2. März
1993
Der Zufall hatte Lisa
und Stephan nach Australien gebracht, und zufällig waren sie in Wittenoom
gelandet. Auch wir, Fritz und Helen, ein pensioniertes Ehepaar aus der Schweiz
auf ausgedehnter Australienreise, werden oft vom Zufall geführt.
Von Perth aus folgen
wir in unserem Mitsubischi Magna der Nationalstrasse No. 1 nach Norden. Die
N1 ist die Küstenstrasse, die ganz Australien umrundet, und die wir schon
vor Monaten an der Ostküste des Kontinents und später im Süden
teilweise befahren haben. Sie hat verschiedene Namen, je nach der Gegend,
die sie gerade durchquert. Im Westen des Staates Westaustralien heisst sie North West Coastal Highway. Küstenstrasse ist nicht wörtlich
zu nehmen, denn sie ist zeitweise sehr weit vom Meer entfernt, 20, 30, 100
Kilometer, beim Nanutarra Roadhouse sogar gegen 160 Kilometer.
Je weiter wir nach Norden
kommen, desto eintöniger wird die Landschaft. Längst haben wir die
Hügel und die letzten Getreidefelder und Schafherden hinter uns gelassen
und sehen nur noch bush. Es hat vorwiegend Banksiasträcher mit
grossen, zylinderförmigen, trockenen Kolben, und anderes niedriges Buschwerk
auf sandigem Boden. Dass sich im Sand zwischen dem Gestrüpp im Frühling
vielfarbige Blumenteppiche ausbreiten sollen, können wir uns überhaupt
nicht vorstellen. Jetzt im März, am Ende des Sommers ist alles dürr.
Ein paar hundert Kilometer
nördlich von Geraldton ist es auch mit den Banksia zu Ende, es bleibt
nur kniehoher saltbush, höchstens vereinzelt noch anderes niedriges
Gestrüpp. Ein glühend heisser Wind streicht über die Ebene,
wirbelt rötlichen Staub auf, die Luft flimmert, eine Fata Morgana zaubert
vor uns eine spiegelnde Wasserfläche, auf die wir zufahren bis sie beim
Näherkommen in nichts zerfliesst. Obschon wir uns auf einer Hauptverkehrsachse
befinden, begegnet uns nur etwa alle zwanzig Minuten ein Wagen. Dann winkt
man sich grüssend zu, ist froh, nicht ganz allein unterwegs zu sein.
Wir unterbrechen die Fahrt mehrmals für einen kürzeren oder längeren
Badeaufenthalt am Meer, und wir besuchen Geraldton und Carnarvon, die einzigen
grösseren Orte an einer über 1000 km langen Wegstrecke.
Nach vielen Reisetagen
gelangen wir um die Mittagszeit zu dem ca. 1200 km von Perth entfernten, mitten
in der Einöde stehenden Nanutarra Roadhouse, wo man nicht nur Treibstoff
tanken, sondern sich auch verpflegen kann. An der Bar eines solch abgelegenen
Hauses kommt man schnell mit dem Personal oder mit Gästen ins Gespräch.
Man tauscht Erfahrungen aus, fragt nach dem Woher und Wohin und erteilt und
empfängt Ratschläge für die Weiterreise. Ein Richtung Süden
fahrendes, australisches Touristenpaar empfiehlt uns einen Abstecher in das
mehr im Landesinneren gelegene Hamersley Gebirge, das wild und romantisch
sei. Ich bin der eintönigen Fahrt auf der N1 überdrüssig, doch
auf blosse Empfehlung hin wollen wir uns nicht auf ein Abenteuer im outback einlassen. Fritz erkundigt sich nach dem Strassenzustand und erhält
die beruhigende Auskunft, man könne die ganze Strecke ohne Bedenken befahren,
obschon das letzte Drittel nicht mehr asphaltiert sei. Dann studieren wir
die Karte der Pilbara so heisst diese Region.
Da die Besiedlung im
ganzen Nordwesten dünn ist und die Ortschaften weit auseinander liegen,
bleibt auf der Karte viel Platz für Hinweise und Bemerkungen, was der
Herausgeber reichlich genutzt hat. Es wird auf Schnorchel- und Tauchmöglichkeiten
in den Korallenriffen der Westküste hingewiesen, in roten Buchstaben
vor der Gefahr von Wirbelstürmen gewarnt; bei dem Ort Pannawonica heisst
es, es sei eine geschlossene Bergbaustadt ohne Einrichtungen für Touristen
und bei Marble Bar, es gebe dort einen Souvenirladen; wieder in roter Schrift
ist zu lesen, man solle stets genügend Trinkwasser bei sich führen.
Tom Price wird als eine moderne Bergbaustadt bezeichnet, von der aus die Schluchten
der Hamersley Ranges besucht werden können, und der Karijini Nationalpark
in einem Teil dieses Gebirges sei mit seinen 617'606 Hektaren der grösste
von Westaustralien. Das alles mag ja ganz interessant sein, aber was uns wirklich
neugierig macht, sind die zwei Bemerkungen bei Wittenoom:
Die einstige Bergbaustadt
hat sich heute zu einem Touristenort entwickelt und ist ein günstiger
Ausgangspunkt für Ausflüge in den Nationalpark im Hamersley Gebirge.
Unmittelbar neben diesem Hinweis steht rot geschrieben eine seltsame Warnung:
Besucher
von Wittenoom sollten folgende Vorsichtsmassnahmen ergreifen, um ein Gesundheitsrisiko,
das von den hier vorkommenden Asbestfasern herrührt, auszuschliessen.
- Auf den Hauptstrassen
bleiben
- Wagenfenster bei Wind
oder Staub schliessen
- Nicht in der Nähe
von Asbestabfällen parkieren
- Kinder von Asbestabfällen
fernhalten.
Im Herbergsverzeichnis
des australischen Touringclubs ist Wittenoom erwähnt. Es gibt dort das
Fortescue Hotel samt Pub und Moteleinheiten, eine weitere Touristenherberge
und sechs Ferienhäuser. Dazu kommen eine Tankstelle, ein Laden und eine
Poststelle. Auch da wird vor den Gefahren von Asbeststaub gewarnt und empfohlen,
nicht in den Abfällen herum zu stochern.
Da stimmt doch
etwas nicht. Hotel, Motel, Ferienhäuser und eine abschreckende
Warnung vor Asbestabfällen. Als ob irgend jemand ein Interesse daran
hätte, in Bergbauabfällen herum zu stochern!
Da bin ich nicht
so sicher, so wie ich dich kenne. Ich werde dich jedenfalls im Auge behalten
müssen, antwortet Fritz auf meine Bemerkung.
Aus seinem Kommentar
schliesse ich, dass auch er neugierig ist und sehen möchte, was es mit
Wittenoom auf sich hat. 5 km nach dem Roadhouse verlassen wir die N 1 und
biegen in die Nanutarra Wittenoom Road ein. Vorerst ändert sich
nichts. Nach 219 km, bei der Abzweigung nach Paraburdoo, einer Bergbaustadt,
ist es zu Ende mit der asphaltierten Strasse. Nun wird es zwar staubig, aber
die Fahrbahn ist in gutem Zustand, wir brauchen uns wirklich keine Sorgen
zu machen. Nach weiteren 50 km kommt wieder eine Strassengabelung. Rechts
geht es nach Tom Price, links nach Wittenoom.
Wollen wir wirklich
nach Wittenoom? fragt Fritz. Nach Tom Price wären es nur
noch 20 km, nach Wittenoom immer noch 109, und vielleicht ist es wirklich
nicht unbedenklich dort wegen des Asbests.
Ach was, so gefährlich
wird das nicht sein. Es wohnen schliesslich Leute ständig dort.
Fritz gibt brummend nach
und fährt Richtung Wittenoom. Die Landschaft wird womöglich noch
eintöniger, anstelle des saltbush wächst in Horsten das niedrige
Stachelgras und nur hin und wieder etwas Gebüsch und eine Gruppe niedriger,
magerer Bäume. Hitze und Staub werden fast unerträglich.
Da! Unversehens steigen
am Horizont Berge aus der Ebene auf. Es ist keine Fata Morgana, man kommt
ihnen schnell näher, senkrechte, rote Felswände, von hellen Grasbändern
durchzogen. Endlich wieder einmal Berge, endlich kann sich der Blick wieder
einmal festhalten, gleitet nicht über die Ebene ab ins Leere. Ich bin
entzückt. Habe ich etwa Heimweh?
Die schmale Strasse windet
sich durch eine enge Schlucht, die Rio Tinto Gorge am nordwestlichen Ende
der Hamersley Ranges. Man ist schnell wieder in der Ebene, dann biegt die
Strasse in einem weiten Bogen nach rechts und führt in östlicher
Richtung den Bergen entlang. Auf einmal wird die Bergkette von einem Tal unterbrochen,
das tief aus dem Bergland zu kommen scheint. Hohe Bäume wiegen sich im
Wind, grün leuchtet es zwischen roten Felsen. Berge, Täler, Bäume
nach tausend Kilometer fast baumloser, flacher Einöde. Ein paar
Dutzend Häuser stehen verstreut am Taleingang. Darunter erkennen wir
von weitem ein Hotel mit Moteleinheiten daneben.
Hier wollen wir
eine Weile bleiben! rufen wir fast gleichzeitig aus, biegen von der
Landstrasse ab in die 1st avenue und fahren hinein nach Wittenoom.
Wir nähern uns dem im Reiseprospekt angepriesenen Fortescue Hotel, eines
der schönsten Pubs von Westaustralien, mit einer hufeisenförmigen
Bar. Es ist geschlossen, die Türe mit Brettern verrammelt. Alles
ist staubig. Da sind seit Monaten weder Gäste noch Wirtsleute über
die Schwelle getreten. Die Zufahrt zu den Moteleinheiten ist mit einer Stange
versperrt. Wir fahren aufs Geratewohl durch die nächste Querstrasse,
kommen an einem grossen Wellblechschuppen vorbei, der ebenso verstaubt und
unbenutzt aussieht. Etwas weiter vorne entdecken wir die sechs Ferienhäuser.
Sie sind von grünem, gut gewässertem Rasen umgeben, hohe Eukalypten
überragen die Dächer, breite Veranden spenden Schatten.
Zu müde, um wählerisch
zu sein und etwas genauer anzuschauen, buchen wir ein Haus für eine Woche.
Wir beziehen Haus Nummer 1, sehr geräumig, als sei es gebaut für
eine grosse Familie. Drei Schlafzimmer sind möbliert mit total acht Betten
und mehreren Ungetümen von wackligen Schränken und zerkratzten Kommoden,
deren verklemmte Schubladen sich nur mit Mühe herausziehen lassen. Im
Wohnzimmer stehen zwei Sofas, ein langer Esszimmertisch mit acht Stühlen,
ein Geschirrschrank mit Glasvitrine, und auf dem breiten Büchergestell
thront der Fernsehapparat. Trotz der vielen Möbelstücke ist keines
der Zimmer überfüllt, aber alles ist irgendwie verlottert, notdürftig
geflickt. Das Badezimmer ist von der hinteren Veranda aus zugänglich,
das WC befindet sich am Ende derselben. Dann funktioniert der Heisswasserboiler
nicht, und wir müssen sofort umziehen in Haus Nummer 2 gegenüber,
damit das Wasser abgestellt und der Boiler geflickt werden könne. Nummer
2 ist genau gleich. Wir finden unter den acht Betten nach etlichem Ausprobieren
zwei einigermassen bequeme. Die Küche ist reichlich mit hübschem
Geschirr und neueren Geräten und Pfannen versehen, der Elektroherd ist
altmodisch und der Kühlschrank uralt und riesengross. Wir versorgen unsere
mitgebrachten Vorräte und wärmen eine Büchsensuppe, toasten
das matschige Brot, damit es geniessbar wird, schneiden Tomaten und Gurken,
das Abendbrot steht schnell auf dem Tisch. Ich schlage mir das Knie auf an
der schräg angenagelten Dachlatte, mit der eines der Tischbeine verstärkt
ist.
Bei Sonnenuntergang sitzen
wir auf der Veranda. Dunkelrot glühen die Felswände, rot vergoldet
schimmert der Staub in der Ebene. Dann wird es sehr schnell dunkel, wie immer
in den Tropen. Aus samtschwarzem Himmel funkeln die Sterne, zittern schwach
schimmernde Sternnebel wie dünne Schleier. Wir erkennen den Orion, das
am winterlichen Himmel in Europa auffallende Sternbild. Er steht Kopf, und
in seinem Innern regt sich sichtbar Unsichtbares, als befänden sich dort
weitere unermessliche, unsern Augen verborgene Sternenwelten. Es ist heute
38°C gewesen, nur langsam wird es kühler. Wir lassen alle Fenster
offen, keine klappernde Klimaanlage stört den Schlaf, kein Verkehrslärm,
überhaupt kein von Menschen verursachter Lärm. Man hört nur
das Rauschen des Windes, das leise Flüstern der Eukalyptusblätter.
Es ist ein Paradies, wenn auch ein etwas verlottertes.
Am Morgen zeigt sich,
dass die Mitbewohner in dem Paradies zahlreich sind. Die Geckos an Wänden
und Decke jagen den Insekten nach, die durch ein defektes Fliegengitter eingedrungen
sind. Den Kakerlaken muss man selber den Garaus machen, Fritz tut dies schwungvoll
mit einem Pantoffel in der Hand. Sie sind harmlos, aber ich kreische trotzdem.
Im Wässerchen der Toilette lebt ein Frosch. Wir schauen uns eine Weile
nachdenklich an, der Frosch und ich, aber davon lässt er sich nicht verjagen.
Wie ich den WC-Besen zu Hilfe nehme, taucht er blitzschnell unter und verschwindet.
Er wird fliehen, denke ich, und lasse die Wasserspülung laufen. Er flieht
nicht. Nach einer Weile gehe ich ängstlich nachsehen. Nicht dass ich
vor Fröschen Angst hätte, bewahre, aber ich fürchte, es werde
nun ein toter Frosch in der Toilette liegen. Nichts dergleichen! Er sitzt
behäbig an derselben Stelle am Rand seines Weihers, taucht aber sofort
unter wie ich Anstalten treffe, die Toilette zu benützen. Wir gewöhnen
uns aneinander, der Frosch und ich. Stets treffe ich ihn am Rand des Wassers.
Er lebt in Saus und Braus, denn es gibt an diesem Ort jede Menge Fliegen zu
fangen, und er wohnt an einem nie versiegenden Wasserlauf, ganz im Gegensatz
zu vielen seiner Artgenossen.
Doreen, die Besitzerin
der Ferienhäuser führt einen Souvenirladen, den wir nach dem Morgenessen
besuchen. Sie nennt den Laden gem shop. Ausser T-shirts und Postkarten
verkauft sie Steine australischer und südamerikanischer Herkunft. Wir
plaudern ein wenig. Sie erzählt uns mit monotoner Stimme eine konfuse
Geschichte von Kämpfen um eine Stadt, von Schikanen und Arroganz von
Regierungsbeamten.
Aber wir lassen
uns nicht vertreiben, nicht mit lächerlichen Entschädigungen abspeisen.
Die Asbestgefahr ist gebannt, unsere Luft ist reiner als in Perth oder in
irgend einer Grossstadt.
Ihre Stimme ist so einschläfernd,
dass ich mich gar nicht konzentrieren kann. Ich brauche meine ganze Energie,
um wach zu bleiben. Eines begreifen wir: Irgend etwas hat sich hier zusammengebraut.
Im Laufe das Nachmittags
fahren wir ein paar Kilometer in das Wittenoomtal hinein und machen
wie uns Doreen empfohlen hat beim Cathedral Pool Halt, einem Tümpel
am Fusse einer senkrechten, roten, von grauen Streifen durchzogenen Felswand.
Eine Einbuchtung in den Felsen hinein, deren Form uns an die Seitenkapellen
in einer gotischen Kathedrale erinnert, hat wohl dem Seelein den Namen gegeben.
Das Wasser ist kristallklar.
Auf der einen Seite ist das Ufer flach, man kann bequem hinein waten, auf
der andern von einem Felsbuckel aus mit einem Kopfsprung ins tiefe Wasser
tauchen. Für uns Schweizer, an die kühlen Temperaturen in unseren
Seen gewöhnt, ist das Wasser sehr warm, aber immer noch erfrischend bei
der Lufttemperatur von 38°C. Wir prusten, spritzen und lachen, plantschen
wild herum und schreien. Nach dem erfrischenden Bad fahren wir weiter. Das
Tal wird zuerst enger, die Strasse führt einer fast senkrechten Felswand
entlang, bis es sich wieder öffnet und den Blick in ein Seitental frei
gibt. Da sehen wir, wovor wir in Reiseprospekten gewarnt worden sind: Berge
von Abfällen vom früheren Asbestabbau. Der ganze Hang des Seitentales
ist schwarz bedeckt von feinem Kies, der immer noch herab zu rieseln scheint
bis auf den Talgrund. Kein Baum, kein Strauch, alles ist schwarz-grau. Wir
zweigen von der Strasse ab und fahren bis an den Fuss dieser schwarzen Abhänge.
Erst da verhindert eine Schranke die Weiterfahrt. Wir gehen zu Fuss weiter.
Was von der Ferne aussieht wie loser Kies, ist eine steinharte Masse. Weder
mit soliden Turnschuhen noch mit einem derben Stock gelingt es, ein Stück
davon abzubrechen, geschweige denn, darin herum zu stochern. Die Hänge
des ganzen Seitentals sind wie fest zementiert, in regelmässigen Wellen.
Weit oben im Tal ragen Gebäudereste und Stahlgerüste aus der Schwärze
in den blauen Himmel empor. Wir fragen uns, ob die feste Masse hier Asbestfasern
an die Umwelt abgibt. Ein paar Jahre später bei einem Besuch nach der
Regenzeit werden wir feststellen, dass sie aufgeweicht ist und offensichtlich
langsam, wohl nur centimeterweise, weiter geschwemmt wird.
Wir fahren weiter im
Haupttal. Es verbreitert sich noch mehr, Bergketten werden sichtbar, lassen
weitere Schluchten und Täler vermuten. Im Talgrund liegt eine Siedlung
unter schattigen Bäumen, ein Dutzend Häuser, von gepflegten gut
gewässerten Rasen, Gärten, blühenden Büschen umgeben,
ein Paradies in den Bergen. Kein Mensch weit und breit, nur Hühner und
eine Katze. Wir fahren an der Siedlung vorbei, da ist die Strasse zu Ende,
keine Wegspur führt weiter. Das Tal macht eine Biegung, der Blick in
den nächsten Talabschnitt ist durch Felsblöcke verwehrt. Dort soll
ja noch mehr Abfall abgelagert sein und weitere Ueberreste einer Mine und
einer Asbestmühle. Die Sonne steht tief, es ist höchste Zeit heimzukehren,
denn wir wollen nicht nachts unterwegs sein. Da sind Kängurus und Wallabys
auf Futtersuche und hüpfen unversehens auf die Strasse vor das Auto.
Bei unserer Rückkehr
herrscht Tumult in Haus No 1, wo unterdessen der Heisswasserboiler geflickt
worden ist und Feriengäste eingezogen sind.
Hilfe, Hilfe, eine
Schlange! hören wir sie schreien. Wir sehen Doreen vorbei eilen,
und der Lärm legt sich.
Ach, es lag nur
eine harmlose Python in der Badewanne, gibt sie uns später Auskunft
auf unsere Frage.
Am folgenden Tag gehen
wir einkaufen. Wir haben Lust auf frisches Brot und frisches Obst und Gemüse
und wollen unsere Vorräte ergänzen. In dem einzigen Laden gibt es
kein frisches Gemüse oder Obst, nur Konserven in grosser Auswahl. Was
nicht in Büchsen oder Gläsern haltbar ist, ist in Tiefkühltruhen
und Schränken versorgt: Brot und Gebäck, Milch, Butter, Yoghurt,
Fleisch, Speck, Würste alles, alles ist tiefgefroren. Wir sind
etwas befremdet, kaufen aber trotzdem ziemlich viel ein. Die Verkäuferin
mustert uns mit unverhohlener Neugierde, und ich glaube deshalb für unsern
Grosseinkauf irgend eine Erklärung schuldig zu sein. So sage ich eben,
ich freute mich über das grosse Sortiment von Waren, da wir eine ganze
Woche bleiben wollten.
Eine ganze Woche!
ruft die junge Frau ungläubig und offensichtlich erfreut aus. Dann wendet
sie sich nach hinten:
Vater, komm und
schau, es gibt tatsächlich Leute, die eine ganze Woche hier bleiben wollen.
Stell dir das vor!
Ein Mann in unserem Alter
kommt heran, begrüsst uns, stellt sich vor als Steve, auch wir sagen
unsere Namen, es geht an ein allgemeines und in Australien eigentlich unübliches
Händeschütteln, mit Steve selber, mit seiner Frau Liz, die auch
auftaucht, und mit Nancy der Verkäuferin. Nur letztere spricht ein natürliches
Australisch-English, ihre Eltern haben beide einen fremden Akzent.
Warum kommt ihr
ausgerechnet nach Wittenoom?
Die Frage ist schwierig
zu beantworten, wenn wir die Leute, die offensichtlich triftige Gründe
für unsern längeren Aufenthalt vermuten, nicht enttäuschen
wollen. Gibt es solche Gründe? Ein Bedürfnis nach Ruhe und
Neugierde, etwas anderes fällt mir nicht ein.
Wir haben die Ferienhäuser
angepriesen gesehen, zusammen mit der Warnung vor den Gefahren des Asbeststaubes.
Das schien uns paradox. Gibt es denn noch andere Probleme?
Und ob! Die Probleme
hängen natürlich mit dem Asbest zusammen, erklärt Steve. Die
ganze Stadt und dazu die Siedlung in der Schlucht hinten sollen vollständig
abgerissen, ausgelöscht werden, ausgetilgt aus den Erinnerungen der Leute;
aber das lassen wir uns nicht gefallen.
Vater erzählt
Ihnen gern mehr vom Kampf um unsere Stadt, wenn Sie sich wirklich dafür
interessieren, mit diesen Worten unterbricht Nancy seinen Redestrom.
Es haben sich jetzt Kundinnen
eingefunden, die sich sofort in das Gespräch einmischen:
Fragen Sie Doreen
im gem shop, sie hat sich total in den Kampf um Wittenoom verbissen.
Sie kann eigentlich
gar nicht alles genau wissen, zur Zeit des Asbestabbaus war sie noch gar nicht
da!
Natürlich
nicht, sie kam erst nach der Schliessung der Mine, kaufte sechs Arbeiterhäuser
und vermietet sie jetzt als Ferienhäuser. Sind sie denn in einem guten
Zustand? werden wir von einer der Frauen gefragt.
Jaja...in Ordnung...
geben wir ausweichend Auskunft.
Die Frauen lachen. Das
kann man sich denken. Sie sind mit zurückgelassenem Mobiliar möbliert,
und das war bereits vor Jahren nicht mehr neu.
Ich schaue Liz fragend
an und bemerke zögernd, dass ich mich sehr für die Geschicke der
Stadt interessiere, ich hätte bis jetzt erst von Doreen etwas angedeutet
gehört, das ich nicht recht verstanden habe. Liz versteht den Wink:
Hier im Laden haben
wir doch nicht die nötige Ruhe zum Plaudern. Bei uns zu Hause könnten
wir ein paar Fotos von früher anschauen. Sie lädt uns für
den Sonntag Nachmittag zum Tee ein, und wir nehmen die Einladung dankbar an.
Später bummeln wir
ein wenig herum, wollen den Ort erkunden. Es gibt nicht viel zu entdecken.
Die auffällige Wellblechkonstruktion mit einem gebogenen Dach wie ein
altmodischer Flugzeughangar erkennen wir als eine Kirche, denn der turmähnliche
Aufbau in der Mitte des Daches trägt ein Kreuz. Das Gebäude ist
nicht eine Sehenswürdigkeit. Die Türe ist verschlossen, verstaubt.
Wir schlendern weiter. Es ist unwichtig, welcher der staubigen Naturstrassen,
welchem Weg wir folgen, man kann sich nicht verirren. Das Strassennetz ist
schachbrettartig angelegt, die Strassen sind nummeriert, aber es hat kaum
Häuser, die meisten Wege führen ins Leere, beidseits wächst spinifex. Wir verlassen den Weg, wollen querfeldein quer spinifexein
von der vierten in die fünfte Strasse abkürzen. Vereinzelt
spriessen Halme durch schwarze, kiesähnliche Masse empor, wie an Strassenrändern
zu Hause manchmal Pflanzenspitzen den harten Asphalt durchdringen. Standen
hier die Häuser der ehemaligen Bergbaustadt, wie es im Reiseprospekt
heisst, und sind die schwarzen Stellen Ueberreste früherer Hauszufahrten?
Das spinifex-Stachelgras zerkratzt uns die nackten Beine, wir verzichten auf
die Abkürzung und kehren auf den Weg zurück. Auf dem Heimweg kaufen
wir bei Doreen ein paar Postkarten und erkundigen uns nach dem Strassenzustand
in den Hamersley Bergen. Ohne Geländewagen kämen wir nicht weit,
erklärt sie uns. Dan, der tour operator, fahre mit seinem grossen
Vierradantrieb regelmässig Touristen in die Berge. Er habe für morgen
eine Tour organisiert, der wir uns anschliessen könnten. Es habe sich
bis jetzt lediglich ein Ehepaar aus Queensland, das mit ihrem Privatflugzeug
angekommen sei, angemeldet. Eine Fahrt mit so wenigen Teilnehmern passt uns
gut, und wir buchen den Tagesausflug.
Am frühen Morgen
fährt uns Dan zuerst durch die Yampire Gorge, einem Paralleltal zum Wittenoomtal.
Er zeigt uns die Stelle, wo zu allererst in den dreissiger Jahren Asbest in
kleinen Mengen abgebaut worden ist. Rote Steinbrocken liegen herum, ich nehme
einen kleinen Stein vom Boden auf. Er hat eine grau-blau-silbrige Schicht,
deutliche, etwa 5 mm lange, feste Fasern wie angeklebt an den roten Stein.
Jawohl, an diesem
Stein klebt ein winziges Restchen Asbest. Sie dürfen den Stein nicht
nehmen, im Nationalpark darf man nichts mitnehmen, sagt Dan.
Nicht einmal einen
wertlosen Stein?
Nein, auch keine
Steine.
Ich fürchte
mich nicht, wegen diesem Stein verhaftet zu werden.
Fürchten oder
nicht fürchten, das ist nicht die Frage. Wenn jeder Besucher einen Stein
mitnähme...
Dann hätte
es trotzdem noch jede Menge Steine in den Hamersley Bergen, ergänze
ich den Satz nicht ganz nach seinem Wunsch.
Na na, seien Sie
ein braves Mädchen a good girl. Werfen Sie den Stein weg.
Mit jemandem, der mich a good girl nennt, mag ich nicht streiten. Ich werfe den Stein auf
den Boden. Als mir Dan den Rücken zukehrt, hebe ich ihn schnell wieder
auf und stecke ihn in meine Tasche. Fritz hat es auch nicht gesehen, und die
beiden Queensländer grinsen. Ohne das herablassende good girl hätte
ich ihn vermutlich liegen lassen.
Dem Talhang entlang geht
es steil auf die Ebene hinauf. Oben umfährt Dan gewandt Löcher und
Buckel auf der rauhen Strasse, stoppt abrupt wir alle erschrecken,
denn man steht auf einem Parkplatz am Rande einer senkrechten Felswand über
einer tiefen Schlucht. Dan lacht:
Die Leute erschrecken
immer, weil man die Abgründe erst im letzten Augenblick sieht.
Wir schimpfen pro forma ein bisschen, weil er uns nicht gewarnt hat. Dann
führt er uns zu Fuss über die in den Fels gehauenen Stufen in die
Schlucht hinunter. Wir folgen dem Lauf eines Flüsschens ein Stück
weit, es windet sich um einen vorstehenden Felsen herum, und... oh, ein kleiner
See, Eukalypten, ein rot blühender Busch, ein wunderbarer Badeplatz.
Wir steigen im Laufe des Tages in weitere, enge Schluchten zu überraschenden
Seen. Einmal geht es steil bergab, der Durchgang ist so schmal, dass man die
Felsen beidseits berühren kann, und plötzlich ist da ein genau kreisrunder
Tümpel. Die Felsen fallen steil ab bis zum Wasserspiegel, der Stein ist
sandig-rutschig, glücklicherweise kann man sich an einem Eisengeländer
festhalten. Wir wagen den Sprung ins Wasser erst, als Dan als erster gesprungen
ist. Die Sonne steht fast senkrecht über der Schlucht, und trotzdem ist
alles düster wie in einem Schacht, unheimlich im tiefen Wasser zwischen
hohen, roten Wänden. Ich geniesse das Bad nicht unbeschwert, mache mir
bereits Sorgen, wie ich wohl an dem vom Geländer herunterbaumelnden Seil
ans Trockene klettern könne. Aber natürlich hat es starke Arme,
die mir helfen und mich hinaufhieven.
Später wandern wir
eine kurze Strecke auf einem schmalen Berggrat mit beidseits tiefen Tälern
zu einem Aussichtspunkt, an dem sich gleich drei verschiedene Gräben
vereinigen. Es ist Oxer Lookout, nach dem Arzt Dr.Oxer benannt, der seinerzeit
die Region erforscht und den Tourismus gefördert hat. Das Hochland, das
von unten aussieht, als wäre dort oben eine grosse Ebene, ist durchfurcht
von Tälern und Gräben mit senkrechten Abstürzen, hat aber streckenweise
auch sanfte Hänge und Hügelkuppen. Eine Gruppe Emus läuft vor
unserem Auto her, wirbelt Staub auf. Man fotografiert, natürlich ist
alles verwackelt, warum nur versucht man es immer wieder....?
Am Sonntag nachmittag
gehen wir wie vereinbart zu Liz und Steve. Es ist ausgesprochen gemütlich
in ihrem Häusle, die Innenwände sind getäfert, das Holz naturbelassen.
Liz bringt sofort Wasser und Gläser, eine Selbstverständlichkeit
im tropischen Klima. Später gebe es dann Tee und selber gebackenen Kuchen.
Bei dieser Hitze backen!
Ach, daran gewöhnt
man sich. Wir sind nicht mehr an ein gemässigtes Klima gewöhnt,
ich könnte dort nicht mehr leben.
Steve kommt von draussen,
er will nur noch schnell die Daten der Wetterstation telefonisch an die Zentrale
in Melbourne melden.
Es wird kühler,
nur noch 38°C, gegenüber 40 letzte Woche.
Aber wir wollen nicht
vom Wetter reden. Steve und Liz erzählen abwechslungsweise die Geschichte
von Wittenoom, und sie beschreiben auch ihr eigenes Einwandererschicksal.
Es ist eine verwirrende,
für uns fast unverständliche Geschichte. Die Bewohner von Wittenoom
sind überzeugt davon, dass ihnen heute keine Gefahr mehr droht, die vom
einstigen Asbestabbau herrührt. Ich kann es kaum verstehen, und doch
sind Fritz und ich offenbar derselben Meinung, denn wir sind ja länger
als eine Woche geblieben, statt sofort wieder abzureisen, wie das vorsichtigere
Leute getan hätten.
Asbest
und KÄngurus | 1 | 2 | 3 | 4 | 5 | 6 | 7 | 8 | 9 | 10 | 11 | 12 | 13 | 14 | 15 | 16 | 17 | 18 | 19