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30. Dezember 1995

Wir lösen unser Versprechen ein und kehren zurück nach Wittenoom. Diesmal kommen wir vom Norden, von Port Hedland. Es ist schon am Morgen unerträglich schwül, alles ist feucht und klebrig. Im Landesinnern wird es zwar ebenso heiss sein, aber wenigstens nicht mehr feucht wie hier an der Küste. Wir biegen mit unserem Mietwagen in den Great Northern Highway Richtung Süden ein.

„Was werden wir antreffen?“ frage ich. „Sicher Nancy im Laden, und die andern Leute, die wir kennen lernten. Vielleicht haben sich Steve und Liz jetzt zurückgezogen und überlassen den Laden und die Poststelle den Jungen.“

„Hoffentlich sind sie zu Hause und nicht etwa gerade auf Europareise. Du hättest unsern Besuch ankündigen sollen,“ meint Fritz.

„Ich wollte sie überraschen. Die werden staunen, wenn wir auftauchen.“

„Ich glaube kaum. Vermutlich erinnern sie sich gar nicht mehr an uns.“

Ich schaue im neuen Herbergsverzeichnis nach, ob wirklich noch alles so ist wie vor knapp drei Jahren. Doreens holiday homes sind die einzige Eintragung.

„Wir könnten vielleicht im Auski Roadhouse übernachten,“ schlage ich vor. „Dort sind jetzt Motel Einheiten erwähnt, nicht mehr nur kleine cabins. Nach einem holiday home habe ich eigentlich keine Lust wegen einer oder höchstens zwei Uebernachtungen.“

„Ich denke, wir machen bloss einen Abstecher nach Wittenoom und fahren gleich wieder zurück an den Great Northern Highway. Da schaffen wir es leicht bis Newman. Wie weit wäre das?“

Ich studiere die Karte:

„Von der Abzweigung beim Auski nur 195 km. Aber wenn wir noch in die Schlucht hinein fahren und vielleicht in einem Tümpel baden und ein wenig herum plaudern, dann wird das zu knapp.“

„Wir wollen in das Tal hinein fahren?“

„Natürlich. Wir sind doch nicht in die Pilbara gereist, um dann nur schnell an Wittenoom vorbei zu flitzen!“

Fritz seufzt. Es ist zu heiss zum Diskutieren. Er sagt nur halblaut, man werde dann sehen an Ort und Stelle. Ich betrachte es als sein Einverständnis.

Wir fahren schweigend durch die Ebene. Wenn man die Karte betrachtet, könnte man glauben, es handle sich um ein wasserreiches Gebiet. Unzählige Flüsse und Bäche sind eingezeichnet, und ihre Namen stehen zum Teil sogar am Strassenrand angeschrieben. Von Wasser keine Spur. 100 m lange Brücken führen über flache, trockene Wasserläufe, die einem beim Fahren kaum auffielen, wäre man nicht durch ein Schild mit dem Flussnamen, z.B. Edgina Creek oder Yule River, darauf aufmerksam gemacht worden.

Flaches Land, saltbush, dürres Gras, spinifex, am Horizont eine Hügelkette, und nach 261 km das „Auski Tourist Village Roadhouse“ – so heisst das jetzt – zwanzig funkelnagelneue, luxuriöse Moteleinheiten, Tankstelle, neuer, grosser Laden und Restaurant.

Der Entschluss ist schnell gefasst: Wir buchen ein Motelzimmer für die Nacht, obschon es erst Mittag ist. Der junge Wirt ist offensichtlich schlecht gelaunt. Es scheint ihm eine grosse Anstrengung zu sein, am Schlüsselkasten den Zimmerschlüssel herunter zu langen und ihn mit einem Seufzer auszuhändigen.

„Etwas nicht in Ordnung?“ frage ich besorgt.

„Alles OK!“ antwortet er mürrisch, so als sei es offensichtlich, was ihm fehle und bedürfe keiner weiteren Erklärung. Dann will er sich zuvorkommend zeigen und schlurft über den sonnigen Platz, um in unserem Motelzimmer die Klimaanlage anzudrehen, damit es sich abkühlen kann, während wir im Restaurant noch etwas essen. Eine seltsame Mischung von Zuvorkommenheit und schlechter Laune. Hitze. Tropenkoller.

Im Motelzimmer ruhen wir uns etwas aus. Die Hitze hat uns erschöpft beim Ausladen und Hineintragen der wenigen Gepäckstücke. Es ist 42°C, am liebsten möchte man den Nachmittag in der Kühle des Zimmers verschlafen. Aber zum Schlafen sind wir nicht hergekommen, und wir raffen uns auf und fahren dem Gebirge entlang Richtung Wittenoom. Die ersten 18 km sind asphaltiert, dann wird die Strasse zu einer breiten Piste in fest gepresster, roter Erde, glücklicherweise nur 24 km weit, denn wir fühlen uns auf unsicherem Boden.

Wir sind nahe den Bergen, links rote Felsen, mattgrüne Grasbänder, von denen wir wissen, dass es spinifex ist, rechts flimmernde Hitze über der Ebene, blendender, fast weisser Himmel.

Der Wegweiser Wittenoom! Wir biegen von der Hauptstrasse ab in den Ort hinein, eine, zwei Querstrassen weit, dort die Blechschuppenkirche, dahinter versteckt das convent mit der Touristenherberge – wo ist das Hotel? Wo ist der Laden?

„Hier, an dieser Ecke stand das Hotel! Und an der nächsten Strasse war der Laden mit der Tankstelle.“

Ueberreste von ein paar Bodenplatten.

Ganz langsam fahren wir durch die staubige Strasse.

„Hier war das Haus von Steve und Liz,“ sagt Fritz an der nächsten Strassenecke leise.

Doreens sechs Ferienhäuser und ihr Souvenirladen stehen noch. Auch der Schuppen beim Wohnwagenpark auf der andern Seite scheint intakt zu sein. Alle andern Häuser, sowie die Ruine des Spitals sind spurlos verschwunden.

„Wo wohnt nun der Geist des Doktors, von dem man uns erzählt hat?“ Eine Frage, auf die Fritz keine Antwort gibt.

Wir fahren trotzdem ins Tal hinein. Dort kann sich nichts verändert haben, da gab es nichts abzureissen – höchstens aufzuräumen.

Es ist wie vermutet. Ungehindert wie früher kann man bis an die tailings der Colonial Mine heran fahren.

In der Siedlung hinten im Tal stehen die Häuser noch. Erst beim Näherkommen bemerken wir, dass viele Fensterscheiben zerbrochen sind.

Es gibt Dinge, die glaubt man erst beim zweiten Hinsehen: Am Strassenrand steht ein kleiner Marktstand, zum Verkauf angeboten werden Papaias, Tomaten, Melonen. Kein Mensch weit und breit, kein menschlicher Laut.

Wir fahren ein paar hundert Meter weiter bis zum Ende der Strasse, wo unwegsamer bush beginnt, kehren um wie das letzte Mal und fahren langsam zurück. Beim Marktstand eilt eine Frau herbei. Wir begrüssen sie, stellen uns vor als Freunde von Liz und Steve und Irina freut sich, denn es sind auch ihre Freunde:

„Wunderbare Menschen. Schade, dass sie nicht mehr da wohnen.“

„Was hat eigentlich den Ausschlag gegeben, dass sie wegzogen?“ fragen wir.

„Die Regierung hat angekündigt, dass Ende des Jahres, also morgen, Wasser und Elektrizität abgestellt werden, und diesmal sei es endgültig, darüber werde nicht mehr diskutiert. Steve meinte, wenn er jünger wäre, da würde er seine eigene Wasser- und Stromversorgung aufbauen, wie jede cattle station im outback. Aber dazu sei er zu alt, das werde er nicht mehr amortisieren können. Er war gesundheitlich so angeschlagen, dass er einfach keine Kraft mehr hatte.“

„Wie macht es denn Doreen? Ihre Ferienhäuser haben wir von weitem gesehen.“

Doreen habe bereits eine eigene Wasserversorgung provisorisch einrichten lassen, erklärt uns Irina. Dann habe Henry vom convent heraus gefunden, dass es ungesetzlich sei, eine bestehende Wasserleitung abzustellen, so lange sie von jemandem gebraucht werde. Jetzt dürfe ihnen die Behörde das Wasser nicht abstellen. Man wolle gegen die Regierung sogar einen Prozess anstrengen.

Auf unsere Frage, wie lange sie und ihr Mann Roberto noch hier in der Talsiedlung bleiben können, kommt sie ins Erzählen:

„Vorläufig hat Hancock hier noch sein Büro und betreibt von hier aus immer noch die Erforschung von Mineralvorkommen. Somit haben auch wir noch unser Auskommen als Abwart und Aufseher. Wenn er schliesst, wird er uns entlassen, und wann das sein wird, wissen wir nicht. Wir sind es seit Jahren gewohnt, im Ungewissen zu leben. Anderswo werden Leute aus scheinbar sicheren Stellen entlassen und werden arbeitslos und wir sind hier seit Jahren immer noch angestellt. Da wollen wir uns nicht beklagen.“

Wir plaudern noch eine Weile. Irina gibt mir die neue Adresse und Telefonnummer von Liz und Steve. Sie wohnen in Dunsborough, einem Ferienort von etwa 400 Einwohnern an der Westküste südlich von Perth.

„Die werden sich sehr freuen, wenn Sie ihnen Grüsse von Wittenoom bringen.“

Dann will ich Tomaten und zwei Papaias kaufen.

„Ach, warten Sie, ich pflücke Ihnen zwei frische, diese hier sind fast verfault.“

Auf dem Rückweg will ich unbedingt fotografieren und Fritz hält an. Es ist mir nicht möglich. Die glühende Hitze auf dem aufgeweichten Asphalt, die Abstrahlung auf die nackten Beine, ist schmerzhaft und ich flüchte zurück ins Auto. Wir fahren am Parkplatz beim Cathedral Pool vorbei. Es ist sogar zum Baden zu heiss.

„Wir kommen morgen früh noch einmal, dann ist der Boden noch nicht glühend heiss, und vielleicht ist dann auch der Himmel blau und nicht blendend weiss,“ beschliessen wir.

In Doreens gem shop stöbern wir ein bisschen herum. Ich kaufe zwei T-shirts mit einer desert pea und dem Aufdruck „Wittenoom“. Die rote Blume ist dekorativ. Doreens monotone Stimme hat sich nicht verändert. Was sie erzählt, ist verworren und schwierig zu verstehen. Morgen, am Sylvester, sei ein grosses Fest. Man wolle mit einer Demonstration darauf hinweisen, dass es unstatthaft sei, einer Gemeinde das Wasser abzustellen:

„Wir erwarten viele Sympathisanten von auswärts. Leute von Tom Price und Port Hedland verbringen den Sylvester gerne hier. Kommt doch auch! Wir brauchen Geld für den Prozess gegen die Regierung!“

Zwischen den zwei Reihen Moteleinheiten beim Auski Roadhouse entdecke ich einen neuen Gedenkstein, umgeben von gut gewässerten Blumen und frisch gepflanzten Bäumchen. Er erinnert an die vor einem Jahr erfolgte Gründung eines neuen Touristik Zentrums. Weitere Reihen von Moteleinheiten sind geplant.

Ein schwüler Wind weht, am Horizont und der Bergkette entlang türmen sich schwarze Wolken. In der Nacht tobt ein Sturm, Regen prasselt hernieder, Sturzbäche ergiessen sich über das Hausdach hinunter auf Auto und Parkplatz. Es ist der Ausläufer eines am Vortag angekündigten Zyklons.

Beim Frühstück erkundigen wir uns über den Zustand der Verbindungsstrasse nach Wittenoom. Der mürrische Wirt ist nicht wieder zu erkennen. Fröhlich pfeift er vor sich hin, bewegt sich flink und ist gesprächig.

„Nach Wittenoom wollen Sie? Die Strasse ist überschwemmt, man kommt nicht durch. Sie würden im Morast stecken bleiben, und niemand könnte Ihnen wieder heraus helfen, solange es regnet.“

Er sieht unsere Enttäuschung und versucht uns zu trösten:

„Grämen Sie sich nicht deswegen, dort gibt es eh nichts zu sehen. Sie verpassen nichts.“

„Wir wollten an einem Fest teilnehmen.“

„Sie meinen die Demonstration heute, weil die Regierung ihnen das Wasser abstellen wollte. Aber das ist wieder einmal rückgängig gemacht worden, da bräuchten die gar keine Demonstration mit anschliessendem Fest zu organisieren. Jetzt fällt das Ganze ohnehin ins Wasser.“

„Wir könnten es trotzdem versuchen. Wenn wir sehen, dass die Strasse überschwemmt ist, können wir immer noch umkehren.“

Er winkt ab. Der Wetterbericht melde weiteren Regen. Regen und Sturm. Da würden wir tagelang in Wittenoom hangen bleiben und uns zu Tode langweilen.

Er kehrt zurück an seine Theke, ist guter Laune, pfeift wieder vor sich hin, während er Tassen abtrocknet und versorgt.

Ein Lastwagenfahrer, der sein Frühstück verzehrt, beklagt sich über den Regen, der die letzten Kilometer seiner Nachtfahrt aus dem Süden verlangsamt habe, so dass er nicht wie geplant am frühen Morgen in Port Hedland angekommen sei.

„Und laut Wetterbericht soll es gegen Norden noch schlimmer werden, sogar eine Zyklonwarnung haben sie durch gegeben.“

Der Wirt lässt sich die gute Laune nicht verderben. Es ist der erste Regen seit zehn Monaten, der Beginn eines vielversprechenden, regenreichen Sommers. Es wird wieder viel Wasser geben in den creeks und Tümpeln.

Ein Regenvorhang verschleiert das Land, öffnet sich manchmal spaltbreit, um uns einen Blick zu erlauben auf Berge, Felsen, tiefe Täler, alles grau in braun, und ein starker Schauer verschliesst die Lücke im Vorhang wieder. Eine moderne Strasse ohne Schlaglöcher überwindet in eleganten Bögen die Hamersley Berge, überquert auf Viadukten reissende Flüsse, wo gestern noch alles ausgetrocknet war, und fällt in weiten, grosszügigen Kurven in die Ebene ab. Der Regen bleibt zurück, die Ebene tut sich auf, an einem heiteren Himmel ziehen behäbige, weisse Wolkenschiffe dahin, deren Schatten über das Land hinweg wandern. Südlich von Newman ist der Himmel makellos blau.

Die wichtigere der zwei einzigen Strassen, die Perth mit dem Norden des Staates Westaustralien verbinden, die Great Northern Highway, ist beinahe verkehrsfrei an diesem Sylvestertag. Da die Fahrt zeitweise eintönig ist, zählen wir die Autos, die wir kreuzen oder überholen, um uns mit irgend etwas zu beschäftigen, das nicht allzu viel Konzentration erfordert. Auf den 759 km vom Auski Roadhouse bis Cue kreuzen wir total 41 Fahrzeuge, davon 11 roadtrains. Wir müssen nur fünfmal überholen, was bei roadtrains nicht ganz einfach ist. Diese Lastwagenungetüme mit einem bis zwei Anhängern – sogar drei sind möglich – können bis zu 54 m lang sein, und entsprechend lang ist die Ueberholstrecke. Natürlich ist der Lokalverkehr in den drei einzigen Ortschaften, an denen unsere Strasse vorbei führt, nicht inbegriffen in diesen Zahlen.

Die Landschaft wird abwechslungsreicher. Die Bäume sind etwas höher und einige von ihnen dicht belaubt, die ersten Getreidefelder ziehen sich über sanfte Hügel hin, und die Ortschaften sind weniger weit voneinander entfernt.

In kurzen Tagesetappen fahren wir südwärts. Wittenoom kennt man überall. In einem Waschsalon bei einem Campingplatz warte ich auf meine Wäsche, blättere in einem Prospekt, den mir Doreen mitgegeben hat. Eine Frau, die ebenfalls auf Wäsche wartet, äugt mir neugierig über die Schulter.

„Schrecklicher Ort, dieses Wittenoom,“ platzt sie heraus.

„Waren Sie schon dort?“

„Ich bin dort geboren, aber kurz nach meiner Geburt zogen meine Eltern weg, ich kann mich nicht erinnern.“

„Wie können Sie dann behaupten, es sei ein schrecklicher Ort, wenn Sie seither nie dort waren?“

„Mein Vater hat dort gearbeitet. Er sagt, das Klima sei unerträglich, es sei überhaupt gefährlich. Die Leute, fast alles Ausländer, hätten gearbeitet wie die Verrückten, er habe das nicht ausgehalten. Deshalb blieben wir nicht lange.“

Ich möchte noch ein paar Fragen stellen, aber da ist der Waschprozess beendet, und ich muss die Wäsche möglichst schnell heraus nehmen, damit die Maschine frei wird für ungeduldig wartende Wäscherinnen. Als ich mich mit meinem vollen Wäschekorb umwende, ist die Frau spurlos verschwunden.

Am folgenden Tag halten wir in einem roadhouse an, trinken an der Bar ein Bier.

„So so, Sie kommen aus Wittenoom!“ bemerkt ein Mann mit einem Blick auf mein in Wittenoom gekauftes T-shirt. „Ein wunderbarer Ort.“

„Ja, sehr schön, wir waren einmal eine ganze Woche dort.“

„Ein wunderbarer Ort,“ wiederholt er. „Schade, dass man die Stadt schliessen muss. Sicher haben Sie davon gehört, wenn Sie so lange dort waren.“

„Natürlich. Es ist bedauerlich, dass man nicht ein richtiges Fremdenverkehrszentrum aufgebaut hat.“

„Das geht heute nicht mehr. Es gab zwar im Laufe der Jahre immer wieder Regierungsstellen, die den Aufbau unterstützten, aber das ist vorbei.“

„Die Leute dort verstehen das gar nicht.“

„Meine Eltern wollten anfänglich auch dort bleiben, aber schliesslich haben sie ihr Haus doch der Regierung verkauft. Sie hätten kein Auskommen mehr gehabt, denn ein Ausbau des Tourismus ist dort nicht möglich.“

Ich kann das nicht recht verstehen und will wissen warum.

Es sei vermutlich eine politische Frage, meint er, man müsse sich das nur genauer vorstellen: „Eines Tages würde ein Tourist an Mesotheliom erkranken, vermutlich weil er seinerzeit in seinem Büro oder in einer Sporthalle oder irgendwo Asbest ausgesetzt war; aber davon weiss er nichts, er erinnert sich nur noch an seinen Besuch in der Asbeststadt und macht diese für seine Krankheit haftbar. Dann werden sich solche Fälle häufen, und wer wollte oder sollte das bezahlen?“

„Es sei heute nicht mehr gefährlich, die Warnungen seien nicht gerechtfertigt, hat man uns gesagt.“

„Ich glaube auch, dass es nicht mehr gefährlich ist. Ich bin dort geboren, habe einen Teil meiner Kindheit dort verbracht. Es war eine schöne Zeit für die ganze Familie, und wir sind gesund geblieben – bis jetzt!“

„Also, wenn Sie mich fragen, ich glaube das nicht, dass es heute nicht mehr gefährlich ist,“ mischt sich jetzt ein weiterer Gast des Pubs in unser Gespräch. „Ich denke, ich habe Glück gehabt, dass ich nie dort war!“

„Warum Glück gehabt?“

Er sei in den sechziger Jahren einmal arbeitslos gewesen. Da habe ihn das Arbeitsamt in die Asbestmine schicken wollen. Aber er habe diese Stelle nicht angetreten, es sei ihm zu gefährlich gewesen.

„Wenn es nach mir ginge, müsste man die ganzen Hamersley Ranges zusperren, jawoll. Dort gibt es nichts zu sehen.“

Wir schweigen. Der ehemalige Wittenoomer trinkt sein Bier aus und geht.

*

Hitzewelle in Perth, 42°C. Es ist ebenso heiss wie im wegen der Hitze verrufenen Nordwesten. Wir fahren an der Hauptstadt vorbei weiter in den Süden, 255 km bis Dunsborough. Bush, Getreideäcker, Weinberge, und wieder ein Stück bush wechseln miteinander ab. In Dunsborough ist es unmöglich, jetzt während der langen Schulferien eine freie Ferienwohnung zu finden, und wir steigen in einem Motel im Ortszentrum ab.

Ich zögere den Anruf an Steve und Liz bis nach dem Nachtessen hinaus. Eigentlich sind wir uns eher fremd trotz unserem damaligen Besuch bei ihnen und den ausgetauschten Weihnachtskarten. Sicher sind sie deprimiert. Da wird es für uns schwierig sein, sich richtig zu verhalten, sie wenn möglich etwas aufzumuntern. Aber ich habe Irina versprochen, mit ihren Freunden Kontakt aufzunehmen. Ich schlucke ein paar mal leer und rufe an. Liz ist am Apparat. Sie scheint erfreut. Wir sollen morgen früh gleich kommen, sie habe gern Besuch, und sie erklärt mir, wie wir ihr Haus finden können.

Die Fahrt dauert nur fünf Minuten, und schon wähnt man sich allein in der Wildnis. Das Haus steht an einem sanft ansteigenden Hang, umgeben von lichtem bush. Bei unserer Ankunft kommen Liz und Steve auf die Veranda, winken uns heran und lachen. Wir werden gleich ins Haus gebeten. Liz hat schon Kaffee aufgesetzt, Tassen und ein Kuchen stehen auf dem Tisch bereit. Das Haus ist gemütlich eingerichtet. An der Wand hängen Fotos von Grosskindern und ein Bildkalender aus Oesterreich. Liz und Steve wirken fröhlich und entspannt.

Steve hat nichts von seinem lebensbejahenden Optimismus eingebüsst, trotz schwerer Lungenentzündung und Spitalaufenthalt. Er sei erst kürzlich aus dem Spital entlassen worden:

„Die Aerzte hier haben beschlossen, mich am Leben zu erhalten, da kann mir ja nichts passieren,“ sagt er fröhlich. Ein beschauliches Leben als Altersrentner behagt ihm nicht. Er folgt einem Computerlehrgang und zeigt mir den neu installierten PC. Das sei vorläufig eine gute Beschäftigung. Er dürfe sich bis zu seiner vollständigen Genesung noch nicht zu sehr anstrengen. Später wolle er dann das aus Wittenoom mitgebrachte Baumaterial aufräumen, da sei vom Umzug her ein grosses Durcheinander.

„Baumaterial? Was in aller Welt willst du denn jetzt noch bauen?“ frage ich erstaunt.

„Wohl als erstes ein Hühnerhaus, damit Liz wieder Hühner halten kann. Erst dann wird sie sich wirklich zu Hause fühlen.“

Liz zeigt uns die Umgebung des Hauses. Im Garten wachsen Ziersträucher und Schatten spendende Büsche.

„Ihr hättet die Frühlingsblumen sehen sollen, als wir im Oktober einzogen. Blumenteppiche ringsum im bush unter den Bäumen und zwischen den Sträuchern. Ich glaubte mich in einem Traum.“ Sie deutet auf einen freien Platz und lässt sich über Steves Baupläne aus:

„Hier möchte Steve unbedingt einen Hühnerhof einrichten. Aber das passt mir gar nicht, ich will keine Hühner mehr, das wird mir allmählich zu viel. Ich werde ihn davon abbringen. Ich kann nicht mehr zu all seinen Projekten ja und amen sagen.“

Dann erkundigt sie sich nach Irina und Roberto. Sie habe von ihnen eine Einladung bekommen. Doch sie wisse nicht, ob sie überhaupt noch einmal nach Wittenoom zurückkehren möchte.

„Vielleicht nächstes Jahr, in den Tagen vor Ostern, wenn die Sommerhitze vorbei ist und der Vollmond im Tal von Wittenoom...“ Sie sinnt einen Augenblick vor sich hin und fährt dann weiter:

„Ich habe immer Glück gehabt. Stets durfte ich an einem schönen Ort wohnen. Zuerst in den Alpen am ewigen Schnee, dann an einer der schönsten Gebirgsketten von Westaustralien, und jetzt im bush nicht weit vom Meer entfernt, nahe bei Menschen und doch in der Stille.“