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Ist alles zu Ende?

Liz hörte den Bus, der die Arbeiter nach der Frühschicht heimbrachte, am Ende der Strasse anhalten. Steve würde jeden Augenblick da sein. Sie setzte Teewasser auf und stellte die Tassen auf den Tisch. Tee sei das beste Mittel, um nach der Arbeit den Staub hinunter zu spülen und den Durst zu löschen, sagte er stets. Sie goss den Tee auf und wartete. Wo blieb er denn so lange? Schon der Bus war später als sonst eingetroffen. Beunruhigt trat sie auf die Veranda, um Ausschau zu halten. Auch Nachbar Jim war noch nicht da, denn Margret spähte ebenfalls auf die Strasse hinunter.

„Was ist los, warum kommen die Männer nicht?“ fragte Liz.

„Keine Ahnung. Man hört sie reden, ich glaube, sie stehen immer noch an der Haltestelle.“

Von der Veranda aus vermochte Liz nichts zu sehen. Sie streifte die Küchenschürze ab und ging auf die Strasse. Da kam Luigi ganz allein daher. Er war erst vor einigen Wochen aus Italien angekommen und wohnte bei seinen zwei Brüdern, die schon seit Jahren in Wittenoom arbeiteten. Liz rief ihn an:

„He Luigi, warum kommst du schon zurück? Ich habe dich doch zum Bus für die Spätschicht gehen sehen. Ist etwas passiert?“

„Nix Arbeit. Geschlossen, direttore sagt.“

„Geschlossen? Wie das?“

„Du hören, wenn Mann kommt!“ Luigi liess sich nicht aufhalten und ging eilig weiter. Margret kam auf die Strasse:

„Der Luigi! Spricht kaum englisch und ist schon zu einem Spass aufgelegt.“

„Das sieht aber nicht nach Spass aus. Die Männer stehen immer noch herum und reden aufgeregt. Schau doch!“

Nun löste sich doch der eine und dann der nächste aus der gestikulierenden Gruppe und entfernte sich, weitere folgten langsam, und Liz sah mit Verwunderung, dass Steve in der andern Richtung davon ging. Aber da kam schon Jim auf die Frauen zu, und ehe sie ihn etwas fragen konnten, sagte er, Steve komme später, er treffe sich noch mit dem Parteivorstand. Heute Abend sei eine Parteiversammlung, sie wollten noch kurz etwas vorbereiten.

„Wegen einer Parteiversammlung eine solche Aufregung,“ meinte Liz. „Da hätten wir uns nicht ängstigen müssen, es sei ein Unglück oder sonst etwas Schlimmes passiert.“

„Passiert ist tatsächlich etwas.“

„Der Luigi hat Unverständliches gestottert. Wir dachten, es sei ein Scherz.“

„Der Luigi hat sich furchtbar aufgeregt. Er hätte die Spätschicht wie gewohnt antreten können, aber es war kein Italiener in der Nähe, um es ihm zu erklären.“

„Aber so sag' doch endlich, was los ist!“

„Das versuche ich schon lange, aber ich komme ja gar nicht dazu!“

„Dann sag' doch schon.“

Aber da sagte Jim nur leise: „Also...das kann ich nicht auf der Strasse erzählen. Kommt auf die Veranda.“ Erst dort begann er so zögernd, als möchte er mit seiner Nachricht am liebsten überhaupt nicht herausrücken:

„Also... bei Schichtwechsel rief uns der Chef zusammen. Ein Direktor der CSR, der Colonial Sugar Refinery, der unsere Mine gehört, wolle zu uns sprechen. Und ohne lange Einführung und Erklärung sagte dieser Direktor kurz und knapp, die CSR wolle ihre Tochtergesellschaft, die Australian Blue Asbestos, eben unsere ABA, abstossen. Am 2. Dezember 1966 sollen die Mine und die Mühle geschlossen, der Asbestabbau endgültig eingestellt werden. Wir alle müssen Wittenoom verlassen.“

„Aber... das wäre ja in einem Monat! Das geht doch nicht,“ sagte Margret ungläubig. „Habt ihr denn nicht protestiert?“

Natürlich hätten sie aufbegehrt. Aber der feine Herr habe erklärt, der Wittenoomer blaue Asbest sei nie konkurrenzfähig gewesen mit dem blauen Asbest aus Südafrika. Die Mine habe nie rentiert, es sei nicht speditiv gearbeitet worden, schlechte Arbeitsmoral und Schlendrian hätten geherrscht.

„Das hat uns am allermeisten gekränkt. Die Kumpels können doch gar nicht schneller arbeiten bei ständiger Atemnot im Staub und mit veralteten Maschinen. Wir Mechaniker sind ja ständig unterwegs mit Flicken und Ersetzen.“

Sie hätten dann noch versucht, Fragen zu stellen, aber der Herr Direktor sei kaum darauf eingegangen, habe bloss erklärt, die Firma könne sich keine Investitionen leisten, um die Bergbaueinrichtungen auf einen modernen Stand zu bringen. Die Nachfrage auf dem Weltmarkt habe nachgelassen, weil die Industrie neue Produkte entwickle, um Asbest zu ersetzen.

„Und damit sollen wir uns einfach abfinden?“ fragte Margret.

„Der war dermassen kaltschnäuzig, als ob er uns verachte. Es gebe nichts mehr zu diskutieren, punktum.“

„Schlechte Arbeitsmoral, Schlendrian,“ wiederholte Liz fassungslos.

Sie standen noch eine Weile ratlos auf der Veranda, dann zogen sich Jim und Margret in das Haus zurück, Liz verliess sie und wartete zu Hause auf Steve. Der Tee war kalt geworden, sie leerte ihn in den Ausguss.

Steve kam bald nach Hause, zornig, enttäuscht, aber fest entschlossen, die Zerstörung der Lebensgrundlage einer ganzen Stadt nicht einfach fatalistisch hinzunehmen. An der Parteiversammlung heute Abend würden sie voraussichtlich eine Protestaktion beschliessen, eine Resolution verfassen. Eine Firma könne nicht einfach einen bis zum heutigen Tag voll arbeitenden Betrieb wie die ABA ohne weiteres und rücksichtslos schliessen.

Die Proteste der Gewerkschaft und der Labor Party, diesen Entschluss rückgängig zu machen und die Mine weiter zu betreiben, halfen nichts. Einzig eine Verlängerung der Frist um einen Monat wurde den Arbeitern zugestanden. Ende des Jahres 1966 sollte das endgültige Aus sein. Es blieben gerade zwei Monate Zeit, sich nach einer neuen Beschäftigung umzusehen, den Umzug zu organisieren.

Eine Zuckergesellschaft wie die CSR sollte sich nicht in den Bergbau einmischen, fanden die Arbeiter. Die Direktoren in Sydney, die nur vom Zucker etwas verstünden, hätten aber alles bestimmt und den leitenden Fachleuten der ABA in Wittenoom zu wenig Kompetenzen eingeräumt. Das habe ja schief gehen müssen. Sie konnten auch nicht verstehen, warum Asbest durch neu entwickelte Materialien ersetzt werden sollte. Hatte man nicht immer gesagt, er könne seiner vielfältigen Eigenschaften wegen durch nichts Gleichwertiges ersetzt werden! Die plötzliche Schliessung des Bergwerkes musste andere Gründe haben, die der Direktor der CSR verschwiegen hatte. Aber darum konnten und wollten sich die entlassenen Arbeiter nicht kümmern, sie waren voll damit beschäftigt, Arbeit zu suchen und den Umzug zu organisieren.

Wittenoom war eine Bergbaustadt, das Ende des Bergbaus bedeutete auch das Ende einer solchen Stadt. Ein Gesetz schrieb vor, dass „alles wieder der Natur zurückgegeben wird, der ursprüngliche Zustand hergestellt werden muss.“ Aber Wittenoom sollte eine Ausnahme sein, die westaustralische Regierung hatte die Stadt einst als Zentrum der Entwicklung in der Pilbara vorgesehen, und das sollte sie bleiben. Bereits hatten andere Firmen ihren regionalen Hauptsitz dort aufgeschlagen zur Erkundung von Eisen- und andern Mineralvorkommen und betrieben Büros und Laboratorien. Die Gemeindeverwaltung und die Bank blieben deshalb bestehen und behielten ihr Personal.

Eine wichtige Entwicklung wurde im Tourismus gesehen. Schon jetzt verbrachten Bewohner der neuen Eisenbaustädte wie Tom Price oder Paraburdoo ihre Freizeit in Wittenoom. Wenn diese Städte weiter wuchsen, was zu erwarten war, dann würde auch der Tourismus sich entwickeln. Man müsse den Besuchern die touristischen Einrichtungen anbieten, lauteten die Empfehlungen der Regierung. Es war nicht mehr eine geschlossene Bergwerksstadt, in der ausser den notwendigen Dienstleistungen für die Arbeiter keine weiteren Unternehmungen erlaubt waren. Es war jetzt eine offene Stadt, in der alle privaten Geschäfte möglich waren, wo jedermann ein Haus von der Regierung mieten, später vielleicht kaufen konnte.