einmal ein paar Wochen dahin, aber im Sommer – im europäischen Sommer – reiste sie tatsächlich ab. Sie konnte ihr vorheriges Zögern kaum mehr verstehen.

*

Wie klein alles war „im Ländle“, wie nahe aufeinander die Dörfer im heimatlichen Tal! Alles war in der Erinnerung grösser, weiträumiger, stattlicher. Der Ort war ihr fast fremd geworden. Liz hatte in den vergangenen Wochen heimlich mit dem Gedanken gespielt, doch einmal endgültig nach Europa zurückzukehren. Vielleicht liess sich Steve dazu bewegen, wenn die Verdienstaussichten im Vorarlberg gut waren. Sie wollte auf alle Fälle die Augen offen halten, sich nach Arbeitsmöglichkeiten umsehen. Sicher schien ihr nur im ersten Augenblick alles eng und kleinkariert.

Im Elternhaus, im Kreise der Familie fühlte sie sich geborgen, obschon auch hier alles anders war als sie es in Erinnerung hatte. Natürlich wusste sie, dass Brüder und Schwestern verheiratet waren und selber Kinder hatten. Die kleinen Mädchen und Knaben, die sie im Geiste trotz dieses Wissens vor sich gesehen hatte, wenn sie im Laufe der Jahre an ihre Geschwister dachte, existierten nicht mehr. Sie sah deren Aehnlichkeit noch in den Gesichtern ihrer kleinen Nichten und Neffen. Aber die Familie als ganzes war intakt. Sie wohnten alle noch im selben Dorf, mit den Eltern – jetzt mehrfache Grosseltern – als Mittelpunkt. Das alte Haus würde das Zentrum der Familiendynastie bleiben, die ganze Sippe war da fest verankert.

Vor ihrer Rückkehr nach Australien ging Liz mit zwei ihrer Schwestern auf eine Wallfahrt. Es war ihr selber nicht ganz klar, ob es ein religiöses Bedürfnis oder ein gesellschaftliches Ereignis war, an dem sie zusammen teilnahmen, weil es Brauch war. Man musste die Erwartungen von Nachbarn und Dorfgenossen erfüllen, um nicht ausgegrenzt zu werden. Eine gegenseitige Kontrolle schien den Alltag zu beengen, nahm einem die Atemluft. Da tat man eben, was erwartet wurde, denn die Nachbarn wussten besser, was in den Häusern vorging und ob es sich schicke. Liz hatte sich eine gewisse, persönliche Distanz auch zu den besten Freunden angewöhnt. Die Intimität des Dorflebens war ihr zu aufdringlich.

Auf der Wallfahrt fand Liz die nötige Sammlung, ihre Gedanken zu ordnen, mit sich selber ins Reine zu kommen. Es war wunderbar, die Familie zu besuchen, aber hier leben, das war ihr nicht mehr möglich, sie wäre erstickt. Sie wollte noch öfters herkommen und ihre Kinder zu einer Reise ermuntern. Die Bande zu ihrem Dorf sollten nicht reissen, es blieb die alte Heimat. Heimisch fühlte sich Liz am neuen Ort. Dort wollte sie ihr neues Stammhaus gründen, das Haus der Familie Tarnai. Wittenoom war ein sicherer Ort, war nicht mehr von der Willkür einer einzigen Bergbaugesellschaft abhängig. Der Ort versprach Zukunft, war ein Zentrum für Tourismus, Forschung, Verwaltung, Markt, Unterhaltung.

Innerlich gestärkt trat sie mit ihrem kleinen Sohn Charles die Heimreise an. Es war nicht eine Rückreise nach Australien, sie empfand es wirklich als ein Heimkommen. Im Vorarlberg waren ihre Wurzeln, aber nicht mehr alle. Einen Teil von ihnen hatte Lisa ausgerissen, und Liz pflanzte sie neu ein in Westaustralien. Hier war sie daheim, ihre Kinder waren Aussies.

Das Gefühl von Heimkehr überfiel sie unversehens in Perth am Flughafen. Da lag etwas in der Luft, das Liz in den vergangenen Wochen unbewusst vermisst hatte. Durch Staub und Gestank des Flugbetriebes hindurch drang der Hauch eines Duftes: nicht ein wirklich wahrnehmbarer Duft, bloss die Ahnung davon lag in der Luft. War es gum? War es wattle? Es war ganz einfach Australien.

*

In Wittenoom fühlte man sich nicht mehr isoliert und einsam. Nicht nur kamen regelmässig Touristen aus aller Welt, sondern immer noch kamen Neuzuzüger aus dem Süden und kauften Häuser. Liz sah mit Befremden, dass die Neuzuzügerin Doreen ausser ihrem eigenen Wohnhaus gleich sechs weitere leerstehende Häuser kaufte, um sie an Touristen zu vermieten. Da war es an der Zeit, dass auch Liz und Steve sich umsahen, bevor nur noch Baufälliges, Vernachlässigtes zu haben wäre, denn Liz wollte nicht länger sozusagen provisorisch im convent wohnen. Es war in der ehemaligen Schule auf die Dauer nicht gemütlich. An der 5th avenue fanden sie ein passendes Haus in gutem Zustand. Das würde ihre sichere Bleibe sein, man würde es später vergrössern und verbessern, aber vorläufig genügte es ihren Ansprüchen.

Kaum waren sie umgezogen, verkündete Ros, sie wolle im Herbst nach den Osterferien heiraten, Pater Fred solle sie in der Kirche in Wittenoom trauen. Selbstverständlich betrachteten die Wittenoomer eine Hochzeit in einer der ältesten Familien als Grossanlass, an dem alle teilnehmen durften.

Ach, was kann an einer Hochzeit doch alles schief gehen! Das meiste wird im letzten Augenblick wieder zurechtgebogen. Aber was sollte man tun, wenn der Delikatessenhändler in Perth eine Bestellung missverstand? Einmal in der Woche kam der Kühlwagen, und statt der bestellten, geräucherten Schinken packte man eine unabsehbare Auswahl von Essigfrüchten aus. Freunde sprangen ein mit ihren Vorräten, irgendwer beschaffte Fisch. Musik und Tanz und Fröhlichkeit hingen nicht von der Vollkommenheit des Hochzeitessens ab. Die Essigfrüchte reichten noch für Monate als Beigaben zu kaltem Fleisch und Salaten und gaben immer wieder Anlass zu Gelächter.

Unmittelbar nach der Hochzeit reisten die Neuvermählten ab, beide hatten Stellen an einer Highschool in Sydney, „am andern Ende der Welt“. Liz konnte es ihrer Tochter nicht verargen, dass sie wegzog in einen anderen Staat, nach New South Wales. Sie hoffte nur, dass es nicht 18 Jahre dauern würde, bis sie sich wieder sähen, so wie sie selber erst nach 18 Jahren ihre Eltern hatte besuchen können.